Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 5

 

 

I.

 

[2] Das Cantorat an der städtischen Schule zu St. Thomae in Leipzig war ein unscheinbarer Posten. Wer aber die Verhältnisse kannte, wußte, daß er schätzbare Eigenschaften besaß. Am 5. Juni 1722 war Kuhnau gestorben, einen Monat später hatte der Rath der Stadt schon zwischen sechs neuen Bewerbern die Wahl gehabt. Meistens waren es Leute gewesen, welche aus eigner Anschauung wußten, was man als Cantor der Thomasschule zu erwarten habe. Fasch, Rolle und Telemann ragten unter ihnen hervor. Johann Friedrich Fasch, Capellmeister des Fürsten von Anhalt-Zerbst, hatte von 1701–1707 die Thomasschule besucht und Kuhnaus Unterweisung genossen. Als Studiosus der Rechte bildete er aus Leipziger Studenten eine musikalische Gesellschaft und versah mit dieser im Jahre 1710 einen Theil der Kirchenmusik in der Universitäts- (Pauliner-) Kirche. Dann führte er ein wechselreiches Leben und war eben erst einige Wochen in seiner Zerbster Bedienstung, als ihn ein Leipziger Gönner, der Hofrath Lange, zur Bewerbung um das erledigte Cantorat veranlaßte1. Christian Friedrich Rolle ist uns in der Lebensgeschichte Bachs schon einmal begegnet; mit ihm und Kuhnau hatte Bach im Jahre 1716 die Orgel der Liebfrauenkirche zu Halle geprüft, damals in Quedlinburg befand er sich seit einem Jahre als Musikdirector in Magdeburg2. Telemann endlich, welcher von Eisenach nach Frankfurt am Main, von dort 1721 als Musikdirector und Cantor nach Hamburg gegangen war, hatte vor Zeiten in Leipzig [3] zum ersten Male eine größere musikalische Wirksamkeit entfaltet. Er war 1701 dorthin gekommen, mit dem Vorsatze Rechtswissenschaft zu studiren und alle musikalischen Neigungen zu unterdrücken. Aber sein Talent wurde entdeckt und er alsbald in Verpflichtung genommen, alle 14 Tage eine Composition für die Thomaskirche zu liefern, an welcher Kuhnau kürzlich Cantor geworden war. Auch er gründete ein aus Studenten bestehendes Collegium musicum, das rasch zu Ansehen kam und für die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in dem Musikleben Leipzigs eine Macht wurde. Bald fand er auch als dramatischer Componist Beschäftigung, schrieb für das Leipziger Theater eine Anzahl Opern, zu denen er zum Theil auch die Texte verfertigt hatte, und trat sogar selber in ihnen auf. Als er sich endlich um das Organistenamt an der Neuen Kirche bewarb (8. Aug. 1704), beeilte sich der Rath, ihm dasselbe zu übertragen (18. Aug.): »er sei ein guter Componist – er könne sich ereignenden Falls auch bei der Thomasschule gebrauchen lassen – er solle nicht nur die Orgel schlagen, sondern auch die völlige Musik dirigiren – des Theatri aber müsse er sich wohl enthalten und das Agiren lassen«3. Noch in demselben Jahre war er als Capellmeister nach Sorau berufen worden und hatte seitdem Deutschland mit seinem Ruhme erfüllt. Ihn hatte man daher auch jetzt, da es sich um die Neubesetzung des Cantorats an der Thomasschule handelte, allen Mitbewerbern vorgezogen. Tags darauf, nachdem er die vorschriftsmäßige Probe abgelegt, war vom Rathe seine Ernennung definitiv beschlossen worden. Schwierigkeiten machten nur die Obliegenheiten, welche der Cantor als wissenschaftlicher Lehrer an der Thomasschule zu erfüllen hatte; hierauf wollte sich Telemann nicht einlassen. Der Rath erklärte sich jedoch geneigt, wegen des wissenschaftlichen Unterrichts eine andere Einrichtung zu treffen und bereitete alles vor, den berühmten Musiker in sein Amt einzuweisen. Da reiste dieser nach Hamburg zurück und schrieb, er könne die Stelle nicht annehmen.

Der verstimmte Rath schritt zu einer neuen Wahl. Es waren [4] inzwischen noch Georg Friedrich Kauffmann aus Merseburg4 und später Christoph Graupner, Capellmeister in Darmstadt, als Bewerber aufgetreten; von einheimischen Künstlern kam der geachtete Georg Balthasar Schott, Organist an der Neuen Kirche, in Frage. Man entschied sich für Graupner, vor welchem Kauffmann freiwillig zurückgetreten war. Auch Graupner konnte sich als alten Leipziger betrachten, insofern er einem neunjährigen Aufenthalte auf der Thomasschule seine hauptsächliche wissenschaftliche und musikalische Ausbildung verdankte. Aus einem Specialschüler Kuhnaus im Clavierspiel und der Composition war er ein Meister geworden, der als Claviercomponist unter die besten seiner Zeit gehörte5. In der Cantorats-Angelegenheit hatte sein alter Freund, Capellmeister Heinichen in Dresden, ihn dem Rathe eigens empfohlen. Graupner kam nach Leipzig und scheint seine Probe abgelegt zu haben. Als aber alles soweit in Ordnung war, verweigerte der Landgraf von Hessen-Darmstadt die Entlassung. Da die Verhandlungen übrigens nur in privater Weise geführt waren, so konnte Graupner einen ehrenvolleren Rückzug antreten als Telemann.

Neben Graupner und wie es scheint später als dieser, jedenfalls erst am Ende des Jahres 1722 hatte sich Bach gemeldet6. Es ist nicht wahrscheinlich, daß er erst jetzt von der Vacanz an der Thomasschule gehört haben sollte. Sein spätes Erscheinen auf der Walstatt ging aus anderen Ursachen hervor. Er befand sich in einer kritischen Lage. Die Abnahme des Musik-Interesses beim Fürsten Leopold, die Sorge für eine höhere Ausbildung seiner Söhne, die Empfindung, daß im Dienste des Hofes nur ein Theil seines künstlerischen Wesens zur Geltung komme, alles dies ließ ihm den Aufenthalt in Cöthen unheimlich erscheinen. Andrerseits konnte er die sorgenfreie, bequeme und ehrenvolle Stellung, welche ihm der wohlwollende Fürst bereitete, nicht unterschätzen. In Leipzig erwartete ihn ein größerer Wirkungskreis, wurde er in einen stärkeren Strom des öffentlichen Lebens gestellt; aber »aus einem Capellmeister ein [5] Cantor zu werden« wollte dem stolzen, berühmten Manne nicht in den Sinn. Selbst nachdem er die Hand schon nach der Erbschaft Kuhnaus ausgestreckt hatte, war er noch ein Vierteljahr lang unschlüssig, ob er nicht besser thäte, sie wieder zurückzuziehen. Aber Personen, von denen er sich Raths erholte, redeten so eifrig zu, daß er endlich den entscheidenden Schritt that. Anfang Februar des Jahres 1723 begab er sich nach Leipzig, und führte am 7., dem Sonntage Estomihi, als sein Probestück die Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« auf7. Seine Ernennung erfolgte nicht sofort; noch war man mit Graupner in Unterhandlung, welcher drei Wochen zuvor seine Probe abgelegt hatte, außer ihm waren auch noch Kauffmann und Schott als Mitbewerber vorhanden. Nachdem aber Graupner zurückgetreten war, bedurfte es keines langen Bedenkens, um aus den drei übrigen Concurrenten den würdigsten heraus zu finden. Bach hatte mit Kuhnau verkehrt, er kannte Leipzig und Leipzig kannte ihn. War er doch schon 1717 zur Abnahme der großen Pauliner Orgel dorthin berufen gewesen. Der Rath wußte, daß er eine bedeutende Kraft an ihm gewann. Man sagte sich, er sei ein ausgezeichneter Clavierspieler, ein Mann, um deswillen man Telemann vergessen könne, der Graupner ebenbürtig sei, und der die nöthige Berühmtheit besäße, um auch die Studenten zur Theilnahme an seinen Musikaufführungen heranzulocken, was bei der damaligen Lage der Dinge besonders wünschenswerth war. Überdies schien Bach den Pflichten eines Thomascantors in ihrem ganzen Umfange genügen zu wollen und hierdurch vor sämmtlichen Bewerbern sich auszuzeichnen. Er erklärte sich bereit auch den wissenschaftlichen Unterricht zu übernehmen. Derselbe bestand aus wöchentlich fünf lateinischen Stunden in Tertia und Quarta; in diesen wurden schriftliche Arbeiten gemacht, Grammatik getrieben, die Colloquia Corderii8 und der lateinische Katechismus Luthers erklärt9. Anfänglich [6] scheint Bach das Ansinnen, zugleich Lehrer der lateinischen Sprache zu werden, abgewiesen zu haben10, oder man hatte dies bei der Weigerung aller übrigen Bewerber auch von ihm vorausgesetzt. Als sich jedoch die Rathsherren am 22. April zur entscheidenden Berathung versammelten, war der Bürgermeister Lange zu der Mittheilung im Stande, Bach habe sich ausdrücklich sowohl officiell als auch im Privatgespräch verpflichtet, den lateinischen Unterricht zu ertheilen. Es konnte ihm nicht unbekannt geblieben sein, daß schon Telemann die Dispensation von dieser Verpflichtung in Aussicht gestellt worden war. Sicherlich wäre ihm sofort dieselbe Erleichterung zugestanden, ja die Rathsherren äußerten aus freien Stücken, wenn er im lateinischen Unterricht nicht allenthalben fortkommen könne, würde man nichts dagegen haben, daß er ihn gegen Entgelt von einem andern versehen ließe. Bach fühlte sich indessen Manns genug, seine Pflichten selbst zu erfüllen, sah es auch wohl als einen Ehrenpunkt an, hinter seinen Vorgängern in keiner Hinsicht zurückzustehen. Nach einem Kuhnau wollte das etwas besagen; daß aber Bach noch von der Schule her ein gewiegter Lateiner war, hatten wir schon Gelegenheit zu bemerken. Merkwürdig genug freilich wird es ihm vorgekommen sein, die Grammatik in der Hand und vielleicht eine Kirchencantate im Kopfe vor einen Haufen von Tertianern hinzutreten. Außer etwa seinen eignen Kindern hatte er zuverlässig derartigen Unterricht bisher niemals ertheilt. Er fühlte denn auch bald die Beschwerde der Aufgabe, und vermochte seinen Collegen, den Magister Pezold, gegen die Summe von jährlich fünfzig Thalern den größeren Theil des Unterrichts für ihn zu übernehmen; fortan ging er nur, wenn Pezold durch Krankheit oder sonst verhindert war, in die Classe und dictirte, »denen Knaben ein Exercitium zu elaboriren«11.

 

[7] Etwa vierzehn Tage nach der genannten Rathsverhandlung, am 5. Mai, empfing Bach, welcher persönlich auf dem Rathhause erschienen war, die amtliche Eröffnung, man habe ihn für den tüchtigsten unter seinen Mitbewerbern erachtet und einstimmig erwählt; man übertrage ihm das Amt unter denselben Verhältnissen, unter welchen es sein Vorgänger bekleidet habe. Sodann mußte er einen Revers unterschreiben, der im Jahre vorher für Telemann angefertigt war (und auch nach 27 Jahren seinem Amtsnachfolger wieder vorgelegt wurde): er enthielt die üblichen Versprechungen eines ehrbaren und eingezogenen Lebens, der Treue und des Fleißes in Verrichtung der Amtsgeschäfte, der schuldigen Hochachtung und Folgsamkeit gegen den hochweisen Rath, und legte neben anderem die Verpflichtung auf, die Kirchenmusik nicht zu lang und nicht opernhaftig zu machen, die Knaben nicht nur im Gesange, sondern zur Vermeidung von Unkosten auch in der Instrumentalmusik zu unterrichten, dieselben human zu behandeln, keine untauglichen Sänger in den seiner Aufsicht entrückten Chor der Neuen Kirche zu schicken, nicht ohne Erlaubniß des Bürgermeisters zu verreisen, auch ohne Zustimmung des Rathes kein Amt an der Universität zu übernehmen12. Noch war indessen die Berufung keine vollzogene Thatsache. Es bedurfte hierzu der Bestätigung des Leipziger Consistoriums, einer staatlichen Aufsichtsbehörde geistlich-weltlichen Charakters13. Wollte der Rath an den städtischen Kirchen und Schulen eine Stelle besetzen, so mußte er seine Candidaten dem Consistorium präsentiren lassen, welches alsdann eine Art Examen mit denselben abhielt. Das Examen hatte den Zweck, die religiösen Grundsätze des Candidaten zu erforschen. War es befriedigend ausgefallen, so wurde der Geprüfte nunmehr von Seiten des Consistoriums »confirmirt«. Bachs Präsentation erfolgte am 8. Mai durch den Superintendenten und Consistorialassessor Deyling, sein Examinator war der Consistorialassessor Dr. Schmid. Mit Zustimmung Deylings stellte [8] Schmid das Zeugniß aus, Herr Johann Sebastian Bach habe die von ihm gestellten Fragen in einer Weise beantwortet, daß ihm die Übernahme des Cantorats an der Thomasschule wohl gestattet werden könne14. Am 13. Mai wurde Bach durch das Consistorium confirmirt: er mußte die Concordienformel unterschreiben und einen Eid leisten.

Am Montag dem 31. Mai endlich fand die förmliche Einführung statt15. Um 9 Uhr Morgens begaben sich zwei Deputirte des Raths, nämlich der derzeitige Vorsteher der Schule Baumeister Lehmann16 und der Ober-Stadtschreiber Menser nach der Thomasschule, wurden von dem Rector Joh. Heinrich Ernesti an der Thür des Hauses empfangen und in das zur Vornahme des Actes bestimmte Auditorium hinaufgeführt. Hier trafen sie den Prediger an der Thomaskirche Licentiaten Weiße, welcher in Vertretung des Superintendenten Deyling als Abgesandter des Consistoriums erschienen war. Nun versammelten sich mit ihrem neuen Collegen die sechs übrigen Lehrer der Anstalt: Licentiat Christian Ludovici der Conrector, Magister Carl Friedrich Pezold der Tertius, Christoph Schmied der Quartus, Johann Döhnert der Quintus, Johann Friedrich Breunigke der Sextus und Christian Ditmann der Septimus17. Man setzte sich; der Pastor und die beiden Rathsabgeordneten in einer Reihe, ihnen gegenüber nach der Rangordnung die Schul-Collegen. Vor der Thür sang der Chor ein Musikstück, dann traten sämmtliche Schüler ein. Der Ober-Stadtschreiber hielt eine Einweisungsrede; darauf [9] erfolgte durch den Pastor Weiße noch eine besondere Einweisung mit den üblichen Ermahnungen und Wünschen. Bach erwiederte einige Worte, man beglückwünschte ihn zu seiner neuen Stellung und mit einer abermaligen Musikaufführung wurde der Einführungsact beschlossen. Übrigens zeigte es sich bei dieser Gelegenheit, daß das Consistorium, welches die Selbstherrlichkeit des Rathes in verschiedener Weise beschränkte, diesem ein Dorn im Auge war. Es war bisher nicht Sitte gewesen, daß an der Einführung eines Schulbeamten sich das Consistorium in der geschehenen Weise betheiligte. Die Rathsabgeordneten erklärten zur Stelle, dies sei ein Eingriff in ihre Rechte, Superintendent und Pastor, wenn sie bei der Einführung zugegen wären, hätten nichts weiter zu thun, als den neuen Schulcollegen zu beglückwünschen. Nur dem gemäßigten Auftreten Weißes war es zu verdanken, daß es zwischen ihm und den gereizten Rathsabgeordneten nicht schon vor der ganzen Versammlung zu einem Auftritte kam. Ein förmlicher Protest des Rathes folgte alsbald, dem gegenüber sich das Consistorium aber auf die Vorschriften der churfürstlich sächsischen Kirchenordnung berief18.

Bach bezog eine Amtswohnung auf dem linken Flügel des Thomasschulgebäudes; vermuthlich war hier von Alters her die Behausung des Cantors gewesen, daß wenigstens Kuhnau dieselben Räume vor ihm innegehabt hatte, darf angenommen werden19. Das Gebäude war damals nur zweistöckig und für seine Zwecke bedeutend zu klein. Anfang der dreißiger Jahre wurde es umgebaut und um ein Stockwerk erhöht. In Folge dessen hatte Bach vom Frühjahr 1731 bis Neujahr 1732 eine Interimswohnung, wahrscheinlich im Hause des Dr. Christoph Dondorff, welcher seit 1730 Besitzer der Thomasmühle war20, und der Bachschen Familie befreundet gewesen ist21. Die Thomasmühle lag außerhalb der Stadtmauer, die sich[10] hinter dem Schulgebäude herzog, an der Stelle des jetzigen Schlobachschen Besitzthums jenseits der Promenade. Als charakteristisch für die Lebensverhältnisse jener Zeit mag erwähnt werden, daß der Rath für diese Familienwohnung, welche Bach fast ein Jahr benutzte, eine Miethe von 60 Thalern zu zahlen hatte. Die Cantor-Wohnung erlitt unterdessen einige Veränderungen: ein Zimmer im ersten Stock kam durch den Umbau in Wegfall, dafür erhielt Bach ein neues im dritten Stock. Es scheint, daß die Wohnung im allgemeinen geräumiger gemacht wurde22. Sie wurde nun von Bach nicht wieder verlassen bis an seinen Tod, und hat auch nach ihm, wohl im wesentlichen unverändert, den Thomas-Cantoren zum Aufenthalte gedient bis auf Moritz Hauptmanns Zeit. Auch der Anblick des freien Platzes neben der Thomaskirche, welchem das Schulgebäude seine Frontseite zukehrt, und der zwei Seiten desselben umrahmenden Häuser dürfte ziemlich derselbe geblieben sein. Nur der große steinerne Brunnen, welcher damals die Mitte des Platzes zierte, ist verschwunden23.

Fußnoten

 

 

 

II.

 

Leipzig besaß in jener Zeit drei öffentliche Unterrichts-Anstalten: die Thomas-, Nikolai- und Waisenhausschule1. Von ihnen war die erstgenannte bei weitem die älteste, sie reicht als Stiftsschule der regulirten Augustiner zu St. Thomae bis ins 13. Jahrhundert hinab2. Städtisch wurde sie indessen erst vier Jahre nach Einführung der Reformation in Leipzig, indem im Jahre 1543 der Rath sie mit dem sogenannten Thomaskloster und den zugehörigen Klostergütern als Eigenthum erwarb. Das Kloster hatte ein Alumneum gehabt, in welchem zur Ausführung des liturgischen Gesanges und anderer Cultushandlungen eine Anzahl von Knaben unterhalten [11] wurde. Als protestantische Lehranstalt erfuhr die Schule bald bedeutende Erweiterungen. Zunächst hatte sie vier Classen und eben so viele Lehrer. Als die im Jahre 1511 gegründete Nikolaischule die lernbegierige Jugend nicht mehr fassen konnte, gestattete der Rath, zuerst bis auf weitere Verordnung, auch kleine Knaben in die Thomasschule aufzunehmen. Die Unterweisung mußte anfangs wiederum durch Schüler geschehen, sogenannte Locaten; später traten an deren Stelle Collaboratoren. Die Schule umfaßte nun sieben Classen, von denen namentlich die drei niedrigsten eine Zeit lang sehr gefüllt waren. Das Alumnat war geblieben, die Zahl der Stellen wurde durch eine Reihe von Stiftungen allmählig bedeutend vergrößert. Eine Weile betrug sie 32, wuchs dann auf 54 und endlich durch die Stiftung eines Geheimraths Born auf 55 an3. Der Hauptzweck, welchen man bei der Erhaltung und Vermehrung des Alumnats im Auge hatte, war die Pflege der Kirchenmusik. Schon den regulirten Augustiner-Chorherren war die Mehrzahl der Leipziger Kirchen, unter ihnen die Thomas- und Nikolai-Kirche, unterstellt gewesen. Die Reformation hielt an einer engen Verbindung von Kirche und Schule fest, und die Alumnen der Thomasschule waren demnach für eine musikalische Ausstattung des protestantischen Gottesdienstes die nächstgegebenen Organe. Mit wie großem Nachdrucke aber Luther die Übung der Musik empfahl, wie er grade von ihr sich große Erfolge für die Ausbreitung der neuen Lehre versprach, ist bekannt.

Der Cantor einer solchen Anstalt war also eine wichtige Persönlichkeit, doppelt wichtig, da er von jeher auch wissenschaftlichen Unterricht zu ertheilen gehabt hatte. Dies drückte sich auch in der Stellung aus, welche er im Lehrer-Collegium einnahm. Die Rangordnung wies ihm in demselben den dritten Platz an4, und während [12] die übrigen Lehrer täglich je vier Stunden geben mußten, war er nebst dem Rector nur zu je dreien verpflichtet. In dieser geringeren Belastung, die sich mit der Zeit noch mehr verringerte, liegt auch wohl der Grund, weshalb man zu sieben Schulclassen schließlich acht Lehrer nöthig hatte. Die Unterrichtszeit war Morgens von 7–10 Uhr und Mittags von 12–3 Uhr. Vor Erlaß der Schulordnung vom Jahre 1634 hatte der Cantor täglich von 7–8 Uhr lateinische Grammatik – nur am Sonnabend Luthers lateinischen Katechismus –, von 12–1 Uhr Musik, von 1–2 lateinische Syntax mit den Tertianern zu treiben. In Gemäßheit der erwähnten Schulordnung wurde die Zahl seiner Gesangstunden um etwas erhöht, diejenige der lateinischen Stunden bedeutend vermindert und von der üblichen Ertheilung von drei Lectionen täglich einfach abgesehen. Der Gesangunterricht fand jetzt am Montag, Dienstag und Mittwoch um 9 und 12 Uhr, am Freitage nur um 12 Uhr statt. Er erstreckte sich auf alle Classen zusammen, d.h. auf die vier obersten und ursprünglichen, denn die Alumnen gehörten nur diesen an. Am Donnerstag früh um 7 Uhr hatte der Cantor die Schüler zur Kirche zu führen, und war übrigens den ganzen Tag frei; am Sonnabend mußte er zu derselben Stunde den Tertianern und Quartanern den lateinischen Katechismus erklären; an den übrigen Tagen hatte er in Tertia je eine lateinische Stunde zu geben. Dieser Lectionsplan erhielt sich mit merkwürdiger Stetigkeit bis zu Bachs Eintritt und trat einstweilen auch für ihn unverändert in Kraft, nur mußte er am Freitag früh mit den Schülern die Kirche besuchen, und war dafür am Donnerstage vollständig frei5. Gesangunterricht ertheilte der Cantor nur in den vier oberen Classen, seine wenigen wissenschaftlichen Lectionen fast nur in der dritten Classe, deren Hauptlehrer sonst der sogenannte Tertius war. Mit diesem, dem Rector und dem Conrector [13] bildete er den Kreis der vier oberen Lehrer (superiores), welche sich gegen die übrigen, den Baccalaureus funerum, Baccalaureus nosocomii, den ersten und zweiten Collaborator, oder, wie sie seit 1723 hießen, den Quartus, Quintus, Sextus und Septimus vornehm abschlossen. Den elementaren Gesangunterricht in den drei unteren Classen pflegte der zweite Collaborator zu ertheilen6. Die vier oberen Lehrer, und also auch der Cantor, waren überdies noch zur Inspection der Alumnen verpflichtet, welche unter ihnen wochenweise wechselte. Sie wohnten dann zeitweilig ganz mit ihnen zusammen und mußten der herrschenden Hausordnung sich anbequemen, nach welcher Morgens um 5 Uhr (des Winters um 6 Uhr) aufgestanden, um 10 Uhr zu Mittag, um 5 Uhr Nachmittags zu Abend gegessen und um 8 Uhr schlafen gegangen wurde7.

Dieses war es, was dem Cantor innerhalb der Schule oblag. Der Oeffentlichkeit gegenüber erwuchsen ihm weitere Verpflichtungen aus der Stellung, welche er als Director verschiedener durch die Alumnen gebildeter Kirchenchöre einnahm. Die beiden Hauptkirchen der Stadt waren die Thomas- und Nikolai-Kirche. Im Jahre 1699 war aber die reparirte Barfüßer-Kirche unter dem Namen »Neue Kirche« dem Gebrauche wieder übergeben und seit Telemanns Anstellung (1704) mit einer eignen Musik ausgestattet worden. Sodann hatte man 1711 den ganz eingegangenen Gottesdienst in der Peterskirche wieder hergestellt8. Seit dieser Zeit hatten die Alumnen der Thomasschule sonntäglich in vier Kirchen die Musik zu besorgen, an den hohen Festtagen außerdem in der Kirche des Hospitals zu St. Johannis9. Sie theilten sich demgemäß in vier Chöre. [14] Der Peterskirche, in welcher nur Choral-Musik zu singen war, wurden die Anfänger und Schwachen zugewiesen; vermuthlich bediente dieser Chor zugleich die Johanniskirche, deren Fest-Gottesdienst mit dem der Peterskirche nicht collidirte10. Die übrigen Sänger wurden wohl ziemlich gleich vertheilt, doch war der Dienst in der Neuen Kirche ein verhältnißmäßig leichter, da hier die Schüler nur Motetten und Choräle unter Direction des Chorpräfecten zu singen hatten, an den Festtagen aber und während der Meßen mit anderen Kräften eine concertirende Kirchenmusik aufgeführt wurde11. Dirigent der letzteren war seit Telemanns Zeit der jedesmalige Organist; die Functionen des Thomas-Cantors reichten hier nicht weiter, als daß er die Kirchenlieder und wahrscheinlich auch die Motetten zu bestimmen hatte, welche gesungen werden sollten12. In der Peters- und Johannis-Kirche war er gar nicht beschäftigt; mithin blieb ihm die Direction der Musik in der Thomas- und Nikolai-Kirche. An den gewöhnlichen Sonntagen wurden immer nur in einer der beiden Kirchen eine Cantate und Motetten aufgeführt und zwar in regelmäßiger Abwechslung; die Cantate sang der erste Chor unter Direction des Cantors. An den beiden ersten Tagen der drei hohen Feste aber, sowie am Neujahr-, Epiphanias-, Himmelfahrts- und Trinitatis-Tage, desgleichen am Tage Mariä Verkündigung wurde in beiden Kirchen gleichzeitig zweimal concertirende Musik gemacht, so nämlich, daß der erste Chor dieselbe Cantate, welche er Vormittags in der Nikolaikirche gesungen hatte, am Nachmittage in der Thomaskirche vortrug, an einem darauf folgenden zweiten Festtage aber des Vormittags in der Thomaskirche sang und seine Cantate des Nachmittags in der Nikolaikirche wiederholte, während der zweite Chor es umgekehrt machte. Letzterer sang unter Leitung seines Präfecten13. Die Proben zu den sonntäglichen Kirchenmusiken fanden[15] regelmäßig des Sonnabends nach dem auf 2 Uhr Nachmittags festgesetzten Vespergottesdienste in der Kirche statt und pflegten bis 4 Uhr zu dauern14.

An die mit dem öffentlichen Gottesdienste in unmittelbarer Verbindung stehenden Amtsgeschäfte schlossen sich als kirchliche Obliegenheiten außerordentlicher Art die Musikaufführungen bei Trauungen und Leichenbegängnissen. Waren die Leichenbegängnisse solennen Charakters, so daß die ganze Schule oder wenigstens die genannte große halbe Schule, d.h. die drei obersten Classen nebst der fünften die Leiche begleiteten, so pflegte vor dem Trauerhause eine Motette gesungen zu werden. Während der Procession nach dem Kirchhofe sangen die der Leiche vorausgehenden Schüler einfache Choräle, Figural-Musik nur in besonders ausgezeichneten, feierlichen Fällen. Der Cantor mußte bei den Leichenbegängnissen immer zugegen sein, er hatte zu bestimmen, was gesungen werden sollte und dirigirte wohl die Motette in der Regel selbst. Daß er sich indessen nicht selten auch dieser Verpflichtung entzog und seine musikalischen Functionen dem Chorpräfecten überließ, lassen verschiedene amtliche Bestimmungen deutlich erkennen: auch Bach wurde es durch seinen Revers eingeschärft, bei Leichenbegängnissen jederzeit so viel wie möglich neben den Schülern herzugehen15. Was die Brautmessen betrifft, so war in ihnen die Verwendung der Musik gleichfalls eine verschiedenartige, je nach Stand und Wunsch der betreffenden Persönlichkeiten. Dem Cantor lag in allen Fällen die Anordnung der Musik ob, wenngleich er sich, wann es nur einfachen Choralgesang galt, an dem Acte selbst garnicht immer betheiligte. Er hatte in den Präfecten der verschiedenen Chöre seine Stellvertreter, welche ihn nicht nur der Mühe des Dirigirens sondern auch des Einstudirens vielfach überhoben. Dieser Brauch herrschte schon im 17. Jahrhundert. Nachdem durch die Schulordnung von 1634 für die ersten drei Wochentage je zwei Singstunden eingerichtet [16] waren, petitionirten bald darauf Rector, Conrector und Tertius beim Rathe, man solle doch dem Cantor die auf 12 Uhr festgesetzte Singstunde wieder nehmen und ihm dafür eine Stunde wissenschaftlichen Unterrichts zulegen; diese Singstunde sei ihm unbequem wegen des Mittagsessens und deshalb komme er nur selten in dieselbe; übrigens sei er auch nichts nütze darin, denn die Knaben vermöchten und pflegten auch zu singen ohne ihn16. Es blieb aber bei der einmal getroffenen Einrichtung und sie bestand, wie wir sahen, noch zu Bachs Zeit. Ebenso freilich die laxe Praxis des Cantors, wie denn auch Bach seinem Rector Joh. Aug. Ernesti Anlaß zu der Klage gab, er halte nur eine Singstunde, während er doch deren zwei zu halten schuldig, und folglich würden die Knaben in der Musik nicht genug geübt17. Es lag aber in der Natur der Sache, daß den Präfecten Raum zur Entwicklung einer gewissen Selbständigkeit gewährt wurde. Denn abgesehen davon, daß ein Schülerchor nicht selten von Persönlichkeiten, welche der Schule nahe standen, zu Hochzeits- oder andern Festlichkeiten verlangt wurde, um während der Tafel durch den Vortrag einiger Gesangstücke zu erfreuen18, so hatten auch die Schüler regelmäßig zu bestimmten Zeiten des Jahres ihre Gesangsumgänge durch die Stadt zu halten; in diesem wie in jenem Falle waren sie bei der Ausführung der Gesänge ganz auf sich selbst angewiesen. Die Umgänge fanden in der Zeit um Michaelis und Neujahr, so wie an den Tagen Martini und Gregorii statt19. Die singfähige Masse der Alumnen unterlag auch bei dieser Gelegenheit einer Zertheilung in vier Chöre oder Cantoreien; wahrscheinlich wurde einem jeden derselben eines der vier Stadtviertel [17] als Feld seiner Wirksamkeit bestimmt. Im Jahr 1718 waren beispielsweise die vier Cantoreien folgendermaßen besetzt: die erste zählte drei Bassisten, drei Tenoristen, zwei Altisten und drei Discantisten; die zweite je zwei Sänger für jede Stimme; die dritte je zwei Sänger für Bass, Tenor und Alt und drei für den Discant; die vierte zwei Bassisten, drei Tenoristen, zwei Altisten und drei Discantisten; jede Cantorei hatte außerdem einen oder zwei Luminanten20. Die Thätigkeit des Cantors beschränkte sich darauf, die Cantoreien zusammenzusetzen, im allgemeinen zu bestimmen, was bei den Umgängen gesungen werden sollte und allenfalls bei den zu diesem Zweck gehaltenen Uebungen bisweilen zu inspiciren; das übrige war Sache der Präfecten. Namentlich die Präfecten der ersten beiden Chöre21 bekleideten wichtige Posten. Sie mußten die sonn- und festtäglichen Motetten dirigiren und die Lieder in der Kirche anfangen, der Präfect des zweiten Chors hatte an Festtagen in der Kirche, in welcher der Cantor sich nicht befand, die Cantate zu dirigiren, während der erste sich dadurch auszeichnete, daß ihm die Leitung der Gesangsstücke bei Hochzeitstafeln und ähnlichen Gelegenheiten oblag, daß er in der Michaeliszeit mit seinem Chor allein singen ging, und daß er bei Verhinderung des Cantors diesen in der Direction der Cantate vertrat22.

Fügt man nun noch hinzu, daß der Cantor als Musikdirector an den beiden städtischen Hauptkirchen auch die Inspection über die Organisten derselben und über die Stadtpfeifer und Kunstgeiger [18] hatte, welche bei den Kirchenmusiken mitwirken mußten23, so sind seine Berufspflichten sämmtlich genannt. Daß dieselben sehr drückend gewesen wären, wird nicht behauptet werden können. Außer fünf lateinischen Lectionen, von denen wie wir sahen Bach sich bald frei machte, waren wöchentlich sieben Gesangstunden zu ertheilen, aber die Nachmittagsstunden unter diesen blieben häufig ganz den Präfecten überlassen. Ferien gab es an der Thomasschule nicht wenige. Während jeder Messe, also um Ostern, Michaelis und Neujahr, war eine Woche völlig und eine zweite an den Nachmittagen frei. In den Hundstagen fielen vier Wochen lang die Nachmittagsstunden aus. Bei der Feier der Aposteltage, bei Parentationen in der Universitätskirche und den vierteljährlichen akademischen Redeacten kamen die Vormittagsstunden in Wegfall. Bei den Namenstagen der vier oberen Lehrer war je ein Tag frei. Zur Einübung auf das Neujahr-, Gregorii- und Martini-Singen sollten jedesmal acht Tage freigegeben werden, doch so, daß Montag, Dienstag, Mittwoch und Sonnabend Vormittagsstunden wären, »und niemals dabey ausgeschlafen« würde. So bestimmte es die Schulordnung24. Thatsächlich aber waren zur Vorbereitung auf das Neujahrsingen nicht weniger als vier Wochen genommen worden. Im Jahre 1733 machte dann der Rector den Versuch, die Vorbereitungszeit für den Gregorius-Tag auf sechs bis acht Nachmittage, für den Martinus-Tag auf vier, für die Neujahrs-Umgänge auf zwölf bis vierzehn Nachmittage einzuschränken. Während dieser Vorbereitungen fielen sämmtliche Nachmittags-Singstunden des Cantors aus25. Auch der Kirchendienst dauerte nicht das ganze Jahr hindurch. In der Fastenzeit wurde keine concertirende Kirchenmusik gemacht, ausgenommen am Feste der Verkündigung Mariä; dasselbe galt von den drei letzten Adventsonntagen26. Sonst hatte der Cantor jeden Sonntag eine Cantate [19] aufzuführen. Nur an Festtagen war er stark in Anspruch genommen, besonders zur Zeit der drei hohen Feste, wo er für je zwei Fest-Tage je zwei Kirchenmusiken zu besorgen, und von einer jeden derselben zwei Aufführungen zu veranlassen hatte, wenn ihm auch der zweite Chorpräfect täglich die Direction der einen von ihnen abnahm.

Der Cantor hatte, wie schon berührt worden ist, eine freie Dienstwohnung. Sein übriges Jahreseinkommen belief sich ungefähr auf 700 Thaler27, entzog sich indessen seiner Natur nach einer ganz genauen Berechnung. Der feste Gehalt betrug von Seiten des Raths nur 100 Gülden = 87 Thlr. 12 ggr. und 13 Thlr. 3 ggr. Holz- und Lichtgeld. Außerdem erhielt der Cantor, wenigstens zu Bachs Zeit, 1 Thlr. 16 ggr. aus der Bergerschen, die gleiche Summe wie es scheint aus der Frau Bergerschen, die gleiche Summe aus der Adlershelmschen und 5 ggr. jährlich aus der Meyerschen Stiftung, ferner nahm er mit größeren oder kleineren Beträgen (3 Thlr. 18 ggr., 21 ggr., 10 ggr. 6 Pf. u.s.w.) an einigen der Thomasschule zugewendeten Legaten Theil, endlich wurden ihm an Naturalien 16 Scheffel Korn, 2 Klafter Scheitholz und aus den Mitteln der Thomaskirche je zwei Kannen Wein à 10 ggr. zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten geliefert28. Alles übrige waren Accidentien. Diese flossen zunächst aus dem Schulgelde. Wöchentlich zweimal gingen acht Thomasschüler mit Büchsen durch die Stadt, um von einer bestimmten Anzahl von Wohlthätern der Schule milde Gaben – das sogenannte Currende-Geld – einzusammeln. Hiervon wurden für jeden Schüler sechs Pfennige als wöchentliches Schulgeld abgezogen und dieses monatlich unter die vier oberen Lehrer vertheilt29. Der sehr geringe Satz[20] findet seine Erklärung in dem Principe, vorzugsweise die Kinder unbemittelter Eltern in der Thomasschule zu erziehen. Von dem Gelde, welches bei den Michaelis- und Neujahr-Umgängen gesammelt wurde, erhielt, nach Abzug eines Thalers für den Rector, der Cantor zunächst 1/11, und nach Abzug von 1/11 für den Conrector und 16/33 für die Sänger nochmals 1/4 des Restbetrages. In ähnlicher Weise wurde ein gewisses im Sommer gesammeltes Geld vertheilt30. Was am Gregorius-Tage einkam, diente zu 1/10 zunächst dem Rector für Anrichtung eines Conviviums, das er den vier obern Lehrern zu geben hatte, von dem Rest erhielt der Cantor 1/331. Eine weitere Einnahme waren die Leichengelder. Ging die ganze Schule mit und wurde vor dem Trauerhause eine Motette gesungen, so erhielt der Cantor 1 Thlr. 15 ggr., ohne Motette 15 ggr., bei der großen halben Schule bekam er 1 Thlr., bei der kleinen halben Schule 4 ggr., bei der Viertels-Schule 6 Pfennige32. Von Brautmessen erhielt der Cantor 2 Thlr.33 Ein größtentheils auf Accidentien gegründetes Einkommen hatte natürlich seine mißlichen Eigenschaften. Es ließ sich niemals mit Sicherheit im Voraus überschlagen und war von allen möglichen Zufälligkeiten, ja buchstäblich von Wind und Wetter abhängig. Denn, schreibt Bach an Erdmann, wenn eine gesunde Luft in Leipzig herrscht, so giebt es weniger Leichen und folglich eine empfindliche Einbuße in den Einkünften des Cantors. Nach dieser Theorie hätte eigentlich das Behagen des Cantors mit der zunehmenden Sterblichkeit der Bürgerschaft wachsen müssen. Viele versuchten auch, durch Umgehung der gesetzlichen Vorschriften und Durchbrechung althergebrachter Sitten den Cantor um seine Gebühren zu bringen. Kuhnau mußte es dem Rathe klagen, daß viele vornehme Brautpaare sich ohne Sang und Klang oder gar auf dem Lande trauen ließen, daß an den Sonn- und Wochentags-Stunden, an welchen sonst nur solenne, einträgliche Brautmessen hätten stattfinden dürfen, jetzt alles und jedes zur Trauung zugelassen werde, daß viele auch ihre Verstorbenen [21] mit der kleinen halben Schule, aber weil sie sich dessen vor der Öffentlichkeit schämten, in der Stille beisetzen ließen; neue Compositionen für solche Gelegenheiten würden vollends selten noch bei ihm bestellt34. Auch für das Unwürdige einer Einrichtung, welche geschehen ließ, daß einem hervorragenden Kirchen- und Schul-Beamten seine Subsistenzmittel bei Groschen und Pfennigen, und zum Theil gar durch Vermittlung spendensammelnder Schüler ins Haus gebracht wurden, fehlte trotz mancher Verschiedenheit jetziger und früherer Anschauungen die Empfindung nicht. Bei der zunehmenden Naseweisheit der Jugend, meinte der Rector Gesner, würde es sehr wünschenswerth sein und vieler üblen Nachrede die Wurzel abschneiden, wenn das Unterrichtsgeld für die Lehrer nicht mehr von den Currende-Geldern abgezogen würde. Die Vertheilung der Leichengelder hatte Joh. Heinr. Ernesti selbst übernommen, um nur das viele Klagen, den Verdruß und die Unruhe zu vermeiden, die jeder Zeit dieses Geldes wegen erregt worden seien. Hierbei müsse er aber viel leiden und sich auf dem Rathhause und in der ganzen Stadt als der ungerechteste Mann verleumden lassen35. Aber, wie dem auch sein mochte, so viel stand fest, daß das Einkommen des Thomas-Cantors selbst einem Bach mit seiner zahlreichen Familie in bürgerlich einfachen Verhältnissen bequem zu leben gestattete. Zeugen dafür sind die wohlgeordneten Finanzen und das solid ausgestattete Hauswesen, welches Bach bei seinem Tode zurückließ.

In Beziehung also auf amtliche Stellung und Beschäftigung, sowie auf materielle Versorgung war die Lage des Thomascantors eine günstige zu nennen. Blickt man über das Zunächstliegende hinaus, so fallen freilich in das helle Bild verschiedene tiefe Schatten. Die Thomasschule war seit dem Beginne des 18. Jahrhunderts in einem Zustande erschreckenden Verfalles. Zum Theil lag die Schuld an ihrer Organisation. In Gemäßheit der Stiftungen, auf welche sie sich gründete, sollte sie einerseits eine Pflegestätte kirchlicher Musik, andrerseits vorzugsweise eine schola pauperum sein. Gründlichkeit und Stetigkeit der geistigen Ausbildung, strenge und unablässige Ueberwachung der Schüler wurden durch die vielfachen Verwendungen, [22] welche dieselben zu musikalischen Zwecken fanden, fast unmöglich gemacht. Und doch war solches bei den Kindern der niedern Classen, und vollends unter der damaligen Generation, doppelt von nöthen. Allein es hatte auch unter den Lehrern zu lange an den Persönlichkeiten gefehlt, welche ihrer Stellung gewachsen waren. Als Bach sein Amt antrat, fand er als Rector der Schule einen Greis, der diese Stelle schon nahezu 40 Jahre bekleidete. Johann Heinrich Ernesti war im Jahre 1652 als Sohn eines sächsischen Dorfpredigers geboren, studirte in Leipzig Theologie und Philosophie, wurde 1680 Sonnabendsprediger an der Nikolaikirche und Conrector an der Thomasschule, 1684 an dieser Anstalt Rector, 1691 zugleich Professor poeseos an der Leipziger Universität36. Ein nicht ungelehrter Mann scheint er übrigens zur Leitung einer öffentlichen Unterrichtsanstalt dieser Art wenig geeignet gewesen zu sein. Weder Lehrer noch Schüler wußte er im Takte zu halten. Das Lehrercollegium lebte in Uneinigkeit, Eifersucht und mangelhafter Pflichterfüllung dahin, die Schüler verkamen in Zuchtlosigkeit und Unreinlichkeit. Jahrelang war die Thomasschule ein Heerd widerlicher Krankheiten, die sich um so tiefer einnisten mochten, als – wofür freilich der Rector endlich nicht verantwortlich war – in den Räumlichkeiten der Schule die größte Beschränktheit herrschte: vor dem im Jahre 1731 unternommenen Ausbau des Schulhauses wurden die Secundaner und Tertianer einerseits, und andrerseits die Quintaner, Sextaner und Septimaner in einem und demselben Locale von ihren verschiedenen Lehrern zu gleicher Zeit unterrichtet37. Die Folge war, daß die Frequenz der Schule sich sehr verringerte. Allerdings auf das Alumnat waren immer genug Aspiranten vorhanden, sicherte dieses doch eine fast kostenfreie Existenz und überdies einen nicht unbeträchtlichen Verdienst. Wie zu der Schule des reich dotirten Michaelisklosters in Lüneburg so zogen auch zu dem Alumnat der Thomasschule selbst aus entlegenen Gegenden die Knaben heran. Aber im übrigen fing die bessere Welt an, sich von der übel beleumdeten Anstalt fern zu halten. Am klarsten ließ sich dies aus dem [23] Besuch der drei untersten Classen erkennen. Sie, die in Ernestis früheren Jahren zusammen oft über 120 Schüler gezählt hatten, wiesen im Jahre 1717 im Ganzen nur 53 Schüler auf38. Wer seine Kinder in der Nikolaischule nicht unterbrachte, gab sie lieber in eine der zahlreichen Winkelschulen oder hielt sich einen Privatlehrer, was auch nicht allzu kostspielig war, denn eine Privatstunde wurde damals in Leipzig mit 12 bis 18 Pfennigen bezahlt. In die untern Classen der Thomasschule gingen nur Knaben der allerschlechtesten Qualitäten, die sich aus dem Leichensingen einen Verdienst machen wollten, von den Lehrern angehalten werden mußten, nicht barfuß neben den Leichenzügen herzulaufen, und die gelegentlich in der Stadt umherbettelten39. Vor diesem verwahrlosten Zustande konnte der Rath endlich nicht mehr die Augen verschließen. Es wurde eine Visitation der Schule und eine Revision der Schulordnung beschlossen. Einstweilen blieb es bei dem guten Vorsatze. Der vom Rathe bestellte Vorsteher der Schule, Dr. Baudiß, mahnte im Jahre 1709, die Schule habe die längst beschlossene Visitation sowohl der Lehrer als der Schüler wegen höchst nöthig40; man scheute sich offenbar, die Sache anzurühren und ließ die wüste Wirthschaft fortdauern. Endlich im Jahre 1717 wurde mit der Reform scheinbar Ernst gemacht. Die Visitation erfolgte, außerdem hatte jeder Lehrer ein Gutachten über den Stand der Schule abzugeben und seine Wünsche auf Verbesserungen vorzutragen. Hier kamen denn sehr unerfreuliche Dinge zu Tage. Der alte Ernesti mußte selbst gestehen: »Sonsten kann ich bey dieser Gelegenheit nicht verhalten, wasmaßen bey denen Classibus inferioribus ein gar betrübter Zustand bishero sich hervorgethan, und sind sie beynahe dahin. So kann ich auch nicht anders, als mit Wehmuth schreiben, daß bey Beschaffenheit dieser Zeiten unter den superioribus, sonderlich bey dem Choro musico [24] mehr schlimmes zu besorgen, als gutes zu hoffen«41. Dann vergingen wieder einige Jahre. 1721 lag der Entwurf einer neuen Schulordnung vor, 1723 wurde er publicirt. Thatsächlich wurde dadurch wenig oder garnichts gebessert. Ernesti sträubte sich aufs äußerste gegen alle Änderungen. Soweit sie sich auf die Vertheilung des Schul- und Sing-Geldes und andre pecuniäre Dinge bezogen, sah er darin eine Kränkung seines Alters und eine Verkürzung seiner Emolumente, und von dem Cantor wurde ihm hierin secundirt. Man glaubte wohl Grund zu haben, dem alten Manne nicht allzu wehe thun zu sollen. So blieb denn bis zu seinem Tode (16. Oct. 1729) ziemlich alles beim Alten, oder richtiger, die Zustände verschlimmerten sich noch mehr. Am 11. Nov. des Jahres der Reorganisation mußten schon wieder sämmtliche Alumnen vor den Rath citirt und wegen ungebührlichen Lebenswandels und Unbotmäßigkeit gegen ihre Lehrer ernstlich vermahnt werden42. Am 30. Aug. 1730 berichtete der Schulvorsteher, Appellationsrath Dr. Stiglitz, die Uneinigkeit der Herren Praeceptoren und wie nicht alle und jede ihres Amtes gehörig wahrnähmen, ebenso der Verfall der Disciplin und die Unordnung in dem Leben und Wandel der Alumnen seien nur allzubekannt. Die Schule sei »sonderlich in Abfall und beynahe in verwildertes Wesen gerathen«43. Bald darauf war die Frequenz der Schülerzahl in den drei unteren Classen so gesunken, daß der Vorschlag gemacht werden konnte, sie ganz eingehen zu lassen.

 

Natürlicherweise wirkten diese Zustände auf die Beschaffenheit der Singchöre zurück. Man darf ohnehin von den Leistungen der Schulchöre im 17. und 18. Jahrhundert nicht allzu günstig denken. Das freimüthige Wort an das deutsche Volk, mit welchem J.A. Hiller seine »Anweisung zum musikalisch richtigen Gesange« (1774) eröffnete: »Jedermann singt, und der größte Theil singt – schlecht«, war fünfzig und hundert Jahre früher eine noch viel zutreffendere Wahrheit. Damals gab es wirklich überall unter den Deutschen keine echte Gesangskunst, geschweige daß sie in den Schülerchören eine Heimath gefunden hätte. Aus ungebildeten Knaben- und unreifen [25] Männerstimmen wäre ein vorzügliches Chormaterial auch dann nicht zu gewinnen gewesen, wenn günstigere allgemeine Culturverhältnisse und höhere Kunstanschauungen geherrscht hätten, als daß nächst der Ehre Gottes die Gesangstunden im Lectionsplan dem Zwecke dienten, die Verdauung der Schüler zu befördern44. Die allgemeine, Jahrhunderte alte Sitte des Current-Singens hat unzweifelhaft sehr viel beigetragen, im Volke die Liebe zur Musik zu nähren und den innern Zusammenhang zwischen Volk und Tonkunst zu wahren. Unzweifelhaft ist aber auch, daß das Current-Singen die Entwicklung der Gesangskunst mindestens in gleichem Maße gehindert hat. Diese langdauernden, fast immer in die rauheste Jahreszeit fallenden Umgänge, bei welchen die Schüler entweder in nebliger, kalter Luft stundenlang von Haus zu Haus sangen, oder in athemloser Hast durch alle Stockwerke kletterten, um vor der Thür eines jeden Bewohners ihre Lieder hören zu lassen, waren ein Ruin für die Stimmen. Kuhnau sprach aus langjähriger Erfahrung, wenn er 1717 berichtete, daß die besten Sänger und besonders die Discantisten, wenn sie bei dem vielen Leichen-, Hochzeits- und Current-Singen nicht geschont werden könnten, ihre Stimmen eher verlören, als sie es auch nur zu einer mäßigen Geschicklichkeit im Gesange gebracht hätten45. Nun denke man sich als diese Sänger zuchtlose junge Leute, die das durch ihren Gesang erworbene Geld in unerlaubten Vergnügungen vergeudeten, außerdem durch Krankheiten geplagt und geschwächt waren. Es mußte wenig erfreulich sein, mit einem solchen Materiale zu arbeiten.

Es kam noch etwas hinzu, was in den ersten Decennien des 18. Jahrhunderts den Thomanerchor vollständig herunter brachte. Leipzig lag in gefährlicher Nähe von Dresden und Weißenfels, zwei der Opernmusik sehr ergebenen Höfen. Bei dem starken Fremdenzufluß [26] erschien es ein zeitgemäßes Unternehmen, als im Jahre 1693 Nikolaus Strungk am Brühl ein eignes Opernhaus einrichtete, um in demselben während der Zeit der Messen »gewisse Operetten zu halten«. Die Leipziger Oper hat freilich ebensowenig Bestand gehabt, wie die Hamburger, hinter der sie übrigens schon deshalb weit zurückstand, weil sie nur in bestimmten kurzen Zeiten des Jahres existirte. Sie wurde im Jahre 1729 geschlossen und das Opernhaus abgetragen. Aber sie dauerte doch lange genug, um einige Jahrzehnte hindurch das dortige Musikleben merklich zu beeinflussen. In dem Erlaubniß-Decret hatte der Churfürst die Hoffnung ausgesprochen, es werde die Leipziger Oper zur Beförderung der Kunst beitragen und zugleich eine Art Vorschule für die Dresdener Oper abgeben, er meinte hinsichtlich der Instrumentalisten, denn deutsche Sänger konnte er unter seinen Italiänern nicht brauchen46. Sicher ist zunächst, daß die Oper die originalen Musikeinrichtungen Leipzigs für längere Zeit ruinirte. Derjenige, welcher, vielleicht unbewußt, den ersten entscheidenden Stoß gegen sie führte, war Telemann, und es ist eine eigne Fügung, daß nach Kuhnaus Tode der Rath sich eifrigst bemühte, grade ihn an die Spitze desjenigen Instituts zu bringen, dem er so sehr geschadet hatte. Es ist erwähnt worden, daß Telemann, während er in Leipzig studirte, eine rege Thätigkeit als Dichter, Componist und Darsteller von Opern entwickelte. Im Jahre 1704 wurde ihm mit dem Organistenamt auch die Direction der Kirchenmusik an der Neuen Kirche übertragen. Den gewöhnlichen Kirchenchor bildeten Thomaner, und daß man den Thomascantor bei der Directionsfrage ganz ignorirte, empfand Kuhnau mit Recht als eine Kränkung. Die directe Verbindung, welche in Telemanns Person zwischen Oper und Kirche hergestellt war, übte sofort ihren unheilvollen Einfluß. Früher hatten die Thomanerchöre durch musikalische, stimmbegabte Studenten, die zum Theil selbst der Schule angehört hatten und Anhänglichkeit an sie bewahrten, eine nicht unbeträchtliche Verstärkung erfahren. Auch als die Oper eingerichtet war und die gesangsfähigen Studenten in ihr Vergnügen und Gewinn suchten, blieb die Sitte, sich für die Sonn- und Festtags-Aufführungen dem Thomanerchore anzuschließen, [27] unter ihnen bestehen. Seit aber einer der Ihrigen die Opern für sie schrieb, einen Musikverein unter ihnen gründete und Kirchenmusiken dirigirte, gingen sie mit diesem und ließen Kuhnau im Stich47. Die Aufführungen in der Neuen Kirche fanden eine rasch wachsende Theilnahme. Hier konnte man nicht nur muntere, opernhafte Weisen hören, sondern sich auch an einer frischen, trefflichen Execution erfreuen. Der Musikverein, welcher diese Aufführungen veranstaltete, nahm bald bedeutende Dimensionen an; zwanzig Jahre hindurch und länger war er Leipzigs hervorragendstes musikalisches Institut. Seine Dirigenten waren die Organisten an der Neuen Kirche, es machte sich somit von selbst, daß der Verein mit dieser Kirche in engsten Beziehungen blieb. Unter dem Nachfolger Telemanns, Melchior Hoffmann (1705–1715), scheint er seine Glanzperiode erlebt zu haben. Er zählte oft gegen 60 Personen, welche sich wöchentlich zweimal, nämlich Mittwochs und Freitags, von 8 bis 10 Uhr Abends zu gemeinschaftlichen Übungen versammelten. Seine Productionen, die nur an den hohen Festen und in der Meßzeit stattfanden, waren für das musikliebende Publicum jedesmal ein Ereigniß. Mit der Oper hielt er sich schon durch seinen Dirigenten in Verbindung, der auch hierin in Telemanns Fußstapfen trat, daß er für die Leipziger Bühne componirte. Überhaupt aber ging es in jenem Kreise lustig her: des Tages musicirte man in fröhlichen Gesellschaften, des Nachts auf den Gassen, und auch bei den regelmäßigen Übungen, die in einem Kaffeehause am Markte stattfanden, und Zuhörer nicht ausschlossen48, herrschte eine Heiterkeit, die gegen Schul-Singestunden scharf contrastirte. Die Hoffnung, welche der Churfürst Johann Georg auf die Leipziger Oper gesetzt hatte, ging zum Theil an dem Collegium musicum der dortigen Studenten in Erfüllung. Verschiedene Male, wenn die sächsischen und andre Landesherren nach Leipzig kamen, durfte es sich vor ihnen hören lassen, und seine besten Kräfte fanden Engagements an fürstlichen und andern Capellen. So gingen Pisendel und Blochwitz [28] nach Dresden, Böhm nach Darmstadt, die Sänger Bendler und Petzhold nach Wolfenbüttel und Hamburg. Andere, die schon anderswo in Opern gesungen hatten, traten, wenn sie nach Leipzig kamen, in das Collegium ein. Übrigens war der Gesang darin schwächer vertreten, als das Instrumentenspiel, wie es in jener Zeit das gewöhnliche war. Bei den Aufführungen in der Neuen Kirche war jede Singstimme nur einfach besetzt. Stölzel, der zwischen 1707 und 1710 dem Vereine ebenfalls angehörte, hat uns die Namen der vier damaligen Sänger aufbewahrt. Bassist war Langmasius, später Kammerrath zu Eisenach, Tenorist Helbig, nachmals Regierungs-Secretär zu Eisenach und Dichter von Cantaten-Texten49, Sopranist Markgraf, der hernach als Conrector in Augsburg wirkte, und als Altistens glaubte sich Stölzel eines gewissen Krone zu erinnern, welcher als Kammermusiker in Weimar starb. Hoffmann selbst war ein feiner Musicus, der sich auch bemühte, seine Kunst in der Fremde zu zeigen: er soll 1710 eine zweijährige Kunstreise unternommen und auf ihr auch England besucht haben. Unterdessen vertrat ihn im Musikverein der treffliche Geiger Pisendel50. Hoffmanns Nachfolger wurde Johann Gottfried Vogler, »ein muntrer Componist und starker Violinist«, wie Telemann sagt. Eine gewisse »Munterkeit« scheint ihm auch im Leben eigenthümlich gewesen zu sein; er gerieth in Schulden und 1719 zur Zeit der Michaelismesse machte er sich heimlich aus dem Staube51. Die Sache erregte bedeutendes Aufsehen; man scheint ihn auch wieder eingefangen zu haben, denn er erhielt noch Besoldung bis zum ersten Quartale des folgenden Jahres einschließlich, für das zweite Quartal wurde sie zurückbehalten, weil er der Kirche einige Instrumente entfremdet und noch nicht wieder herbeigeschafft hatte52. Mit dem dritten Quartale trat [29] dann Georg Balthasar Schott ein, den wir als Mitbewerber Bachs um das Thomas-Cantorat schon genannt haben.

Während so der studentische Musikverein und die Oper den Ton angaben, hatte der Thomascantor schlechte Tage. Der Ausfall an Mitwirkenden war für ihn um so empfindlicher, als er immer an den Festtagen und in der Meßzeit am sichersten eintrat, wo er selbst zahlreicherer Kräfte bedurfte und vor den Fremden gern im günstigen Lichte erscheinen wollte. Da konnte er denn zusehen, wie er sich mit einem wüsten Haufen krätziger Schüler, die sich auf den Gassen heiser geschrieen hatten, und einigen mittelmäßigen Stadtmusikanten behalf. Kunstvollere Stücke konnte er garnicht mehr singen lassen; wenn er es einmal versuchte, fiel die Ausführung so jämmerlich aus, daß er sich vor der Zuhörerschaft nur schämen mußte. Früher hatte der Rath der Stadt zur Hebung des Chores wohl ein Übriges gethan. Zu Johann Schelles Zeiten hatte er gestattet, daß immer vier bis fünf Alumnen mehr, als den Stipendien nach geschehen sollte, in der Thomasschule Aufnahme fanden. Mittel zu ihrer Versorgung waren reichlich vorhanden, und der Musik kam die Toleranz zu gute. Als aber Schelle starb und seine Wittwe die Schulspeisung erhielt, bezeigte ihr der Rath sein Wohlwollen dadurch, daß er die überzähligen Alumnen abschaffte; sie brauchte für dasselbe Geld nun weniger zu kochen. Kuhnau bemühte sich unablässig um Wiederherstellung der früheren Einrichtung, oder irgend einen Ersatz für dieselbe. Er stellte vor, wie eine Vermehrung der musicirenden Kräfte niemals nöthiger gewesen sei, als jetzt; der Schulvorsteher unterstützte seine Vorstellungen – sie blieben ohne nennenswerthen Erfolg. Nicht einmal soviel konnte er erreichen, daß zwei Discantisten nur für die Kirchenmusik verwendet und aller andern Gesangsverpflichtungen enthoben wurden. Da sie dann an den Leichen- und Current-Geldern keinen Theil hätten haben können, so wäre eine Entschädigung nöthig gewesen. Das Geld dafür wollte der Rath nicht aufwenden. Es bestand die Einrichtung, jedesmal zwei Knaben nur von den Neujahrsumgängen, welche die angreifendsten waren, zu dispensiren; sie erhielten dagegen jährlich im Ganzen vier Gülden. Hierbei blieb es53. Augenscheinlich fehlte [30] das Interesse, die Musik in der Thomas- und Nikolai-Kirche zu unterstützen, nachdem man in der Neuen Kirche so viel Besseres zu hören glaubte. Nach Voglers Rücktritt machte Kuhnau den letzten Versuch, die verlorene Position wieder zu gewinnen. Er legte dar, wie das Treiben der »Operisten« in der Neuen Kirche der Bürgerschaft allen Sinn für echte Kirchenmusik benähme, wie die Orgel zu ihrem Verderben bald von diesen, bald von jenen »ungewaschenen Händen« bearbeitet würde, da der Musikdirector entweder nicht selbst spielen könnte, oder, nach Operisten-Art, alle Augenblick verreiset sei. Es wäre besser, wenn ein wirklicher beständiger Organist dort waltete, die Direction der Musik aber dem Thomascantor übertragen würde. Dann könne man, wie jetzt sonntäglich in zwei Kirchen abgewechselt werde, so künftighin in dreien reiheum musiciren. Und wenn an den Festtagen, wie bisher, in allen drei Kirchen Cantaten aufgeführt werden sollten, so vermöge der Cantor auch dieses zu leisten, denn er habe dann freie Verfügung über eine Menge von Studenten und könne sie nach seinem Ermessen in die Kirchen vertheilen. Den Studenten müsse ein Gratial gewährt werden, damit sie Lust zur Sache behielten; auch als Organisten in der Neuen Kirche könne man einen Studenten anstellen. Wolle aber der Rath auf alles dieses sich nicht einlassen, so müsse wenigstens auf ein Mittel gesonnen werden, diejenigen jungen Leute, welche von der Thomasschule die Universität bezögen, an den Thomanerchor zu fesseln54. Auch dieses Mal hatte Kuhnau vergeblich geschrieben. Schott erhielt das Organistenamt nebst der Direction, und es blieb alles beim Alten. Machte Kuhnau einmal einen schüchternen Oppositionsversuch, wie 1722, wo er sich wegen Herleihung der Thomaner zur Passionsmusik in der Neuen Kirche schwierig zeigte, so wurde er vom Rathe rücksichtslos zur Ordnung gerufen55.

Um die Zerrüttung vollständig zu machen, wurden die Thomasschüler selbst vom Opernfieber ergriffen. Es war eigentlich kein Wunder, da sie das verlockende Treiben immer vor Augen hatten. Sobald sie auf der Schule zu einer gewissen Fertigkeit im Gesange und in der Musik gekommen waren, sehnten sie sich aus der Enge des Alumnats hinaus in die Freiheit, träumten von Künstlerlorbeeren, [31] und waren auf der Schulbank nichts nütze mehr. Machten sie dann mit Opernunternehmern Bekanntschaft, so erhielten die Tüchtigsten unter ihnen wohl auch Anerbietungen. Nun verlangten sie flugs ihre Entlassung aus dem Schulverbande und wurde diese nicht gewährt, so liefen sie eigenmächtiger Weise davon, kamen mit irgend einer Operntruppe in der Meßzeit wieder und erregten durch ihr Auftreten im Theater und in der Neuen Kirche den Neid ihrer einstigen Schulkameraden. Ein Discantist, Namens Pechuel, war mit Erlaubniß des Rathes bisweilen nach Weißenfels gegangen, um in der Oper mitzuwirken. Er wollte mit der Zeit diese Kunstreisen weiter ausdehnen und auch in Naumburg Gastrollen geben. Das verbot der Rath; das junge Genie sprengte die unwürdigen Fesseln und entfloh. Dies geschah im Jahre 1706. Zwei Jahre später lief ihm ein Bassist, Namens Pezold, nach56. Bei beiden hatte ein ehrsamer Leipziger Bürger den Helfershelfer gemacht57. Man ersieht unschwer, auf welcher Seite damals die Sympathien des Publicums waren. Als Kuhnau für immer die Augen schloß, lag die Musik des Thomanerchors gänzlich am Boden, und das einjährige Interregnum, welches bis zum Eintritt des neuen Cantors herrschte, trug sicherlich nichts dazu bei, sie wieder aufzurichten.

Es ist unmöglich, daß Bach von allen diesen Dingen nicht genaue Kenntniß gehabt haben sollte, da er doch ein Bekannter Kuhnaus und mehre Male selbst in Leipzig gewesen war. Wie oben erzählt worden ist, schwankte er längere Zeit, ob er wohl daran thäte, Kuhnaus Nachfolger zu werden. Sein Schwanken war in mehr als einer Beziehung wohl begründet. Bot Leipzig sonst noch etwas, das ihn als Musiker hätte locken, ihm Anregung und Handhabe zu ersprießlichem künstlerischen Wirken hätte bieten können? Die Frage läßt sich kaum bejahen. Bedeutende Tonkünstler gab es damals dort nicht. Der einzige, der in seinem Fache neben Kuhnau etwas hervorragenderes geleistet hatte, Daniel Vetter58, war vor zwei Jahren [32] als Organist der Nikolai-Kirche gestorben. Diesen Mangel konnte Bach, ein Mann von so gewaltiger Productionskraft und so entschiedener Selbständigkeit, allerdings verschmerzen, hätte er nur irgend brauchbare Organe zur Verfügung gehabt, um selbst etwas zu gestalten. Leipzig war eine volkreiche, viel besuchte, durch verschiedenfache Interessen belebte Stadt; ein Kunstmittelpunkt, wie Dresden, Wien, München, ja selbst Hamburg, war sie nicht. Es wurde allerdings ziemlich viel musicirt, aber das geschah in Deutschland überall. Von einem Bestreben der Bürgerschaft, aus ihren Mitteln heraus etwas kunstförderliches zu schaffen, ist in jener Zeit garnichts zu merken; erst als Bach dem Greisenalter nahe stand und es für ihn zu spät war, beginnt ein andrer Sinn sich geltend zu machen. Einzig unter der Studentenschaft herrschte Lust und Frische zur Musik. Es hätte Kuhnau wohl gelingen können, die akademische Jugend an sich zu fesseln, wenn er etwas weniger zaghaft und conservativ gewesen wäre. Selbst neben dem so mächtig emporblühenden Telemannschen Musikverein war das noch möglich. Aber er wußte die Sache nicht richtig anzugreifen. Er sah, wie sein langjähriger Schüler Fasch ein zweites Collegium musicum unter den Studenten gründete, mit diesem in der Universitätskirche Musikaufführungen veranstaltete, trotzdem Kuhnau selbst der eigentliche Universitäts-Musikdirector war. Nur mit Anstrengung gelang es ihm, wenigstens vorläufig zu verhindern, daß dieses Collegium musicum sich in der Universitätskirche eben so festsetzte, wie das Telemannsche in der Neuen Kirche59. Zu der im Herbst 1716 vollendeten neuen Orgel wurde in Johann Gottlieb Görner ein höchst rühriges Individuum berufen. Es ist nicht nachzuweisen, ob es Faschs Musikverein war, dessen Direction Görner übernahm, und ob jener Verein überhaupt bis dahin Bestand gehabt hat. Nur das wissen wir bestimmt, daß Görner an der Spitze eines zweiten durchaus lebenskräftigen Collegium musicum stand, als Bach die Stelle an der Thomasschule antrat60. Görner, geb. 1697, war nach Vetters Tode Organist an der Nikolai-Kirche geworden. Als im Herbst 1729 der [33] alte Christian Gräbner gestorben war, folgte er ihm im Januar 1730 als Organist der Thomaskirche61. Er war also gewissermaßen Bachs Untergebener. Aber es fiel ihm nicht ein, sich bescheiden vor diesem Großen zurückzuhalten. Vielmehr trat er keck als Rival auf. Als einmal (im Winter 1727/28) Landestrauer herrschte, erbat er sich die Erlaubniß, trotzdem seine musikalischen Versammlungen weiter halten zu dürfen. Denn, gab er an, in seinem Vereine brächten die von den Schulen kommenden Studenten die musikalischen Fertigkeiten, welche sie sich bis dahin erworben hätten, zur Vollkommenheit, präsentirten sich durch die Aufführungen zur Meßzeit den Fremden und fänden auf diese Weise den Weg zu Cantoren- und Organisten-Stellen62. Also wenn ein Thomaner die Bachsche Lehre verließ, wollte ihm Görner den letzten Schliff geben. Sein dreistes Betragen nimmt um so mehr Wunder, als er im Grunde nur ein recht mittelmäßiger Musiker gewesen zu sein scheint. Ein Leipziger Kunstgenosse, Johann Adolph Scheibe, fällt im Jahre 1737 über Görner ein sehr herbes Urtheil, das vielleicht durch persönliche Gereiztheit etwas beeinflußt worden ist, aber im Ganzen doch die Wahrheit nicht allzuweit verfehlt haben kann. »Er hat die Musik seit vielen Jahren getrieben, und man sollte meinen, die Erfahrung habe ihn einmal auf den rechten Weg gebracht; allein, es ist nichts unordentlicheres, als seine Musik. Das innere Wesen der verschiedenen Schreibarten nach ihren verschiedenen Abtheilungen ist ihm ganz und gar unbekannt. Die Regeln sind solche Sachen, die er täglich entbehren kann, weil er sie nicht weiß. Er setzet keine reine Zeile; die gröbsten Schnitzer sind die Zierrathen aller Takte. Mit einem Worte: er weiß die Unordnung in der Musik am allerbesten vorzustellen«. Dann, zu seinem Charakter übergehend: »Der Hochmuth und die Grobheit haben ihn dabei so eingenommen, daß er sich vor dem ersten selbst nicht kennt, durch das andre aber unter einer großen Menge seinesgleichen den Vorzug erhält«. Bei einer späteren Gelegenheit verschärft Scheibe dieses Urtheil noch und fügt hinzu: »Er würde dasjenige nicht sein, was er doch ist, wenn nicht ein gewisser Mann alles für ihn gethan hätte. Dennoch hat der Erfolg [34] gezeigt, daß er bei einer gewissen Gelegenheit, da er sich auf eine edle Art hätte dankbar erzeigen können und sollen, nichts weniger als dankbar gewesen ist, sondern daß er vielmehr das erzeigte Gute durch eine heimtückische Bosheit vergolten hat«63. Wer unter jenem Wohlthäter zu verstehen ist, läßt sich nicht angeben. Für die Leipziger Zustände aber ist es bezeichnend, daß ein Mann wie dieser Görner ein Menschenalter hindurch dort neben Bach eine Rolle spielen konnte. Auch an der Universitätskirche hatte er rechtzeitig so festen Fuß zu fassen gewußt, daß es Bach trotz der Macht seines Namens und seiner Persönlichkeit nicht gelingen sollte, ihn aus dieser Stellung zu verdrängen.

Wir werden nun die Lage Bachs wohl nach allen Richtungen hin überschauen. Mehr als bei jedem früheren Orts- und Berufswechsel hatte er dieses Mal einen Schritt ins Ungewisse gethan. Er hatte ihn, um mit seinen eignen Worten zu reden, in des Höchsten Namen gewagt. Der Drang seiner Künstlerseele, wieder in Verhältnissen zu leben, wo es für die Musik der Kirche bedeutendes zu wirken gäbe, schien in Leipzig Befriedigung finden zu können. Der Schritt vom Capellmeister zum Cantor abwärts – denn ein solcher war es nach der Schätzung jener Zeit – wurde ihm erleichtert durch das hohe Ansehen, in welchem das Thomas-Cantorat unter den Musikern stand. Seth Calvisius, Hermann Schein, Tobias Michael, Sebastian Knüpffer, Johann Schelle und Johann Kuhnau, die nacheinander während der letzten 125 Jahre die Stelle bekleidet hatten, waren sämmtlich hervorragende, zum Theil sehr hervorragende praktische Künstler und gelehrte Männer gewesen. Ihre Reihe fortzusetzen war eine Ehre und Bach empfand sie als eine solche. Außerdem aber bot das Cantorat praktische Vortheile, und es scheint, daß diese den Ausschlag gegeben haben. Die Stelle galt für gut dotirt, und der Dienst war kein schwerer. Es soll damit nicht gesagt sein, daß er zur exacten Erfüllung aller Pflichten nicht seinen Mann erfordert hätte. Aber eine Überbürdung mit Amtsgeschäften war nicht vorhanden, es blieb für Bach zum eignen Schaffen freie Zeit genug. Endlich war ihm jetzt gestattet, ohne allzu empfindliche Opfer seinen [35] Söhnen eine höhere Ausbildung zu verschaffen. Wie sehr ihm grade dieses letztere am Herzen lag, geht aus einem rührenden kleinen Zuge hervor. Am 22. December 1723 – er war also ungefähr ein halbes Jahr in Leipzig – begab er sich nach der Universität und ließ den Namen des dreizehnjährigen Wilhelm Friedemann als künftigen akademischen Bürgers in das Studentenverzeichniß eintragen, obwohl derselbe thatsächlich erst am 5. April 1729 die Universität bezog64. Solche frühzeitige Anmeldungen waren nichts unerhörtes; es kam auch vor, daß die Universitäts-Matrikel als Pathengeschenk gegeben wurde; Bach scheint sie seinem Lieblingssohne haben zum Weihnachten schenken wollen. Erwog er gegenüber allen diesen Vortheilen die sehr erheblichen Schattenseiten der Stellung, so hoffte er wohl, vermittelst des großen Rufes, den er genoß, und durch die Kraft seiner Persönlichkeit bessere musikalische Zustände in dem Thomanerchor herbeiführen und die Leitung der musikalischen Angelegenheiten Leipzigs allmählig ganz in seine Hand bekommen zu können. Von wie großer Tüchtigkeit auch seine Amtsvorgänger gewesen waren, an Glanz des Namens überstrahlte der weitberühmte, von einem Fürstenhofe kommende und an Fürstenhöfen wohlgelittene Virtuose sie ohne Frage weit. Auch blieb er nicht nur cöthenischer Capellmeister von Haus aus, sondern wurde in dem Jahre seines Eintritts in Leipzig vom Weißenfelser Hofe mit derselben Auszeichnung bedacht65.

Fußnoten

 

 

III.

 

Die Direction der Musikaufführungen in der Universitätskirche hing nicht untrennbar mit dem Amte des Thomas-Cantors zusammen. Indessen war es von Alters her üblich und vom städtischen Rathe gestattet gewesen, daß er sie besorgte. Solange die Universitätskirche nur an den drei hohen Festen, am Reformationsfeste und zu den vierteljährlichen Redeacten benutzt wurde, erwuchs dem Cantor aus dieser Obliegenheit keine sonderliche Belastung. Seit 1710 jedoch wurde auch dort ein regelmäßiger sonntäglicher Gottesdienst [36] gehalten und hierdurch bekam der Posten des Universitäts-Musikdirectors eine erhöhte Bedeutung. Kuhnau wußte sich auf demselben zu behaupten, obgleich anfänglich durch Fasch der Versuch gemacht worden war, ein vom Cantor unabhängiges studentisches Collegium musicum dort in Thätigkeit zu setzen. Unter Anstrengungen und Opfern gelang es Kuhnau, diesen Versuch zu vereiteln; er erklärte sich nämlich bereit, die neue nicht geringe Arbeit ohne Entgelt zu verrichten und für ein derartiges Anerbieten war die Universität sehr empfänglich1. Nach Kuhnaus Tode hatte einstweilen Görner dessen Stelle als Universitäts-Musikdirector verwaltet. Es verräth Bachs genaue Kenntniß der Verhältnisse, daß er es seine erste Aufgabe sein ließ, Görnern diese Function wieder aus den Händen zu nehmen. Nur wenn er sich unter den Studenten einen festen Anhang zu verschaffen wußte, war Aussicht für ihn vorhanden, auf das Leipziger Musikleben in seinem Sinne einzuwirken. Seine Anstellung war am 13. Mai definitiv geworden. Die erste von ihm als Thomascantor componirte Kirchencantate brachte er am 30. Mai, dem ersten Trinitatis-Sonntage, einen Tag vor seiner Einführung auf der Thomasschule zur Aufführung, hiermit seine musikalische Thätigkeit als Cantor gleichsam eröffnend. Als Universitäts-Musikdirector hatte er schon vierzehn Tage früher, am 1. Pfingsttage, zu functioniren begonnen, jedenfalls auch mit einer eignen Composition2. Aber Görner wußte ebensogut, um was es sich handelte, und war entschlossen soviel für sich zu retten, wie möglich war. An den vier genannten Festtagen und den Quartal-Acten mußte er schon zurücktreten, hier wurden die Ansprüche des Cantors durch ein anerkanntes Gewohnheitsrecht zu kräftig unterstützt. Anders verhielt es sich mit dem Dienst an den gewöhnlichen Sonn- und übrigen kirchlichen Fest-Tagen. Es scheint, daß Görner der Universität einleuchtend gemacht hat, der Cantor könne bei seinen Obliegenheiten in der Thomas- und Nikolai-Kirche den halbwegs gleichzeitigen Dienst in der Paulinerkirche nicht überall mit der nöthigen Pünktlichkeit versehen. Jedenfalls fungirte Görner auch jetzt noch in dem sogenannten neuen Gottesdienste als Universitätsmusikdirector [37] weiter. An dritter Stelle kamen die außerordentlichen Universitätsfeierlichkeiten in Frage. Bach ging von dem Grundsatze aus, dieselben seien längst vor Einrichtung des neuen Gottesdienstes üblich gewesen und immer vom Cantor besorgt worden: folglich gehörten sie zu seinen Dienstpflichten. Er handelte auch sofort nach diesem Grundsatze. Am Montag dem 9. August 1723 wurde der Geburtstag des Herzogs Friedrich II. von Sachsen-Gotha, eines um Förderung der Wissenschaft und Kirche besonders verdienten Fürsten, feierlich begangen: ein Baccalaureus der Philosophie, Namens Georg Grosch, hielt eine Rede de meritis Serenissimi Friderici in rem litterariam et veram pietatem3, auf sie folgte eine von Bach componirte und aufgeführte lateinische Ode, »eine vortreffliche Musik«, wie der Leipziger Chronist4 berichtet, »so daß sich diese Solennität zu jedermanns Vergnügen Vormittags gegen 11 Uhr glücklich geendiget«. Heinrich Nikolaus Gerber, der im Jahre 1724 die Leipziger Universität bezog, erzählte später seinem Sohne, er habe schon damals manches Concert unter Bachs Direction angehört5. Dieses kann sich, da an Kirchenmusik hier nicht zu denken ist, und Bach ein eignes Collegium musicum noch nicht dirigirte, ebenfalls wohl nur auf akademische Aufführungen beziehen6. Indessen endgültig entschieden war durch Bachs energische Besitzergreifung die Sache doch keineswegs. Görner war augenscheinlich ein Günstling der an der Universität maßgebenden Persönlichkeiten. Er empfing überdies ein Honorar aus den für die Dienstleistungen des Cantors ausgeworfenen Mitteln. Das ging denn Bach, der wohl zu rechnen verstand und in finanziellen Dingen äußerst genau war, doch endlich über den Scherz. Nachdem er länger als zwei Jahre lang gute Miene zum bösen Spiele gemacht hatte, meinte er, wenn es ihm [38] schon nicht gelingen wollte, die gesammte Direction dem zähen Görner wieder zu entreißen, wenigstens sich sein Einkommen sichern zu sollen. Er wandte sich also mit einer Eingabe an den König-Churfürsten in Dresden, von dem er eine durchgreifende Sicherung seiner Interessen um so eher erwarten zu können glaubte, als er sich bei Hofe wohlgelitten wußte.


 

»Aller Durchlauchtigster,

Großmächtigster König und Chur Fürst,

Allergnädigster Herr.


 

Eure Königliche Majestät und Chur Fürstliche Durchlaucht wollen allergnädigst geruhen, Sich in allerunterthänigster Submission vorstellen zu laßen, welcher gestalt das Directorium der Music des alten und neüen Gottesdienstes bey Einer Löblichen Universität zu Leipzig, nebst der Besoldung und gewöhnlichen Accidentien mit hiesigem Cantorat zu S. Thomas iedesmahl. auch bey Lebzeiten meines Antecessoris, verknüpft gewesen, nach deßen Absterben aber in währender Vacanz solches dem Organisten zu S. Nicolai, Görnern, gegeben, und mir bey Antretung meines Amtes das Directorium des so genandten alten Gottesdienstes zwar wiederum überlaßen, die Besoldung aber hernachmals abgeschlagen, und solche nebst dem Directorio des neüen Gottesdienstes vorgedachtem Organisten zu S. Nicolai zugeeignet7 worden; und ob wohl bey Einer Löblichen Universität ich mich geziemend gemeldet, und daß es bey der vormahligen Verfaßung gelaßen werden möchte, Ansuchung gethan, dennoch mehr nicht erhalten können, als daß man mir von dem Salario, welches sonst in zwölff Gülden bestehet, die Helffte desselben angeboten.

Alldieweil aber, Allergnädigster König und Chur Fürst, Eine Löbliche Universität mich zur Bestellung der Music bey dem alten Gottesdienste ausdrücklich erfordert und angenommen hat, ich solches Amt bißher auch verrichtet, das Salarium, welches man zu dem Directorio des neüen Gottesdienstes geschlagen mit demselben vormahls gar nicht, sondern eigentlich mit dem alten Gottesdienst verbunden, auch das Directorium des neüen, zugleich auch beym Anfang des neüen Gottesdienstes mit dem alten verknüpffet worden, und wenn ich auch schon das Directorium des neüen, dem Organisten zu [39] S. Nicolai nicht streitig machen wolte, mir doch die Entziehung des Salarii, so allerdings iederzeit, ehe noch der neüe Cultus angestellet worden, zu dem vormahligen gehöret hat, höchst betrübt und nachtheilig ist, auch Kirchen Patroni, was einmahl zu der ordentlichen Besoldung eines Kirchendieners angesetzt und bestimmet ist, anders zu disponiren, und entweder gäntzlich zu entziehen, oder auch zu verkürzen, sonst nicht gewohnet sind, und ich doch mein Amt bey obbemeldeten alten Gottesdienst schon über zwey Jahr ümsonst verrichten müßen. Als ergehet an Eure Königliche Mayestät und Churfürstliche Durchlaucht mein allerunterthänigstes Suchen und Bitten, es wollen Dieselben an die Löbliche Universität zu Leipzig, damit Sie bey der vormahligen Einrichtung es bewenden, und nebst dem Directorio des alten Gottesdienstes mir auch das Directorium des neüen, insonderheit aber die völlige Besoldung des alten Gottesdienstes und beyderseits vorfallende Accidentien fernerweit angedeyen laßen möge, allergnädigsten Befehl ertheilen. Vor solche Allerhöchste Königliche Gnade werde lebenslang beharren


 

Euerer Königlichen Mayestät und

Churfürstlichen Durchlaucht

allerunterthänigst-gehorsamster

Johann Sebastian Bach.

Leipzig: den 14. Sept: 1725.


 

[Adresse:]

Dem Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Augusto, König in Pohlen [folgt vollständiger Titel] Meinem allergnädigsten König, Churfürsten und Herrn8


 

Bach hatte sich in seiner Annahme nicht getäuscht. Schon am 17. Sept. erging vom Ministerium aus Dresden eine Aufforderung an die Universität, den Supplicanten klaglos zu stellen, oder vorzubringen, was sie etwa dagegen einzuwenden hätte. Die Expedition der Sache war so schleunig betrieben worden, daß man sich nicht einmal die Zeit genommen zu haben scheint, Bachs Eingabe genau zu lesen: in dem Referat über den Inhalt seiner Beschwerdeschrift befinden sich Unrichtigkeiten, durch welche die Angelegenheit theilweise in ein falsches Licht geräth9.

[40] Die Universität suchte sich nun ausführlich zu rechtfertigen und setzte Bach von dem Abgange ihres Berichtes in Kenntniß. Bach fand guten Grund zu glauben, daß in diesem Berichte seine Sache nicht wahrheitsgemäß dargestellt sei. Um einer ihm ungünstigen Entscheidung vorzubeugen, schrieb er zum zweiten Male an den König.


 

»Allerdurchlauchtigster,

Großmächtigster König und Churfürst,

Allergnädigster Herr.


 

Nachdem Euere Königliche Mayestät auf mein, in Sachen mich Impetranten eines und die hiesige Universität Impetraten andern Theils betreffend, allerunterthänigst beschehenes suppliciren, allergnädigst ergangenen Befehle zu allergehorsamster Folge, bemeldte Universität den erfoderten allerunterthänigsten Bericht erstattet, auch deßen Abgang mir behörig notificiret, und ich hingegen meine fernere Nothdurfft darbey zu beobachten vor nöthig erachte: Als ergehet an Euere Königliche Mayestät und Churfürstliche Durchlaucht mein allerunterthänigst gehorsamstes Bitten, Sie wollen gedachten Bericht dieserwegen in Abschrift mir zu communiciren, und, biß ich darwieder das benöthigste fürgestellet habe, Dero allerhöchste Resolution annoch anstehen zu laßen, allergnädigst geruhen; ich werde solches bestmöglichst zu beschleunigen nicht ermangeln, und Zeit Lebens in allertiefster Submiszion beharren


 

Eurer Königlichen Mayestät und

Churfürstlichen Durchlaucht

allerunterthänigst-gehorsamster

Johann Sebastian Bach.

Leipzig. den 3. Novembris 1725.


 

[Adresse:]

Dem Allerdurchlauchtigsten, Großmächtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Augusto, König in Pohlen [folgt vollständiger Titel] Meinem allergnädigsten König, Churfürsten und Herrn10


 

[41] Seiner Bitte wurde gewillfahrtet. Er verfaßte darnach eine gründliche Widerlegung der von der Universität eingereichten Rechtfertigungsschrift. Das Document ist sehr interessant, da es wie kein anderes Bachs durchdringende Verstandesschärfe und schneidige Ausdrucksweise darthut.


 

»Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster

König und Churfürst

Allergnädigster Herr.


 

Daß Euere Königliche Majestät und Churfürstliche Durchlaucht mir von demjenigen was die Universität alhier auff meine wegen des Directorii Musices bey dem alten und neuen Gottes Dienst in der Pauliner Kirche und des zu dem erstern gehörigen, bißher verweigerten Salarii wieder sie geführte Beschwerde darwieder eingewendet Abschrifft ertheilen zu laßen allergnädigst geruhen wollen, solches erkenne mit allem unterthänigsten Danck. Ob ich nun wohl vermeinet, es würde die Universität mich sofort gebührend Klaglos stellen, und meinem wohlgegründeten Suchen ohne Weitläuffigkeit stat geben: So muß doch ersehen, wie selbige darwieder unterschiedenes einzuwenden, und zu ihrer Entschuldigung fürzustellen sich Mühe gegeben, daß nemlich

1.) ich ohne allen Grund angegeben, es wäre dasDirectorium der Music bey dem alten und neuen Gottesdienste mit des Cantoris zu St. Thomae Amte nothwendig verknüpfft, da gleichwohl die Universität bey Vergebung des bemeldten Directorii sich in libertate naturali befände, worbey sie iedoch das Directorium des alten Gottesdiensts mir nicht streitig machen noch daß sie mir Krafft eingeführter Observanz deswegen ein Honorarium gereichet, in Abrede seyn. Hiernechst

2.) mein Vorgeben, als hätte ich meine Arbeit seithero ümsonst verrichten müßen, sie üm desto mehr befremde, da aus denen Rationibus Rectoralibus erhelle, welcher gestalt mir sowohl bey allen Quartal-Orationibus, als bey denen Dreyen hohen Festen, wie auch bey dem Festo reformationis Lutheri ein besonderes und ergiebiges Honorarium an 13. Thlr. 10. gr. gereichet worden, und ich solches bißhero iederzeit empfangen hätte. Ferner

3.) daß ich denen gewöhnlichen Quartal-Orationibus bishero [42] zum öfftern in eigener Person nicht beygewohnet, sondern, laut der deshalben beygefügten Registratur, die Absingung derer Moteten durchPraefectos dirigiren laßen. Ingleichen

4.) daß der Cantor zu St: Thomae wegen seiner Sonn- und Festtägigen Amts-Verrichtungen Keinesweges im Stande sey, auch zugleich das Directorium der Music in der Universitäts-Kirche ohne Praejudiz und Unordnung zu übernehmen, immaßen er fast zu eben der Zeit in der Kirchen zu St: Thomae und St: Nicolai die Music zu dirigiren hätte; Besonders

5.) ist gar sorgfältig vorgestellet worden, daß meinem Antecessori vor das Directorium Musices bey dem neuen Gottes-dienst ganz von neuen ein neuesGratial von 12. fl. zugeschlagen worden; Im übrigen

6.) sich so viele von dem Rath wegen der Thomasschüler und derer Stadt- und Kunst-Pfeiffer gemachte Difficultaeten ereignet, daß die Universitaet sich der Beyhülffe derer Studiosorum bedienen, und auff ein ander Subjectum bedacht seyn müßen, welches der Direction der Music in eigener Person ungehindert vorstehen, und das gute Vernehmen mit denen Studiosis, welche sich dem Cantori ohne Entgeld beyzustehen verweigert, beßer unterhalten Könnte; Wozu noch dieses kommen wäre,

7.) daß bey langwieriger Vacanz des officii nach erfolgten Tode des vorigen Cantoris, die Universitaet das Directorium Musices bey dem neuen Gottes-Dienst Johann Gottlieb Görnern übergeben, und das dazu gewiedmete neue Salarium der 12. fl. assigniret, dieses Salarium auch mit dem ehmaligen Directorio bey dem alten Gottesdienst gar keine Verwandschafft hätte, sondern ein neues institutum wäre.

Es werden aber, Allergnädigster König, Churfürst und Herr, diese der Universitaet eingewendete Exceptiones im Grunde nicht bestehen, und gar leicht zu wiederlegen seyn. Denn was anfänglich

1.) die Verknüpffung des neuen Gottesdienstes mit dem alten betrifft, so ist von mir nicht gesaget worden, daß so thane Connexion nothwendig, sondern nur, daß das Directorium des letzteren mit dem Ersten sonst combinirt gewesen sey, und gleichwie die Macht und Freyheit solches zu verbinden oder zu separiren von mir nicht darff untersuchet, sondern an seinen Ort Kann gestellet werden: [43] also acceptire hingegen, daß das Directorium des alten Gottesdienstes nach hergebrachter Observanz, in dem allerunterthänigsten Bericht mir gegönnet und zugestanden worden. Ist aber dieses, so wird das Directorium derMusic bey denen Promotionibus Doctoralibus und andern bey der Universität in der Pauliner-Kirche vorkommenden solennen Actibus nebst dem Honorario mir nicht zu entziehen seyn, weil dieses alles, ehe noch der neue Gottesdienst angeordnet worden, vorher ohnstreitig, zum wenigsten was die Music anbetrifft, ein Connexum des alten Gottesdienstes und in üblicher Observanz gewesen ist. Hiernechst

2.) befremdet mich nicht wenig, wie die Universität sich auf ein ergiebiges Honorarium an 13. Thlr. 10. gr. so ich von ihnen solte empfangen haben, beziehen, und, daß ich die Arbeit Zeithero ümsonst verrichtet habe, läugnen und mir widersprechen können, immaßen das Honorarium was a partes außer demSalario deren 12. fl. ist und das Gratial die besoldung nicht außschließet, wie denn auch meine Beschwerde nicht wegen des Honorarii, sondern wegen des sonst gewöhnlichen und zum alten Gottesdienst gehörigen, mir aber bißher entzogenen Salarii an 12. fl. geführet wird: Ja, wie numehro aus denen von derUniversität selbst angegebenen Rationibus Rectoralibus zu ersehen, so ist mir auch dieses Honorarium, welches in 13. Thlr. 10. gr. sol bestanden haben nicht einmahl völlig gereichet, sondern mir durch die beyden Pedellen, welche es eydlich werden aussagen können, iedes Quartal, an statt derer in Rationibus Rectoralibus angesezten 20. gr. 6. Pf. mehr nicht als 16. gr. 6 Pf. und bey den drey hohen Festen, wie auch bey dem Festo Reformationis Lutheri iedesmahl anstatt 2. Thlr. 12. gr. mehr nicht als 1. Thlr. also an statt 13. Thlr. 12. gr. zusammen nur 6. Thlr. 18. gr. jährlich gezahlet, auch meinen Antecessoribus Schellen und Kuhnauen, laut derer Wittwen ausgestelltenAttestatis, so hiermit sub lit: A et B. beyfügen wollen, vor die Quartal und Fest-Musiquen ein mehrers nicht gegeben, so fort auch von ihnen über ein mehrers nicht quittirt und gleichwohl in dem Extract aus ihren Rationibus Rectoralibus ein viel höhers quantum gesezet worden. Daß ich

3.) denen Quartal-Orationibus zum öfftern in eigener Person nicht beygewohnet, und die Registratur vom 25. Octobris 1725 solches bezeuge, wird ohne Erhebligkeit seyn; Denn gleichwie aus [44] dem Monath und der Zeit erscheinet, daß die Registratur erst als denn sich gefüget, nachdem zu vorher über die Universität ich mich beschweret gehabt, vor der Zeit aber nichts wieder mich zu registriren gewesen; Also wird meine Abwesenheit doch mehr alß ein- oder zweymahl nicht geschehen seyn, und dieses zwar ob impedimenta legitima, da ich nothwendig zu verreisen, insonderheit das anderemahl in Dreßden zu verrichten gehabt; Über dieses sind auch zu bemeldter Quartal-Verrichtung die Praefecti subordinirt, so daß von meinen Antecessoribus Schellen und Kuhnauen solches nie selbsten verrichtet, sondern die Absingung der Moteten durch die Praefectos dirigiret und bestellet worden, Noch weniger Kann

4.) dieses etwas in recessu haben, wenn die Universität urgiret, daß die Abwartung, der Music in beyderseits Kirchen vor eine Person nicht compatible sey: Denn so wird gewiß eine Instanz, welche man von dem Organisten zu St: Nicolai Görnern allhier geben kann, noch wichtiger, und die Music in beyden Kirchen zu dirigiren, vor seine Person noch wenigercompatible seyn, weil der Organist nicht nur ebenfalls zu einer Zeit in der Kirche zu St: Nicolai und zugleich in der Pauliner-Kirche vor und nach der Predigt die Music abzuwarten, sondern auch biß zum allerletzten Liede die Orgel zu schlagen hat, dahingegen der Cantor nach verrichteter Music herausgehen kann, und den Kirchen-Liedern biß zum Beschluß des Gottesdienst eben nicht beywohnen darff, gestalt auch der sel: Kuhnau zu seiner Zeit beydes ganz wohl ohne Praejudiz und Confusion verwaltet hat, auch in der Kirche, wo nicht Musica formalis zu bestellen, die gemeine Music durch Vicarios und Praefectos garwohl kann dirigiret werden. Was insonderheit

5.) die streitigen 12. fl. anbelanget, so wird dieUniversität mit Grunde nimmermehr behaupten können, daß sie meinem Antecessori Kuhnauen vor dieDirection der Music beym neuen Gottesdienst solche 12. fl. von neuen, als ein Gratial zugeschlagen. Es hat vielmehr diese Bewandnüß, daß die 12. fl. von uhralten Zeiten her, das Salarium vor die Bestellung der Music beym alten Gottesdienst ieder Zeit gewesen sind, mein Antecessor auch andere ihm nachtheilige und aus der Separation des Directorii zu besorgendeSuiten zu verhüten, die Music beym neuen Gottes dienst ümsonst dirigiret, und nie einen Pfennig davor verlanget, auch kein vorgegebenes [45] neues Gratial von 12. fl. genoßen hat. Ja es ist nicht allein von Kuhnauen sondern auch von Schellen und also noch vorher, ehe noch jemand an den neuen Gottesdienst gedacht, iedesmahl über solche 12. fl. eine Quittung ausgestellet worden. Und gleichwie der Schell- und Kuhnauischen Wittwen Attestata sub Lit: A et B. deutlich besagen, daß die 12. fl. iederzeit das Salarium vor die Bestellung der Music des alten Gottesdienstes gewesen: Also wird bemeldete Quittungen die Universität zuediren sich nicht entbrechen können. Solchergestalt Kann auch

6.) dem mit der Music des alten Gottesdienstes verknüpfften Salario nicht praejudiciren, obvormahls bey der Direction des neuen Gottesdienstes mit denen Studiosis kein gutes Vernehmen gewesen, und sie dem Cantori die Beyhülffe ümsonst nicht leisten wollen: Denn wie man dieses weder zugeben noch wiedersprechen mag, und wie man weiß, daß die Studiosi, welche Liebhaber der Music, sich allzeit gern und willig dabey finden laßen; So hat sich meinerseits mit denen Studiosis einiges Unvernehmen niemahls ereignet, sie pflegen auch die Vocal- und Instrumental-Music bey mir unverweigerlich und bis diese Stundegratis und ohne Entgeld zu bestellen. Im übrigen

7.) wenn das Directorium Musices bey dem neuen Gottesdienst, zur Zeit und was Görners Person betrifft, in statu quo verbleiben solte, wenn auch niemand in Zweiffel zu ziehen begehret, daß wegen solcher neuen Einrichtung ein neues Salarium ausgemachet werden könne: So ist doch das bißher ihm assignirte Salarium derer 12. fl. Keinesweges ein neues institutum, noch zu dieser neuen Direction als was neues gewidmet worden, sondern man hat solche demDirectorio Musices beym alten Gottesdienst entzogen, und erst nachhero bey währender Vacanz desCantorats zu St. Thomae und als Görner das neueDirectorium erhalten, zu diesem neuen Directorio geschlagen.

Es ist solches bereits vorhin dargethan worden, ja bey denen, welche bißher mit der Music in beyderseits Kirchen zu thun gehabt, beruhet dieses alles in Notorietate, und kann durch derselben Außage auch fernerweit notorisch gemacht und bestärcket werden. Wie wohl ich werde genöthiget, auch numehro diesen besonderen Umstand anzuführen, daß vor zwey Jahren, als mit dem damahligen [46] Rectore Magnifico Junio ich des Directorii wegen zu reden Gelegenheit nahm, und derselbe mir aus einem geschriebenen Rechnungs-Buche, welches vermuthlich ein Liber Rationum Rectoralium gewesen, remonstration thun wolte, es sich so fügen müßen, daß mir auf dem aufgeschlagenen Blat die Rechnung und die deutlichen Worte, da Schellen pro Directorio Musices 12. fl.Salarium aufgezeichnet gestanden, in die Augen gefallen, solches auch dem Rectori Magnifico Junio damahls sogleich von mir gezeiget und vorgestellet worden.

Endlich so hat die Universität durch D. Ludovici, welcher vorigen Sommer das Rectorat verwaltete, mir allbereit die Helffte der Besoldung derer 12. fl. bewilliget und angeboten, und würden sie dieses gewiß nicht gethan haben, wenn sie nicht selbst, daß die Sache auff guten Grunde beruhe, wären überzeuget gewesen, Dahero diese Veränderung mir üm soviel härter zu seyn scheinet, wenn Sie numehro von gar keinen Salario was wißen und mir solches gantz abschlagen wollen; Nachdem ich auch diese bescheheneOfferte in meinem allerunterthänigsten Memoriali ausdrücklich erwehnet, die Universität aber in ihrer Gegen-Vorstellung diesen Punct übergangen und nichts darauff geantwortet: So ist in der That durch dieses Stillschweigen der Grund meiner Praetension, und die Billigkeit meiner Sache auffs neue von ihnen selbst bestätiget, und wie sie selbst überzeuget sind, stillschweigend zu erkennen gegeben worden.

Da nun die Universität nach ihrem eigenen Geständniß und denen von ihnen beygefügten Rationibus Rectoralibus sub 3. et 3. bey den Quartal-Orationibus jährlich 3. Thlr: 10. gr. und den drey hohen-wie auch dem Reformations-Fest mir jährlich ein absonderliches Honorarium an 10. Thlr. und also zusammen jährlich 13. Thlr. 10. gr. krafft eingeführterObservanz reichen und ich, seit meiner bey der Universität Ao. 1723. am PfingstFest angetretenen Function biß zum Außgange des 1725. Jahres, welches zwey und dreyviertel Jahr ausmachet, zusammen 36. Thlr. 18. gr. 6. Pf. empfangen sollen, aber so viel nicht, sondern nur vor 11. Fest-Musiquen soviel Thaler und vor 11. Quartal-Orationes 7. Thlr. 13. gr. 6. Pf. zusammen 18. Thlr. 13. gr. 6. Pf. empfangen und also noch 18. Thlr. 5. gr. zu fodern habe; Das ordentliche Salarium an 12. fl. aber mir auch 23/4. Jahr lang, also 33. fl. restiret; Sie die Universität, da sie[47] wegen des Salarii accordiren wollen und da sie bereits die Helffte zugeben sich erboten, eo ipso meine Foderung vor unrecht und ungegründet nicht gehalten, sondern eingeräumet, auch da sie dieses in ihren allerunterthänigsten Bericht mit Stillschweigen übergangen, hierdurch mir solches nochmahls tacitè zugestanden, und im übrigen nicht das geringste von einiger Erhebligkeit einzuwenden vermögend gewesen: Alß gelanget an Euere Königliche Majestät und Churfürstliche Durchlaucht mein allerunterthänigstes Bitten, numehro der Universität, daß Sie nicht allein bey der vormahligen Einrichtung es bewenden und mir die völlige in 12. fl. bestehende Besoldung des alten Gottesdienstes, nebst denen vormahl damit verknüpfft gewesenen Accidentien derer Promotionum Doctoralium und anderer Actuum Solennium Künfftighin angedeyen laßen, sondern auch das rückständige Honorarium an 18. Thlr. 5. gr. und restirende ordentlicheSalarium an 33. fl. mir noch entrichten, auch alle dißfalls veruhrsachte Unkosten erstatten, oder wofern die Universität sich durch das, was bißhero angeführet worden, noch nicht überzeuget befinden möchte, daß dieselbe, die von Schellen und Kuhnauen so wohl über das absonderliche Honorarium, als über das ordentliche Salarium ausgestellten Quittungen ediren solle, allergnädigst anzubefehlen. Diese hohe Gnade werde Zeit lebens mit allerunterthänigstem Danck erkennen und verharre


 

Euerer Königlichen Majestät und

Churfürstlichen Durchlaucht

allerunterthänigster

allergehorsamster

Johann Sebastian Bach.«

Leipzig, den 31. Decembris Anno. 1725.


 

[Adresse: voller Titel wie oben11]


 

Darauf erfolgte unter dem 21. Januar 1726 ein Schreiben aus Dresden in nicht durchaus bestimmter Fassung, doch scheint Bach in demselben wesentlich Recht zu erhalten. Auffälliger Weise fand die Präsentation des Schreibens bei der Universität erst am 23. Mai desselben Jahres statt. Ob während dieser vier Monate Versuche gemacht sind, eine gütliche Vergleichung herbeizuführen, fällt der [48] Vermuthung anheim. Auch über die Erledigung der immer entschiedener in den Vordergrund tretenden Geldfrage ließ sich etwas bestimmtes nicht herausbringen. Eine Zusammenstellung verschiedener aus den folgenden Jahren vorliegender Notizen ergiebt, daß die Besorgung des neuen Gottesdienstes Görnern verblieb. Für die außerordentlichen Universitäts-Feierlichkeiten scheint bald dieser, bald jener der beiden Rivalen herbeigezogen zu sein, häufiger jedoch Bach. Nachdem er zum 3. August 1725 das für den Namenstag des Professors August Friedrich Müller geforderte Dramma per musica »Der zufriedengestellte Aeolus« componirt hatte, schrieb er schon zum 11. December des folgenden Jahres wieder eine Cantate für die Promotion des Magister Gottlieb Korte zum außerordentlichen Professor, dann zum 12. Mai 1727, dem Geburtstage des damals grade in Leipzig anwesenden Königs Friedrich August, abermals ein Drama musicum, welches die Convictoren der Universität unter seiner Leitung aufführten, ferner die Musik zu den am 17. October desselben Jahres in der Universitätskirche abgehaltenen Trauerfeierlichkeiten für die am 5. September verstorbene Königin Christiane Eberhardine. Görner dagegen war mit der Composition der lateinischen Ode beauftragt worden, welche zu der erwähnten Geburtstagsfeier des Königs in der Universitätskirche vorgetragen wurde. Auch zu der am 25. August 1739 von der Universität begangenen 200jährigen Jubelfeier der Annahme der evangelischen Lehre in Sachsen componirte Görner eine lateinische Ode, von welcher der erste Theil vor, der andere nach der Predigt aufgeführt wurde12. Er wird bei der ersteren dieser beiden Gelegenheiten ganz bestimmt »Director Chori musici academici bei dem neuen Gottesdienste am Paulino« genannt13. Ein Bericht aus dem Jahre 1736 kennt freilich als akademischen Musikdirector nur ihn, und fügt hinzu, daß bei festlichen Veranlassungen solenne Musiken von Studiosen und andern Musikern unter seiner Direction gemacht würden14. Jedoch braucht sich [49] letzteres nicht auf akademische Aufführungen zu beziehen, da die Collegia musica selbständige Festconcerte zu veranstalten pflegten: so brachte z.B. grade im Jahre 1736 Görners Verein zum Geburtstage des Königs eine von Joh. Joachim Schwabe gedichtete Cantate zu Gehör15. Und präcis unterscheidend heißt es aus dem Jahre 1728, die Paulinerkirche habe einen besonderen Musikdirector, Herrn Joh. Gottlieb Görner, für die gewöhnlichen Sonn- und Fest-Tags-Musiken, bei den Fest- und Quartal-Orationen aber habe solches Directorium der Cantor zu St. Thomae von Alters her16.

Bach konnte schließlich mit dem Resultat seiner Bemühung auch wohl zufrieden sein. Er hatte jedenfalls unter der musikliebenden akademischen Jugend eine sichere Position gewonnen. Sie befestigte sich noch mehr, als Schott im Jahre 1729 als Cantor nach Gotha gegangen war und Bach die Direction des alten, berühmten Telemannschen Musikvereins in die Hand bekam. Soweit unter den herrschenden Verhältnissen von einer günstigen Zeit für die öffentliche Musikübung überhaupt gesprochen werden kann, war sie damit für ihn gekommen. Er musicirte mit seinem Verein wöchentlich einmal und zwar im Sommer des Mittwoch Nachmittags von 4 bis 6 Uhr im Zimmermannschen Garten auf der Windmühlengasse, im Winter Freitag Abends von 8 bis 10 Uhr im Zimmermannschen Caffee-Hause auf der Katharinenstraße (das Eckhaus am Böttcher-Gäßchen, jetzt Nr. 7); zur Zeit der Messen wurde wöchentlich zweimal, nämlich Dienstags und Freitags, musicirt. Der Verein that sich unter seiner Leitung durch mehre Festconcerte hervor. Am 8. December 1733 führte er zur Geburtsfeier der Königin das Drama per musica »Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten« auf, im Januar 1734 ein Werk gleicher Gattung »Blast Lärmen, ihr Feinde, verstärket die Macht« zum Krönungsfeste Augusts III., bei des natürlich Bachsche Compositionen; auch mußte die alte weimarische Cantate »Was mir behagt ist nur die muntre Jagd« noch einmal mit verändertem Text[50] zur Geburtstagsfeier des Königs ihre Dienste thun17. Was aber mehr war: der Verein hörte auf in der Neuen Kirche zu musiciren und wurde dadurch für eine Mitwirkung in den Bachschen Kirchenmusiken frei. Der an Schotts Stelle berufene Organist Carl Gotthelf Gerlach war ein Schützling Bachs und durch dessen Verwendung in Besitz des Postens gekommen18. Er mußte sich gefallen lassen, daß sein Gönner ihm den Musikverein entzog. Indessen, war es nun aus Billigkeitsgefühl, war es aus alter Vorliebe für die Musikaufführungen in der Neuen Kirche – der Rath unterstützte ihn mit verhältnißmäßig reichlichen Mitteln, um sich einen eignen kleinen Chor für die Bedürfnisse der Neuen Kirche bilden zu können. In späteren Jahren kam Gerlach auch noch dazu, den Telemannschen Musikverein zu leiten, indem Bach sich von demselben wieder zurückzog. Wir wissen nicht genau, wann dieses geschehen ist; nur, daß der Rücktritt nach 1736 stattfand, steht fest. Doch kehrten die alten Zeiten für die Neue Kirche nicht wieder; der Verein scheint ihr auch ferner fremd geblieben zu sein, wie er denn überhaupt seine frühere Bedeutung verlor und von einer Hand in die andere ging. Der Sammelpunkt der musikalischen Kräfte Leipzigs war Anfang der vierziger Jahre ein anderer geworden19.

Die Leitung der Kirchenmusik in der Thomas- und Nikolai-Kirche nahm Bach selbstverständlich von Anfang an mit allem Eifer in die Hand. Bezeichnend ist es für ihn, daß er sein Cantorat viel weniger als ein Lehramt an einer öffentlichen Schule auffaßte – was es doch zunächst und vor allem war –, wie als ein städtisches Musikdirectorat, mit welchem gewisse Schulstunden verbunden waren. Diese Auffassung, welche er während der ganzen Zeit seiner Wirksamkeit geltend machte, tritt schon äußerlich in seiner Manier sich zu betiteln hervor. Die Amtsvorgänger hießen einfach Cantoren; wurde einmal ein Director musices hinzugefügt, so geschah es unter Hinblick auf die Universitätskirche20. Bach unterschreibt und nennt [51] sich fast immer und von Anfang an Director Musices oder Chori Musici und Cantor, auch wohlDirector Musices allein21, nur ausnahmsweise, wo es sich um Gesangsprüfungen innerhalb der Schule handelte, bloß Cantor. Auch seine Schüler geben ihm jenen Titel22, im Leipziger Adressbuch von 1723 findet er sich ebenfalls so vermerkt23: er wollte offenbar nach allen Seiten hin seine Stellung als eine überwiegend musikalische und selbständige kennzeichnen und mochte dieses mit um so größerer Beflissenheit thun, als die Behörden hartnäckig bei dem einfachen Titel Cantor verharrten. Charakteristisch ist dies Bestreben, welches ihn in mancherlei Conflicte hineinführte, auch deshalb, weil der äußeren Seite eine innere entspricht. Die protestantische Kirchenmusik hatte stets von der Schule abgehangen, und was sie war, das war sie eben mittelst der Schülerchöre geworden. Gewiß wurde Bach nicht durch Hochmuth und Laune veranlaßt, grade sein Verhältniß zur Schule als ein nebensächliches Ding anzusehen. Ohne Zweifel ist Bachs Musik noch stilvolle, echte Kirchenmusik; aber daß sie in sich schon die Keime selbständiger Concertmusik trägt, kann nicht verkannt werden, und tritt auch im Verlaufe von Bachs Wirksamkeit hier und da äußerlich hervor. Er hatte ein Gefühl von dieser Eigenthümlichkeit seiner Künstlerschaft; das giebt sich durch die scharfe Betonung seiner Stellung als Musikdirector, und nicht als Schul- und Kirchen-Beamter, zu erkennen.

Der Rath der Stadt hatte ihn achtungsvoll aufgenommen, aber um seinerseits zur Hebung der Kirchenmusik beizutragen, hätte er tiefer in den Geldbeutel greifen müssen, als ihm thunlich erschien. [52] Bachs nächster Vorgesetzter im Kirchendienst war der Superintendent der Leipziger Diöcese, damals Dr. Salomon Deyling. Derselbe erfreute sich in dem Bereiche seiner Amtstätigkeit und über denselben hinaus einer verdienten hohen Achtung. Er war ein Mann von ausgebreitetem Wissen, kräftigem Charakter und unzweifelhafter administrativer Befähigung. Als armer Leute Kind im Jahre 1677 zu Weida im Voigtlande geboren hatte er sich in Dürftigkeit und Noth mit großer Energie zum Wittenberger Studenten durchgearbeitet, habilitirte sich 1703 in der philosophischen Facultät, wurde zwei Jahre später Archidiaconus in Plauen, schon 1708 Superintendent in Pegau und 1716 Generalsuperintendent in Eisleben. Inzwischen hatte er sich die Würde eines Licentiaten der Theologie errungen und war 1710 in Wittenberg zum Dr. theol. gemacht worden. Seine Berufung nach Leipzig als Pastor an der Nikolaikirche und Superintendent der Diöcese erfolgte 1720. Er trat diese Ämter und zugleich eine außerordentliche Professur, welche sich mit der Zeit in eine ordentliche verwandelte, im Jahre 1721 an. Auch wurde er Assessor des Consistoriums. Seine in diesen Verhältnissen entwickelte reiche Thätigkeit endigte erst der Tod, welcher ihn im Jahre 1755 hinwegnahm24. Die Frage, welche uns hier vor allem interessirt, ist, wie er sich zur Kirchenmusik stellte. Gelegenheit, seine Meinung hierüber zu entdecken, hätte er genug gehabt; die Zahl der von ihm veröffentlichten Schriften ist eine sehr große. Dieselben behandeln philosophische, philologische, mathematische, antiquarische, hauptsächlich aber theologische Dinge und zwar exegetischer, dogmatischer, historischer und praktisch-theologischer Beschaffenheit. Der größte Theil seiner lateinischen Dissertationen ist in den Observationes sacrae enthalten, welche, dreimal fünfzig an Zahl, in drei Theilen zu Leipzig in den Jahren 1708, 1711 und 1715 erschienen. In ihnen zeigt er sehr viel Gelehrsamkeit und eine streng conservative, alt-lutherische Gesinnung. Von musikalischen Sachen handelt unter den 150 Abhandlungen nur eine einzige. Sie [53] ist überschrieben: Hymni a Christianis decantandi (III, XLIV; S. 336–346). Aber auch sie ist fast durchaus theologisch-antiquarischen Inhalts; was die Griechen unter einem Hymnus verstanden, wie viel Arten von Gesängen die Juden unterschieden, bei welchen Gelegenheiten die Griechen Gesänge anzustimmen pflegten, in wie weit die ersten Christen ihnen darin hatten nachahmen sollen, und in wie weit nicht, dieses und einiges andere wird mit Anschluß an zwei Stellen aus dem Epheser- und Colosser-Brief weitläufig und gelehrt erörtert. Erst im letzten Paragraphen kommt er darauf zu sprechen, daß bei den Heiden bestimmte Leute von Obrigkeitswegen bestellt waren, um bei großen Feierlichkeiten Gesänge öffentlich vorzutragen und schließt dann die Abhandlung mit der Nutzanwendung: Cum igitur profanus hominum coetus, et a vero Dei cultu peralienus, in commentitiorum numinum honorem, et ad laudes eorum decantandas, publica quondam Ὑμνψδῶν et Παιανιστῶνin Templis, aliisque conventibus, instituerint Collegia, ac inter ipsas epulas consueverint ὑμνολογεῖν;quanto magis Christianos decet esse Hymnologos et Paeanistas veri Dei? Quanto hos magis decit ψαλμοῖς καὶ ὕμνοις, καὶ ψδαῖς πνευματικαῖς Dei beneficia et laudes in conviviis, ac Templis, publice privatimque celebrare? (Da also einstmals unheilige und der wahren Gottesverehrung fremde Menschen zu Ehren falscher Gottheiten und um deren Ruhm zu besingen öffentliche Genossenschaften von Sängern und Musikern für ihre Gottesdienste und andre Zusammenkünfte eingerichtet haben, und selbst bei Gelagen Hymnen anzustimmen gewohnt waren, wie viel mehr geziemt es den Christen, Sänger und Musiker des wahren Gottes zu sein; wie viel mehr ziemt es sich für sie, mit Psalmen und Hymnen und geistlichen Gesängen Gottes Wohlthaten und Ruhm bei Gelagen und in den Kirchen öffentlich und im häuslichen Kreise zu verherrlichen?) Dies ist alles, was Deyling in den Observationes sacrae über Kirchenmusik äußert, um seine Stellung zu ihr zu kennzeichnen, genügt es aber. Die Parallele zwischen den Hymnoden und Paeanisten einerseits und den protestantischen Kirchenchören andrerseits ist in die Augen fallend, und bei den Convivalgesängen hat er offenbar die Sitte im Auge, gemäß welcher die Schülerchöre bei Festlichkeiten, namentlich Hochzeiten, Tafelmusik zu machen pflegten. Man muß nun bedenken, daß er Obiges in Zeiten schrieb, als über die Figuralmusik [54] beim Gottesdienste, namentlich darüber, ob und in wie weit selbständige Musikchöre sich mit ihr zu befassen hätten, heftiger Streit herrschte. Deyling hielt also eine Kirchenmusik, wie sie Bach vertrat, für wünschenswerth. Ob er lebhaftere und speciellere musikalische Interessen hatte, darf man nach der Dürftigkeit der darüber von ihm gemachten Äußerungen bezweifeln. Es genügte aber vollständig, wenn er Bach freie Hand ließ. Was man von einer Reorganisation des Cultus, welche Bach und Deyling gemeinschaftlich in Angriff genommen hätten, erzählt hat, ist auf unbegründete Vermuthungen und unrichtige Anschauungen zurückzuführen25. Ein Mißverhältniß zwischen dem Inhalt der jedesmaligen Kirchenmusik und den von der Gemeinde gesungenen Liedern konnte, wenn anders der Cantor überhaupt seine Aufgabe begriff, nicht stattfinden, da für die Festtage die zu singenden Gemeindelieder ein für allemal bestimmt waren, für die gewöhnlichen Sonntage aber die Auswahl der Lieder zu den althergebrachten Befugnissen des Cantors gehörte. Ein Mangel an Zusammenhang zwischen der Cantate und den jedesmaligen Epistel- und Evangelientexten war deshalb nicht wohl möglich, weil die den Cantaten zu Grunde gelegten Texte für die betreffenden Sonn- und Festtage mit Bezug auf deren kirchlichen Charakter und den Inhalt des zur Behandlung kommenden Stückes der heiligen Schrift eigens gedichtet zu werden pflegten. Eine Änderung gar des Cultusganges zu Gunsten der Musik hätte eine Verletzung der Amtspflichten Bachs bedeutet, da er bei seinem Antritt vom Rath ausdrücklich angewiesen worden war, im Gottesdienste keinerlei Neuerung vorzunehmen; der Cultus war und blieb zu Bachs Zeit genau der nämliche, wie während Kuhnaus Cantorat. [55] Er bot auch zur Entfaltung der Musik überreichen Raum, welchen Bach nicht einmal vollständig auszunutzen pflegte. Allerdings mußte er die von ihm gewählten Compositions-Texte der Censur des Superintendenten unterwerfen. Ein Zusammenarbeiten wird das weniger genannt werden können, als eine dem Künstler unbequeme Freiheitsbeschränkung, wie denn überhaupt Bach sich jeder Beaufsichtigung gern entzog und in seinem Bereiche selbstherrlich zu schalten liebte. Ein Vorgang, der allerdings in eine spätere Zeit fällt, aber seines Inhaltes wegen schon hier eine passende Stelle findet, mag diese Behauptung begründen. Zum Charfreitag 1739 hatte Bach durch Umherschickung gedruckter Texte, wie er zu thun pflegte, eine Passionsmusik angekündigt. Der Rath wollte wieder einmal am unrechten Orte seine Oberhoheit geltend machen. Ein Rathsdiener wurde beauftragt, dem Cantor mündlich anzuzeigen, daß die angekündigte Passionsmusik zu unterbleiben habe, bis eine ordentliche Erlaubniß seitens der Obrigkeit ertheilt sei. Bach zeigte sich sehr unwirsch. »Er sei dieses Mal nicht anders zu Werke gegangen, als sonst, und was den Text betreffe, so habe derselbe nichts verfängliches, da das Werk ja schon mehre Male aufgeführt sei. Übrigens läge ihm garnichts daran, ob die Aufführung stattfinde, oder nicht, er habe doch nur Mühe davon und keinen Gewinn. Er werde dem Herrn Superintendenten anzeigen, daß ihm vom Rathe die Aufführung verboten sei26.« Rath und Consistorium geriethen einander häufig ins Gehege. Der hieraus entstehende Wirrwarr mußte für Bach eine Veranlassung mehr sein, auf eigne Faust zu handeln27.

Ebenso wie die Cantaten-Texte unterlagen die Gemeindelieder der Censur der Kirchenbehörde. Ein gewisser Kreis von Liedern war ein für allemal sanctionirt; innerhalb dessen konnte sich der Cantor frei bewegen, aber er durfte ihn nicht überschreiten. Es ist möglich, daß Bach dieses doch einmal versucht hat und es dem Consistorium hinterbracht worden war. Es ließ am 16. Februar 1730 dem Superintendenten die Weisung zugehen, er möge Sorge tragen, [56] daß neue, bisher nicht üblich gewesene Lieder nicht wieder ohne Genehmigung der Behörde, wie solches in der letztvergangenen Zeit geschehen sei, gesungen würden28. Wenn man sieht, welchen Feinund Tiefsinn Bach z.B. in der Auswahl derjenigen Choräle beweist, die dem madrigalischen Texte der Matthäus-Passion eingefügt sind, wird man es glaublich finden, daß er das Recht des Cantors, die Gemeindelieder zu bestimmen, gern dazu benutzte, die verschiedenen musikalischen Factoren des Gottesdienstes in eine möglichst lebhafte und innige Wechselwirkung zu bringen. Und wenn er auch nicht der hartnäckige Mann gewesen wäre, der keinen Fußbreit des ihm gehörigen Gebietes ohne den äußersten Widerstand zu räumen pflegte, würde es begreiflich erscheinen, daß er sich in die Anordnung der Kirchenlieder von Niemandem hineinreden lassen wollte. Der Versuch, dieses zu thun, unterblieb nicht. Der Subdiaconus an der Nikolai-Kirche, Magister Gaudlitz, hatte im Jahre 1727 angefangen, zunächst mit Vorwissen des Superintendenten und unter Zustimmung des Cantors zu den von ihm zu haltenden Vesperpredigten zugleich die Lieder anzugeben. Nachdem er dieses ein Jahr lang getrieben, paßte seine Einmischung unserm Meister nicht länger, er ignorirte die Bestimmungen des Subdiaconus und ließ wieder von ihm selbst gewählte Lieder singen. Gaudlitz beschwerte sich beim Consistorium, das, etwas voreilig, den Cantor durch den Superintendenten bedeuten ließ, er möge künftig hin die von den Predigern angegebenen Lieder singen lassen. Jetzt hielt es Bach für zeitgemäß, an den Rath zu gehen. Er schrieb demselben:


 

»Magnifici,

HochEdelgebohrne, HochEdle, Veste, Hoch- und

Wohlgelahrte, auch Hochweise,

HochzuEhrende Herren und Patroni,


 

Euere Magnifici HochEdelgebohrne und HochEdle Herren geruhen Sich Hochgeneigt zurück zu errinnern, welchergestalt bey erfolgter vocation des mir anvertraueten Cantorats bey hiesiger Schulen zu St. Thomae ich von Eueren Magnificis HochEdelgebohrnen und HochEdlen Herren dahin verwiesen worden, derer bißanherigen [57] Gebräuchen bey dem öffentlichen Gottesdienst allenthalben gebührend nachzugehen, und keine Neuerung einzuführen, mir auch hierunter Dero hohen Schutz angedeyhen zu lassen hochgeneigt versichert. Unter diesen Gebräuchen und Gewohnheiten ist auch die Verordnung derer Geistlichen Gesänge vor und nach denen Predigten gewesen, welche mir und meinen antecessoribus des Cantorats nach Maßgebung derer Evangeliorum und dahin eingerichteten Dreßdener-GesangBuchs, wie es der Zeit und Umstände convenient geschienen, lediglich überlassen worden, allermaßen, wie das löbliche Ministerium es zu attestiren wissen wird, niemahls contradiction dießfalls entstanden29. Diesem zuwieder aber hat sich der Subdiaconus der Kirchen St. Nicolai HerrMagister Gottlieb Gaudlitz einer Neuerung bißanhero zu unterziehen, und an statt der bißherigen Kirchen Gebrauch gemäß geordneten Lieder, andere Gesänge anzuordnen gesuchet, und als ich wegen besorglicherconsequentien darein zu condescendiren Bedenken getragen, beschwerde bey dem hochlöblichen Consistorio wieder mich geführet, und eine Verordnung an mich ausgewürcket, Inhalts welcher ich hinkünfftig dieienigen Lieder, welche mir von den Predigern angesaget werden würden, absingen lassen solle. Wann dann aber mir solches ohne Vorbewust Euerer Magnificorum HochEdelgebohrnen und HochEdlen Herren als hohen Patronis derer alhiesigen Kirchen zu bewerckstelligen um so viel weniger geziehmen will, da bißanhero von so langer Zeit beständig die Verordnung derer Lieder bey dem Cantorat inturbiret geblieben, ermeldter Herr Magister Gaudlitz auch selbst in seinen an das hochlöbliche Consistorium gerichteten und beygehenden abschrifftlichen Schreiben sub A.30 gestehet, daß, wenn ihm ein oder das anderemahl gefüget worden, mein als des Cantoris Einwilligung hierzu erfordert worden. Wozu kommt, daß wenn bey Kirchen Musiquen. außerordentlich lange Lieder gesungen werden sollen, der Gottesdienst aufgehalten und also allerhand Unordnung zu besorgen stehen würde, zugeschweigen kein eintziger derer Herren Geistlichen, ausser der Herr Magister Gaudlitz als subdiaconus diese [58] Neuerung zu introduciren suchet. Welches ich also Euren Magnificis HochEdelgebohrnen und HochEdlen Herren als Patronis derer Kirchen gehorsamst zu hinterbringen der Nothdurfft erachtet, mit unterthänigen Bitten, mich bey denen bißherigen üblichen Gebräuchen derer Lieder und derer Anordnung hochgeneigt zu schützen. Wofür lebenslang verharre


 

Eurer Magnificorum HochEdelgebohrnen

und HochEdlen Herren

Leipzig den 20. Sept. 1728.

gehorsamster

Johann Sebastian Bach.«31


 

Der Rath kam auf diese Weise wiederum mit dem Consistorium in Conflict. Wie sie die Sache unter sich zum Austrage gebracht haben, ist nicht bekannt.

Was Bach zur Verbesserung der Musik in den Hauptkirchen Leipzigs zu thun gesonnen war, konnte nach der Lage der Verhältnisse und der von ihm selbst stetig verfolgten Kunstrichtung im wesentlichen nichts anderes sein, als Sänger und Spieler zu einer höheren Leistungsfähigkeit zu erziehen und durch stete Beschäftigung mit bedeutenden Tonwerken ihren Kunstsinn zu bilden. Letzteres läuft so ziemlich darauf hinaus, daß er selbst möglichst viel componirte. Das entsprach durchaus seinen Wünschen, und er entwickelte, wie wir sehen werden, nach dieser Seite hin alsbald und durch eine lange Reihe von Jahren eine großartige Thätigkeit. Was die Vervollkommnung des Chors betrifft, so hatte er einen bedeutenden Schritt dazu gleich am Beginn seiner Thätigkeit gethan, indem er ein Verhältniß zwischen sich und den Studenten herstellte. Er wußte, daß er ohne die Studenten nicht wohl würde fertig werden können. Aber was sie ihm für seine sonntäglichen Musiken gewährten, war eben doch nur eine von ihrem guten Willen abhängende Unterstützung. Den Stamm des Chors mußten immer die zur Kirchenmusik verpflichteten Thomaner bilden. Diese Verpflichtung bestand nicht nur im Singen. Bei seiner Anstellung hatte sich Bach verbinden müssen, die Schüler nicht allein in der Vocal-, sondern auch in der Instrumental-Musik fleißig zu unterweisen. Wie die [59] Dinge einmal lagen, war solches auch nothwendig. Denn das zur Ausführung der Instrumentalbegleitung vom Rath bestellte städtische Musikcorps war weder hinreichend stark noch tüchtig, um durch sich allein höheren Aufgaben zu entsprechen. Es bestand nur aus sieben Personen: vier Stadtpfeifern und drei Kunstgeigern, die mit einer einzigen Ausnahme zur Gattung der »dunkeln Ehrenmänner« gehörten32. An Instrumentisten, und gewiß auch tüchtigen, fehlte es freilich sonst in Leipzig nicht33, aber ihre Mitwirkung kostete Geld, während die Thomaner umsonst geigen mußten. Bachs Unterricht im Clavier-, Orgel- und Violinspiel werden wir uns im Allgemeinen so zu denken haben, daß, wo er einen hierfür befähigten Schüler entdeckte, er diesen an sich heranzog und durch sein Beispiel und gelegentliche Belehrung zu fördern suchte. Viele junge Leute, deren Namen uns später noch begegnen werden, haben weniger eine wissenschaftliche, als eine musikalische Ausbildung auf der Thomasschule gradezu gesucht, sie sind dann im strengsten Wortverstande Bachs Schüler in Spiel und Composition geworden und haben die Anstalt nicht als angehende Gelehrte, sondern als tüchtige Künstler verlassen. Immerhin aber bildete das Singechor doch den nächsten Zweck, dem die musikalischen Alumnen zu dienen hatten. Welcher Art die Schulung war, die Bach ihnen für diesen Zweck angedeihen ließ, ist eine interessante, aber nicht leicht zu beantwortende Frage.

Es ist uns eine Anzahl von eigenhändigen Zeugnissen Bachs erhalten, welche er über angestellte Singprüfungen ertheilt hat. Sie beziehen sich größten Theils auf junge Leute, die sich zur Aufnahme ins Alumnat der Thomasschule gemeldet hatten. Im Sommer 1729 bewarb sich ein gewisser Gottlieb Michael Wünzer um eine Alumnenstelle. Der Rector Ernesti stellt ihm ein lateinisches Zeugniß aus; darunter schreibt Bach:


 

[60] »Obig benandter Wünzer hat eine etwas schwache Stimme und noch wenige profectus, dörffte aber wohl (so ein privat exercitium fleißig getrieben würde) mit der Zeit zu gebrauchen seyn.

Leipzig. d. 3 Jun: 1729.

Joh: Sebast: Bach.

Cantor.«


 

Ein anderes Mal schreibt er:

»Vorzeiger dieses Erdmann Gottwald Pezold von Auerbach, aetatis 14. Jahr, hat eine feine Stimme und ziemliche Profectus. So hiermit eigenhändig attestiret wird

von

Joh: Seb: Bach.«


 

Ferner:

»Vorzeiger Dieses Johann Christoph Schmied von Bendeleben aus Thüringen aetatis 19 Jahr, hat eine feine Tenor Stimme und singt vom Blat fertig.

Joh: Seb: Bach

Director Musices.«


 

Oder:

»Carolus Henrich Scharff, aetatis 14 Jahr, hat eine ziemliche Alt Stimme, und mittelmäßige Profectus inMusicis.

J S Bach.

Cantor.«34


 

Eine Reihe anderer derartiger Zeugnisse wird weiter unten in einem andern Zusammenhange mitgetheilt werden, da sie neue Seiten der Beurtheilung nicht hervortreten lassen. Hier sei noch ein Zeugniß aus späterer Zeit beigefügt, in dem es sich freilich nicht um einen angehenden Thomasschüler handelt. Im Jahre 1740 sollte eine Collaboratorstelle an der Thomasschule neu besetzt werden. Da mit derselben die Verpflichtung verbunden war, den Knaben die Anfangsgründe der Musik beizubringen, so wurden die Bewerber zu Bach geschickt, um sich prüfen zu lassen. Er berichtete über den Ausfall der Prüfung mit diesen Worten:


 

»Auf Ihro Excellence des Herrn Vice-Cancellarii hohe Ordre sind die drey competenten bey mir gewesen, und habe Sie folgender maßen befunden:

[61] (1) Der Herr M. Röder hat die probe depreciret, weiln er seine resolution geändert und eine Hoffmeister Stelle bey einer Adelichen Familie in Merseburg angetreten.

(2) Der Herr M. Irmler hat eine gar feine Singart; nur fehlet es ihm in etwas am judicio aurium.

(3) Der Herr Wildenhayn spielet etwas auf dem Clavier, aber zum Singen ist er eigenem Geständniß nach, nicht geschickt.

Leipzig. d. 18. Januar. 1740.

Joh: Seb: Bach.«35


 

So kurz und allgemein gehalten diese Censuren sind, man ersieht aus ihnen doch, auf welche Seiten der Gesangskunst Bach hauptsächlich sein Augenmerk richtete. Das Wort profectus, welches man in der Bedeutung von »Leistungen« damals viel gebrauchte, kann allerdings alles einschließen, was von einem Sänger zu verlangen ist. Es erhält aber hier einen umgränzteren Sinn, wenn man erwägt, daß es sich zunächst um brauchbare Chorsänger handelt, und dann hinzu zieht, was über diesen und jenen Examinanden etwa eingehenderes gesagt wird. Danach forderte Bach von seinen Sängern vorzugsweise Treff-und Taktsicherheit, reine Intonation, Ausgiebigkeit und gern auch eine wohlthuende Klangfarbe des Stimmmaterials (»hat eine feine Stimme«). Aus jenen Zeugnissen spricht der Musiker, nicht der Gesanglehrer. Von Tonbildung, Aussprache, Registerverbindung und andern speciell gesangstechnischen Dingen ist nicht die Rede. Es wäre lächerlich, nur zu denken, daß Bach mit dergleichen Fragen nicht genügend vertraut gewesen wäre; zum Ueberfluß sei daran erinnert, daß er in seiner zweiten Gattin eine geschulte, tüchtige Sängerin besaß. Aus seinem Schweigen darüber folgt auch nicht, daß er sie beim Gesangunterricht ganz außer Acht gelassen habe. Aber wohl wird man behaupten dürfen, daß er es nicht als seine Aufgabe ansah, aus den stimmbegabten Thomanern in derselben Weise Gesangskünstler zu bilden, wie er Krebs, Ernst Bach, seine eignen Söhne u.a. zu bedeutenden Spielern und Componisten erzog. In den sieben wöchentlichen Gesangstunden, an denen, wenn die verschiedenen Chöre ausreichend besetzt waren, gegen 40 Schüler theilzunehmen hatten, war dazu keine Zeit. Er [62] hätte den Begabtesten unter ihnen private Unterweisung zukommen lassen müssen. Um dieses zu thun hätte er wiederum zu der Gesangskunst, von der wir nicht wissen, daß er sie seit seiner Kindheit noch praktisch betrieben, in einem innerlich näheren Verhältniß stehen müssen, als es der Fall war. Bach war, wie seine ganze Entwicklung lehrt, zunächst und vor allem Orgelcomponist. Allen seinen übrigen Instrumentalcompositionen haftet etwas orgelartiges an, und seine Vocalwerke können als die letzte und höchste Verlebendigung des Bachschen Orgelstiles bezeichnet werden. Das Bestehen eines solchen Verhältnisses braucht nicht nothwendigerweise einen Vorwurf einzuschließen, selbst dann nicht, wenn man rein künstlerische Gesichtspunkte ausschließlich geltend machen wollte. Solange es eine selbständige Instrumentalmusik giebt, hat sie mit der Vocalmusik in Wechselwirkung gestanden, haben Übertragungen herüber und hinüber stattgefunden. Bei Bach wohnt aber, wie wir früher gesehen haben, der Orgel noch ein besonderer, idealer Sinn inne, der demjenigen, was in seiner Vocalmusik stilwidrig erscheinen kann, eine höhere Berechtigung giebt. Jedenfalls verlangte er für sich und nach den von ihm gehegten Ansichten über Kirchenmusik etwas anderes von den Sängern, als es seine musikalische Mitwelt that. Er verlangte weniger, indem alles das, was den Menschengesang als solchen charakterisirt, und was in voller Klarheit überall da hervortreten muß, wo er im Tonstück der herrschende Factor ist, weniger durchgreifende Bedeutung für ihn besaß. Mehr verlangte er, indem er in seinen Compositionen den Sängern oftmals musikalisch-technische Aufgaben stellte, auf die eine aus der Idee der Singstimme heraus producirende Phantasie nicht geführt hätte. Es leuchtet ein, daß in einer solchen Musik auch der Unterschied zwischen den Anforderungen an einen Chorsänger und einen Solisten ein geringerer sein mußte, als z.B. in einem Händelschen Oratorium. Ein im Bachschen Chorgesang recht tüchtiger Alumne konnte bald auch für den Vortrag einer Arie brauchbar werden, da ja die Wirkung derselben viel weniger von ihm allein abhing, als dies bei dem Sänger einer Opern- oder Oratoriums-Arie der Fall war. Den Empfindungsgehalt der Bachschen Arien werden freilich die Knaben und Jünglinge nicht mit jener Fülle der Leidenschaft zum Ausdruck gebracht haben, welche diese Musikstücke anzuregen im Stande [63] sind, so daß in deren Vortrage die bedeutendsten Sänger eine ihrer größten Aufgaben zu erblicken pflegen. Daß aber auch Bach ein mechanisches Heruntersingen derselben nicht geduldet haben wird, davon darf man überzeugt sein. Johann Friedrich Agricola, Bachs Schüler während der Jahre 1738–174136, sagt, es sei höchstnöthig, daß ein Sänger aus der Redekunst, oder durch mündliche Anweisung guter Redner, wenn er sie haben könne, oder doch durch genaue Beachtung ihres Vortrages lerne, was für eine Art des Lautes der Stimme zur Ausdrückung jedes Affects oder jeder Figur der Rede nöthig sei, daß er ferner sich nach diesen Regeln fleißig im Lesen oder Declamiren affectreicher Stellen aus guten Rednern und Dichtern übe37. Und wir wissen, daß Bach selbst es liebte, die Redekunst als Beispiel zur Verdeutlichung des richtigen musikalischen Vortrages herbeizuziehen. »Die Theile und Vortheile, welche die Ausarbeitung eines musikalischen Stücks mit der Rednerkunst gemein hat, kennet er so vollkommen, daß man ihn nicht nur mit einem ersättigenden Vergnügen höret, wenn er seine gründlichen Unterredungen auf die Ähnlichkeit und Übereinstimmung beyder lenket; sondern man bewundert auch die geschickte Anwendung derselben in seinen Arbeiten« – sagt sein Freund, der Magister Birnbaum38.

Wenn dieses die Grundsätze waren, welche Bach für seinen Gesangunterricht maßgebend erachtete, so folgt daraus freilich noch nicht, daß er auch deren praktische Durchführung erfolgreich betrieben habe. Hierzu gehörten noch zwei Dinge: pädagogisches Talent auf seiner und musikalisches auf der Schüler Seite. Mit dem, was bei einer andern Gelegenheit über seine große Lehrbefähigung gesagt worden ist39, scheint es im Widerspruche zu stehen, daß der jüngere Ernesti (seit 1734 Rector der Thomasschule) behauptete, er könne unter dem Schülerchore keine Disciplin halten, und daß nach [64] Bachs Tode im Leipziger Rathe das Wort gesprochen werden konnte, »Herr Bach wäre zwar wohl ein großer Musicus, aber kein Schulmann gewesen«40. Aber es ist ein anderes, einen einzelnen lernbegierigen, ehrfurchterfüllten Schüler leiten, als eine unverständige, verwilderte Masse bändigen. Zu ersterem befähigte Bach seine geniale, anregende, echt humane und gewissenhafte Natur; in letzterem behinderte ihn seine Künstler-Reizbarkeit, die Knaben gegenüber hervortrat, welche von seiner Größe keine Vorstellung hatten. Es ging in dieser Beziehung dem reifen Manne in Leipzig nicht anders, als dem Jünglinge in Arnstadt. Daß es mit der musikalischen Begabung unter den Alumnen oft recht dürftig aussah, werden wir gleich des weiteren erfahren. Bach ging von Leipzig aus häufig nach Dresden, hörte dort die ausgezeichneten Leistungen der italiänischen Sänger, das vortreffliche Spiel der königlichen Instrumentalcapelle und war in den Künstlerkreisen sowohl als bei Hofe selbst eine bewunderte Persönlichkeit. Es ist menschlich, daß er unter diesen Umständen die eigne Arbeit mit seinen Thomanern und Stadtmusikanten oft nur mißmuthig verrichtete, und der unlustig gethanen Arbeit pflegt es bekanntlich am Erfolge zu fehlen.

Der hiermit angedeutete Zustand wird übrigens erst nach Verlauf einiger Jahre deutlich offenbar. Anfänglich mag der Reiz der Neuheit, der natürliche Wunsch, die an seine Person geknüpften Erwartungen zu rechtfertigen und vor allem die Freude, endlich einmal wieder nach Herzenslust Kirchenmusik machen zu können, Bach über viele Widerwärtigkeiten leichter hinweggehoben haben. Es liegt wenigstens keine Nachricht vor, welche dieser Annahme im Wege stände. Die ersten Spuren eines Mißverhältnisses werden im Jahre 1729 sichtbar. Zu Ostern dieses Jahres hatten neun Alumnen die Thomasschule absolvirt und verlassen. Es waren brauchbare Musiker gewesen, sogar ein großes Talent befand sich darunter, Wilhelm Friedemann, Bachs ältester Sohn. Bei dieser Gelegenheit kommt zu Tage, daß der Rath, in Sachen des Thomanerchores noch ebenso indolent, wie zu Kuhnaus Zeiten, bei Besetzung der Alumnenstellen schon länger nicht mehr die gebührende Rücksicht darauf genommen hatte, ob die Aspiranten auch musikalisch waren. Der [65] Chor gerieth nun in eine so schlimme Verfassung, daß etwas durchgreifendes geschehen mußte, wenn überhaupt in der herkömmlichen Weise weiter musicirt werden sollte. Nicht nur Bach wurde daher in der dringlichsten Weise vorstellig, es möchten die offenen Stellen nur mit musikalisch tüchtigen Leuten besetzt werden, auch der alte Rector Ernesti bat darum, und der Schulvorsteher Dr. Stiglitz, welcher beider Wünsche dem Rath zu übermitteln hatte, unterstützte sie in einem Schreiben vom 18. Mai durch seine nachdrücklichste Befürwortung41. Als Beilage schickte er eine von Bach selbst gefertigte und geschriebene Übersicht über die neuen Bewerber und ihre Fähigkeiten, sowie über den nothwendigen Bestand der verschiedenen Kirchenchöre ein. Dieselbe lautet:

»Die jenigen Knaben so42 bey itziger vacanz auf die Schule zu S. Thomae als Alumni recipiret zu werden verlangen, sind folgende: als.


 

(1) Zur Music zu gebrauchende, und zwarSopranisten

(1 Christoph Friedrich Meißner von Weißenfels, aetatis 13 Jahr, hat eine gute Stimme und feine profectus.

(2 Johann Tobias Krebs von Buttstädt, aetatis 13 Jahr, hat eine gute starcke Stimme und feine profectus.

(3 Samuel Kittler von Bellgern, aetatis 13 Jahr hat eine ziemlich starcke Stimme und hübsche profectus.

(4 Johann Heinrich Hillmeyer von Gehrings Waldeaetatis 13 Jahr, hat eine starcke Stimme wie auch feine profectus.

(5. Johann August Landvoigt von Gaschwitz aetatis 13 Jahr, hat eine passable Stimme; die profectus sind ziemlich.

(6. Johann Andreas Köpping von Großboden, aetatis 14 Jahr hat eine ziemlich starcke Stimme; die profectus sind mediocre.

(7. Johann Gottlob Krause von Großdeuben, aetatis 14 Jahr, deßen Stimme etwas schwach und die profectus mittelmäßig.

(8. Johann Georg Leg aus Leipzig, aetatis 13 Jahr, deßen Stimme etwas schwach, und die profectus geringe.


 

Altisten.

(9) Johann Gottfried Neucke von Grima, aetatis 14 Jahr, hat eine starcke Stimme, und ziemlich feineprofectus.

[66] (10) Gottfried Christoph Hoffmann von Nebra, aetatis 16 Jahr, hat eine passable Altstimme, die profectus sind noch ziemlich schlecht.


 

(2) Die, so nichts in Musicis praestiren.

(1) Johann Tobias Dieze.

(2) Gottlob Michael Wintzer43.

(3) Johann David Bauer.

(4) Johannen Margarethen Pfeilin Sohn.

(5) Gottlob Ernst Hausius.

(6) Wilhelm Ludewigs Sohn Friedrich Wilhelm.

(7) Johann Gottlieb Zeymer.

(8) Johann Gottfried Berger.

(9) Johann Gottfried Eschner.

(10) Salomon Gottfried Greülich.

(11) Michael Heinrich Kittler von Prettin.

Joh: Sebast: Bach

Direct: Musices

u. Cantor zu S. Thomae«.


 

Dazu als Nachtrag auf einem andern Blatte:

»Gottwald Pezold von Aurich, aetatis 14. Jahr, hat eine feine Stimme und die profectus sind passable44. Johann Christoph Schmid von Bendelebenaetatis 19 Jahr, hat eine ziemlich starcke Tenor Stimme, und trifft gar hübsch.«

Und endlich als fernere Beilage:


 

»In die Kirche zuZu S. Thomae

S. Nicolai als als:

zum ersten Chorzum (2 Chor.

gehören.

3 Discantisten3 Discantisten

3 Altisten3 Altisten

3 Tenoristen3 Tenoristen

3 Bassisten.3 Bassisten.


 

[67] Zur neüen Kirche

als:

zum (3 Chor.Zum (4 Chor:

3 Discantisten2 Sopranisten

3 Altisten2 Altisten

3 Tenoristen2 Tenoristen

3 Bassisten.2 Bassisten.


 

Und dieses letztere Chor muß auch die Petri Kirche besorgen.«45

Der Antrag fand beim Rathe trotzdem nur ein halbes Gehör. Am 24. Mai verlieh er fünf der Stellen zwar an die musikalisch tüchtigen Knaben Meißner, Krebs, Küttler, Hillmeyer, Neucke, drei dagegen an solche, die »nichts in Musicis praestirten« (Dieze, Zeymer, Berger) und die letzte Stelle erhielt gar ein gewisser Feller, der von Bach nicht genannt wird, also sich ihm offenbar garnicht einmal vorgestellt hatte. Es muß bald darauf noch ein Platz frei geworden sein, denn am 3. Juni wird auch Winzer noch aufgenommen. Pezold und Schmid, beide von Bach empfohlen, blieben unberücksichtigt; Krause – falls der in Bachs Verzeichniß unter 1, 7 genannte gemeint ist – kam erst im October des folgenden Jahres an die Reihe46.

In der Charwoche des Jahres 1729 hatte Bach zum ersten Male seine Passionsmusik nach dem Evangelisten Matthäus aufgeführt. Man sieht also: dieses Werk hatte auf die Leipziger Rathsherren nicht einmal so viel Eindruck gemacht, daß sie dem Schöpfer desselben die Bitte erfüllen mochten, aus den Bewerbern um die vacanten Alumnats-Stellen die neun musikalischsten herauszulesen. Nach einer so gänzlichen Verkennung seines Werthes kann es auffällig erscheinen, daß Bach nicht sofort sein Dienstverhältniß zu lösen suchte; daß ihm sein Beruf einstweilen gründlich verleidet war, kann nicht überraschen. Es geschah in derselben Zeit, daß er die Direction des Telemannschen Musikvereins übernahm, wo er hoffen durfte, mehr Liebe zur Sache und Verständniß seiner selbst zu finden. Diese Aussicht mag ihm noch einigen Muth für die Zukunft eingeflößt haben. Aber in Beziehung auf die Cantorats-Geschäfte wurde auch der Musikverein nur die Quelle neuen Ärgers. Kuhnau hatte früher vergeblich darum nachgesucht, es möchten hinreichende [68] Stipendien ausgesetzt werden, um die Studenten zu einer regelmäßigen und zahlreicheren Mitwirkung im Thomanerchor zu veranlassen. Wie aus einem unten mitzutheilenden Memorial Bachs hervorgehen wird, waren indessen einige wenn auch geringe und ungenügende Vergütungen an mitwirkende Studenten bisher immer noch erfolgt. Unter Bachs Cantorat aber wurden sie dürftiger und dürftiger; endlich blieben sie ganz aus. Der Rath hielt sie jetzt wohl für unnöthig, da bei Bachs Stellung zum Musikverein die Studenten ohnehin in den Thomanerchor kommen würden. Sein Verfahren sieht fast wie Chicane aus, und doch entsprang es sicher aus bloßer geistiger Beschränktheit. Denn als die Kirchenmusik nun merklich schlechter wurde, war der Rath über den Cantor höchlich entrüstet. Am 16. October 1729 starb der Rector Johann Heinrich Ernesti47. Eine längere Vacanz trat ein, dann einigten sich am 8. Juni 1730 die Väter der Stadt, Johann Matthias Gesner zu berufen, da die Erwählung eines Einheimischen viel »jalousie verursachen« würde. Einer der Rathsherren wünschte, daß man bei dieser Berufung besser fahren möchte, als mit dem Cantor48. Die Vernachlässigung seiner Pflichten, welche der Rath seit einiger Zeit zu bemerken glaubte, hatte schon allerhand ermahnende Vorstellungen zur Folge gehabt. Die Herren mußten aber zu ihrer Bestürzung erfahren, daß sie damit die beabsichtigte Wirkung nicht erreichten. Der gekränkte, trotzige Künstler verweigerte ihnen rundweg jede Erklärung, und dergleichen muß sich so oft wiederholt haben, daß einer der Räthe den Cantor kurz als unverbesserlich bezeichnen konnte. Dies geschah in einer Sitzung am 2. August 1730, bei Gelegenheit des in Frage stehenden Umbaues der Thomasschule. Bach hatte, wie erzählt worden ist, bei seiner Berufung die Erlaubniß erhalten, sich im wissenschaftlichen Unterricht so viel als nöthig sei vertreten zu lassen. Die Vertretung hatte der damalige Tertius, spätere Conrector, Magister Pezold, besorgt; man war aber mit derselben, sowie mit dessen Leistungen überhaupt schlecht zufrieden, weshalb der Vorschlag gemacht wurde, einem jüngeren Lehrer, dem Magister Abraham Krügel, die [69] Vertretung zu übertragen. Das nächstliegende wäre gewesen, Bach zur Wiederübernahme des Unterrichts zu veranlassen. Aber jetzt kam die Entrüstung über ihn zu Tage. Er habe sich nicht so, wie es sein sollte, aufgeführt, habe z.B. ohne Vorwissen des Herrn Bürgermeisters ein Mitglied des Thomanerchors aufs Land geschickt, sei selbst verreist, ohne Urlaub zu nehmen, er thue nichts, halte die Singstunden nicht, andrer Beschwerden nicht zu gedenken. Der Vorsitzende schlug vor, ihn in eine der untersten Classen zu versetzen, wo er denn den Elementarunterricht entweder selbst geben, oder, da man die anfänglich ertheilte Dispensation doch nicht wohl zurücknehmen konnte, durch einen Stellvertreter hätte besorgen lassen können. Dieser Vorschlag ging nicht durch, statt dessen wurde beschlossen, »dem Cantor die Besoldung zu verkümmern«, außerdem ihm einen Verweis zu ertheilen und ins Gewissen zu reden49.

Die Beschuldigung, der Cantor thue nichts, nimmt sich recht merkwürdig aus, wenn man erfährt, daß an dem wenige Wochen vorher, nämlich den 25., 26. und 27. Juni, gefeierten Jubelfeste der Augsburger Confession Bach drei große Cantaten seiner Composition zur Aufführung gebracht, daß er, abgesehen von einem monumentalen Werke wie die Matthäus-Passion, während der sieben Jahre seines Cantorats eine Reihe von Kirchen-Cantaten geschaffen hatte, die bei andern als die Frucht eines halben Componistenlebens gelten könnten. Diese Art der Thätigkeit war für den Rath nicht vorhanden; er verlangte, daß der Cantor seine Stunden ordentlich halte und auch im übrigen seine Instructionen nicht eigenmächtig außer Acht lasse. Daß Bach sich den Gesangunterricht etwas leicht gemacht hat, werden wir wohl nicht bezweifeln dürfen. Es war eine Pflichtversäumniß, deren Rechtfertigung nicht unternommen werden soll. Umstände aber, welche sie entschuldigen, sind so zahlreiche und so gewichtige vorhanden, daß deren Darlegung fast einer Rechtfertigung gleichkommen möchte. Früher ist erzählt worden, daß die Nachmittags-Singstunden schon seit Tobias Michaels Zeit ganz der Leitung der Präfecten anheim gegeben zu werden pflegten. Wenn demnach Bach ebenfalls nur am Montag, Dienstag und Mittwoch morgens je eine Singstunde gab – und es scheint, daß er es allerdings [70] so zu halten pflegte50 – so folgte er nur einem alten Brauche. Schwerlich hat vorher irgend jemand etwas dagegen zu erinnern gefunden; die Collegen Michaels meinten sogar, der Cantor sei in den Nachmittagssingstunden ganz unnöthig. Will man weiter gehen, und annehmen, Bach habe selbst jene drei Morgenstunden unregelmäßig ertheilt, so muß vor allem die ungenügende Beschaffenheit des Chors gegenwärtig erhalten werden, für dessen Verbesserung der Rath das seinige zu thun nicht für nöthig hielt, ferner die Schwierigkeit, die es Bach machte, diese theilweise wüste Gesellschaft immer in der richtigen Weise zu behandeln. Dann ist nicht zu vergessen, daß die Zustände auf der Thomasschule fortdauernd trostlose waren, und das Bild, welches oben von denselben entworfen wurde, auch noch für die ersten sieben Jahre von Bachs Amtsführung zutrifft. Die mühselige Reorganisation der Anstalt war einstweilen ein äußerliches Werk geblieben. Verordnungen haben nur Werth, wenn auch die Persönlichkeiten vorhanden sind, sie auszuführen, und an diesen fehlte es eben. Bach mußte bald eingesehen haben, daß in dem Zustande gänzlicher Verkommenheit, in dem vom Lehrercollegium aufgeführten Kriege Aller gegen Alle, in der Verwirrung, welche für ihn besonders noch aus den häufigen Competenz-Conflicten zwischen Rath und Consistorium entstand – daß es unter diesen Verhältnissen das einzig richtige sei, nicht rechts noch links zu sehen und mit möglichster Selbständigkeit zu handeln. Die Neigung hierzu lag von Natur in ihm. Sie mußte um so mehr genährt werden, als die Stellung des Cantors an der Schule in der That eine außergewöhnlich freie war. Um die Singstunden, in denen [71] so ziemlich Bachs ganze Lehrerbeschäftigung bestand, pflegte sich der Rector nicht zu kümmern51. Da in der Leistung der Kirchenmusiken eine Hauptaufgabe der Alumnen beruhte, so war der Cantor für sie fast eine ebenso wichtige Person, wie der Rector selbst. Aspiranten meldeten sich zu des alten Ernestis Zeit ebenso häufig bei Bach, als bei jenem; d.h. sie stellten sich Bach persönlich vor, ließen sich in der Musik prüfen, und er veranlaßte dann ihre Aufnahme52. Dem alten Rector war es zuverlässig auch am liebsten, wenn man ihn möglichst wenig behelligte; wie die Pathen, welche sich Bach für seine im Jahre 1724 und 1728 geborenen Kinder in der Frau und Tochter des Rectors erbat, beweisen, stand er mit ihm dauernd in gutem Einvernehmen. Eine solche Stellung nun, die auf Selbständigkeit gradezu hindrängte, konnte wohl leicht dazu verführen, auch bestehende Schranken gelegentlich umzustoßen, besonders wenn sie von jemandem aufgerichtet waren, vor dem Bach der Künstler, wenn er ehrlich gegen sich selbst sein wollte, doch nur sehr geringen Respect haben konnte. Zu alledem muß endlich als Moment von besonderer Bedeutung die tiefe Verstimmung gezählt werden, die sich des Meisters bemächtigen mußte, wenn er mit dem Besten, was er zu geben hatte, bei seiner Behörde so gänzlich unverstanden blieb.

Er sollte also gemaßregelt werden. Documente bezeugen es, daß es bei dem bloßen Vorsatze, ihm seine Besoldung zu verkümmern, nicht geblieben ist. Der Gehalt, die Accidentien konnten ihm allerdings nicht wohl gekürzt werden. Aber es gab Legate, Vacanz-Gelder und dergleichen zu vertheilen; dann war die Gelegenheit da, den Mißliebigen zu schädigen. Die während der Zeit, welche zwischen Ernestis Tode und der Anstellung Gesners lag, für den Rector eingegangenen Accidentien sollten nach Bestimmung des Raths unter die Wittwe, den Conrector und den Tertius, da beide letztere den Rector in der Schule zu vertreten hatten, zu drei gleichen Theilen [72] vergeben werden. Dagegen machte der Schulvorsteher Dr. Stiglitz durch Eingabe vom 23. September 1730 geltend, daß der Conrector sehr viel mehr Mühe gehabt habe, als der Tertius, da er den Rector nicht nur hinsichtlich der Schulstunden habe vertreten müssen, und daß auch der Cantor statt sonst alle vier, jetzt alle drei Wochen einmal die Inspection gehabt habe. Es wäre daher wohl billig, daß dem Conrector mehr als dem Tertius und auch dem Cantor etwas gegeben würde. Die in Frage stehende Summe betrug 271 Thaler 7 ggr. 3 Pf. Der Rath entschied am 6. November 1730 folgendermaßen: die Wittwe bekam 41 Thaler, der Conrector 130 Thaler 7 ggr. 3 Pf., der Tertius 100 Thaler; Bach bekam nichts53.

Ein ähnlicher Fall war vor Jahresfrist schon einmal vorgekommen, als allerdings der edle Beschluß noch nicht gefaßt war, den Cantor systematisch in seinen Finanzen zu schädigen, aber doch schon eine unzufriedene Stimmung gegen ihn unter den Rathsherren herrschte. Ein gewisser Philippi hatte der Thomasschule ein Legat zugewendet, dessen Zinsen im Betrage von 20 Thalern jährlich vertheilt werden sollten, und zwar 12 Thaler an 12 arme Schüler zu gleichen Theilen, je 1 Thaler dem Rector, Conrector, Tertius und ersten Baccalaureus, den beiden Collaboratoren je 16 ggr., dem Schüler, der die jährliche Danksagungsrede hielte, 2 Thaler. Bei dieser Vertheilung blieb ein Rest von 16 ggr., und es wurde angefragt, ob sie nicht dem Cantor oder dem andern Baccalaureus zukommen sollten, welche beide nicht bedacht waren. Der Rath entschied unter dem 3. December 1729: dem andern Baccalaureus. Bach ging als der einzigste im ganzen Collegium leer aus54.

Als Bach sich 24 Jahre zuvor vor dem Consistorium in Arnstadt wegen einer ähnlichen Dienstvernachlässigung zu verantworten hatte, wie sie ihm jetzt zur Last gelegt wurde, wich er einer weiteren mündlichen Discussion über diesen Gegenstand durch die Zusicherung aus, sich schriftlich über denselben erklären zu wollen55. Den Leipziger Rathsherren gegenüber wollte er sich zwar anfangs überhaupt [73] zu keiner Erörterung herbeilassen; er muß aber nachträglich doch andern Sinnes geworden sein, und verfaßte ein Memorial, das wir als eine schriftliche Fixirung und weitere Ausführung dessen anzusehen haben, was er im vorhergegangenen Jahre theils dem Schulvorsteher mündlich vorgetragen, theils als Anlage zu dessen Bericht an den Rath übergeben hatte.

»Kurtzer, iedoch höchstnöthiger Entwurff einer wohlbestallten Kirchen Music; nebst einigem unvorgreiflichen Bedencken von dem Verfall derselben.

Zu einer wohlbestellten Kirchen Music gehörenVocalisten und Instrumentisten.

Die Vocalisten werden hiesiges Ohrts von denenThomas Schülern formiret, und zwar von vier Sorten, als Discantisten, Altisten, Tenoristen und Ba∫zisten.

So nun die Chöre derer Kirchen Stücken recht, wie es sich gebühret, bestellt werden sollen, müßen dieVocalisten wiederum in 2 erley Sorten eingetheilet werden, als: Concertisten und Ripienisten.

Derer Concertisten sind ordinaire 4; auch wohl 5, 6, 7 biß 8; so mann nemlich per Choros musiciren will.

Derer Ripienisten müßen wenigstens auch achte seyn, nemlich zu ieder Stimme zwey.

Die Instrumentisten werden auch in verschiedene Arthen eingetheilet, als: Violisten, Hautboisten, Fleutenisten, Trompetter und Paucker. NB. Zu denen Violisten gehören auch die, so die Violen, Violoncelli und Violons spielen.

Die Anzahl derer Alumnorum Thomanae Scholae ist 55. Diese 55 werden eingetheilet in 4 Chöre, nach denen 4 Kirchen, worinne sie theils musiciren56, theils motetten und theils Chorale singen müßen. In denen 3 Kirchen, als zu S. Thomä, S. Nicolai und der Neüen Kirche müßen die Schüler alle musicalisch seyn. In die Peters-Kirche kömmt der Ausschuß, nemlich die, so keine Music verstehen, sondern nur nothdörfftig einen Choral singen können.

[74] Zu iedweden musicalischen Chor gehören wenigstens 3 Sopranisten, 3 Altisten, 3 Tenoristen, und eben so viel Bassisten, damit, so etwa einer unpaß wird (wie denn sehr offte geschieht, und besonders bey itziger Jahres Zeit, da die recepte, so von dem Schul Medico in die Apothecke verschrieben werden, es ausweisen müßen57 wenigstens eine 2 ChörigteMotette gesungen werden kan. (NB. Wie wohle es noch beßer, wenn der Coetus so beschaffen wäre, daß mann zu ieder Stimme 4 subjecta nehmen, und also ieden Chor mit 16. Persohnen bestellen könte.)

Machet demnach der numerus, so Musicam verstehen müßen, 36 Persohnen aus.

Die Instrumental Music bestehet aus folgenden Stimmen; als:


 

 

2 auch wohl 3 zurViolino 1.

2 biß 3 zurViolino 2

2 zurViola 1

2 zurViola 2

2 zumVioloncello.

1 zumViolon.

2 auch wohl nach Beschaffenheit

3 zu denenHautbois.

1 auch 2 zumBasson.

3 zu denenTrompetten.

1 zu denenPaucken.

summa

18 Persohnen wenigstens zur Instrumental-Music.


 

NB. Füget sichs, daß das Kirchen Stück auch mit Flöten, (sie seynd nun à bec oder Traversieri), componiret ist (wie denn sehr offt zur Abwechselung geschiehet) sind wenigstens auch 2 Persohnen darzu nöthig. Thun zusammen 20 Instrumentisten. Der Numerus derer zur Kirchen Music bestellten Persohnen bestehet aus 8 Persohnen, als 4. Stadt Pfeifern, 3 Kunst Geigern und einem Gesellen. Von deren qualitäten und musicalischen Wißenschafften aber etwas nach der Warheit zu erwehnen, verbietet mir die Bescheidenheit. Jedoch [75] ist zu consideriren, daß Sie theilsemeriti, theils auch in keinem solchen exercitio sind, wie es wohl sein solte.

Der Plan davon ist dieser:


 

Herr Reichezur1 Trompette.58

Herr Genßmar 2 Trompette.

vacat 3 Trompette

Paucken

Herr Rother 1 Violine.

Herr Beyer 2 Violine.

vacat Viola.

vacat Violoncello.

vacat Violon.

Herr Gleditsch 1 Hautbois.

Herr Kornagel 2 Hautbois.

vacat 3 Hautbois oder Taille.

Der Geselle Basson.


 

Und also fehlen folgende höchstnöthige subjecta theils zur Verstärckung, theils zu ohnentbehrlichen Stimmen, nemlich:


 

2 Violisten zur 1 Violin.

2 Violisten zur 2 Violin.

2 so die Viola spielen.

2 Violoncellisten.

1 Violonist.

2 zu denen Flöten.


 

Dieser sich zeigende Mangel hat bißhero zum Theil von denen Studiosis, meistens aber von denen Alumnis müßen ersetzet werden. Die Herrn Studiosi haben sich auch darzu willig finden laßen, in Hoffnung, daß ein oder anderer mit der Zeit einige Ergötzligkeit bekommen, und etwa mit einem stipendio oder honorario (wie vor [76] diesem gewöhnlich gewesen) würde begnadiget werden. Da nun aber solches nicht geschehen, sondern die etwanigen wenigen beneficia, so ehedem an den Chorum musicum verwendet worden,successive gar entzogen worden59, so hat hiemit sich auch die Willfährigkeit der Studiosorum verlohren; denn wer wird ümsonst arbeiten, oder Dienste thun? Fernerhin zu gedencken, daß, da die 2 de Violin meistens, die Viola, Violoncello und Violon aber allezeit (in Ermangelung tüchtigerer subjectorum) mit Schülern haben bestellen müßen: So ist leicht zu erachten, was dadurch dem Vocal Chore ist entgangen. Dieses ist nur von Sontäglichen Musiquen berühret worden. Soll ich aber die Fest-Tages Musiquen, (als an welchen in denen beeden Haupt Kirchen die Music zugleich besorgen muß) erwehnen, so wird erstlich der Mangel derer benöthigten subjecten noch deutlicher in die Augen fallen, sindemahlen so dann ins andereChor diejenigen Schüler, so noch ein und andres Instrument spielen, vollends abgeben, und mich völlig dern beyhülffe begeben muß.

Hiernechst kan nicht unberühret bleiben, daß durch bißherige reception so vieler untüchtigen und zurMusic sich garnicht schickenden Knaben, die Music nothwendig sich hat vergeringern und ins abnehmen gerathen müßen. Denn es gar wohl zu begreiffen, daß ein Knabe, so gar nichts von der Music weiß, ja nicht ein mahl eine secundam im Halse formiren kan, auch kein musicalisch naturel haben könne; consequenter niemahln zur Music zu gebrauchen sey. Und die jenigen, so zwar einige principia mit auf die Schule bringen, doch nicht so gleich, als es wohl erfordert wird, zu gebrauchen seyn. Denn da es keine Zeit leiden will, solche erstlich jährlich zu informiren, biß sie geschickt sind zum Gebrauch, sondern so bald sie zurreception gelangen, werden sie mit in die Chöre vertheilet, und müßen wenigstens tact und tonfeste seyn üm beym Gottesdienste gebraucht werden zu können. Wenn nun alljährlich einige von [77] denen, so in musicis was gethan haben, von der Schule ziehen, und deren Stellen mit andern ersetzet werden, so einestheils noch nicht zu gebrauchen sind, mehrentheils aber gar nichts können, so ist leicht zu schließen, daß der Chorus musicus sich vergeringern müße. Es ist ja notorisch, daß meine Herrn Präantecessores, Schell und Kuhnau, sich schon der Beyhülffe derer Herrn Studiosorum bedienen müßen, wenn sie eine vollständige und wohllautende Music haben produciren wollen; welches sie dann auch in so weit haben prästiren können da so wohl einige Vocalisten, als: Bassist, und Tenorist, ja auch Altist, als auch Instrumentisten, besonders 2 Violisten von Einem HochEdlen und Hochweisen Rath a parte sind mit stipendiis begnadiget, mithin zur Verstärkung derer Kirchen Musiquen animiret worden60. Da nun aber der itzige status musices gantz anders weder ehedem beschaffen, die Kunst üm sehr viel gestiegen, der gusto sich verwunderens-würdig geändert, dahero auch die ehemahlige Arth von Music unseren Ohren nicht mehr klingen will, und mann üm so mehr einer erklecklichen Beyhülffe benöthiget ist, damit solche subjecta choisiret und bestellet werden können, so den itzigen musicalischen gustum assequiren, die neüen Arthen derMusic bestreiten, mithin im Stande seyn können, demCompositori und dessen Arbeit satisfaction zu geben, hat man die wenigen beneficia, so ehe hätten sollen vermehret als verringert werden, dem Choro Musico gar entzogen. Es ist ohne dem etwas Wunderliches, da man von denen teütschen Musicis praetendiret, Sie sollen capable seyn, allerhand Arthen von Music, sie komme nun aus Italien oder Frankreich, Engeland oder Pohlen, so fort ex tempore zu musiciren, wie es etwa die jenigen Virtuosen, vor die es gesetzet ist, und welche es lange vorhero studiret ja fast auswendig können, überdem auch quod notandum in schweren Solde stehen, deren Müh und Fleiß mithin reichlich belohnet wird, praestiren können; man solches doch nicht consideriren will, sondern läßet Sie ihrer eigenen Sorge über, da denn mancher vor Sorgen der Nahrung nicht dahin dencken kan, üm sich zu perfectioniren, noch weniger zu distinguiren. Mit einem exempel diesen Satz zu erweisen, darff man nur nach Dreßden gehen, und sehen, wie daselbst von Königlicher Majestät die Musici salariret [78] werden; Es kan nicht fehlen, da denen Musicis die Sorge der Nahrung benommen wird, der chagrin nachbleibet, auch überdem iede Persohn nur ein eintziges Instrument zu excoliren hat, es muß was trefliches und excellentes zu hören seyn. Der Schluß ist demnach leicht zu finden, daß bey cessirenden beneficiis mir die Kräffte benommen werden, die Music in beßeren Stand zu setzen. Zum Beschluß finde mich genöthiget den numerum derer itzigen alumnorum mit anzuhängen, iedes seine profectus in Musicis zu eröffnen, und so dann reiferer Überlegung es zu überlaßen, ob bey so bewandten Ümständten die Music könne fernerhin bestehen, oder ob deren mehrerer Verfall zu besorgen sey. Es ist aber nothwendig den gantzen coetum in drey Classes abzutheilen; Sind demnach die brauchbaren folgende:


 

(1) Pezold, Lange, Stoll, Praefecti. Frick, Krause, Kittler, Pohlreüter, Stein, Burckhard, Siegler, Nitzer, Reichhard, Krebs major und minor, Schöneman, Heder und Dietel.

Die Motetten Singer, so sich noch erstlich mehr perfectioniren müßen, üm mit der Zeit zur Figural Music61 gebrauchet werden zu können, heißen wie folget:

(2) Jänigke, Ludewig major und minor, Meißner, Neücke major und minor, Hillmeyer, Steidel, Heße, Haupt, Suppius, Segnitz, Thieme, Keller, Röder, Oßan, Berger, Lösch, Hauptmann und Sachse.

Die von lezterer sorte sind gar keine Musici, und heisen also:

(3) Bauer, Groß, Eberhard, Braune, Seyman, Tietze62, Hebenstreit, Wintzer, Ößer, Leppert, Haußius, Feller, Crell, Zeymer, Guffer, Eichel und Zwicker.

Summa. 17 zu gebrauchende. 20 noch nicht zu gebrauchende, und 17 untüchtige.

Leipzig. d. 23. Aug. 1730.

Joh: Seb: Bach.

Director Musices.«


 

In einem sehr verbindlichen, geschweige denn ehrerbietigen Tone ist dieses Schreiben eben nicht gehalten. Man vergleiche nur [79] Kuhnaus Memoriale, welche in derselben Sache Vorstellungen machen63, um eine Empfindung davon zu bekommen, wie neu dem städtischen Rathe eine solche Sprache sein mußte. Daß Bachs schroffes Auftreten ihn nicht grade geneigt stimmen mochte, zur Abstellung der von ihm aufgezeigten Mißstände zu schreiten, läßt sich denken. Er ließ sogar die Denkschrift mit einer gewissen Demonstration zu Boden fallen. Nach der Sitzung vom 2. August hatte der Bürgermeister Bach rufen lassen, um ihm den bewußten Verweis zu ertheilen, und hatte dabei auch gefragt, ob er geneigt wäre, für den Magister Pezold den wissenschaftlichen Unterricht selbst wieder zu ertheilen. Mag diese Unterredung nun vor oder nach dem 23. August, dem Datum von Bachs Denkschrift, stattgefunden haben, jedenfalls war von dem Inhalte derselben zwischen beiden die Rede. Als Dr. Born am 25. August wieder einer Rathssitzung präsidirte, in welcher er von seiner Unterredung mit Bach Bericht erstattete, hatte er, was das wahrscheinlichste ist, die Denkschrift schon in Händen. Oder er wußte doch ganz bestimmt, daß sie unterwegs und weß Inhalts sie war. Was er vortrug, war aber nur dieses: der Cantor habe sehr wenig Lust bezeigt, die in Frage stehende Schularbeit wieder zu übernehmen, es würde daher gerathen sein, nunmehr dem Magister Krügel den Unterricht anzuvertrauen. Die versammelten Räthe stimmten zu, und die ganze Angelegenheit war erledigt64.

Auch später ist man nicht wieder oder wenigstens nicht in einem Bach günstigen Sinne auf seine Anträge zurückgekommen. Sein Brief an Erdmann läßt es verständlich durchklingen, und die Raths-Rechnungsbücher erheben es zur Gewißheit, daß bis zum Jahre 1746 eine wirksame Erhöhung der zur Unterhaltung der Kirchenmusik in der Thomas- und Nikolai-Kirche gewährten Mittel nicht eingetreten ist.

Sollte aber jemand aus diesen unerfreulichen, peinlichen und beschämenden Vorgängen den Schluß ziehen wollen, die städtische Behörde habe einen gewissen Kitzel gefühlt, den nach Luft und Licht verlangenden Genius ihre materielle Übermacht fühlen zu lassen, habe ihn absichtlich niederzudrücken und somit indirect auch in der Entfaltung seines vollen künstlerischen Vermögens zu hindern gesucht, [80] so würde das als ein ganz entschiedener Irrthum zu bezeichnen sein. Der Rath war wohl zeitweilig über Bach aufgebracht und ließ sich in dieser Stimmung zu einer häßlichen – übrigens nur kurze Zeit durchgeführten – Maßregel hinreißen; er hielt auch überall den Beutel geschlossen, wo es seiner Meinung nach unnöthig war, es sich etwas kosten zu lassen; aber absichtlich gehindert hat er das Gedeihen der von Bach geleiteten Musik nicht. Wenn der Bürgermeister die Jahres-Rechnungen nachschlug, so konnte er im Gegentheil zahlenmäßig beweisen, daß in den letzten Jahren für musikalische Bedürfnisse bedeutend mehr bewilligt und verausgabt war, als früher. Eine umfassende Reparatur der großen Thomas-Orgel, welche 390 Thaler gekostet hatte, war allerdings schon in den Jahren 1720 und 1721 vorgenommen worden. Ihr folgte dann aber in den Jahren 1724 und 1725 eine gründliche, für 600 Thaler hergestellte Erneuerung der »ganz wandelbaren und schadhaften Orgel« der Nikolai-Kirche. Im Jahre 1725 wurde an der großen Thomas-Orgel abermals für 40 Thaler reparirt, zwei Jahre darauf an der kleinen für 15 Thaler, und im Jahre 1730, wo Bachs Verhältniß zum Rathe das gespannteste war, bewilligte dieser eine Summe von 50 Thalern, um das Rückpositiv der Thomas-Orgel selbständig spielbar zu machen. Im Jahre 1729 waren zwei neue »feine« Violinen, eine »dergleichen« Viola und ein Violoncell zum Kirchengebrauch für 36 Thaler angekauft worden; in demselben Jahre ließ der Rath durch Bach das Florilegium Portense von Bodenschatz zum Gebrauche der Thomaner bei der Kirchenmusik für die Summe von 12 Thalern erwerben65. Diese Ausgaben scheinen uns gering auch unter Berücksichtigung des höheren Werthes, welchen das Geld damals hatte. Aber sie waren es nicht im Verhältniß zu dem, was sonst durchschnittlich für die Musik aufgewendet zu werden pflegte. Und doch waren sie es wieder, wenn man sie mit dem vergleicht, was eine Persönlichkeit wie Bach zu beanspruchen berechtigt war. Der Fehler beim damaligen Rathe lag eben darin, daß er sich nicht bewußt war, welch eine einzigartige Kraft er an Bach besaß, und daß, um [81] eine ungehinderte Entfaltung derselben zu ermöglichen, das Doppelte und Dreifache an materieller Förderung noch nicht hingereicht hätte.

Nach den letzten Erfahrungen war Bach gegen seine Behörde begreiflicherweise auf das höchste erbittert. Er erwog jetzt ernstlich den Gedanken, Leipzig zu verlassen. Hätte sich ihm in diesen Monaten irgend eine vortheilhafte Aussicht eröffnet, man kann sicher sein, daß er ihr gefolgt und somit sein Thomas-Cantorat schon nach sieben Jahren zu einem für die Stadt Leipzig wenig ruhmvollen Ende gekommen wäre. Aber dieses war nicht der Fall, sonst wäre Bach wohl nicht auf den Gedanken verfallen, seinen Jugendfreund Erdmann, der mittlerweile kaiserlich russischer Agent in Danzig geworden war, zu ersuchen, ihm dort eine Anstellung zu vermitteln. Was wollte Bach in Danzig? Man sieht, es war ein ingrimmiger Griff ins Blaue hinein. Aber wir verdanken ihm einen der interessantesten Briefe, welche von unserm Meister vorhanden sind.


 

»Hochwohlgebohrner Herr,


 

Euer Hochwohlgebohren werden einem alten treuen Diener bestens excusiren, daß er sich die Freiheit nimmet Ihnen mit diesen zu incommodiren. Es werden nunmehr fast 4 Jahre verfloßen seyn, da Euer Hochwohlgebohren auf mein an Ihnen abgelaßenes mit einer gütigen Antwort mich beglückten66; wenn mich dann entsinne, daß Ihnen wegen meiner Fatalitäten einige Nachricht zu geben, hochgeneigt verlanget wurde, als soll solches hiermit gehorsamst erstattet werden. Von Jugend auf sind Ihnen meine Fata bestens bewust, bis auf die mutation, so mich als Capellmeister nach Cöthen zohe. Daselbst hatte einen gnädigen und Music so wohl liebenden als kennenden Fürsten, bey welchem auch vermeinete meine Lebenszeit zu beschließen. Es muste sich aber fügen, daß erwehnter Serenissimus sich mit einer Berenburgischen Princeßin vermählete, da es dann das Ansinnen gewinnen wolte, als ob die musicalische Inclination bey gesagtem Fürsten in etwas laulicht werden [82] wolte, zumahle die neüe Fürstin schiene eine amusa zu seyn: so fügte es Gott, daß zu hiesigem Directore Musices und Cantore an der Thomas Schule vociret wurde. Ob es mir nun zwar anfänglich gar nicht anständig seyn wolte, aus einem Capellmeister ein Cantor zu werden. Weßwegen auch meine Resolution auf ein vierthel Jahr trainirete, jedoch wurde mir diese Station dermaßen favorable beschrieben, daß endlich |: zumahle da meine Söhne denen studiis zu incliniren schienen :| es in des Höchsten Nahmen wagete und mich nacher Leipzig begabe, meine Probe ablegete, und so dann die mutation vornahme. Hierselbst bin nun nach Gottes Willen annoch beständig. Da aber nun 1) finde, daß dieser Dienst bey weiten nicht so erklecklich, als mann mir ihn beschrieben, 2) viele Accidentia dieser Station entgangen, 3) ein sehr theurer Orth und 4) eine wunderliche und der Music wenig ergebene Obrigkeit ist, mithin fast in stetem Verdruß, Neid und Verfolgung leben muß, als werde genöthiget werden, mit des Höchsten Beystand meine Fortune anderweitig zu suchen. Solten Euer Hochwohlgebohren vor einen alten treuen Diener dasiges Orthes eineconvenable station wißen oder finden, so ersuche gantz gehorsamst vor mich eine hochgeneigte Recommendation einzulegen: an mir soll es nicht manquiren, daß dem hochgeneigten Vorspruch und interceßion einige satisfaction zu geben, mich bestens beflißen seyn werde. Meine itzige station belaufet sich etwa auf 700 Thaler, und wenn es etwas mehrere, alsordinairement Leichen gibt, so steigen nach proportion die accidentia; ist aber eine gesunde Lufft, so fallen hingegen auch solche, wie denn voriges Jahr anordinairen Leichen accidentia über 100 Thaler Einbuße gehabt. In Thüringen kann ich mit 400 Thalern weiter kommen als hiesiges Orthes mit noch einmahl so vielen hunderten, wegen der excessiven kostbaren Lebensarth. Nunmehro muß doch auch mit noch wenigen von meinem häußlichen Zustande etwas erwehnen. Ich bin zum 2ten Mahl verheurathet und ist meine erste Frau seel. in Cöthen gestorben. Aus ersterer Ehe sind am Leben 3 Söhne und eine Tochter, wie solche Euer Hoch-wohlgebohren annoch in Weimar gesehen zu haben, sich hochgeneigt erinnern werden. Aus 2ter Ehe sind am Leben 1 Sohn und 2 Töchter. Mein ältester Sohn ist ein studiosus Juris, die andern beyde frequentiren noch einer primam und der andere 2 dam classem, und die älteste Tochter ist auch noch unverheurathet. Die Kinder anderer Ehe [83] sind noch klein, und der Knabe erstgebohrner 6 Jahr alt. Ingesamt aber sind sie gebohrne Musici und kann versichern, daß schon ein Concert vocaliter und instrumentaliter mit meiner Familie formiren kan, zumahle da meine itzige Frau gar einen saubern Soprano singet, und auch meine älteste Tochter nicht schlimm einschläget. Ich überschreite fast daß Maaß der Höfligkeit wenn Euer Hochwohlgebohren mit mehrern incommodire, derowegen eile zum Schluß mit allen ergebensten respect zeitlebens verharrend

Euer Hochwohlgebohren

gantz gehorsamst ergebenster Diener

Leipzig, d. 28 Octobris

1730

Joh: Sebast: Bach.«67


 

Der Brief hatte nicht den gewünschten Erfolg; Bach ist in Leipzig geblieben. Und, wie wir mit Grund annehmen dürfen: endlich doch nicht allzu ungern. Wären die Verhältnisse wirklich unerträglich gewesen, so hätte ein Mann von seiner Energie zuverlässig nicht eher geruht, als bis er sich aus ihnen befreit sah; und bei seinem großen Rufe würde ihm das auch nicht grade schwer geworden sein. Wenn Bach mit einem gewissen Nachdruck über die hohen Preise der Lebensbedürfnisse in Leipzig, über die Unzulänglichkeit und Unsicherheit seines Einkommens klagt – die Beredsamkeit, mit welcher er in der Denkschrift die finanziell günstige Lage der Dresdener Musiker schildert, erscheint hiernach besonders bedeutungsvoll – so haben ihn vorübergehend ungünstige Umstände und seine allgemeine Verstimmung offenbar zu schwarz sehen lassen. Man braucht solchen Klagen nur ganz einfach die Thatsache entgegen zu setzen, daß Bachs Privatverhältnisse bei seinem Tode wohlgeordnete waren, daß er einen behaglich eingerichteten Hausstand, ja sogar etwas Vermögen hinterließ. Wenn schon Kuhnau meinte, mit dem Solarium fixum könne ein Musicus wie er, der immer von seinen Kunstverwandten Zuspruch erhalte, auch den Studenten, [84] die mit zu Chore gingen, manche Ergötzlichkeit machen müsse, und überdies ein starkes Hauswesen habe, keine großen Sprünge machen68, wie viel mehr galt dieses von Bach, dessen Familie so ungleich stärker war, und dessen Haus kaum irgend ein durchreisender Künstler vorbeiging. Daß er da noch zurücklegen konnte, will gewiß etwas heißen. Unter dem Neide seiner Kunstgenossen erklärt er zu leiden. Man denkt an Görner. Aber wohin hätte ein Mann wie Bach gehen können und keine Neider finden? Gewiß, die musikalischen Mittel waren dürftig; aber darüber konnte er sich von Anfang an nicht täuschen und in einigen Beziehungen hatten sie sich doch schon gemehrt und verbessert. Und war endlich die Haltung der Behörde auch nie sonderlich aufmunternd, ja zu Zeiten gradezu niederdrückend und verletzend, so scharf war – das mußte Bach einsehen – der Gegensatz zwischen ihm und ihr doch nicht geworden, daß es sich hier um Sein oder Nichtsein gehandelt hätte. So zog denn die dunkle Wolke allmählig vorüber und der Himmel wurde wieder hell. Einen sehr erheblichen Einfluß darauf hatte ein noch in demselben Jahre eingetretenes Ereigniß, von dem man überhaupt sagen darf, daß es die glücklichste Periode von Bachs Leipziger Zeit einleiten half.

Im September hatte der neugewählte Rector der Thomasschule Johann Mathias Gesner die Amtsführung übernommen. Gesner war 1691 zu Roth in der Nähe von Nürnberg geboren, studirte in Jena und wurde 1715 Conrector des Gymnasiums zu Weimar69. Hier wirkte er bis 1729 und stand sieben Jahre auch der herzoglichen Bibliothek vor. Dann übernahm er die Leitung des Gymnasiums zu Anspach, gab aber diese Stellung schon nach einem Jahre wieder auf, um nach Leipzig zu gehen. Auch hier hat er nur bis 1734 verweilt. Er hatte sich verbindlich gemacht neben dem Schul-Rectorat nicht zugleich auch eine Universitätsprofessur zu bekleiden. Da dieses bei den Thomas-Rectoren sonst der Fall zu sein pflegte, so schädigte es Gesners Stellung, daß grade er der Universität fern bleiben mußte. Außerdem wies ihn seine Begabung entschieden auf die höchste Lehrstufe. Er folgte daher 1734 einem Rufe an die Universität [85] Göttingen, wo er nach langer glänzender Wirksamkeit im Jahre 1761 gestorben ist70. Was Gesner für die classische Philologie in Deutschland bedeutet, wie er das Studium des Griechischen neu anregte, zuerst wieder Inhalt und Form der alten Schriftsteller von höherem Standpunkte aus betrachtete, und die bildende Kraft derselben in sich und seinen Schülern lebendig werden ließ, weiß jeder Philologe. Von höherer Wichtigkeit fast noch für die Verhältnisse, deren Darstellung hier versucht wird, war die von ihm alsbald entwickelte Begabung als leitender Schulmann. In ihm hatte der Rath den Mann gefunden, dessen er bedurfte, wenn die zur Hebung der Anstalt getroffenen Verwaltungsmaßregeln nicht vergeblich sein und die neue Schulordnung nicht ein todter Buchstabe bleiben sollte. Unter Gesners Leitung begann eine neue Periode der gründlich verfallenen Schule. Er besaß neben reichem, lebendigem Wissen in eminentem Sinne die Gabe anzuregen, in seinem Charakter paarte sich mit Humanität und Milde Festigkeit und Ernst; dem Rathe gegenüber zeigte er feine Formen ohne doch Entschiedenheit vermissen zu lassen. Es konnte nicht ausbleiben, daß er sich dessen hohe Achtung und volles Vertrauen bald erwarb; ja er wurde von Seiten seiner Vorgesetzten mit einer Auszeichnung behandelt, welche beweist, daß es ihnen doch nicht so ganz an Sinn für geistige Bedeutung fehlte, wie man nach Bachs Erlebnissen vielleicht glauben möchte. Es mag hier eine von seinem Nachfolger Johann August Ernesti berichtete Thatsache angeführt werden. Gesner, der schwächlich war, und während seines Rectorats in Leipzig zweimal schwer erkrankte, hatte anfänglich seine Wohnung etwas entfernt vom Schulgebäude, da dieses sich im Umbau befand. Um ihn der Beschwerlichkeit des Schulweges zu überheben, wurde er auf Rathskosten jedesmal in einer Sänfte zur Schule und nach beendigtem Unterricht wieder in seine Wohnung geschafft. Auch insofern erleichterte ihm der Rath die Ausübung seines Berufs, als er ihn von der Verpflichtung zur Inspection entband, die sonst der Rector mit den drei obersten Lehrern in wochenweiser Abwechslung zu besorgen hatte, und [86] die nun an Gesners Statt der collega quartus, Magister Winkler, übernahm. Unter dem Lehrercollegium führte Gesner ein besseres Einvernehmen herbei und ging ihnen in der Amtsführung mit glänzendem Beispiel voran. Der Liebe der Schüler versicherte er sich durch eine neue und geistvolle Art des Unterrichts, durch unermüdliche Theilnahme an aller Fortschritten und Ergehen und durch den Ernst, mit welchem er auf Zucht und Sitte hielt. Er führte die neue Schulordnung mit Genauigkeit durch, suchte auch einzelne Bestimmungen derselben zu erweitern, zu schärfen oder den vorgefundenen Verhältnissen gemäß abzuändern. So wollte z.B. die Schulordnung die lateinischen Morgen- und Abendgebete durch deutsche ersetzt wissen; Gesner, der auf den mündlichen Gebrauch der lateinischen Sprache großes Gewicht legte, beantragte, es möchten die lateinischen Gebete wieder hergestellt werden, weil sonst »die rudité und ignoranz noch mehr überhand nehmen würde«71. Auch wurden im Jahre 1733 auf seinen Antrag nach Maßgabe der neuen Schulordnung deutsch abgefaßte Gesetze für die Schüler gedruckt72. Jemand, der unter Gesner die Thomasschule besucht hatte, schilderte sein Wesen und Thun in folgender anziehender Weise: »Er richtete sich bei der Disciplin sehr genau nach den damals erneuerten Schulgesetzen, strafte mit vieler Vorsicht und, um nicht zu streng zu verfahren, immer ein paar Tage nach einer begangenen Unthat. Dann erschien er Abends nach dem Gebete, wenn die Motette gesungen war, im Zirkel der Schüler, ließ den Verbrecher hervortreten, schilderte mit Ernst und Nachdruck das Unerlaubte und Strafwürdige der begangenen That und bestimmte dann, den übrigen zur Warnung, die beschlossene Strafe. Diese Strafertheilung wirkte unglaublich viel, und um desto mehr, da er in allgemeiner Achtung stand. Wöchentlich mußten ihm die Schüler, selbst die sonst davon ausgeschlossenen Externi, ihre Diaria überreichen, und bei der Zurückgabe fanden sich sichtbare Spuren, daß er keines übergangen hatte. Bei Ernesti geschah dies anfangs auch, aber nur, wie vormals, von den Alumnis, ward [87] aber bald ganz unterlassen, da dieser die Diaria gewöhnlich nicht zurückgab. Sonst war Gesner sehr herablassend und liebreich im Umgange mit den Schülern, besuchte sie selbst in der Singstunde, wohin sonst nicht leicht ein Rector kam, und hörte mit Vergnügen die aufgeführten Kirchenstücke. Traf er jemand in seiner Zelle über einer Arbeit, die, wenn sie auch nicht in den Schulplan paßte, doch nützlich war, z.B. einen, der sich mit Abschreiben einer Vorschrift beschäftigte, so fuhr er nicht mit Ungestüm auf ihn los, sondern empfahl ihm, wenn er Talent für Kalligraphie bemerkte, wiederholte Übung in Nebenstunden, weil, wie er sagte, der Staat Subjecte von mancherlei Talenten und Fertigkeiten bedürfe. Allen gab er bei ähnlichen Gelegenheiten die Lehre: Thut nur immer, was einen bestimmten Nutzen hat und wovon ihr einmal in eurem Beruf Gebrauch machen könnt73«.

Bach und Gesner kannten einander schon von Weimar her. Die Bekanntschaft wurde erneuert und erhob sich bald zu einem herzlichen collegialischen Verhältniß. Unser Gewährsmann hat eben erzählt, welche Theilnahme Gesner Bachs musikalischen Bestrebungen entgegenbrachte, wie er sich an seinen Aufführungen erfreute und ihn selbst in den Singstunden besuchte. Auch bemühte er sich anderweit, der Musikpflege an der Schule Vorschub zu leisten, so weit das in seinen Kräften stand, und als Bach im Jahre 1732 eine handschriftliche Sammlung von Motetten und Responsorien für die Thomaner anlegen wollte, verwandte er sich selbst beim Rath für die Kosten und erhielt die nöthige Summe auch bewilligt74. Er besaß ein für Musik sehr empfängliches Gemüth und wußte Bachs Größe vollauf zu würdigen. Jahre lang hat ihn der überwältigende Eindruck nicht verlassen, den das Wirken dieses mächtigen Künstlers auf ihn machte. Beredtes Zeugniß davon legt die Anmerkung ab, [88] welche er in seiner 1738 erschienenen Ausgabe der Institutiones oratoriae des Marcus Fabius Quinctilianus zu einer Stelle (I, 12, 3) macht, wo Quinctilian davon redet, daß der Mensch die Fähigkeit besitze, vieles zu gleicher Zeit zu übersehen und zu thun, und als Beispiel die Cither-Spieler anführt, welche zu gleicher Zeit im Gesange Worte und Töne hören ließen, dazu auf der Cither spielten und mit dem Fuße den Takt markirten. Hierzu bemerkt Gesner: »Haec omnia, Fabi, paucissima esse diceres, si videre tibi ab inferis excitato contingeret, Bachium, ut hoc potissimum utar, quod meus non ita pridem in Thomano Lipsiensi collega fuit: manu utraque et digitis omnibus tractantem vel polychordum nostrum, multas unum citharas complexum, vel organon illud organorum, cujus infinitae numero tibiae follibus animantur, hinc manu utraque, illinc75 velocissimo pedum ministerio percurrentem solumque elicientem plura diversissimorum, sed eorundem consentientium inter se sonorum quasi agmina: hunc, inquam, si videres, dum illud agit, quod plures citharistae vestri et sexcenti tibicines non agerent, non una forte voce canentem citharoedi instar, suasque peragentem partes, sed omnibus eundem intentum et de XXX vel XXXX adeo symphoniacis, hunc nutu, alterum supplosione pedis, tertium digito minaci revocantem ad rhythmos et ictus; huic summa voce, ima alii, tertio media praeeuntem tonum, quo utendum sit, unumque adeo hominem, in maximo concinentium strepitu, cum difficillimis omnium partibus fungatur, tamen eadem76 statim animadvertere si quid et ubi discrepet, et in ordine continere omnes, et occurrere ubique, et si quid titubetur restituere, membris omnibus rhythmicum, harmonias unum omnes arguta aure metientem, voces unum omnes, angustis unis faucibus edentem. Maximus alioquin antiquitatis fautor, multos unum Orpheas et viginti Arionas complexum Bachium meum, et si quis illi similis sit forte, arbitror«. »Dies alles, Fabius, würdest du für geringfügig halten, wenn du von den Todten erstehen und Bach sehen könntest (ich führe grade ihn an, weil er vor nicht langer Zeit auf der Thomasschule zu Leipzig mein College war), wie er mit beiden Händen und [89] allen Fingern das Clavier spielt, welches die Töne vieler Cithern in sich faßt, oder das Instrument der Instrumente, dessen unzählige Pfeifen durch Bälge beseelt werden, wie er von hier aus mit beiden Händen, von dort her mit hurtigen Füßen über die Tasten eilt und allein eine Mehrheit von ganz verschiedenen aber doch zu einander passenden Tonreihen hervorbringt: wenn du diesen, sag ich, sähest, wie er, während er vollbringt, was mehre eurer Citherspieler und tausend Flötenbläser vereint nicht zu Stande brächten, nicht etwa nur eine Melodie singt, wie einer, der zur Cither singt, und so seine Aufgabe löst, sondern auf alle zugleich achtet, und von dreißig oder gar vierzig Musikern den einen durch einen Wink, den andern durch Treten des Takts, den dritten mit drohendem Finger in Ordnung hält, jenem in hoher, diesem in tiefer, dem dritten in mittlerer Lage seinen Ton angiebt, und daß er ganz allein, im lautesten Getön der Zusammenwirkenden, obgleich er von allen die schwierigste Aufgabe hat, doch sofort bemerkt, wenn und wo etwas nicht stimmt und alle zusammenhält und überall vorbeugt und wenn es irgendwo schwankt die Sicherheit wieder herstellt, wie der Rhythmus ihm in allen Gliedern sitzt, wie er alle Harmonien mit scharfem Ohre erfaßt und alle Stimmen mit dem geringen Umfange der eignen Stimme allein hervorbringt. Ich bin sonst ein großer Verehrer des Alterthums, aber ich glaube, daß mein Freund Bach, und wer ihm etwa ähnlich sein sollte, viele Männer wie Orpheus und zwanzig Sänger wie Arion in sich schließt77«.

Bei solchen Gefühlen der Bewunderung und Zuneigung, welche Gesner Bach gegenüber hatte, mußte ihm daran liegen, dem Collegen die Unbequemlichkeiten seines Schulamtes möglichst wenig empfindlich zu machen, und ihn auch dem Rathe gegenüber wieder in eine bessere Stellung zu bringen. Daß er beides gethan hat, können wir aus zwei Anträgen sehen, die er an den Rath richtete, [90] und deren Gewährung, da es eben Gesner war, der sie stellte, wohl sicher erfolgt ist. Bach war von dem wissenschaftlichen Unterrichte, wenn er sich auch meistens vertreten ließ, bisher doch noch nicht völlig frei gewesen, er hatte wenigstens im Falle der Noth immer zur Aushülfe bereit sein müssen. Gesner schlug nun vor, der Rath möge die Kirchen-Inspection über die Alumnen während der Wochentage durchaus dem Cantor übertragen, während er sie bis jetzt nur am Freitag gehabt hatte, denn mit seinen Functionen verknüpfe sich dieselbe am natürlichsten. Hierfür und für ein paar Singstunden möge man ihn dann vom wissenschaftlichen Unterricht gänzlich entbinden78. Vermuthlich stellte Gesner diesen Antrag als der Magister Pezold gestorben war (30. Mai 1731) und beim Eintritt einer neuen Lehrkraft sich das Verhältniß leicht in etwas andrer Weise regeln ließ. Die Conrectorstelle trat Anfang 1732 Johann August Ernesti an. Während der Vacanz waren an Accidentien für den Conrector eingekommen 120 Gülden 10 ggr. 5 Pf. Hiervon erhielten die Pezoldischen Erben 40 Gülden. Das übrige, bat Gesner den Rath, unter Rector, Cantor, Tertius und Quartus zu gleichen Theilen zu vertheilen. Lehrstunden in Vertretung des Conrectors hatte Bach zwar nicht gegeben, aber die Reihe der Inspection war doch häufiger an ihn gekommen. Also schrieb Gesner: Die Information hat zwar Herrn Bachen keine Mühe gemacht. Doch hofft er diesmal in gleichem Theile mitzugehen, weil er bei der letzten Distribution [nach des Rectors Ernesti Tode] vorbei gegangen worden79. Hiermit hatten denn die »Gehalts-Verkümmerungen« wohl ihr Ende erreicht.

Bach war freilich nicht so leicht zu versöhnen. Hartnäckig, wie er seine Ziele zu verfolgen pflegte, hegte er auch einmal gefaßte Antipathien. Als er im Jahre 1733 dem König-Churfürsten die ersten beiden Abtheilungen seiner H moll-Messe widmete, bezeichnete er in dem Begleitschreiben als Zweck dieser Widmung ganz unumwunden die Verleihung einer Hofcharge. Er habe in seiner Stellung eine und andere Beschränkung unverschuldeter Weise, auch je zuweilen eine Verminderung seiner Accidentien80 empfinden [91] müssen. Dieses werde alsdann aufhören. Aber obgleich die gewünschte Auszeichnung einstweilen noch nicht erfolgte, haben sich doch ernstliche Differenzen zwischen Bach und dem Rathe nicht wieder ereignet. Man hatte sich nun gegenseitig kennen gelernt und suchte forthin mit einander auszukommen. Günstiger als sie jetzt war, konnte Bachs Lage in Leipzig nicht werden. Er verfügte über den berühmtesten Musikverein der Stadt, der ihm auch für die Kirchen-Aufführungen nützlich war; treffliche Schüler, wie Johann Ludwig Krebs, der Sohn seines alten weimarischen Schülers Tobias Krebs81, und seine eignen drei ältesten Söhne, die damals schon den Namen bedeutender, oder doch vielversprechender Künstler verdienten, standen ihm in seiner Thätigkeit mit wirksamer Hülfe zur Seite. In der Neuen Kirche fungirte ein ihm ergebener Musiker, an die Orgel der Nikolaikirche hatte er im Jahre 1730 seinen früheren Schüler, den bisherigen weimarischen Kammermusicus Johann Schneider gebracht82. Es bezeugt abermals Bachs Ansehen und Einfluß, daß sich unter den Aspiranten auf die freigewordene Organistenstelle zwei seiner ehemaligen Schüler befanden. Mit Schneider concurrirte der treffliche Johann Caspar Vogler, Hoforganist zu Weimar83, aber man fand, daß Vogler die Gemeinde irre gemacht und zu schnell gespielt habe; deshalb wurde Schneider vorgezogen. Derselbe war zugleich ein tüchtiger Violinist und konnte bei besondern Gelegenheiten auch anderweitig von Bach verwendet werden. Seine Stelle hat er bis lange über Bachs Tod hinaus bekleidet84. Zu all diesem kam nun als letztes und bestes Gesners Freundschaft und seine zu Gunsten der Musik geltend gemachte [92] hohe Autorität. Daß Bach dieses als ein Glück empfand, darf man selbstverständlich nennen, wenn es auch an Beweisen dafür mangelt. Eine Parodirung der zum Geburtstage der Fürstin von Anhalt-Cöthen im Jahre 1726 componirten Gratulations-Cantate möchte man gern auf Gesner beziehen85, doch fehlt es dazu an genügenden Anhaltepunkten. Als ein Zeugniß ihres einträchtigen Wirkens kann aber der feierliche Schulactus angesehen werden, mit welchem am 5. Juni 1732 das vergrößerte und besser eingerichtete Schulgebäude eingeweiht wurde. In der lateinischen Rede, welche Gesner bei dieser Gelegenheit hielt, unterließ er nicht, auch der auf der Anstalt geübten Musikpflege mit einigen warmen Worten zu gedenken86, während Bach eine von dem Collegen Winkler gedichtete Cantate aufführte. Die Musik zu dieser – übrigens herzlich schlechten – Dichtung ist nicht bekannt87.

Fußnoten

 

 

 

 

IV.

 

Die Ordnung des lutherischen Gottesdienstes in Chursachsen gründete sich auf die Agende Herzog Heinrichs, welche im Jahre 1540 publicirt wurde. Die Agende hatte nicht sowohl den Zweck, überall in den, damals noch herzoglichen, sächsischen Landen eine völlige Gleichmäßigkeit des Cultus herzustellen, als vielmehr nur die Grundlinien anzudeuten, innerhalb derer die einzelnen Gemeinden nach ihrem Wunsch und Bedürfniß sich den Gottesdienst angemessen gestalten könnten. So war es auch Luthers Meinung gemäß, der in seiner Schrift über die deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes (Wittenberg, 1526) mit besonderm Nachdruck betont, ein jeder möge in christlicher Freiheit nach eignem Gefallen von seinen Vorschlägen nur Gebrauch machen, »wie, wo, wann und wie lange es die Sachen schickten und forderten«. Das ist denn wirklich geschehen und fortgesetzt, auch nachdem die im Jahre 1580 ausgegebene Kirchenordnung des Churfürsten August sich die Herbeiführung[93] einer größeren Übereinstimmung der Gottesdienstordnung in den verschiedenen Städten und Dörfern ausdrücklich zum Ziel gesetzt hatte. So gab es auch im Leipziger Cultus Gebräuche, die ihm sein besonderes Aussehen verliehen. Die lutherische Gottesdienstordnung stellt sich als eine Umbildung der katholischen Meßhandlung dar. In manchen Orten und Gegenden entfernte man sich rascher und weiter von derselben; in Leipzig wurde ein engerer Anschluß längere Zeit und auch noch während Bachs Wirksamkeit gewahrt. Er offenbarte sich theils in äußerlichen Ceremonien und Erscheinungen, wie z.B. in dem Gebrauch des Glöckchens bei der Consecration von Brod und Wein für das heilige Abendmahl, in der Beibehaltung von Meßgewändern und Chorhemden für die fungirenden Geistlichen und Chorknaben, theils in der fortgesetzten Pflege der Originalformen gewisser Theile des katholischen Cultus und, im Zusammenhange damit, einem ausgedehnteren Gebrauche der lateinischen Sprache. Diese Gewohnheit machte sich selbst im außergewöhnlichen kirchlichen Leben sehr bemerkbar geltend. Die noch zu Bachs Zeit nicht ungebräuchlichen testamentarischen Stiftungen, welche für öffentliche Absingung von gewissen Chorälen in der Kirche am Sterbetage des Stifters den Thomanern ein Legat bestimmten, klingen deutlich an katholische Anschauungen an1. Auch bei den Umgängen der Chorschüler durch die Stadt waren neben deutschen Gesängen noch lateinische Hymnen und Responsorien üblich. Es fehlte nicht an ängstlichen Gemüthern, welche die auffällige Ähnlichkeit des protestantischen Cultus zu Leipzig mit dem katholischen Cultus gern beseitigt gesehen hätten. Der Rath selbst glaubte im Jahre 1702 die Sache einmal in die Hand nehmen zu müssen, und wandte sich unter dem 13. Februar an den König-Churfürsten mit der Bitte, daß andächtige und in den Kirchen des sächsischen Landes approbirte deutsche Gesänge, Gebete und Texte durchgehends eingeführt würden. Zur Zeit der Reformation hätten die Verhältnisse anders gelegen. Man habe nicht durch allzu große und schnelle Veränderung der Kirchenceremonien bei den einheimischen katholischen[94] Geistlichen und den Einfältigen und Neubekehrten irgend einen Anstoß verursachen wollen, auch wohl gehofft, auf diese Weise mehre noch zur evangelisch-lutherischen Kirche herüber zu ziehen. Jetzt aber sei Gefahr vorhanden, daß mancher durch die scheinbar nicht große Ungleichheit der Kirchengebräuche zu einer irrigen Meinung von der lutherischen Lehre verleitet werde. Zur Erweckung der Andacht seien »geistreiche« deutsche Lieder viel besser geeignet, als die alten lateinischen Responsorien u. drgl., die doch von den meisten nicht verstanden würden. Doch fand der Antrag keine genügende Unterstützung. Die Leipziger wußten, daß die Formen ihres Gottesdienstes grade ihrer Besonderheit wegen interessant waren, und selbst die Geistlichkeit meinte, daß doch noch einige und besonders die Fremden an den lateinischen Liedern Gefallen hätten. Er hatte deshalb sehr geringen Erfolg. Nur in Betreff der Schülerumgänge wurde, und auch erst im Jahre 1711, bestimmt, daß anstatt des Responsoriums »Sint lumbi vestri circumcincti« (Ev. Luc. 13, 35) deutsche, auf das jüngste Gericht bezügliche Lieder gesungen werden sollten, nämlich »Es ist gewißlich an der Zeit«, »Wachet auf, ruft uns die Stimme« und »O Ewigkeit, du Donnerwort«2.

Eine genaue Kenntniß der Gottesdienstordnung in der Thomas-und Nikolai-Kirche ist für die Würdigung der Bachschen Kirchenmusiken von großer Wichtigkeit, denn nur im engen Zusammenhange mit ihr lassen sich dieselben nach Wesen und Wirkung vollständig begreifen. Über den Vormittagsgottesdienst des ersten Adventssonntags besitzen wir Bachs eigenhändige Aufzeichnung, die er sich machte, als er 1714 in Leipzig war3. Da sie als solche ein gewisses Interesse hat, so mag sie hier Platz finden, obgleich aus dem folgenden hervorgehen wird, daß sie nicht überall genau und vollständig ist.


 

»Anordnung des Gottes Dienstes in Leipzig

am 4. Advent-Sonntag frühe.


 

(1) Praeludieret. (2) Motetta. (3) Praeludieret auf das Kyrie, so gantz musiciret wird. (4) Intoniret vor dem Altar. (5) Epistola verlesen. [95] (6) Wird die Litaney gesungen. (7) Praeludieret auf den Choral. (8)Evangelium verlesen. (9) Praeludieret auf die Haupt Music. (10) Der Glaube gesungen. (11) Die Predigt. (12) Nach der Predigt, wie gewöhnlich einige Verse aus einem Liede gesungen. (13) Verba Institutionis. (14) Praeludieret auf die Music. Und nach selbiger wechselsweise praeludieret und Choräle gesungen, biß die Communion zu Ende et sic porrò.«

Die Gottesdienstordnung war verschieden an den gewöhnlichen Sonntagen, den Festtagen und in der Passionswoche. Beginnen wir mit den gewöhnlichen Sonntagen. Die Reihe der kirchlichen Acte, während welcher den ganzen Tag hindurch die Thore geschlossen gehalten wurden und aller öffentliche Verkehr ruhte, eröffnete die um 51/2 Uhr beginnende Mette in der Nikolaikirche. Für diese Kirche existirte neben dem Thomanerchor noch ein besonderes vom Cantor der Nikolai-Kirche dirigirtes Choralisten-Institut, das durch städtische Stipendien unterhalten wurde. Es bestand aus Studenten und besaß seine eignen sehr genauen und strengen Satzungen4. Der Thomas-Cantor führte indessen eine gewisse Oberaufsicht über dasselbe, wie denn auch die nöthigen Musikalien seiner Obhut anvertraut waren5. Die Choralisten sangen das Invitatorium »Venite, exultemus Domino«, dann einen Psalm, ein Responsorium, darauf einer von ihnen das Sonntags-Evangelium lateinisch vom Pulte und hernach verlas es ein andrer ebenso in deutscher Sprache. Es folgte das Te Deum laudamus, das vom Organisten angestimmt und einen Vers um den andern wechselsweise von ihm und den Choralisten ausgeführt wurde. Den Schluß machte das Da pacem, oder eine andre für die Zeit passende Antiphone und endlich das Benedicamus Domino.

[96] Der Vormittags-Gottesdienst begann in beiden Hauptkirchen präcis um 7 Uhr. Ein Orgelpraeludium bereitete auf eine dem Evangelium des jedesmaligen Sonntags angemessene und gewöhnlich lateinische Motette vor. Zur Zeit der Fasten oder wenn Landestrauer war und somit die Orgel nicht gespielt wurde, blieb die Motette fort, und es wurde mit dem Lobgesange Zachariae Benedictus Dominus Deus Israel und dem Vivo ego angefangen6. Der Introitus, mit welchem Herzog Heinrichs Agende den Gottesdienst begonnen wissen will, folgte erst jetzt; darnach das Kyrie. Es wurde abwechselnd in der einen Kirche lateinisch, in der andern deutsch gesungen; geschah das letztere, so wurde die Version: »Kyrie, Gott Vater in Ewigkeit« benutzt. Zuweilen wurde auch das »Kyrie« in concertirender Form gemacht, vermuthlich während der kirchlichen Trauerzeiten, d.h. also, da an den drei letzten Adventsonntagen, in der Fastenzeit und an den Bußtagen keine concertirende Musik stattfand, am ersten Adventsonntage, was zu Bachs oben gegebener Aufzeichnung stimmt. Ein anderer Tag, an welchem das Kyrie ebenfalls concertmäßig musicirt wurde, wird hernach unter den Festtagen namhaft gemacht werden. Nunmehr wurde von dem vor dem hohen Altar knieenden Geistlichen das Vaterunser gebetet und sodann von dem Küster der Abendmahlskelch auf den Altar gesetzt. Einer der Diaconen intonirte dasGloria in excelsis, worauf entweder der Chor mit dem Et in terra pax hominibus, oder die Gemeinde mit dem Liede »Allein Gott in der Höh sei Ehr« antwortete. Es folgte in lateinischer Fassung der Gruß des Geistlichen: Dominus vobiscum, mit der Antwort des Chors: Et cum spiritu tuo. Die hierdurch eingeleitete Collecte wurde ebenfalls lateinisch gelesen, d.h. im Collectenton gesungen; nach der darauf erfolgenden Absingung der Sonntags-Epistel vom Pulte, wurde in der Advents- und Fastenzeit die Litanei in der Weise gesungen, daß sich die Gemeinde nicht nur respondirend daran betheiligte, sondern auch in die Gegenstände der Bitten mit einstimmte; angestimmt wurde die Litanei in der Thomaskirche von vier hierzu bestellten Knaben, »Altaristen« genannt; der Chor respondirte7. [97] Darnach ein Gemeindelied, welches zum Evangelium paßte, während an den übrigen Sonntagen das Gemeindelied sich gleich an die Epistel anschloß und die Litanei fortblieb. Es folgte die Absingung des Evangeliums vom Pulte, darnach das von dem Geistlichen, welcher die Woche hatte, vor dem Altar intonirte Credo in unum Deum, worauf dann an den drei letzten Adventsonntagen und in der Fastenzeit, ebenso an den Aposteltagen das ganze Symbolum Nicaenum vom Chor lateinisch gesungen wurde. An den andern Sonntagen schloß sich an die Intonation des Geistlichen sofort das Praeludium zur Hauptmusik, und daran diese selbst8. War sie beendigt, so wurde von der Gemeinde der deutsche Glaube (»Wir glauben all an einen Gott«) gesungen. Wie früher gesagt ist, wurde in jeder der beiden Hauptkirchen an den gewöhnlichen Sonntagen nur einen um den andern Sonntag Figural-Musik gemacht. Wo sie nicht stattfand, schloß sich also an die Intonation desCredo gleich der deutsche Glaube an9. Nun kam die Predigt über das Evangelium, welche vor Verlesung desselben noch einmal durch das Gemeindelied »Herr Jesu Christ dich zu uns wend« unterbrochen wurde. Die Predigt dauerte eine Stunde, von 8 bis 9 Uhr, wie denn überhaupt die Gottesdienstordnung auf eine genaue Zeiteintheilung berechnet war; um sie streng innehalten zu können, war auf dem Orgelchor eine Sanduhr angebracht10. Nach der Predigt wurde die Kirchen-Beichte nebst den gewöhnlichen Kirchengebeten verlesen und nach den üblichen Abkündigungen der Act auf der Kanzel mit dem Vaterunser und dem paulinischen Wunsche »Der Friede Gottes, welcher höher ist, [98] denn alle Vernunft« u.s.w. beschlossen. Während der Prediger die Kanzel verließ, wurden ein paar Verse eines passenden Gemeindeliedes gesungen. Den letzten Haupttheil des Gottesdienstes bildete die Communion. Ob an gewöhnlichen Sonntagen den Einsetzungsworten Luthers Paraphrase des Vaterunsers mit der sich anschließenden Abendmahlsvermahnung vorherging, oder nicht, ist nicht ganz klar; indessen kann man es unter Berufung auf Herzog Heinrichs Agende als wahrscheinlich annehmen. Unter der Communion wurden deutsche Abendmahlslieder gesungen; es wurde aber zuweilen vor denselben selbst an gewöhnlichen Sonn- und Festtagen noch eine Figural-Musik gemacht, wie dieses aus Bachs obiger Aufzeichnung und aus einer über den zweiten Theil einer Continuostimme seiner Trinitatis-Cantate »Höchst erwünschtes Freudenfest« gesetzten Notiz hervorgeht. Den Beschluß des ganzen Gottesdienstes machte, wie es scheint ohne vorhergegangene Collecte, die Benediction »Gott sei uns gnädig und barmherzig und gebe uns seinen göttlichen Segen«.

Die Zeitdauer des Vormittagsgottesdienstes richtete sich nach der Anzahl der Communicanten. Manchmal war er erst um 11 Uhr zu Ende, dauerte also gegen 4 Stunden. Hieraus allein erklärt sich schon der frühe Beginn desselben. Die Folge war, daß er zur Winterszeit großentheils, die Kirchenmusik vor der Predigt immer bei Beleuchtung stattfand11.

Der Mittagsgottesdienst, welcher um 113/4 Uhr seinen Anfang nahm, war liturgisch nur sehr einfach ausgestattet. Er bestand aus einer Predigt mit zwei vorhergehenden und einem nachfolgenden Gemeindegesange. Der Chor war in ihm nicht beschäftigt.

Um 11/4 Uhr begann der Vespergottesdienst mit einer Motette, an welche sich ein Gemeindelied schloß. Einer der Diaconen sang vom Pulte einen Psalm, das Vaterunser und eine Collecte. Dann wieder ein Gemeindelied und die Predigt, welche über die Epistel, in der Adventszeit über den Katechismus und in den Fasten über die Passionsgeschichte gehalten wurde. Nach der Predigt wurde das [99] deutsche Magnificat auf die von Joh. Hermann Schein vierstimmig gesetzte Melodie gesungen12, und nach einer vor dem Altare recitirten Collecte und dem Segen der Gottesdienst mit dem Gemeindelied »Nun danket alle Gott« beendigt.

Was die Festtage betrifft, so zeichneten sich unter ihnen die drei hohen Feste, deren jedes drei Tage hindurch gefeiert wurde, durch einen besonders reichen Cultus aus. Die Mette in der Nikolai-Kirche erlitt keine Veränderung, außer daß sie anstatt um 51/2 Uhr um 5 Uhr begann. Der Vormittags- und Vesper-Gottesdienst wurde an allen drei Tagen durch einen vom Chor gesungenen Hymnus eingeleitet, diese Hymnen waren: zu Weihnachten: Puer natus in Bethlehem, zu Ostern: Heut triumphiret Gottes Sohn, zu Pfingsten: Spiritus sancti gratia. Im Vormittagsgottesdienst kam dann das Orgelpraeludium mit der Motette. Der Collecte, welche der Epistel voranging, scheint ein auf das Fest bezüglicher Versikel vorgefügt zu sein13. Nach dem der Predigt folgenden Liede wurde als Einleitung des Communionsactes die vollständige lateinische Präfation gesungen und sodann das Sanctus als Figuralmusik gemacht, außerdem während der Communion entweder eine Motette oder ein concertirendes Stück. Den ganzen Gottesdienst beschloß nach geschehener Benediction ein Festlied der Gemeinde. In der Vesper blieb die Collecte vor der Predigt fort, nach der Predigt wurde das Magnificat lateinisch und zwar als Figuralmusik gesungen. Kirchencantaten wurden an den beiden ersten Festtagen in beiden Kirchen sowohl im Vormittags-Gottesdienst, als in der Vesper aufgeführt; in letzterer nahmen sie den Platz der ausgelassenen Collecte ein. Es wurden jedoch für diesen Zweck an jedem Festtage nur zwei Cantaten gebraucht, da die Cantate, welche des Vormittags in der einen Kirche musicirt war, des Nachmittags in der andern aufgeführt wurde, und umgekehrt. Diejenige Kirche, in welcher der zeitige Superintendent zugleich Pastor war, also zu Bachs Zeit die Nikolaikirche, hatte hier den Vorrang, d.h. in ihr fungirte am ersten Festtage Vormittags jedesmal der erste und geübteste Chor unter Bachs eigner Leitung, [100] während am zweiten Festtage Vormittags in der Thomaskirche die sogenannte Principal-Musik stattfand. An den dritten Festtagen wurde nur in einer der beiden Kirchen Musik gemacht14.

Die Auszeichnung durch eine doppelte Kirchenmusik theilten mit Weihnachten, Ostern und Pfingsten noch das Neujahrs-, Epiphanias-, Himmelfahrts- und Trinitatis-Fest, sowie Mariae Verkündigung. Die Festhymnen waren: zu Neujahr und Epiphanias: Puer natus in Bethlehem, zu Himmelfahrt: Heut triumphiret Gottes Sohn, zu Trinitatis: Spiritus sancti gratia, also dieselben, wie Weihnachten, Ostern und Pfingsten. Zu Neujahr und Epiphanias wurde nur in einer der Hauptkirchen Mittagspredigt gehalten. Unter den drei Marienfesten hatten nur Mariae Reinigung und Mariae Verkündigung einen besonderen gottesdienstlichen Charakter. An ersterem wurde mit dem Hymnus Ex legis observantia im Vormittags- und Vesper-Gottesdienst sowohl begonnen als geschlossen. Das Fest Mariae Verkündigung wurde am 25. März gefeiert. Fiel aber auf dieses Datum zugleich Gründonnerstag oder Charfreitag oder Ostern, so wurde es am Palmsonntage begangen; trotz der Fastenzeit war Figuralmusik und Orgelspiel. Das Reformationsfest wurde nur als halber Festtag begangen und zwar immer am 31. October; nur wenn dieser Tag auf Sonnabend oder Montag fiel, fand es am nachfolgen den oder vorhergehenden Sonntage statt15. Der Vormittagsgottesdienst begann mit Orgelspiel und Motette. Das dem Introitus folgendc Kyrie wurde concertmäßig musicirt. Als Episteltext wurde Thessal. II, 2, 3–8 abgesungen, als Evangelium Offenbarung Johannis 14, 6–8. Nach der Predigt sang der Chor das Te Deum mit Begleitung von Trompeten [101] und Pauken und im Anschluß daran die Gemeinde »Nun danket alle Gott«. Ohne Besonderheiten verliefen die Johannis-und Michaelis-Gottesdienste. Allen diesen Festtagen aber war gemeinsam, daß unter der Predigt ein Festlied gesungen wurde; wahrscheinlich wurde auch an allen die Epistel-Collecte durch einen passenden Versikel ausgezeichnet, die Collecte am Reformationstage scheint die lateinische pro pace gewesen zu sein16.

Der Cultus der Passionswoche theilte zunächst mit der gesammten Fastenzeit die Eigenthümlichkeit, daß in ihm nicht die Orgel gespielt und auch keine concertirende Musik gemacht wurde. Indessen galt dieses Gesetz nicht ausnahmslos. Daß es außer Kraft trat, wenn Mariae Verkündigung auf Palmsonntag fiel oder verlegt wurde, ist schon gesagt. Falls der Palmsonntag als solcher gefeiert wurde, verlief der Gottesdienst folgendermaßen. Ein Orgelpraeludium leitete sofort zum Kyrie über. Nach der Gloria-Intonation folgte das Gemeindelied »Allein Gott in der Höh sei Ehr«. Anstatt des Evangeliums sang der Archidiaconus vor dem hohen Altar unter Mitwirkung eines Schülerchors die Passion deutsch nach dem Evangelisten Matthäus. Darauf folgte die Motette von GallusEcce quomodo moritur justus17. Die Abendmahls-Handlung wurde nicht durch die volle Präfation eingeleitet, sondern es wurde nur eine, wie es scheint lateinische Eingangsformel zum Vaterunser, die sogenannte praefatio orationis dominicae verlesen18, was übrigens auch schon an den vorhergehenden Fastensonntagen von Oculi an zu geschehen pflegte. Dann wurde wieder eine Motette gesungen und von der Gemeinde Passions- oder Communionlieder. Für die Mette, die um 51/2 Uhr begann19, ist zu erwähnen, daß die Choralisten in ihr [102] den Hymnus Gloria, laus et honor tibi sit, Rex Christe sangen. Auch am Gründonnerstage wurde der Anfang mit einem Orgelpraeludium gemacht. Als Introitus wurde gesungenHumiliavit semet ipsum (Philipp. 2, 8), nach der Epistel der Hymnus Crux fidelis inter omnes und während der Communion die Motette Jesus Christus Dominus noster. Der Charfreitag hatte mit dem Gründonnerstage den Introitus gemeinsam, aber jetzt blieb die Orgel gänzlich stumm. Zur Epistel und zum Evangelium wurden Psalm 22 und Jesaias 53 ein Jahr um das andre abwechselnd benutzt. An Stelle aber des gesungenen Evangeliumstextes trat, wie am Palmsonntage die Passion nach Matthäus, so jetzt diejenige nach Johannes. Die Passionsberichte des Marcus und Lucas wurden von der Liturgie nicht berücksichtigt. Es folgte nun aber nicht die Motette Ecce quomodo, sondern das deutsche Gemeindelied »O Traurigkeit! o Herzeleid!« Der Communion ging wieder die Praefatio orationis dominicae vorher, dagegen blieb unter der Communion die Motette fort, es wurden nur Abendmahls- und Passionslieder von der Gemeinde gesungen. Bis zum Jahre 1721 hatte man in den Leipziger Hauptkirchen keine andern als choralische Passionsaufführungen gekannt. Der Andrang der Opernmusik war aber allmählig so stark geworden, daß man ihm endlich auch in der Charwoche nachgab. Mit dem genannten Jahre eroberte sich die im Figuralstil gehaltene moderne madrigalische Passionsmusik in der Charfreitags-Vesper ihren Platz. Kuhnau, der so viel über den verderblichen Einfluß der Opern auf die Kirchenmusik geklagt hatte, mußte sich nun sogar herbeilassen, selbst noch eine solche zu componiren. Sie ist – wenigstens als Skizze – erhalten und wird weiter unten genauer charakterisirt werden. Die neuen Passionsaufführungen fanden in jahrweiser Abwechslung bald in der Nikolai- bald in der Thomaskirche statt. Doch kam die Thomaskirche dieses Mal zuerst an die Reihe, vielleicht weil sie die für größere Musikaufführungen geeigneteren Räumlichkeiten hatte20. Diese Einrichtung hat fast ein halbes Jahrhundert Bestand gehabt, bis durch eine Consistorial-Verfügung vom [103] 20. März 1766 die choralischen Passionen ganz abgeschafft wurden. Die Diaconen waren meistens der Musik unkundig gewesen, die Aufführungen hatten schlecht geklungen und die Erbauung nicht gefördert. Von 1766 ab sind die madrigalischen Passionsmusiken im Vormittagsgottesdienste aufgeführt worden, und zwar eine und dieselbe in der Thomas- und Nikolai-Kirche, doch so, daß sie das eine Jahr auf Palmarum in der Thomaskirche, auf Charfreitag in der Nikolaikirche und das andre Jahr in umgekehrter Weise stattfanden. Mit der Zeit sind sie aus dem Cultus ganz verschwunden. Der Vesper-Gottesdienst des Charfreitags verlief also zu Bachs Zeit in folgender Ordnung. Mit einer Motette wurde begonnen, dann sang die Gemeinde das Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund«. Darauf folgte die Passionsmusik. Die nun folgende Predigt war vor 1721, bis wohin auch nur in der Thomaskirche Charfreitagsvesper stattgefunden hatte, immer über das Begräbniß Christi gehalten worden. Regel ist dieses zweifelsohne auch später geblieben, obgleich es einen Mißstand mit sich führen mußte, wenn die Passion, wie beide Bachschen, zweitheilig war. In solchem Falle wurde nämlich der eine Theil vor, der andre nach der Predigt gemacht und somit der continuirliche Fortgang in der Idee der Cultushandlung gestört. Nach der Predigt ertönte außerdem wieder die Motette Ecce quomodo. Die Gemeinde stimmte abermals das Lied »O Traurigkeit! o Herzeleid!« an, Collecte und Segen wurden gesungen und den Schluß machte das Gemeindelied »Nun danket alle Gott«21.

Es ist noch übrig, über den sonn- und festtäglichen Cultus in der Universitätskirche das nöthige zu sagen. Derselbe verlief bedeutend einfacher. Der Vormittagsgottesdienst begann um 9 Uhr mit einem Orgelpraeludium und dem Gemeindegesang »Allein Gott in der Höh sei Ehr«. Es folgte ein dem Tage angemessenes anderes Lied, dann der Glaube und dann die von einem der theologischen Universitätsprofessoren über das Evangelium gehaltene Predigt. Nach der Predigt wurde wieder ein Gemeindelied gesungen, an welches sich die Kirchenmusik schloß. Zu Kuhnaus Zeit fand sie nur an den hohen Festen und während der Messen statt. Seit Bach und [104] Görner sich in die Direction theilten, war sie häufiger; ob allsonntäglich oder in welcher Ordnung sonst, wissen wir nicht. Nach der Musik wurde vom Prediger mit der Benediction »Gott sei uns gnädig« der einfache Schluß gemacht. Am Nachmittag wurde von 31/4 – 4 Uhr eine kurze Vesper gehalten, die nur aus einem Gemeindelied, einer von einem Candidaten gehaltenen Predigt und dem Schlußliede »Ach bleib bei uns Herr Jesu Christ« bestand. Eine Charfreitags-Vesper mit Orgelspiel und Kirchenmusik (vermuthlich ebenfalls einer Passionsaufführung) wurde 1728 eingeführt22. Dahin hatte es Görner mit der Zeit gebracht.

Aus der Zahl der Wochengottesdienste bedürfen nur die in der Thomaskirche gehaltenen einer Erwähnung. In der Nikolai-Kirche wurde die Liturgie durch die Choralisten besorgt und in der Universitätskirche fand kein Wochengottesdienst statt. Die Wochentage, an denen der Thomanerchor in der Kirche beschäftigt war, waren Dienstag, Donnerstag, Freitag und Sonnabend. Am Dienstag um 63/4 Uhr wurde gepredigt mit vorausgehendem Gemeindelied. Der Chor sang einige lateinische Psalmen, das Canticum Zachariae, einen deutschen Psalm und zum Schluß das Benedicamus Domino. Am Donnerstag zu derselben Zeit war Predigt mit Communion; die Liturgie stimmte mit der des Dienstages überein, nur wurde vor der Predigt noch der Glaube gesungen. Am Freitag, dem gewöhnlichen Bußtage, war um 11/2 Uhr große Betstunde, in welcher die Litanei gesungen wurde. Am Sonnabend um 2 Uhr wurde, zunächst für diejenigen, welche Sonntags zum Abendmahl gehen wollten, ein Beichtgottesdienst gehalten. Die Thomaner begannen mit einem Gesange (ob Motette, Hymnus oder Psalm, ist nicht zu sagen); nach der Bußpredigt wurde das Magnificat, eine Collecte und der Segen gesungen. Während dann Privatbeichte gesessen wurde, fand auf dem Orgelchor die Hauptprobe zur Sonntagsmusik statt. In diesen Wochengottesdiensten konnten keine Bachschen Compositionen zur [105] Aufführung kommen; höchstens daß einmal am Sonnabend die Möglichkeit gewesen wäre. Ihre Erwähnung erscheint aber deshalb nicht unwichtig, weil sie das Bild des kirchlichen Lebens vervollständigen, in welches Bachs Kirchenmusiken als integrirender Theil hineingehören. In dem vollen Reichthum seiner Bestandtheile ist das Bild auch hiermit noch nicht dargestellt. Es würde zu diesem Zwecke noch die Beschreibung des Gottesdienstes in der Neuen und Peters-Kirche erforderlich sein, zu dessen Liturgie Bach wenigstens in einem losen Verhältniß stand, sowie endlich des Gottesdienstes in der Johannis- und Georgen-Kirche. Indessen genüge deren Nennung; daß das kirchliche Leben Leipzigs von einer seltenen Mannigfaltigkeit war, wird man erkennen. Und diese vielen gottesdienstlichen Acte waren nicht etwa aus andersgesinnten Zeiten überkommen und wurden nicht nur respectvoll conservirt, sondern grade die letzte Generation war es gewesen, welche 1699 den Gottesdienst in der Neuen Kirche, 1711 denjenigen in der Peterskirche wiederhergestellt und 1710 den bisher nur vereinzelt stattfindenden Gottesdienst in der Universitätskirche zur Freude der ganzen Stadt23 in einen regelmäßig sonntäglichen umgewandelt hatte. Es steht also außer Zweifel, daß damals in Leipzig ein sehr reger kirchlicher Sinn herrschte und daß Bach im Rechte war, wenn er sich von der Wirkung einer bedeutenden Kirchenmusik an diesem Orte etwas versprach.

Die feste und bis ins einzelne ausgebildete Form der Gottesdienste erstreckte sich auch auf die Theilnahme der Gemeinde. Nicht nur wo sie in das Ganze einzugreifen, sondern auch womit sie es zu thun hatte, war in der Mehrzahl der Fälle vorgeschrieben. In dem Cultus der gewöhnlichen Sonntage hatten, wie gezeigt worden ist, die Gemeindelieder »Allein Gott in der Höh«, »Wir glauben all«, »Herr Jesu Christ dich zu uns wend«, »Nun danket alle Gott«, »Ach bleib bei uns Herr Jesu Christ« ihren festen Platz, während für das Lied zum Evangelium und nach der Predigt eine wenn auch immer beschränkte Auswahl offengelassen war. An den Festtagen galten genauere Bestimmungen. Zwischen Epistel und Evangelium wurden des Vormittags gesungen: Weihnachten »Gelobet seist du, Jesu [106] Christ«, Ostern »Christ lag in Todesbanden«, Pfingsten »Komm heiliger Geist, Herre Gott«: nach dem Eingange der Predigt: Weihnachten »Ein Kindelein so löbelich«, Ostern »Christ ist erstanden«, Pfingsten »Nun bitten wir den heilgen Geist«. In der Vesper wurde nach der Kirchenmusik gesungen: Weihnachten »Vom Himmel hoch da komm ich her«, oder »Vom Himmel kam der Engel Schaar« oder »Lobt Gott, ihr Christen allzugleich«, Ostern »Christ lag in Todesbanden«, Pfingsten »Komm heiliger Geist, Herre Gott«. Zu Neujahr wurden an denselben Stellen wiederum die Weihnachtslieder, dazu dann aber noch Neujahrslieder gesungen; die Weihnachtslieder kamen ferner noch am Epiphaniasfeste und dem Feste Mariae Reinigung zur Anwendung, doch wurde an jenem außerdem gesungen »Was fürchtst du, Feind Herodes, sehr«, an diesem, aber nur in der Vesper, »Mit Fried und Freud ich fahr dahin«. Für Mariae Verkündigung war als Evangeliumlied festgesetzt »Herr Christ, der einig Gott's Sohn«, als Lied zwischen der Predigt »Nun freut euch lieben Christen g'mein«. Dieser selbe Gesang wurde am Himmelfahrtstage vor dem Evangelium angestimmt, während zwischen der Predigt »Christ fuhr gen Himmel« ertönte. Am Trinitatisfeste wurde vor dem Evangelium »Gott der Vater wohn uns bei«, am Johannisfeste an derselben Stelle »Christ unser Herr zum Jordan kam« gesungen. Am Michaelisfeste durfte der Gesang »Herr Gott dich loben alle wir« nicht fehlen. Der Reformationstag wurde durch das Evangeliumlied »O Herre Gott dein göttlich Wort«, das Predigtlied »Erhalt uns Herr bei deinem Wort« charakterisirt, außerdem schloß sich, wie schon im Vorbeigehen erwähnt wurde, an das Te Deum der Gesang »Nun danket alle Gott«. Als Evangeliumlied galt für den die Charwoche einleitenden Palmsonntag »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«, für Gründonnerstag »Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Zorn Gottes wandt«. Am Charfreitage wurde Vormittags vor der Passion das Lied »Da Jesus an dem Kreuze stund«, nach derselben »O Traurigkeit! o Herzeleid!«und zwischen Predigt und Communion »O Lamm Gottes unschuldig« gesungen. Die Lieder des Vesper-Gottesdienstes, der in seiner Gestalt zu Bachs Zeit für uns ein besonderes Interesse hat, sind oben schon im Zusammenhange seiner sämmtlichen Bestandtheile angeführt24.

[107] Ein allgemeines Gesangbuch war in den Leipziger Kirchen nicht eingeführt; nach obigem lag dazu auch keine dringende Nothwendigkeit vor. Das Gesangbuch von Vopelius war im Gebrauch, scheint aber mehr nur allgemeinen Orientirungszwecken gedient zu haben25. Gesner wünschte, daß jeder Schüler im Besitz eines Dresdenischen Gesangbuchs sei und solches in der Kirche immer bei sich habe, worüber der Cantor und der Conrector, als die Inspectoren in der Kirche, zu wachen hätten26. Dies wird sein das »Neuauffgelegte Dreßdnische Gesang-Buch, Oder Gottgeheiligte Kirchen- und Hauß-Andachten«; es war mit Melodien versehen und erschien im Jahre 1707 zu Dresden und Leipzig in Quart27. In der Kirche des St. Georgen-Waisenhauses wurde das von Johann Montag in Halle gedruckte Gesangbuch benutzt28. Ein eignes Leipziger Gesangbuch in Octav gab 1747 C.G. Hofmann heraus; er war in der Einrichtung Vopelius gefolgt, hatte aber die Melodien fortgelassen. Indessen scheint den Leipziger Kirchgängern das handliche Volumen nicht sonderlich zugesagt zu haben, denn fünf Jahre später ließ Hofmann sein Gesangbuch in Quart auflegen. Bach selbst bediente sich des reichhaltigen [108] Gesangbuches, welches Paul Wagner zusammenstellte, und nach dessen Tode Magister Johann Günther, Diaconus an der Nikolai-Kirche, im Jahre 1697 zu Leipzig unter dem Titel »Andächtiger Seelen geistliches Brand- und Gantz-Opfer« in acht Octavbänden erscheinen ließ29.

Die nach und nach herrschend gewordene Sitte, den Gemeindegesang stets mit der Orgel zu begleiten, existirte damals in Leipzig noch nicht. In Zeiten der Landestrauer, bei Bußtagen und in der Fastenzeit hatte das gänzliche oder theilweise Schweigen der Orgel den Zweck, die düstre Stimmung des Cultus zu verstärken. Aber auch an den Fest- und gewöhnlichen Sonntagen wurde wenigstens das Kanzellied stets ohne Orgelbegleitung gesungen30. Die so herbeigeführte Abwechslung machte den Cultus reicher und farbiger. Bei der Combination von Orgel und Chorgesang zeigt sich dasselbe Bestreben. Die Choralisten der Nikolai-Kirche sangen in der Mette das Te Deum so, daß sie Vers um Vers mit der Orgel alternirten. Es ist Grund anzunehmen, daß der chorale Gesang des Geistlichen und des Chors in der Regel ohne Orgelbegleitung war. Freilich sprachen hier praktische Rücksichten so laut mit, daß wohl kaum in irgend einer Kirche darüber eine ganz feststehende Norm herrschte. Bei der Litanei namentlich wurde in den sächsischen Kirchen die Orgel mehrfach verwendet, um das Herunterziehen aus der anfänglichen Tonhöhe zu verhindern31. In der Figuralmusik war der A capella-Gesang mehr und mehr in Abnahme gekommen. Mattheson sagte im Jahre 1717 anläßlich seines Streites mit Buttstedt: »wo sind die Vocalisten, die ohne Instrumente, ohne ein Fundament, es sei des Claviers oder der Orgel, anjetzo singen? (die Trio, welche mitten im Stücke vorkommen, haben eine andre Beschaffenheit) wo sind die Sänger, frage ich, die eine einzige Arie ohne Instrumente singen und im Ton bleiben können? Der Gegner wird sich vermuthlich [109] in die Currente verliebt haben, denn sonst wüßte ich kein Exempel von solchen Sängern«32. Und hiermit übereinstimmend belehrt uns Bachs Schüler Kirnberger, dessen Zeugniß also für die Leipziger Praxis von besonderer Bedeutung ist: »Von jeher wurden Kirchenmusiken, wenn dieselben auch ohne Instrumente waren, vier- acht- oder mehrstimmig gesungen, mit der Orgel zum Fundament und Aufrechthaltung der Musik begleitet, oder wenigstens ein Positiv gebraucht, wenn eine Musik beim Grabe Christi oder andern Gelegenheiten unten in der Kirche aufgeführet wurde, wobei Contra-Violons nach Proportion der Anzahl von Sängern waren. Man begleitete zwar auch auf eine andere Art jede Singstimme mit Posaunen und Zinken33, ließ aber dabei nie die Anwendung wenigstens eines Positives außer Acht«34. Die Art, in der Motette Instrumente mit den Singstimmen zu verbinden, wurde mit dem Beginn des 17. Jahrhunderts üblich, wo die reine Form der Motette anfing auszuarten und in andre Gebiete hinüberzugreifen35. Mußte sie sich auf diese Weise mit der concertirenden Musik oft sehr nahe berühren, so blieb doch der Grundunterschied bestehen, daß die begleitenden Instrumente nicht obligat sein durften36; nur hinsichtlich des Generalbasses wurde hier und da eine Ausnahme gestattet. So sehr verschmolz im 18. Jahrhundert diese Art der Instrumentalbegleitung als eine selbstverständliche Zubehör mit dem Begriff der Motette, daß man Chormusik mit Orgelaccompagnement einfach »bloße Vocalmusik« oder »A cappella-Musik« zu nennen pflegte37. [110] Matthesons Ausspruch greift wohl zu weit, aber sicher nicht viel. Die Thomaner, welche nie ohne einen unterstützenden Streichbass übten, nahmen, wenn sie außer ihren Straßenumgängen auswärts zu singen hatten, überallhin ein der Schule gehöriges Regal mit38. Daß die im 17. Jahrhunderte beliebte Weise, die Motetten mit Zinken und Posaunen zu begleiten, in Leipzig noch nicht abgekommen war, beweisen nicht nur verschiedene eigne Compositionen Bachs, sondern auch die von ihm eigenhändig geschriebenen Stimmen für Zinken, Posaunen und Orgel zu einer Palestrinaschen Messe. Daß endlich die Begleitung der Orgel zur Motette hier das allgemein übliche war, lehrt eine aufmerksame Betrachtung der Gottesdienstordnung. Am Charfreitag-Vormittag, wo die Orgel gänzlich schwieg, blieb auch vor der Predigt und unter der Communion die Motette fort; in der Vesper, wo, schon der Passionsmusik wegen, die Orgel wieder gebraucht werden mußte, war auch die Motette da; ebenso am Palmsonntag und Gründonnerstag39. An gewöhnlichen Sonntagen praeludirte zur Motette die Orgel, was ohne Sinn gewesen wäre, wenn sie zur Motette selbst hätte schweigen sollen. An den Festtagen stand das Praeludium zwischen dem Hymnus und der Motette, also jener war ohne, diese mit Orgelbegleitung. So tritt überall die Absicht hervor, die im Cultus gebräuchlichen musikalischen Mittel abwechslungsreich zu verwenden und diesen selbst zu einer Art von Kunstwerk zu gestalten. Es darf hier noch daran erinnert werden, daß man die Singstimmen auch durch mitgehende Streichinstrumente zu verstärken pflegte40.

Die Orgeln der beiden Hauptkirchen, die Bach als Cantor zwar nicht zu spielen hatte, die aber doch für die von ihm geleitete Kirchenmusik von hoher Bedeutung waren, entsprachen nur mäßigen Anforderungen: sie waren alt und gebrechlich. In der Thomaskirche befanden sich zwei. Die größere war im Jahre 1525 aufgestellt worden, nachdem sie zuvor in der Marienkirche der Antonier-Mönche zur Eiche unweit Leipzig ihren Platz gehabt hatte. Sie wurde im [111] 17. Jahrhundert zweimal renovirt, erfuhr 1670 auch eine Vergrößerung. Im Jahre 1721 war sie abermals erneuert worden, wie schon gelegentlich erwähnt worden ist. Die Arbeit, welche außer in einer gründlichen Ausbesserung auch in der Einfügung von 400 neuen Pfeifen zu Mixtur-Registern bestand41, hatte Johann Scheibe besorgt, der geschickteste Leipziger Orgelbauer jener Zeit, der auch von einem so strengen Richter, wie Bach es war, hochgeschätzt wurde42. Obgleich während Bachs Amtsführung auch die Orgelbauer David Apitzsch und Zacharias Hildebrand zur Instandhaltung des Werks herbeigezogen wurden, so hat doch Scheibe die Hauptarbeiten, welche sich in dieser Zeit nöthig machten, auch fernerhin besorgt. Die erste fand im Jahre 1730 statt und bestand darin, daß das Rückpositiv vom Hauptwerk unabhängig gemacht und mit einer eignen Manual-Tastatur versehen wurde43. Die zweite wurde im Sommer 1747 vorgenommen, wo die Orgel wieder so verfallen war, daß sie fast nicht mehr gebraucht werden konnte. Bach und Görner überwachten die Reparatur, deren Kosten auf 200 Thaler normirt waren, gemeinsam und fanden, daß Scheibe alles tüchtig und gut ausgeführt habe44. Die Disposition der Orgel war diese:


 

Oberwerk:

1. Principal16 Fuß

2. Principal8 –

3. Quintatön16 –

4. Octave4 –

5. Quinte3 –

6. Superoctave2 –

7. Spiel-Pfeife8 –

8. Sesquialteradoppelt

9. Mixtur6-, 8- bis 10fach.


 

Brustwerk.

1. Grobgedackt8 Fuß

2. Principal4 –

3. Nachthorn4 –

4. Nasat3 –

5. Gemshorn2 –

6. Cymbel2fach

7. Sesquialtera

8. Regal8 Fuß

9. Geigenregal4 –


 

[112] Rückpositiv.

1. Principal8 Fuß

2. Quintatön8 –

3. Lieblich Gedackt8 –

4. Klein Gedackt4 –

5. Querflöte4 –

6. Violine2 –

7. Rauschquintedoppelt.

8. Mixtur4 fach

9. Sesquialtera.45

10. Spitzflöte4 Fuß

11. Schallflöte1 –

12. Krummhorn16 –

13. Trompete8 –


 

Pedal

1. Subbass von Metall16 Fuß

2. Posaune16 Fußmit Körpern von

verzinntem Blech.46

3. Trompete 8 –mit Körpern von

verzinntem Blech.

4. Schalmei 4 –mit Körpern von

verzinntem Blech.

5. Cornet 3 –mit Körpern von

verzinntem Blech.


 

Die Orgel lag dicht an der westlichen Wand der Kirche. Erst im Jahre 1773 ist sie in eine bessere Stellung gebracht und weiter hervorgerückt worden; bei diesem Umbau wurde das Rückpositiv ganz beseitigt47. Auch das Orgelchor hat zu Bachs Zeit eine andre Gestalt gehabt, als jetzt. Es war sehr viel kleiner, außerdem befanden sich auf demselben die Kirchenstühle für die Lehrer der Thomasschule. Hiller vertrieb sie aus denselben und placirte die Trompeter und Pauker hinein48. Aber auch so wollte der Raum mit der Zeit nicht mehr ausreichen. Deshalb wurde im Jahre 1802 nach dem Vorschlage des Cantors Müller das Orgelchor ganz umgebaut, erhöht und an der vorderen Brüstung mit einem durchbrochenen Gitter versehen. Eine Erweiterung hat dann noch im Jahre 1823 stattgefunden49.

Die kleinere der beiden Thomasorgeln war die ältere, sie wurde 1489 erbaut. Als die größere Orgel hereingeschafft wurde, setzte man die kleinere neben sie ebenfalls an die Westwand der Kirche. [113] Hier hat sie aber nicht lange gestanden. Im Jahre 1638 wurde die jetzt noch vorhandene quer über den Kirchenraum hin gestreckte Emporkirche über dem hohen Chore erbaut und auf dieser die kleine Orgel aufgestellt, so daß sie nun sich der großen gegenüber befand. Ostern 1639 wurde sie an diesem Orte, nachdem sie ausgebessert war, zum ersten Male gespielt, und stand dort auch noch zu Bachs Zeit50. 1727 setzte sie Zacharias Hildebrand noch einmal in Stand51; aber es war nicht mehr viel mit ihr zu machen und 1740 mußte sie Scheibe ganz abtragen. Was sich von ihren Bestandtheilen noch brauchbar erwies, benutzte er zum Bau der Orgel in der Johanniskirche, den er von 1742 – 1744 zur vollsten Befriedigung der Revisoren Bach und Hildebrand ausführte52. Hier die Disposition der kleinen Thomasorgel:


 

Oberwerk.

1. Principal8 Fuß

2. Gedackt8 –

3. Quintatön8 –

4. Octave4 –

5. Rauschquinte3 und 2 Fuß53

6. Mixtur4, 5, 6, 8 bis 10fach.

7. Cymbel2fach.


 

Brustwerk.

1. Trichter-Regal8 Fuß

2. Sifflöte1 –

3. Spitzflöte2 –


 

Rückpositiv.

1. Principal4 Fuß

2. Lieblich Gedackt8 –

3. Hohlflöte4 –

4. Nasat3 –

5. Octave2 Fuß

6. Sesquialteradoppelt.

7. Dulcian8 Fuß

8. Trompete8 –


 

Pedal.

1. Subbass von Holz16 Fuß

2. Fagott16 –

3. Trompete8 –54


 

[114] Die Orgel wurde nur an den hohen Festtagen benutzt. Es war nicht ungebräuchlich, dort, wo zwei Orgeln vorhanden waren, dieselben bei doppelchörigen Motetten oder Arien so zu verwenden, daß jeder Chor sein eignes Orgelaccompagnement hatte, wodurch denn auch eine räumlich größere Entfernung beider Chöre von einander bedingt war. In Wismar wurde noch im Anfange des 18. Jahrhunderts die Keimannsche, von Hammerschmidt componirte Arie »Freuet euch, ihr Christen alle«55 zum Weihnachtsfeste in solcher Weise gesungen. Das einleitende Hallelujah wurde vom gesammten Chore und mit begleitenden Zinken und Posaunen angestimmt. Dann sang jedesmal, unterstützt von der einen Orgel, eine einzelne Stimme den Anfang der Strophe, bei den Worten »Freude, Freude über Freude« wurde sie von einem vollen Chore unter Begleitung der andern Orgel abgelöst, das Schluß-Hallelujah sangen und musicirten wieder alle zusammen56. Die nicht unbeträchtliche Entfernung, welche in der Thomaskirche zwischen den beiden Orgeln bestand, erschwerte freilich ein präcises Zusammengehen der Chöre. Indessen mit solchen Schwierigkeiten suchte man fertig zu werden, und wenn einmal Unordnung eintrat, so entschädigte dafür die feierliche Wirkung, welche die von verschiedenen Orten der Kirche zusammenströmenden Tonwellen sonst machen mußten. Kuhnau führte zur Reformationsjubelfeier im Jahre 1717 in der Universitätskirche eine dreichörige Festmusik auf, bei welcher die Chöre an drei verschiedenen Stellen der Kirche postirt waren: der eine befand sich auf dem Raume vor der neu erbauten Orgel, die beiden andern in geräumigen, der Orgel gegenüber liegenden Kirchenstühlen (wahrscheinlich hinter der Kanzel), [115] wo zwei starke Positive und ebenfalls Instrumentalmusiker aufgestellt waren57. Früher hatte in der Universitätskirche gar der seltsame Zustand geherrscht, daß der musicirende Chor weit von der Orgel entfernt stand: die Orgel war hinter der Kanzel, der Stand des Chors an der dem Altar gegenüberliegenden Kirchenwand. Trotzdem hatte man mit einander musicirt und es war gegangen, wenn auch Kuhnau und Vetter die neue Einrichtung mit Freude begrüßten, weil nun die früher gespürten Differenzen zwischen der Musik und der Orgel leichter verhütet werden könnten58.

Die Nikolaikirche besaß eine aus den Jahren 1597–1598 stammende Orgel. Die letzte Reparatur vor Bachs Zeit hatte sie 1692 erfahren. Sie bestand danach aus folgenden Stimmen:


 

Oberwerk.

1. Principal8 Fuß

2. Sesquialtera11/5

3. Mixtur6fach

4. Superoctave2 Fuß

5. Quinte3 –

6. Octave4 –

7. Gemshorn8 –

8. Grobgedackt8 Fuß

9. Quintatön16 –

10. Nasat3 –

11. Waldflöte2 –

12. Fagott16 –

13. Trompete8 –


 

Brustwerk.

1. Schalmei4 Fuß

2. Principal4 –

3. Mixtur3fach

4. Quinte3 Fuß

5. Octave2 Fuß

6. Sesquialtera11/5

7. Quintatön8 –


 

[116] Rückpositiv.

1. Principal4 Fuß

2. Gedackt8 –

3. Viola da Gamba4 –

4. Gemshorn4 –

5. Quinte3 –

6. Quintatön4 Fuß

7. Octave2 –

8. Sesquialtera11/5

9. Mixtur4fach

10. Bombart8 Fuß


 

Pedal.

1. Cornet2 Fuß

2. Schalmei4 –

3. Trompete8 –

4. Octave4 Fuß

5. Gedackter Subbass16 –

6. Posaune16 –59


 

Im Jahre 1725 wurde das Werk durch Scheibe neu hergestellt. Die Arbeit war sehr tiefgreifend und kostete 600 Thaler60. Welche Veränderungen durch sie etwa hinsichtlich der Register erfolgt sind, kann leider nicht angegeben werden. In dem nun geschaffenen Zustande blieb die Orgel bis in Bachs Todesjahr, wo Zacharias Hildebrand sie noch einmal auffrischte.

In der Thomaskirche sowohl als in der Nikolaikirche standen die Orgeln im Chorton. Diese Stimmung war wie überall so auch in Leipzig damals die herrschende. Auch die Orgel der Neuen Kirche hatte sie61.

Gegenüber diesen mittelmäßigen und »wandelbaren« alten Orgelwerken besaß aber die Universitätskirche seit dem 4. November 1716 eine Orgel, die hohen Anforderungen genügte, und die Bach, wenn er zum eignen Vergnügen spielte oder sich vor andern hören ließ, wohl meistens benutzt haben wird. Ihre Beschaffenheit kennen zu lernen dürfte deshalb ebenfalls von hervorragendem Interesse sein.


 

Hauptwerk.

1. Groß Principal von reinem Bergzinn16 Fuß

2. Groß Quintatön16 –

3. Klein Principal8 Fuß

4. Schalmei8 –

5. Flûte allemande8 –

[117] 6. Gemshorn8 Fuß

7. Octave4 –

8. Quinte3 –

9. Quint-Nasat3 –

10. Octavina2 –

11. Waldflöte2 Fuß

12. Große Mixtur5 und 6fach

13. Cornetti3fach

14. Zink2fach

Brustwerk.

1. Principal von reinem

Bergzinn im Gesichte8 Fuß

2. Viola di gamba natu-relle62

3. Grobgedackt mit weiter Mensur8 –

4. Octave4 –

5. Rohrflöte4 –

6. Octave2 Fuß

7. Nasat3 –

8. Sedecima1 –

9. Schweizer Pfeife 1 –

10. Largo63

11. Mixtur3fach

12. Helle Cymbel2fach


 

Unter-Clavier.

1. Lieblich Gedackt8 Fuß

2. Quintatön8 –

3. Flûte douce4 –

4. Quinta decima4 –

5. Decima nona3 –

6. Hohlflöte2 –

7. Viola2 Fuß

8. Vigesima nona11/2

9. Weitpfeife1 –

10. Mixtur3fach

11. Helle Cymbel2 –

12. Sertin8 Fuß64


 

Pedal.

Sechs Register, die durch eine neue und besondere Erfindung auf den großen Manual-Windladen angebracht waren:

1. Groß Principal von reinem

Bergzinn im Gesichte16 Fuß

2. Groß Quintatön16 –

3. Octave8 Fuß

4. Octave4 –

5. Quinte3 –

6. Mixtur5- und 6fach


 

[118] Register auf den kleinen Brust-Pedal-Windladen:

7. Großer heller Quintenbass

im Gesichte6 Fuß

8. Jubal8 –65

9. Nachthorn4 Fuß

10. Octave2 –


 

Register auf den großen Windladen zu beiden Seiten:

11. Groß Principal von reinem

Bergzinn im Gesichte16 Fuß

12. Subbass16 –

13. Posaune16 Fuß

14. Trompete8 –

15. Hohlflöte1 –

16. Mixtur4fach


 

Bei-Register.

Ventilezum Hauptwerk

Ventilezum Brustwerk

Ventilezu den Seiten-Bässen

Ventilezur Brust und Manual66

Ventilezum Stern

Ventilezum Hinterwerk

Calcanten-Glöcklein.67


 

Wie früher erzählt worden ist68, war Bach die ehrenvolle Aufgabe gestellt gewesen, dieses Orgelwerk, dessen Bau von Vetter hatte überwacht werden müssen, nach seiner Vollendung zu prüfen. Er war damals grade von Weimar nach Cöthen übergesiedelt. Sein Urtheil hatte er in einem schriftlichen Berichte an die Universität niedergelegt, der hier folgt69.

»Da auf Verlangen Ihrer HochEdlen Magnificenz Herrn D. Rechenbergs, der Zeit Rectoris Magnifici bey der Hochlöblichen Academie [119] zu Leipzig die Untersuchung des theils neu Verfertigten, theilsreparirten Orgel Wercks in der Pauliner Kirche auf mich genommen, so habe solches nach Möglichkeit bewerckstelliget, die etwanigen Defecta remarquiret und überhaupt vom gantzen Orgelbau folgendes ausfertigen wollen, als:

1.) Die gantze Structur anlangend ist freylich nicht zu läugnen, daß solche sehr enge gefast, und daher schwerlich iedem Stücke beyzukommen, so sich etwan mit der Zeit einiges zu repariren finden solte, solches excusiret nun Herr Scheibe als Verfertiger schon berührter Orgel damit, daß vors erste das Orgelgehäuße von ihme nicht verfertiget, und er also so gut es immer sich hätte wollen thun laßen, mit dem Eingebäude nach selbigen sich richten müßen, vors andere man Ihme den noch verlangten Raum, um die Structur commoder einzurichten, gar nicht gestatten wollen.

2.) Die gewöhnlichen Hauptpartes einer Orgel, als Windladen, Bälge, Peiffen, Wellen-Breter und übrigen Stücke sind mit gutem Fleiße verfertiget, und ist dabey nichts zu errinnern, als daß der Wind durchgehends aequaler gemacht werden muß, damit dem etwanigen Windstoßen abgeholfen werden möge, die Wellen Breter solten zwar in Rahmen gefaßet seyn, um alles Geheule bey schlimmen Witterungen zu vermeiden, da Herr Scheibe aber nach seiner Arth solche mit Tafeln verfertiget, und dabey versichert, daß solche eben das thäten, was die mit Rahmen sonst thun müsten, so hat man solches passiren lassen.

3.) Die in der Disposition so wohl, als sämtlichenContracten berührten Stücke sind so wohl qualitate als quantitate befindlich, außer 2 Rohrwercke, nehmlich: Schallmey 4. F. und Cornet 2. F., welche vermöge eines Hochlöblichen Collegii Befehl haben unterbleiben müßen, an dero Statt aber die Octava 2. F. im Brustwerck, und dann die Hohlflöte 2. F. im Hinterwerck beygebracht worden.

4.) Die etwanigen Defecta wegen der inaequalitate der Intonation gezeiget, müßen und können so fort von dem Orgelmacher verbeßert werden, als nehmlichen, daß die tiefesten Pfeiffen im Posaunen und Trompeten-Bass nicht so groß und blatterend ansprechen, sondern einen reinen und firmen Thon angeben und behalten, und dann die übrigen Pfeiffen so inaequal, fleißig corrigiret und zur Gleichheit gebracht werden, welches denn vermittelst nochmahliger[120] Durchstimmung des gantzen Wercks und zwar bey beßerer Witterung, als vorietzo, gar füglich geschehen kan.

5.) Die Tractirung des Wercks sollte zwar etwas leichter seyn und die Clavire nicht so tief fallen, weilen aber vermittelst der gar zu engen Structur solches nicht anders hat seyn können, so muß man dißfalls es gelten laßen, iedoch ist es noch so zu spielen, daß man eines Stecken Bleibens im Spielen sich nicht zu befürchten.

6.) Weilen auch der Orgelmacher eine neue Brust Windlade noch über die Contracte hat verfertigen müßen, indem die alte Windlade, so statt der neuen hat kommen sollen, vors erste mit einem Fundament Brete, und also falsch und verwerflich; zweytens auch in solcher nach der alten Art die kurtze Octave noch befindlich, und die übrigen Claves so noch fehlen, nicht haben angebracht werden, und dadurch alle 3.Claviere zur Gleichheit kommen können, sondern vielmehr eine deformité verursachet hätten, so ist höchstnöthig geweßen daß eine neue verfertiget, die besorgenden baldigen Defecta vermieden, und eine schöne conformité beybehalten worden: sind also ohne mein Errinnern dem Orgelmacher die über dieContracte noch neu verfertigten Stücke zu verguten, und er also schadloß zu halten.

Weiln auch der Orgelmacher mich ersuchet Einem Hochlöblichen Collegio vorstellig zu machen, wie daß man solche Stücke so ihme nicht veraccordiret, als nehmlich die Bildhauer-Arbeit, das Vergulden,item die Espeçen, so der Herr Vetter pro inspectione bekommen, und was etwa sonst noch seyn möchte, zur Bezahlung anrechnen wollen, und er doch solches nicht schuldig zu thun, auch sonst niemahls gebrauchlich geweßen (Er sich sonst wohl beßer würde prospiciret haben) so läßet er gantz gehorsamst bitten ihn dieserwegen in keine Unkosten zu bringen.

Nun kan schließlichen nicht ohnerrinnert laßen, daß 1.) das Fenster, so weit es nehmlich hinter der Orgel in die Höhe steiget vermittelst einer kleinen Mauer, oder eines starck eisernen Bleches von inwendig verwahret, und dadurch der noch mehr zu besorgende Wetter-Schade verhütet werden möchte. 2.) ist gewöhnlich und höchstnothig, daß der Orgelmacher ein Jahr wenigstens die Gewähre leiste, um die etwa sich noch ereignenden Mängel völlig abzuthun, welches er auch willigst über sich nehmen dürfte, daferne man ihme [121] nur zu baldigster und völligster Satisfaction seiner noch über die Contracte aufgewendeten Kosten beförderlich seyn würde.

Dieses wäre also dasienige, so bey Untersuchung der Orgel zu remarquiren vor nöthig gefunden, mich fernerhin Ihrer Hoch Edlen Magnificenz dem HerrnD. Rechenberg, und sämtlichen Hochlöblichen Collegio zu allen möglichen gefälligen Diensten bestensrecommendirend und verharrend


 

Dero

Leipzig. d. 17. Decembris

aõ 1717.

gehorsamst-ergebenster

Joh. Seb: Bach.

Hochfürstlich Anhalt-Cöthenscher

CapellMeister«70.


 

Als Scheibe im Jahre 1710 den Orgelbau übernehmen sollte, trauten Kuhnau und Vetter seiner Geschicklichkeit noch nicht eben viel zu, bezeichneten ihn aber sonst als einen redlichen, billigen und fleißigen Arbeiter. Um so ehrenvoller war es für ihn, daß das endlich vollendete Werk vor einer so scharfen und von so eminent sachkundiger Seite vorgenommenen Prüfung Stich hielt. Der Organist, der nach Görners Abgang das gewaltige Tonwerkzeug zu spielen und zu besorgen hatte, hieß Johann Christoph Thiele, ein Mann über dessen künstlerisches Wirken sonst nichts bekannt geworden ist.

Mit den üblichen Vor- und Nachspielen trat die Orgel in das Ensemble der Gottesdienst-Handlung als selbständige Macht ein. Der technische Ausdruck hierfür war Praeludiren, ohne Rücksicht auf die Stelle, an welcher der Organist sich allein hören ließ. Dies erklärt sich einfach daraus, daß das Postludium am Schlusse des Gottesdienstes nicht überall gebräuchlich war. Es diente weniger einem praktisch liturgischen als einem allgemein künstlerischen Zwecke, wogegen die Vorspiele zunächst und hauptsächlich die Gemeinde auf das zu singende Lied vorbereiten und sie allenfalls mit einer weniger bekannten Melodie vertrauter machen sollten. Je höher die Kunst der Orgelmusik stieg, je mehr einerseits die Choralvorspiele zu selbständigen, erschöpfenden Tonstücken, also zu Orgelchorälen, sich abrundeten, desto verbreiteter mußte andrerseits auch die Sitte des Postludirens werden, wo der Organist in freien [122] Fantasien und Fugen sich Genüge thun konnte. Es wird in den Quellen von dem Orgelspiel zum Ausgang in den Leipziger Kirchen nirgends ausdrücklich gesprochen. Daraus folgt nicht, daß es unterlassen worden sei. Vielmehr läßt sich aus den Äußerungen Johann Adolph Scheibes, eines geborenen Leipziger Musikers, der längere Zeit in seiner Vaterstadt wirkte, der Schluß ziehen, man habe es auch hier geübt71. Für die eigentlichen Praeludien galt es als Grundsatz, die weitest ausgeführten und kunstvollsten vor dem zwischen Epistel und Evangelium gesungenen Gemeindeliede und vor den Communionliedern anzubringen72. Der Grund war wieder ein praktischer: in der Auswahl dieser Lieder herrschte eine größere Freiheit, es wurden daher zuweilen Lieder mit weniger bekannten Melodien gesungen, während die übrigen Gemeindegesänge ziemlich dieselben blieben. Diese Vorspiele beschäftigten sich natürlich mit der Melodie des nachfolgenden Gesanges. Einen besonderen Charakter hatte das der concertirenden Kirchenmusik regelmäßig vorhergehende Orgelpraeludium. Es verfolgte den praktischen Zweck, den Instrumentisten das Einstimmen ohne Störung der andächtigen Gemeinde zu ermöglichen. Der Organist durfte deshalb nicht im strengen Stil spielen, sondern mußte ganz frei fantasiren und sich dabei hauptsächlich und lange in denjenigen Tonarten aufhalten, welche der Stimmung der verwendeten Instrumente entsprachen. War eingestimmt, so gab der Musikdirector ein Zeichen und der Organist mußte schließen. Dabei sollte aber sein Praeludium zugleich auf das nachfolgende Musikstück vorbereiten und eine Art von abgeschlossenem Ganzen für sich bilden. Er hatte hier also eine schwierige Aufgabe zu lösen, wenn er überhaupt gesonnen war, seine Sache ordentlich zu machen. Dies war freilich bei der Rohheit, mit der die Kirchenmusik vielerwärts abgethan wurde, keineswegs immer der Fall, und man hörte häufig nur ein wüstes, übelklingendes Tongewirr73.

[123] Während der Kirchenmusik selber mußte der Organist aus einer bezifferten Bassstimme, über welcher bei Recitativen zuweilen noch die Singstimme notirt war, den Generalbass spielen74. Der Orgel fiel hier die Rolle zu, welche in der Kammermusik dem Cembalo gehörte75. Seit die concertirende Kirchenmusik allgemein geworden war, bildete dieses Accompagnement einen Theil der beständigen Pflichten des Organisten, und daß auch Bach die Sache so ansah, geht aus der von ihm gemachten Eingabe in Sachen seines Streites mit der Universität hervor, in welcher er sagt, der Organist habe nicht nur vor und nach der Predigt die Kirchenmusik abzuwarten, sondern auch bis zum allerletzten Liede die Orgel zu schlagen. Ausnahmsweise dürfte er jedoch die Generalbassbegleitung auch wohl einmal einem andern übertragen haben, namentlich wenn es sich dabei um Görner handelte, dessen Leistungen ihn manchmal wenig befriedigt haben werden. Wie er das Accompagnement ausgeführt wissen wollte, darüber ist schon an einem andern Orte ausführlich gesprochen worden76. Die Verweisung darauf würde hier genügen, wenn nicht inzwischen ein bisher unbekanntes Document zu Tage gekommen wäre, durch welches der Gegenstand in eine noch schärfere Beleuchtung gerückt wird. Heinrich Nikolaus Gerber hatte unter Bachs Anleitung die Kunst des Generalbass-Spiels an den Albinonischen Violinsonaten üben müssen, und später seinem Sohne, dem Lexicographen, die Begleitungsart überliefert, die er bei diesen Sonaten von Bach erlernt hatte. Der Sohn erzählt, daß er besonders in dem Gesange der Stimmen unter einander nie etwas vortrefflicheres gehört habe; dies Accompagnement sei an sich schon so schön gewesen, daß keine Hauptstimme dem Vergnügen, welches er dabei [124] empfunden, etwas hätte hinzuthun können. Es liegt jetzt eine solche Generalbassbegleitung des älteren Gerber vor; sie ist durchweg von ihm selbst geschrieben und mit eigenhändigen Correcturen Bachs versehen77. Der Correcturen sind verhältnißmäßig wenige, der Lehrer war offenbar durch die Arbeit befriedigt; in jedem Falle ist nach Einfügung der Bachschen Änderungen nunmehr ein ganz dem Sinne Bachs entsprechendes Accompagnement eines Solos gewonnen. Seine Beschaffenheit lehrt, daß ich aus den Worten des jüngern Gerber einen falschen Schluß gezogen habe, wenn ich annahm, jene Begleitungsart sei eine polyphone gewesen. Die Schuld trägt jedoch Gerber selbst, der sich ungenau und übertrieben ausgedrückt hat. Der Begriff »polyphon« ist freilich ein dehnbarer, indessen wenn es sich um Bach handelt, versteht man darunter doch nur die thematisch-selbständige Führung der Stimmen. Von einer imitatorischen Benutzung gewisser aus der Hauptstimme entnommener oder frei erfundener Motive findet sich aber in der Gerberschen Generalbassstimme nichts. Sie stellt einen fließenden mehrstimmigen Satz dar, bei welchem man an keiner Stelle das Gefühl verliert, daß die ihn bewegende Kraft durchaus außerhalb liegt. Nur insofern eine ungezwungene und nirgendwo ins Stocken gerathende Folge von Harmonien eine gewisse melodische Führung von selbst mit sich bringt, kann man bei diesem Accompagnement von Melodie sprechen und es paßt genau auf dasselbe die Charakterisirung, welche der jüngere Telemann von einem guten Accompagnement giebt: es ist »ein guter Gesang«, d.i. eine verhältnißmäßige und angenehme Folge der [125] Klänge«78. Vier der wenigen Bachschen Correcturen verdanken dem Streben nach einer solchen »angenehmen Folge« ihr Dasein (1, 2, 9 und 10). Außerdem bemerkt man, wie Bach dem Schüler sogar gestattete, die von Albinoni vorgeschriebenen einfachen Harmonien außer Acht zu lassen, theils um die harmonische Bewegung stetiger und treibender, theils um sie interessanter zu machen. Eine Selbständigkeit der Behandlung ist demnach in der That vorhanden, nur ruht sie nicht, wie man dieses aus des jüngern Gerbers Worten entnehmen mußte, auf dem melodischen Gebiet: mit sicherm Takte ist die Gränze beobachtet, welche Homophonie und Polyphonie oder, was hier dasselbe ist, Nebensache und Hauptsache scheidet. Auf andre lehrreiche Seiten dieser Generalbassstimme: auf die durchgängige Vierstimmigkeit, womit sie der Forderung entspricht, welche auch Kirnberger für ein Bachsches Accompagnement erhebt, auf die Unisono-Verstärkung der ohne Begleitung einsetzenden Themen im zweiten und dritten Satze, ein Verfahren, das auf dieselbe Weise zu erklären ist, wie die vereinzelten Füllaccorde in den dreistimmigen Sonaten für Violine und Clavier79, kann an dieser Stelle nur flüchtig hingewiesen werden. Nachdem wir aber in den Stand gesetzt sind, den genauesten Sinn der Gerberschen Worte festzustellen, kann von der hierdurch gewonnenen Grundlage aus auch der Ausspruch Mizlers präciser gedeutet werden, Bach accompagnire einen jeden Generalbass zu einem Solo so, daß man denke, es sei ein Concert, und die Melodie, welche er mit der rechten Hand mache, sei schon vorher dazu gesetzt worden. Mizler selbst hat an einer andern Stelle einen Fingerzeig gegeben, wie diese Worte aufzufassen sein dürften; es fehlte nur bisher ein sicherer Anhaltepunkt, um die Auslegung zu unternehmen. In einer Besprechung der Werckmeisterschen Generalbasslehre führt er aus derselben den Satz an, daß zu einer angenehmen Fortschreitung der Harmonien im Accompagnement mehr gehöre, als Quinten und Octaven vermeiden. Dieses »mehr«, sagt Mizler, sei die Melodie, und Melodie sei eine solche Veränderung der Töne, die man bequem singen könne und die dem [126] Gehöre angenehm sei. Da man aber in den besten Melodien die wenigsten Sprünge bemerke, so folge, daß ein Generalbassist keine auffälligen Sprünge machen dürfe, wenn er das Wesen der Melodie nicht verderben wolle80. Offenbar läuft seine Beschreibung der Bachschen Begleitungsart auf dasselbe hinaus, was Heinrich Nikolaus Gerbers Generalbassstimme lehrt, auf eine glatte Verbindung der Harmonien, die alsdann die Hervorbringung einer Art von Melodie in der Oberstimme zur Folge hatte. Daß Bachs Schüler diese Eigenschaft so stark betonen, wird erklärlich wenn man erfährt, wie unordentlich und geschmacklos bei der Ausführung des Basso continuo vielfach verfahren wurde. Erzählt doch Löhlein, ein bekannter Musiklehrer des 18. Jahrhunderts, daß Solospieler, sogar Violoncellisten, nicht gern ein Clavier zur Begleitung nähmen, sondern ein kindisches Accompagnement mit der Bratsche oder gar Violine vorzögen, wo dann die Grundstimme immer über der Melodie herumklettere, als sähe man jemanden auf dem Kopfe gehen81. Und auch bei einem Accompagnement auf Clavier oder Orgel begnügten sich sehr viele damit, die Accorde ohne Rücksicht auf ihre Lage und Verbindung nur zu greifen wie sie ihnen eben in die Finger kamen. Doch dürfen obige Ergebnisse nicht zu der Behauptung verleiten, Bach habe seinem Organisten jede durch Imitationen ausgeschmückte Generalbassbegleitung verboten. Wenn man auch darauf kein großes Gewicht legen wollte, daß Kuhnau, Heinichen, Mattheson, Schröter und andre Autoritäten jener Zeit ein mit Discretion ausgeführtes Imitiren als feinste Kunst des Begleiters preisen, so sind doch immer noch einige Zeugnisse vorhanden, aus denen hervorgeht, daß speciell auch Bach beim Begleiten zuweilen polyphon verfuhr, und wären sie es nicht, so hätte man ein Recht, es aus seiner musikalischen Natur im allgemeinen zu schließen. Wohl aber bestätigt Gerbers Arbeit das Resultat der früheren Auseinandersetzung, daß ein Unterschied gemacht werden müsse zwischen dem was Bach in dieser Beziehung gestattete und dem was er forderte. Über letzteres kann, nachdem Kirnbergers Accompagnement zu einem Bachschen Trio und dasjenige Gerbers zu einer Albinonischen Solosonate vorliegt, [127] ein Zweifel nicht mehr bestehen. Man kann auch die Beweiskräftigkeit des letzteren nicht dadurch zu schwächen versuchen, daß dasselbe nicht zu einer Bachschen Originalcomposition gefügt sei und Bach zu einer solchen eine andre Begleitungsart verlangt haben könne. Ein jeder fertige Künstler entnimmt den Maßstab für das, was er für angemessen und schön hält, den eignen Werken. Wenn eine polyphone Bereicherung eines Solostückes vermittelst der Generalbassbegleitung Bach überhaupt erforderlich geschienen hätte, so würde er seinen Schüler auch hier, wo es eine ausschließlich zu Lernzwecken angefertigte Arbeit galt, dazu angehalten haben. Man kann dessen um so gewisser sein, als die einfachen, weiten Räume des Harmonienbaus der Albinonischen Sonate zur Einfügung kunstvolleren Details ganz besonders geeignet waren, und mochte er dem simplen Stile des gesammten Werkes noch so sehr Rechnung tragen, irgend welche Spuren polyphoner Arbeit müßten doch bemerkt werden können. Wenn nun Bachs Generalbassspieler über das von ihm Geforderte hinausging, so that er es auf eigne Gefahr. Gelang ihm eine hier und da versuchte künstlichere Ausführung, so verschaffte er dem Kennerohr eine unerwartete angenehme Empfindung, mißlang sie, so verdarb er das Ganze und zog unfehlbar den Zorn des Dirigenten auf sich herab. Löhlein sagt einmal: »Das künstliche oder geschmückte Accompagnement, da nämlich die rechte Hand einigermaßen eine Melodie führet und Manieren, auch Nachahmungen anbringt, ist für diejenigen, die dem simpeln schon gewachsen sind, und erfordert große Behutsamkeit und Einsicht in die Composition. Herr Mattheson in seiner Organistenprobe hat viele Beispiele davon gegeben. Da aber dergleichen schöne Zierrathen mehr verderben als gut machen, so sind sie mit Recht nicht mehr Mode«82. Dieses Wort trifft auf die richtige Stelle; das geschmückte Accompagnement war eine musikalische Modesache, ebenso wie die Spielmanieren des Clavieristen und die Fiorituren des Sängers. Es ist dieselbe Anschauung, wenn Adlung, nachdem er von den Accenten, Mordenten, Trillern gesprochen hat, die ein Generalbassspieler mit der rechten Hand anbringen könne, fortfährt: »aber die beste Manier ist die Melodie«83. [128] Wie alle Moden, so dient auch diese zur Charakterisirung ihrer Zeit. Bach wirkte in einer Periode weitausgebreiteter, üppiger musikalischer Schaffensthätigkeit. Die Darstellung eines Tonwerks beruht auf der Reproduction, einem Acte, der ohne Beimischung eines subjectiven Elementes überall unmöglich ist, und dieses Element äußerte sich damals zu einem großen Theile in der eigenmächtigen Auszierung der vorgeschriebenen Melodiereihen, auch wohl in weitergehenden entstellenden Veränderungen derselben. Der Künstler ließ sich dieses gefallen, weil die etwa entstehende Schädigung seiner Gedanken aufgewogen wurde durch die eindringliche Lebendigkeit, mit welcher derjenige ein Gegebenes vorträgt, der sich einen selbstschöpferischen Antheil daran zuschreiben darf. Gewiß hat sich auch Bach diesem allgemeinen Zuge seiner Zeit nicht ganz entziehen wollen und können. Aber je eigenartiger eine Persönlichkeit ist, desto sorgfältiger wird sie sich gegen das Eindringen fremder Elemente in ihre Schöpfungen zu sichern suchen. Ohne Zweifel ist Bach unter den großen Tonkünstlern jener Epoche die aparteste, subjectivste Erscheinung. Er mußte sich denn auch in der That von Johann Adolph Scheibe vorwerfen lassen, daß er »alle Manieren, alle kleinen Auszierungen und alles was man unter der Methode zu spielen versteht, mit eigentlichen Noten ausdrückte«84, also für die Subjectivität des Reproducirenden die Zugänge möglichst versperrte. Was Scheibe von Bachs Gesang- und Instrumentalstücken sagt, gilt nun auch von seinen Continuostimmen, die er, wenn Zufälligkeiten es nicht verhinderten, in penibelster Weise zu beziffern pflegte. Selbst auf die Ritornelle und ritornellartigen Sätzchen, in denen allgemein dem Accompagnisten freie Hand gelassen wurde, da er bei einiger Einsicht von selbst finden mußte, wie er hier zu spielen habe, erstreckte sich zuweilen Bachs Vorsicht. So zeigt er in dem Terzett der Cantate »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«85 durch Bezifferung ganz genau den Contrapunkt an, welcher zu dem im Basse liegenden Hauptgedanken des Ritornells mit der rechten Hand gespielt werden soll. Sein Schüler Agricola hatte für die Besorgtheit um genaue Ausführung seiner Intentionen, welche Scheibe tadelt, ein besseres Verständniß: [129] um Entstellungen vorzubeugen, meint er, sei es dem Componisten nicht zu verdenken, wenn er seine Gedanken so deutlich auszudrücken suche, als es ihm möglich sei86. Und wenn man die Klagen ernster Musiker über gewisse eitle und unverständige Organisten liest, die im Gegensatze zu solchen, welche nicht einmal das Nothdürftigste ordentlich ausführten, bei jeder Gelegenheit »ihren Sack mit Manieren auf einmal ausschütteten, mit allerhand phantastischen Grillen und Läufen angezogen kamen, und, wenn der Sänger eine Passage zu machen hatte, mit ihm um die Wette laufen zu müssen glaubten«87, so wird man Bachs Sorgsamkeit doppelt erklärlich finden. Nicht minder ist nunmehr begreiflich, warum die Bachsche Schule das polyphone oder überhaupt verzierte Accompagnement zum wenigsten, wie Philipp Emanuel Bach es thut, auf das geringste Maß beschränkt wissen und nur als Ausnahme gelten lassen will88, sonst aber rundweg verwirft. Kirnbergers Meinung war, weil der Generalbassist nur die Harmonie anzugeben habe, so müsse er sich aller Zierrathen, die nicht wesentlich zur Harmonie gehörten, enthalten und sich überhaupt allezeit der Einfalt befleißen89. Johann Samuel Petri, ein Freund und Schüler Friedemann Bachs, der besonders auch hinsichtlich des Accompagnements von diesem gelernt zu haben erzählt, verbietet dem Organisten den Triller und überhaupt das Spielen einer Melodie mit der rechten Hand, verlangt daß er bei seinen Accorden bleiben soll und stellt den Grundsatz auf: das Orgelaccompagnement diene nur zur Füllung der Harmonie und zur Verstärkung des Basses90. Dasselbe sagt der den Söhnen und Schülern Bachs nahestehende Christian Carl Rolle91. Aber auch [130] andere Musiker, die außerhalb des Bachschen Kreises standen, theilten mit Entschiedenheit diese Ansicht. Johann Adolph Scheibe bezeichnet mit der ihm eignen Schärfe der ästhetischen Beurtheilung das polyphone Accompagnement eines Solos als etwas sinnwidriges, das die Intention des Componisten zerstöre92.

Die Frage über das Wie? der Generalbassbegleitung erstreckt sich auch auf die Benutzung des Klangmaterials, welches die Orgel darbot. Es gab in dieser Beziehung feststehende Gebräuche. Der Bass wurde gewöhnlich von der linken Hand allein gespielt, die rechte griff die füllenden Harmonien. Stand eine Orgel mit mehren Manualen zur Benutzung, so ging die Linke gern auf ein eignes, stärker registrirtes Clavier. Das Pedal spielte in der Regel den Bass mit, und es konnte dann die linke Hand auch wohl einige Mittelstimmen greifen93. Wenn der Bass stark figurirt war, so wurde es für genügend angesehen, durch das Pedal nur die für die Harmonienfortschreitungen wesentlichen Töne kurz zu markiren94. Um ein unordentliches Gepolter zu vermeiden ließ man es aber, da gewöhnlich noch andre Bass-Instrumente mitgingen, in solchen Fällen auch wohl ganz fort95 Bei schwach besetzten Stücken gebrauchten es einige nur zu den Ritornellen96. Zur Begleitung der Arien und Recitative wurde allgemein nur das achtfüßige Gedackt genommen, welches deshalb auch den Namen »Musikgedackt« führte97. Beim [131] Secco-Recitativ wurden, auch wenn auszuhaltende Basstöne notirt waren, doch die Accorde der Orgel, die man wie auf dem Cembalo arpeggirt anzugeben pflegte, in der Regel nicht ausgehalten, um die von der Singstimme gesungenen Worte in voller Deutlichkeit bemerkbar werden zu lassen98. Indessen meint Petri, wenn man eine recht still gedeckte Flöte habe, so könne man auch die Accorde in der Tenorlage liegen lassen und müsse dann den Wechsel der Harmonie jedesmal durch einen kurzen Pedalton andeuten. Um dem Sänger einen Stützpunkt zu verschaffen, durfte der Organist zuweilen auch den Basston allein aushalten, während er die Accorde kurz absetzte. Größere Freiheit hatte er beim begleiteten Recitativ; hier konnte er je nachdem es ihm angemessen erschien entweder die Accorde mit dem Bass oder nur diesen allein fortklingen lassen99. Es ist nöthig darauf aufmerksam zu machen, daß die unterbrochene Spielart, welche jetzt allgemein als dem Wesen der Orgel unangemessen gilt, den Musikern jener Zeit nicht durchaus so erschien. Die Bildung von Fugenthemen aus mehrfach repetirten Tönen, auch das wiederholte Anschlagen voller Accorde diente nach Ansicht der nordländischen Organistenschule zur Erzielung eines besonders reizvollen Effects. Christoph Gottlieb Schröter in Nordhausen, einer der durchgebildetesten Organisten seiner Zeit, spielte durchweg staccato. Hierdurch provocirte er allerdings den Widerspruch der Bachschen Schule, die nach Anleitung ihres Meisters das gebundene Spiel als das stilvollere erklärte100, und ihrem Einflusse ist es jedenfalls zu zuschreiben, daß die andre Spielart allmählig verschwand und vergessen wurde. Doch nur für selbständige Orgelstücke machte sie die gebundene Spielart mit Bestimmtheit geltend. Für das Accompagnement blieb auch innerhalb der Bachschen Schule das gehobene Spiel im Gebrauch. Kittel, der durch eine fünfzigjährige Lehrthätigkeit die Bachschen Grundsätze in der thüringischen Organistenwelt verbreitete, lehrte es so, und noch leben Ohrenzeugen, die einen seiner besten Schüler, Michael Gotthardt Fischer in Erfurt, die Kirchencantaten in der Weise accompagniren hörten, daß er immer mit kurz [132] angeschlagenen Accorden der rechten Hand dem Gange des Tonstückes folgte, den Bass aber legato und mit hervortretender Stärke spielte101. Desgleichen verlangt Petri, der Organist solle so kurz als möglich accompagniren und die Finger gleich nach Anschlagung der Accorde von der Tastatur abziehen102. Hieraus darf freilich nimmermehr geschlossen werden, Bach habe immer nur so und nicht anders begleiten lassen. Wie der Stil seiner Compositionen ein gebundenerer war, als derjenigen aus Kittels und Petris Zeit, so hat er zuverlässig auch in der größeren Anzahl der Fälle ein Legato-Accompagnement gefordert, und dasjenige, was er als »melodische« Begleitung lehrte, ist überhaupt auf diese Weise allein recht ausführbar. Nur daß er die andre Art ebenfalls kannte und gelegentlich anwandte, sollte hier hervorgehoben werden; Beispiele bieten die Adur-Arie der Cantate »Freue dich, erlöste Schaar«, und die G dur-Arie der Cantate »Am Abend aber desselbigen Sabbaths«103. Überhaupt richteten sich alle derartigen Gebräuche mehr oder minder nach den jedesmaligen Verhältnissen. Die Originalhandschriften zu Bachs Matthäuspassion, zu seinen Cantaten »Was frag ich nach der Welt«, »In allen meinen Thaten« beweisen, daß auch er zu den Secco-Recitativen den Organisten kurze Accorde anschlagen ließ. Daß an schwächern Stellen einige der Bässe schweigen mußten, kam bei ihm ebenfalls vor. In der Bass-Arie des 5. Theils des Weihnachts-Oratoriums hat eines der verstärkenden Bass-Instrumente durchaus zu schweigen104. In der H moll-Arie der Cantate »Wir danken dir Gott« spielen die sämmtlichen Bässe fast nur zu den Ritornellen mit105. Etwas ähnliches erkennt man aus einer Stelle des ersten Chors der Cantate »Höchst erwünschtes Freudenfest«. Hier werden außer dem Orgelbass noch Streichbässe und Fagotte verwendet, die nach Maßgabe der Stimmen ohne Unterbrechung mitzuspielen hätten. Takt 86 aber steht in der Basszeile der Partitur: Organo solo, und Takt 97 wieder:Bassoni e Violoni. Der Chor ist in der Form der französischen Ouverture [133] gehalten; die Stelle entspricht den stereotypen und in den wirklichen Ouverturen den 2 Oboen und dem Fagott gebührenden zarten Triostellen, welche dem pomphaft einherrauschenden vollen Orchester sich entgegensetzen. Um den Contrast recht wirkungsvoll zu machen, läßt Bach die Orchesterbässe schweigen und die Orgel allein spielen. Er muß es für genügend gehalten haben, den Instrumentisten in der Probe mündlich seinen Willen kund zu thun. Daß Bach ferner das Gedackt zur Begleitung für vorzüglich geeignet hielt, sagt er selbst in der Disposition zur Reparatur der Mühlhäuser Orgel106. Nun darf man gewiß folgern, daß er an ähnlichen Stellen häufiger ein Theil der Bässe pausiren, besonders auch in Arien sämmtliche Bassinstrumente nur zu den Ritornellen mitwirken ließ, daß die Seccorecitative unter seiner Leitung vielfach kurz accompagnirt, daß zu Recitativen und Arien in der Regel das Gedackt gebraucht werden mußte. Indessen eine für alle Fälle gültige Observanz wird man daraus nicht ableiten dürfen, vielmehr anzunehmen haben, daß Bach, von äußern Umständen ganz abgesehen, eine künstlerische Freiheit sich überall wahrte, je nach dem Inhalte des Stückes die kurzen Recitativaccorde mit gehaltenen, das Gedackt mit einem andern speciell geeigneten Register wechseln ließ, und auch sonst von dem allgemein gebräuchlichen zu Gunsten des besondern Falles abwich. Dies lag in seiner Natur, in der Zeit und in der Sache selbst.

Schröter und Petri geben auch die Regel, daß bei der Begleitung von Kirchenmusiken alle Rohrwerke und Mixturen gänzlich unverwendet bleiben müßten107. Sie wollen damit nur betonen, daß die Orgel niemals die Singstimmen und Instrumente überschreien dürfe. Übrigens war die Aufgabe der Orgel nicht allein, zu stützen und zusammenzuhalten, sondern auch der gesammten Klangmasse eine einheitliche Farbe zu geben. Sie nahm den übrigen Instrumenten gegenüber in gewisser Beziehung eine ähnliche Stellung ein, wie in dem modernen Orchester das Streichquartett. Wie um dieses als Mittelpunkt sich die Blasinstrumente gruppiren, so um jene die Instrumente[134] überhaupt. Unterschieden war das Verhältniß wieder dadurch, daß die Orgel mehr nur innerlich und bloß dynamisch wirkte, und daß die Instrumente auf ihrem Grunde sich nicht sowohl als Soloinstrumente bewegten, als vielmehr in chorischen Gruppen wirksam wurden. Eine dieser Gruppen bildete das Streichquartett, eine andre Oboen und Fagott, eine dritte Zink und Posaunen, eine vierte Trompeten (zuweilen Hörner) und Pauken. Weniger selbständig standen in der Gesammtmasse des Bachschen Orchesters die Flöten da, welche aber im 17. Jahrhundert ebenfalls einen Chor für sich bildeten. Eine Individualisirung der einzelnen Instrumente, wie sie das Haydnsche Orchester zeigt, war hierdurch ausgeschlossen; es wirkten vielmehr nur die großen Klangmassen mit und nach ein ander, ein Verfahren das dem Charakter des Grundinstrumentes, der Orgel, auch völlig entsprach. Das stilvolle Wesen der Kirchenmusik Bachs beruht mit darin, daß er dieses Verhältniß der Klangkörper zu einander, welches sich im 17. Jahrhundert festgestellt hatte, im Großen und Ganzen unverändert ließ. Er lehnt sich in dieser Beziehung, wie auch in andern Dingen, entschiedener an die Vergangenheit an, als seine Zeitgenossen, die das Herannahen der modernen Concertmusik viel stärker noch durch alle Glieder spürten, dadurch aber auch mit dem was das traditionelle Tonmaterial verlangte in fühlbaren Widerspruch geriethen: die Empfindung eines tief inneren künstlerischen Mißverständnisses wird man kaum bei einer der gleichzeitigen Kirchencantaten gänzlich los. Außerdem aber lag, um auf den Vergleich zwischen Orgel und Streichquartett zurückzukommen, ein wesentlicher Unterschied auch darin, wie sich beide Klangkörper zu den Singstimmen verhielten. Bei einer Verbindung von Singstimmen und Instrumenten ist es das natürliche Verhältniß, daß jene herrschen, diese dienen, daß jene demnach den Grundcharakter des Stückes feststellen, diese nur stützen und ausschmücken. Nun war aber die Vocal-Musik des 16. Jahrhunderts in einer schwachen, sehr oft nur einfachen Besetzung der einzelnen Stimmen groß geworden. Diese dünnen Chöre blieben das ganze 17. Jahr hundert hindurch bis tief ins 18. hinein mit geringen Ausnahmen allgemein gebräuchlich, wogegen die Instrumentalmasse an Fülle und Vielfarbigkeit stetig zunahm. So war es zu Bachs Zeit dahin gekommen, daß auch ein nach unsern Begriffen schwaeh besetztes [135] Orchester die Zahl der Sänger etwa um seinen dritten Theil übertraf. In der Neuen Kirche musicirten unter Gerlach nur 4 Sänger und dazu 10 Spieler108. Bach selbst normirt in dem Memorial vom 23. August 1730 die Zahl der Sänger auf 12, die der Instrumentisten, ausschließlich des Orgelspielers, auf 18. Ein Verhältniß also von 2 zu 3, bei welchem von einem Dominiren des Gesanges nicht mehr die Rede sein konnte; die natürliche Proportion war in Folge einer eigenthümlichen Entwickelung gradezu umgedreht worden. Händel und Bach, die beiden musikalischen Spitzen der Zeit, haben ein jeder in seiner Weise die Dinge wieder zurecht zu rücken gesucht. Der Chor, mit welchem Händel in England seine Oratorien aufführte, war numerisch zwar auch dem Orchester unterlegen. Aber er bestand aus viel geschulteren Sängern, als sie die deutschen Kirchenchöre besaßen, und war folglich von ausgiebigerem Klange; überdies war bei Händel die Verwendung der Orgel eine viel eingeschränktere. Der Zug die Singstimmen wieder über die Instrumente zu erheben, ist bei ihm ganz offenbar, wie er auch seiner Musik mit so zwingender Kraft inne wohnt, daß schon einige Decennien nach Händels Tode in England das richtige Verhältniß zwischen Chor und Orchester bei der Aufführung seiner Oratorien hergestellt, d.h. die Zahl der Sänger eine stärkere war als die der Spieler. In Deutschland kam man dahin nicht so bald. Die Massenaufführung des Messias, welche Johann Adam Hiller am 19. Mai 1786 in der Domkirche zu Berlin veranstaltete, zeigt noch das alte Verhältniß: 118 Sänger, 186 Instrumentisten109. Daß auch bei uns in dieser Beziehung allmählig eine Änderung eintrat, ist der von England ausgehenden Einwirkung zuzuschreiben. Aber nur für das eigentliche Oratorium ist sie angemessen, für die deutsche oder was hier dasselbe sagt für die Bachsche Kirchenmusik war sie es nicht. Bei Händels Oratorien [136] ist, mag der Chor häufig auch nur wenig oder selbst gar nicht persönlich aufzufassen sein, dennoch für das Erfassen der Kunstidee im Gesammten das Bewußtsein von durchgreifender Bedeutung, daß es eben singende Menschen sind, durch welche das Kunstwerk dargestellt wird. Bei Bach ist der Werth der Singstimme ein viel abstracterer: sie gilt mehr als ein Tonwerkzeug, dessen Eigenthümlichkeit es ist, mit und in den Tönen zugleich Worte und Sätze hörbar werden zu lassen. Händels Oratorienstil drängte auf eine immer stärkere und entschiedenere Betonung des vocalen Factors hin, der Bachsche Chor läßt nur in bestimmten engen Gränzen eine stärkere Besetzung zu und befand sich von Anfang an zu den Instrumenten in keinem unrichtigen Verhältniß. Es ist für die deutsche Musikübung ein verhängnißvoller, wenn auch geschichtlich wohl erklärbarer Irrthum gewesen, einerseits das Oratorium der Kirchenmusik zuzuzählen, andrerseits Kirchenmusik unter dem Gesichtspunkte des Oratoriums zu betrachten. Der zwitterhafte Zustand des deutschen Oratoriums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hat hierin einen seiner Hauptgründe; allerdings trugen auch äußere Verhältnisse zu seiner Entstehung bei, aber so tief steckte jene Verquickung den deutschen Tonsetzern im Blute, daß sie, auch nachdem ein öffentliches Concertwesen bei uns zu Stande gekommen war, noch lange merkbar geblieben ist. In Bachs Kirchenmusik herrscht nicht der Chor und der Menschengesang; will man einen ihrer Factoren als den herrschenden bezeichnen, so kann es nur die Orgel sein. Um es recht scharf auszudrücken: der Tonkörper, welcher Bachs Kirchencompositionen zur Darstellung bringt, ist gleichsam eine große Orgel mit verfeinerten, biegsameren und bis zum Sprechen individualisirten Registern. Allerdings muß man die Orgel nicht als ein todtes mechanisches Instrument auffassen, sondern als Trägerin und Symbol der kirchlichen Gemeinempfindung, wozu sie ja im Laufe des 17. Jahrhunderts und durch Bach selbst geworden war. Indem Bach ihr diese Stellung in seiner Kirchenmusik anwies, konnte er auch seinerseits das Mißverhältniß zwischen Gesang und Instrumentenspiel beseitigen und in einem höheren Dritten aufheben; er konnte es aber in seiner Lage auch nur auf diese Weise. Händel und Bach, von theilweise gleichen Grundlagen ausgehend, sind demnach auch in dieser, wie in so mancher andern Beziehung, an den entgegengesetzten [137] Zielen angelangt. Das sind Ergebnisse, die schon aus der Betrachtung ihrer Werke an und für sich fließen. Immerhin ist es aber werthvoll, Zeugnisse dafür zu besitzen, daß Bach selbst sich der Eigenart seiner Werke bewußt war. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts war mit der Verdünnung protestantisch-kirchlicher Empfindung auch das Verständniß für den Geist Bachscher Kirchenmusik ins Schwinden gekommen. Ingrimmig sah Kirnberger zu, wie man überall in der Kirchenmusik die Mitwirkung der Orgel beschränkte, den weltlich theatralischen Stil förderte, die ganze Gattung ins niedrige hinabzog. Mit ihm opponirte diesen Bestrebungen die Bachsche Schule und viele andre Musiker, deren Anschauungen in der besseren ältern Zeit wurzelten. Der mehrfach erwähnte Rolle hat das Urtheil dieser Männer formulirt und auf die Nachwelt gebracht. Er sagt: »Bei theatralischen Vorstellungen, in ernsthaften Opern, sonderlich auch bei dem Operetten-Spiele, ferner in Concertsälen, wo Solo-Cantaten, dramatische große Singstücke u.s.w. aufgeführt werden, sind wir gewohnt die concertirenden Singstimmen auf das allerdeutlichste zu vernehmen, indem es durch keine Orgel- oder sonstige starke Begleitung gehemmt, verdunkelt und zerstöret wird. Es verleitet uns dieses, dergleichen feine Empfindung auch bei der Kirchenmusik zu verlangen. Viele Tonkünstler aber als Sachverständige urtheilen ganz anders. Sie sagen: wir müssen die rechte wahre Gestalt der Kirchenmusik nicht verkennen. Wir müssen die prachtvolle Orgel, ganz besonders bei Chören, mehr herrschend als leidend oder zur bloßen Begleitung dabei handhaben und behandeln, sollten auch die feinen Auszierungen der Singenden und Spielenden uns dadurch entzogen werden. Wir verlangen zwar gute schöne Melodien, welche ohnedem jede einzelne Stimme haben kann und haben muß; aber wir verlangen auch über dem noch herrliche, vollständige, prächtige Harmonie«110.

Was den vocalen Theil der Kirchenmusik an sich betrifft, so wurde er von Knaben- und Männerstimmen ausgeführt. In Thüringen und andern Gegenden Mitteldeutschlands verstärkten sich die Kirchenchöre durch sogenannte Adjuvanten, d.h. Dilettanten aus den Bürgerkreisen, welche zu ihrem Vergnügen bei den Aufführungen [138] mitwirkten. In Leipzig scheint diese Sitte nicht in gleichem Maße geherrscht zu haben; nur vereinzelt findet sich einmal erwähnt, daß ein Rechtsconsulent zu Kuhnaus Zeit manchmal die Kirchenmusik auf der Orgel begleitet habe111. DieCollegia musica unter Schotts, Bachs und Görners Leitung bestanden fast ausschließlich aus Studenten, diese allerdings wirkten auch in den Kirchenmusiken mit. Die Ausführung der Sologesänge für Sopran und Alt fiel in der Regel den Knaben des Thomanerchors zu. Bei den von Bach selbst componirten Stücken war sie keine leichte Aufgabe, da in seinen Arien an Kehlgeläufigkeit und Kunst der Athemvertheilung bekanntlich oft viel gefordert wird, und die Zeit, während der eine Knabenstimme brauchbar ist, durchschnittlich zu einer gründlichen technischen Ausbildung kaum ausreicht. Wirklich sollen seine Sänger über die Schwierigkeit dieser Musik immer geklagt haben112. Jedoch darf darauf hingewiesen werden, daß gewisse technische Künste damals verbreiteter waren als jetzt und so zu sagen in der Luft lagen, folglich auch vom einzelnen leichter erlernt wurden. Es war damals immer noch die Blüthe-Periode der italiänischen Gesangskunst, welche auch in Deutschland überall gekannt und bewundert wurde. So wenig geeignet die deutschen Schulchöre waren, dieselbe voll und ganz für sich zu verwerthen, so fand doch die Pflege gewisser glänzender Äußerlichkeiten derselben bei ihnen Eingang, und mit einer Art von Erfolg. Hierher ist z.B. das Studium des Trillers zu rechnen, das mit wichtiger Miene und großem Eifer in den Schulgesangstunden getrieben wurde. Schon der Sorauische Cantor Wolfgang Caspar Printz lehrte den Triller in seiner 1678 erschienenen Gesangschule113, das gleiche thut 100 Jahre später noch Petri, der wie Printz ein Schulcantor war114, und Hiller, einer der Amtsnachfolger Bachs an der Thomasschule115. Beide fordern, daß man mit dem Triller früh beginne und ihn fleißig, ja täglich üben lasse. Aus Bachs[139] Compositionen geht hervor, daß auch er Fertigkeit im Trillern von seinen Sängern verlangte. Die deutsche Gesangskunst jener Zeit war ein Gemisch von Rohheit und Überfeinerung, das ein großer Künstler, wie Bach, für sein Ideal nur brauchbar machen konnte, indem er es in die unvergleichlich höher stehende damalige Instrumentalkunst gleichsam einschmolz. Noch viel weniger genügend erscheint uns jetzt eine Knabenstimme um den Empfindungsgehalt der Bachschen Arien zum Ausdruck zu bringen: die Tiefe und Leidenschaftlichkeit derselben scheint vor allem einen hohen Grad innerer künstlerischer Reife als unumgängliche Vorbedingung zu fordern. Da Bach auf einen solchen nicht rechnen durfte116, so kann man der Consequenz nicht ausweichen, daß es außerhalb seiner Absicht liegen mußte, jenen leidenschaftlichen Zug im Gesange stark hervortreten zu lassen. Wirklich wird auch die subjective Empfindung durch seine Musik mehr nur angeregt als voll ausgestaltet; hier liegt der Schlüssel dafür, daß Bach in der nachbeethovenschen Zeit von neuem so tief zu wirken anfing, denn gerade in ihr waren die Gemüther für diese Art der künstlerischen Erregung besonders disponirt. Zu Bachs eigner Zeit glich eine Arie seiner Composition dem zugefrornen See, über dessen Fläche die sorglose Knabenstimme hinglitt unbekümmert um die unten schlummernde Tiefe. Das Zurücktreten der persönlichen Empfindung wird übrigens schon durch das Wesen der Kirchenmusik an sich gefordert, es gilt nicht nur für die Sopran- und Alt-Arien, sondern für die Bachsche Musik insgesammt und liegt ihren Stileigenthümlichkeiten als tiefstes Gesetz zu Grunde. Was dieses Gesetz erheischte, waren auch Knabenstimmen zu leisten im Stande. Daß indessen jene Sologesänge immer nur von Knaben ausgeführt seien, darf man nicht behaupten für eine Zeit, da die Kunst des Falsettgesanges unter den Männern noch eifrig geübt wurde. Diese Kunst, welche jetzt aus der Praxis so vollständig verschwunden ist, daß selbst ihre mechanischen Grundlagen fast ein Geheimniß geworden zu sein scheinen, war auch in Leipzig zu Bachs Zeit etwas ganz gewöhnliches. In den Musikvereinen, wo jahraus jahrein [140] vollstimmige Cantaten aufgeführt wurden, wirkten nur Männer; die Studenten, welche unter Hoffmanns Direction zeitweilig den vierstimmigen Gesang besorgten, sind oben namhaft gemacht. Auch später hatte Gerlach für die concertirende Musik in der Neuen Kirche nur vier Studenten zur Verfügung, die Choralisten der Nikolai-Kirche mußten, wenn sie vierstimmig zu singen hatten, dies ebenfalls durch sich allein zu Stande bringen. Durch das Falsettiren konnte der Tenor zum Sopran, der Baß zum Alt umgewandelt werden. Es wird ausdrücklich bezeugt, daß diese Singart nicht nur bei Chören, sondern ganz besonders auch bei Arien zur Anwendung kam, und daß ein falsettirender Sopranist es bis zu der erstaunlichen Höhe des dreigestrichenen e und f bringen konnte117.

Wenn von Singgebräuchen die Rede ist, darf der Vortrag des Recitativs nicht übergangen werden. Die Sänger heutiger Zeit pflegen Bachs Recitative vorzutragen, wie sie geschrieben sind, wobei sie die Absicht leitet, denselben einen würdevollen, vom Theatralischen unterschiedenen Charakter zu verleihen. Es fragt sich aber, ob hierdurch unsere Praxis zu der früheren nicht in einen unbeabsichtigten Widerspruch gerathen ist. Die freie Abänderung einzelner Töne und Intervalle in den recitativischen Tonreihen fand zu Bachs Zeit im theatralischen Recitativ nicht oder doch nur sehr selten statt, häufiger schon bei Kammermusik, dagegen im weitesten Maße grade im Kirchen- Recitativ118. Der Grund liegt in dem damals als allgemein gültig anerkannten Stilprincip, nach welchem das Kirchen-Recitativ mehr melodisch als declamatorisch behandelt wurde119, wogegen es in der Oper umgekehrt sein sollte. Jene Abänderungen aber dienen eben größtentheils dazu, einen melodischen Fluß der Tonreihen herzustellen. In welchen Fällen sie regelmäßig einzutreten pflegten, darüber sind wir durch Telemann und Agricola genau unterrichtet. Telemann hat in dem Vorbericht einer von ihm im Jahre 1725 herausgegebenen Sammlung selbstcomponirter Cantaten [141] diese Gebräuche durch Beispiele erläutert120. Sie beziehen sich einerseits auf den namentlich in Schlußfällen üblichen abwärts führenden Quartensprung. Wendungen wie:


 

4.


 

 

sollen demnach immer so gesungen werden:


 

4.


 

Andrerseits betreffen sie die Anwendung des sogenannten Accents. d.h. eines durch die nächsthöhere oder nächsttiefere Tonstufe hergestellten Vorschlags. Um dieses Verfahren deutlich zu machen, giebt Telemann ein Recitativ aus einer in jenem Werke befindlichen Cantate zugleich in der gebräuchlichen Notirungsweise und in der Art der wirklichen Ausführung.


 

4.


 

4.


 

[142] Auch bemerkt er, daß es nichts verschlage wenn der Accent bisweilen mit der Harmonie collidire, und eine Wendung wie diese:


 

4.


 

müsse dennoch so gesungen werden:


 

4.


 

Die an dem längeren Beispiele verdeutlichten Vortragsmanieren erschöpfen, wie Telemann selbst sagt, nicht die Fülle der Möglichkeiten, sie enthalten aber die gebräuchlichsten ihrer Art. Agricola führt einen Theil derselben ebenfalls an, daneben noch einige andre und besonders zierliche. Will man nun Bachs Stellung zu den Recitativ-Manieren zu erkennen suchen, so ist vor allem zweierlei zu berücksichtigen: einmal, daß von allen Kirchencomponisten er unstreitig am meisten nach melodischer Gestaltung des Recitativs strebte, sodann aber, daß er es nicht liebte, der Willkür des Vortragenden einen allzuweiten Spielraum zu gönnen. Das erste mußte ihm einen häufigen Gebrauch der Manieren wünschenswerth erscheinen lassen, das zweite ihn treiben, dieselben in Noten möglichst genau auszudrücken. Mustert man unter diesem doppelten Gesichtspunkt die [143] Bachschen Recitative, so ergiebt sich das entsprechende Resultat. Den cadenzirenden Quartensprung läßt er stets so ausführen, wie es Telemann lehrt, aber er schreibt ihn auch immer aus. Wo er sich geschrieben findet, wie man ihn gewöhnlich notirte, soll er auch genau den Noten gemäß gesungen werden. Ein solcher übrigens höchst seltener Fall findet sich im zweiten Theil der Matthäuspassion, wo Jesus singt: »daß ihr sehen werdet des Menschen Sohn sitzen zur Rechten der Kraft und kommen in den Wolken des Himmels«121; hier zeigt es auch die Harmonie der begleitenden Geigen deutlich an, daß am Schluß der Phrase zweimal h und nicht é h zu singen ist. Soll der Quartenschritt überdies noch ausgeziert werden, so schreibt es Bach natürlich ebenfalls vor. Es geschah solches, indem man den Quartenraum durch seine Zwischenstufen ausfüllte, wobei auch noch Mordente, Triller und ähnliche Ornamente angebracht wurden122. Wenn der arglistige Herodes im Weihnachtsoratorium den Weisen aus dem Morgenlande aufträgt, fleißig nach dem Kindlein zu forschen, so würde was Bach ihn hier schließlich singen läßt, in der gewöhnlichen Weise so geschrieben sein:


 

4.


 

Um den tückischen Hohn des Herodes auszudrücken, wollte Bach den Quartenschritt verziert vorgetragen wissen; er schreibt deshalb vollständig hin:


 

4.


 

123


 

Die Anwendung des Accents, welche in der Regel nur über einer betonten Note eintrat, war in ab- und aufsteigender Bewegung möglich. Die absteigende Bewegung ließ ihn beim Terz- und Secundschritt zu. Wenn beim Terzschritt nur eine betonte Note folgt, wie am Schluß des längeren Telemannschen Beispiels, so schreibt Bach die abweichende [144] Ausführung sehr häufig vor. Es ist beiläufig darauf hinzuweisen, daß er beim Terzschritt den Accent auch über einer unbetonten Note nicht verschmäht: Stellen, wie:


 

4.


 

124


 

oder:


 

4.


 

125


 

und viele andre beweisen es. Folgen zwei Noten, deren erste betont ist, wie in Takt 4–5 des Telemannschen Beispiels, so schreibt Bach auch hier die Ausführung nicht selten hin; z.B. in der Cantate »Barmherziges Herze«:


 

4.


 

126


 

Wenn die Stimme nur eine Secunde abwärts schreitet, und es folgt eine betonte Note, so konnte ebenfalls der Accent angebracht werden; er findet sich bei Bach mehrfach ausgeschrieben, wie in der Cantate »Komm du süße Todesstunde«:


 

4.


 

Folgten zwei oder mehr Noten (Telemann, T. 1–2), so wurde die erste, falls sie betont war, um eine Stufe erhöht, was Bach im Himmelfahrts-Oratorium genau so vorschreibt:


 

4.


 

127


 

[145] War aber die zweite betont, so erhielt sie den Accent, und es entstand dann eine melodische Folge, wie bei Telemann T. 2–3 und T. 6; daß diese von Bach in Noten ausgeschrieben worden sei, dafür habe ich kein sicheres Beispiel gefunden. Was die aufsteigende Bewegung betrifft, so scheint in ihr der extemporirte Accent nur beim Secundschritt gebräuchlich gewesen zu sein. Eine besonders ausdrucksvolle Wendung konnte entstehen, wenn zwei Noten folgten, von denen die erste betont war (Telemann, T. 5–6 und 6–7); daher findet sich diese Art der Accentverwendung bei Bach vielfach ausgeschrieben. Man sehe die Stelle aus der Matthäus-Passion:


 

4.


 

128


 

Oder aus dem Weihnachts-Oratorium:


 

4.


 

129


 

So auch, wenn nur eine betonte Note folgt, wie in der Cantate »Was Gott thut, das ist wohlgethan«:


 

4.


 

130


 

Wenn zwei Noten folgten und die zweite betont war, so konnte der Accent eintreten, wie ihn Bach an einer Stelle der Matthäuspassion ausgeschrieben hat:


 

4.


 

[146] Endlich konnte der Accent bei der aufsteigenden Secunde, wenn eine betonte Note folgte, auch mit der unteren Hülfsnote gebildet werden (Telemann, T. 3–4). Demnach schreibt Bach in der Cantate »Gott fähret auf mit Jauchzen«:


 

4.


 

Die Versuchung liegt nicht fern, mit Rücksicht auf obige Einzelheiten den Schluß zu wagen: da Bach überhaupt die Verzierungen auszuschreiben liebte, und da er sie nachweislich in den Recitativen sehr häufig ausgeschrieben hat, so wollte er sie an allen übrigen etwa geeigneten Stellen nicht angewendet wissen. Allein ich fürchte, daß mit diesem summarischen Verfahren seiner Absicht doch nicht ganz Genüge geschehen möchte. Agricola, in dessen Worten wir schon oben eine Hindeutung auf Bachs Gewohnheit die Manieren auszuschreiben zu constatiren hatten, fügt nachdem er diese Gewohnheit gebilligt hat noch hinzu, man müsse aber dabei die wesentliche Ausfüllung wohl von der zufälligen unterscheiden und bedenken, daß eine Sache schön, aber auch, und zwar in vielen Graden, noch schöner sein könne. Wenn Bach irgendwo die Anbringung einer Manier vorschrieb, so sah er sie an dieser Stelle als wesentlich an. Man erkennt dies auch daraus, daß er sie häufig durch die begleitende Harmonie unterstützte, während es sonst üblich war, die Accente, welche immer Dissonanzen sein mußten, frei anzuschlagen. Belege dafür bieten die beiden letzten der obigen Beispiele; es ist nicht zu leugnen, daß hierdurch die Manier eigentlich aufhört, Manier zu sein, manche Stellen an ihrem Recitativ-Charakter Einbuße [147] erleiden und die Hinneigung zum Arioso, die dem Bachschen Recitativ im allgemeinen eigen ist, noch verstärkt wird. So ganz und gar aber hat er sich der allgemeinen Sitte schwerlich entzogen, daß er es einem Sänger von verläßlichem Geschmack nicht auch sollte überlassen haben, mit den einfachsten und allgemein gebräuchlichen Mitteln das Verschönerungswerk an einer schönen Sache, um Agricolas Ausdruck beizubehalten, vorzunehmen. Scheibes Ausspruch, daß Bach »alle« Manieren, »alle« kleinen Auszierungen mit eigentlichen Noten ausdrücke, unterrichtet uns mit erwünschter Bestimmtheit über einen Bachschen Grundsatz; buchstäblich aber auf jeden einzelnen Fall darf man ihn schwerlich anwenden. Außerdem ist wohl zu beachten, daß, falls ein Sänger es Bach nicht recht machte, diesem immer noch das Correctiv der mündlichen Anweisung blieb, und wie er sich dessen seinen Musikern gegenüber bediente, hat schon ein oben angeführter Fall gezeigt131. Es scheint mir zweifellos, daß sehr viele Stellen in den Bachschen Recitativen durch Anwendung des Accents geschmeidiger, ausdrucksvoller und ihrem innern Wesen überhaupt entsprechender sich gestalten, so daß anzunehmen ist, Bach selbst habe ihn bei der Erfindung mitgedacht. Die letzte Entscheidung hat in solchen Fällen freilich der Geschmack. Bevor man ihm folgt, muß aber jedesmal erwogen werden, ob nicht positive Gründe erkennbar sind, die Stelle so zu singen, wie sie geschrieben ist, und nicht selten werden sich solche Gründe finden. Wenn Petrus in der Johannes-Passion Jesum verleugnet, läßt ihn Bach zum ersten Male singen:


 

4.


 

das zweite Mal:


 

4.


 

An der zweiten Stelle ebenfalls den Accent anbringen, hieße die Idee des Componisten zerstören, da die gesteigerte Aufregung, mit welcher sie gesungen werden soll, am Tage liegt132. Bach liebt derartige fein psychologische Züge; dem oben aus der Matthäuspassion angeführten Beispiele, wo beim aufsteigenden Secundschritt die erste und betonte der beiden folgenden Noten erhöht wird, entspricht [148] eine vorhergehende, an welcher der Accent ebenfalls ausgeschrieben ist133. Beide Male spricht Pilatus, das erste Mal in zweifelnder Frage: Was hat er denn Übels gethan?, das zweite Mal bestimmt abwehrend: Da sehet ihr zu. Die Gleichheit seiner innersten Stimmung und Gesinnung ist durch die beide Male gleich gestaltete Phrase ausgedrückt. Wenn kurz nach einander dieselbe Wendung einmal mit, das andre Mal ohne Accent dasteht, so wird man überhaupt immer zunächst eine Absicht annehmen müssen. Deshalb ist es sicher richtig, folgende Stelle aus dem Weihnachts-Oratorium:


 

4.


 

genau nach der Notenangabe und ohne Erhöhung der vorletzten Note zu singen.

Dieses alles aber soll, wie gesagt, nur von den Accenten, als einfachsten und landläufigsten Recitativ-Manieren gelten. Seltenere und gewähltere Verzierungen hat Bach – man darf es mit Bestimmtheit annehmen – immer in Noten ausgedrückt. Hierher wäre die Manier zu rechnen, bei mehren auf derselben Stufe verweilenden Noten, eine der betonteren mit einem Mordent oder etwas ähnlichem zu versehen134; Stellen, an denen Bach in seiner Weise diesem Gebrauche genügt, sind z.B.:


 

4.


 

135


 

oder:


 

4.


 

oder:


 

4.


 

136


 

[149] Ferner alle ausgeführteren Fiorituren, wie:


 

4.


 

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und namentlich längere Melismen am Schlusse, wie sie im Kirchen-Recitativ häufig waren138; die beiden berühmten Melismen über die Worte »und ging hinaus und weinete bitterlich« aus der Johannes- und Matthäuspassion gehören in diese Kategorie.

Was von Bachs Recitativen gilt, findet auch auf seine Arien Anwendung. Freie Abweichungen von der Notirung waren in den Arien ebenfalls und an gewissen Stellen in noch ausgedehnterem Maße Sitte der damaligen Zeit. Sie bestanden theils in kleinen Ausschmückungen der Melodie durch Accente, Triller, Mordente und dergleichen, theils in Erweiterungen der Cadenzen, theils endlich in variirender Veränderung der Melodiereihen. Dieses letztere Verfahren trat zumeist in dem dritten Theile der Arie ein. Es sollte verhüten, daß der Hörer sich durch eine bloße Wiederholung gelangweilt fühle, oder, wenn der Künstler seine Aufgabe tiefer erfaßte, den Affect des ersten Theils steigern und somit den ganzen psychologischen Vorgang zu einer leidenschaftlicheren Entwicklung bringen. Arten solcher Variirungen gab es wiederum drei: man setzte wenigen Noten mehre hinzu, man vereinfachte mehre zu wenigeren, man vertauschte eine bestimmte Anzahl von Noten mit ebensoviel andern139. Von ihrer Anwendung konnte für Bach überhaupt nur dann die Rede sein, wenn eine wirkliche Da capo-Arie vorlag, deren erster Theil in der Haupttonart vollständig abschloß. Diese Gestalt [150] ist aber unter den Arien Bachs keineswegs die regelmäßige. Ihm, der überall bemüht war, die bestehenden Formen aus sich heraus zu erweitern und unter einander neu zu combiniren, konnte das Schablonenhafte der Da capo-Arie unmöglich dauernd gefallen. Ihre Form erscheint deshalb bei ihm in verschiedenfachen Umbildungen, deren wichtigste darin besteht, daß der erste Theil in der Dominant- oder einer andern nahe verwandten Tonart abschließt und der dritte dann nicht gänzlich als Wiederholung des ersten Theiles auftritt, sondern zum Schluß einen andern Modulationsgang einschlägt, oft aber auch außerdem dem ersten Theile durch neue Combinationen und Wendungen ein andres Ansehen giebt. Die Tendenz also, welche zur Variirung des dritten Arientheiles führte, ist hier vertieft und verinnerlicht: derselbe erscheint nicht nur in einem äußerlich neuen Aufputz, sondern ist seinem Wesen nach ein andrer geworden. Wo aber ein wirkliches Da capo vorliegt, muß man an Emanuel Bachs Ausspruch denken, daß die Freiheit zum Verändern durch ein simples Accompagnement der Mittelstimmen bedingt werde140. Der polyphone Satz der Bachschen Arien, die Bedeutsamkeit jeder einzelnen Melodienote, der harmonische Reichthum lassen in den meisten Fällen keine nennenswerthe Veränderung zu. Wenn schon im allgemeinen zur richtigen Ausführung solcher Variationen eine gründliche Einsicht in die Gesetze der Composition gefordert wurde, so galt eine solche Forderung hier noch viel mehr, aber grade unter den Thomasschülern fand sich wohl nur selten jemand, der ihr zu genügen vermocht hätte. Es ist schwer glaublich, daß Bach seinen Sängern gestattet haben sollte, mit diesen tiefsinnigen, festgefügten Tonbildern nach Laune zu verfahren. Etwas an ders wird er es mit den Cadenzen gehalten haben. Die Ausschmückung derselben beschränkte sich in den älteren Zeiten der Gesangskunst auf einen Triller über der mittleren der drei Noten, welche den eigentlichen Schlußfall bilden. Hernach fing man an, auf der Note vor dem Triller eine kleine Auszierung anzubringen, ohne jedoch dabei aus dem Takte zu kommen. Dann wurde noch weiter gegangen: man sang den letzten Takt langsamer und suchte ihn endlich durch allerhand Läufe, Sprünge und andre mögliche Figuren auszuschmücken. Diese Art der Cadenzirung, [151] welche zwischen den Jahren 1710 und 1716 aufgekommen sein soll, war die zu Bachs Zeit allgemein übliche141. Ein deutliches Bild kann man sich von ihr durch die Stellen verschaffen, wo sie Bach, seiner Neigung folgend, vollständig ausgeschrieben hat, wie z.B. am Schluß des zweiten Theils der ersten Bassarie in der Cantate »Freue dich, erlöste Schaar«142. Wo das nicht geschehen ist, läßt Bach vielfach die Singstimme doch in so ausdrucksvollen Wendungen zu Ende gehn, daß für die Willkür des Sängers nicht viel Raum bleibt. Daß er aber eine gewisse Verzögerung des Zeitmaßes, verbunden mit sparsamen Verzierungen, zuließ, sieht man deutlich aus den sehr zahlreichen Stellen, wo die übrigen begleitenden Instrumente vor den Schlußtakten aussetzen, und der Generalbass allein weiter geht. Dieses kann eben keinen andern Zweck haben, als der Singstimme Raum zu ungehinderter, willkürlicher Bewegung zu schaffen. Was endlich die kleinen Ausschmückungen der fortlaufenden Melodie betrifft, so ist auch ihnen gegenüber von dem Grundsatze auszugehen, daß Bach sie genau vorschrieb, wo er sie zur Erreichung des gewollten Ausdrucks für wesentlich hielt. In andern Fällen ließ er seinen Sängern bald geringere bald größere Freiheit, da er es endlich bei den Proben doch immer noch in der Hand hatte, sie mündlich nach seinem Willen zu dirigiren. Daß er sich hierauf verließ, aber auch daß ihm an manchen Stellen nicht viel daran lag, ob eine Verzierung angebracht wurde oder nicht, geht oft sehr deutlich aus einer Vergleichung der Instrumental-Ritornelle mit der Gesangsmelodie hervor, sowie aus solchen Partien, wo ein Instrument eine Gesangsmelodie mitspielt: häufig weist hier die eine Stimme Verzierungen auf, welche der andern fehlen, und nicht nur wenn sie nach einander eintreten, sondern auch wenn sie mit einander gehen. Ob und wo in solchen Fällen eine Übereinstimmung herzustellen ist, darüber kann in unserer Zeit nur der Geschmack entscheiden.

Auch auf den Vortrag der Chöre lassen sich die hier angestellten Erörterungen ausdehnen. Es mag befremden, daß bei ihnen von willkürlichen Auszierungen überhaupt nur die Rede sein kann. Aber wirklich bediente man sich der sogenannten Manieren auch beim [152] Chorgesange, und Petri giebt sogar Anweisungen, wie man lernen solle, für einen vierstimmigen Choralgesang richtige Mittelstimmen zu extemporiren143. Diese Erscheinung erklärt sich aus der schwachen Besetzung der Chöre und dem geringen Unterschiede, welcher zwischen Solo- und Chorsänger bestand. Zwar wurden die Sänger in Concertisten und Ripienisten eingetheilt, aber jene standen diesen nicht in unnahbarer Vornehmheit gegenüber, sondern sie führten außer den Solopartien auch die mehrstimmigen Sätze aus und bildeten den eigentlichen Kern des Chors, welchem sich die Ripienisten verstärkend anschlossen. Thatsache ist indessen auch, daß durch die freie Anbringung von Manieren oft ein wüstes unharmonisches Wesen entstand, weshalb gediegene Musiker davon nichts wissen wollten: nur wenn eine Stimme ein mit Manieren ausgestattetes Thema vorsinge, solle es die nachahmende Stimme in derselben Weise auch ohne ausdrückliche Vorzeichnung derselben nachsingen, da der Componist sein Thema das zweite Mal gewiß eben so gedacht habe, als das erste Mal144. Wer Bachsche Chöre angesehen hat, weiß, daß es an allerhand Verzierungen, sei es vollständig ausgeschriebenen, sei es nur angedeuteten, in ihnen nicht fehlt. Daß diese wirklich und vollständig ausgeführt werden sollten, ist nach allem was bisher gesagt wurde eben so sicher, wie daß es den Sängern in der Regel nicht erlaubt war, eigne hineinzufügen.

Die Instrumente, welche zur Ergänzung und Bereicherung des aus Orgel und Menschengesang bestehenden Tonkörpers von Bach herbeigezogen wurden, konnten von den Stadtpfeifern und Kunstgeigern nur zum Theile besorgt werden. In die Lücken mußte er geeignete Schüler einschieben. So war es vor ihm gewesen, so wurde es nach ihm gehalten, bis Hiller es dahin brachte, das ganze Orchester nur mit Thomanern besetzen zu können145. Die hieraus entstehende Beschränkung auf die jedesmal zufällig vorhandenen Mittel würde Bach in Entfaltung seiner Kunst hinderlicher geworden sein, wenn er Orchester und Chor nach moderner Art verwendet hätte. Die ältere Art der Orchesterbehandlung hatte freilich wieder [153] andre und eigenartige Mißstände im Gefolge. Alle Holzblasinstrumente ziehen sich, wenn sie eine Zeit lang gespielt sind, in die Höhe. Das Saitenquartett kann in diesem Falle sich accommodiren, die Orgel nicht. Außerdem wurden bei der älteren Orchesterbehandlung die Bläser viel andauernder in Thätigkeit gesetzt, folglich verstimmten sich ihre Instrumente rascher. Versuche zur Beseitigung dieses Übelstandes wurden nach verschiedenen Richtungen angestellt. Johann Scheibe erfand einen Mechanismus, durch welchen mittelst größerer oder geringerer Beschwerung der Blasbälge die Stimmung der Orgel höher oder tiefer gemacht wer den konnte, und wandte ihn zuerst bei einem im Jahre 1731 verfertigten kleinen Orgelwerke an, das 12 Manual-Stimmen mit zwei Manual-Clavieren und im Pedal ein sechzehnfüßiges Fagott besaß146. Es scheint aber nicht, daß er mit dieser Erfindung großen Erfolg gehabt hat, da es zur Erreichung des nämlichen Zweckes noch ein einfacheres Mittel gab: man hielt von jeder Gattung der Holzblasinstrumente mehre Exemplare in Bereitschaft und griff, wenn das eine durch Überblasen unrein geworden war, zu einem andern147. Der Chorton, in welchem damals noch allgemein die Orgeln standen, während die meisten übrigen Instrumente in den gewöhnlichen, sogenannten hohen Kammerton gestimmt wurden, brachte ebenfalls eine Unbequemlichkeit mit sich. Sie pflegte durch Transposition der Orgelstimme gehoben zu werden. Wenn aber zufällig nur Holzbläser im tiefen, eine kleine Secunde unter dem gewöhnlichen stehenden Kammertone zur Verfügung waren148, so mußten, falls nicht auch für diese transponirte Stimmen angefertigt werden sollten, die Streichinstrumente umstimmen. Zu Kuhnaus Zeit waren bei der Leipziger Kirchenmusik derartige Flöten und Oboen im Gebrauche; auch in Bachs Trinitatis-Cantate »Höchst erwünschtes Freudenfest«, welche in den Anfang seiner Leipziger Thätigkeit fällt, kommen sie noch vor. Sicher geschah es, um das für Klang und reine Stimmung nachtheilige fortwährende Umstimmen der Streichinstrumente zu vermeiden, wenn Kuhnau sehr häufig auch dort in den Chorton gestimmte Geigen anwandte, wo keine [154] Holzblasinstrumente mitwirkten. Im Chorton standen regelmäßig die Trompeten, sie konnten aber durch einen am Mundstück angebrachten Aufsatz in den Kammerton heruntergestimmt werden, so daß sich dasselbe Instrument für Kammerton–D dur und –C dur gebrauchen ließ149. Die anhaltende Mitwirkung eines Posaunenchors endlich machte oft die Anstellung mehrer einander ablösender Bläser nothwendig, weil namentlich die Bassposaune, wenn sie wie üblich den Singbass in Chören verstärkend begleitete, einen Aufwand von physischer Kraft erforderte, den ein einziger Bläser nicht zu leisten vermochte. Noch größere Anstrengung verursachte in solchen Aufgaben die Discantposaune; es war dies sicherlich auch ein Grund, weshalb man sie lieber durch den weniger angreifenden Zink ersetzte150.

Eine besondere Besprechung erfordert noch die Direction der Kirchenmusiken, da auch in dieser Beziehung sich die Gebräuche seither vielfach geändert haben. Sie waren übrigens auch zu Bachs Zeit unter sich recht verschieden. Johann Bähr, seiner Zeit Concertmeister in Weißenfels, sagt, der eine taktire mit dem Fuß, der andre mit dem Kopfe, ein dritter mit der Hand, andre mit beiden Händen, einige nähmen eine Papierrolle, wieder andre einen Stecken in die Hand. Ein jeder ordentliche Dirigent werde sein Verfahren nach Ort, Zeit und Personen angemessen einzurichten wissen; wer darüber allgemein gültige Regeln geben wolle, verdiene ausgelacht zu werden, »denn was dich nicht angeht, das sollst du nicht blasen, laß du einen andern taktiren wie er will, und taktire du, wie du willst, so geschieht keinem Unrecht«151. Alle die angeführten Arten haben mit der heutigen Praxis das gemeinsam, daß von einer leitenden Person durch das ganze Stück hindurch das Zeitmaß sichtbar markirt wurde. Abbildungen aus den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts, welche Musikchöre und Dirigenten darstellen, machen die Sache ganz klar. In einer Sammlung von Kupferstichen, welche vor 1725 bei Johann Christoph Weigel in Nürnberg herauskam und die verschiedenartigsten Musiker in Action vorführt, findet man auch [155] einen Musikdirector, welcher eine Notenrolle in jeder Hand aus der vor ihm aufgestellten Partitur stehend eine vierstimmige MotetteLaudate Dominum dirigirt; darunter ist zu lesen:


 

Ich bin, der dirigirt bey denen Music-Chören,

Zwar still, was mich betrifft, doch mach ich alles laut.

Erheb ich nur den Arm, so lässet sich bald hören,

Was unsern Leib ergötzt, und auch die Seel erbaut.

Mein Amt wird ewiglich, dort einsten auch, verbleiben,

Wann Himmel, Erd und Meer in pures Nichts verstäuben.


 

Auf andern Abbildungen steht der mit der Notenrolle bewaffnete Dirigent bald neben dem Organisten und Bassspieler an der Orgel, bald von dem Organisten und den Trompetern getrennt in der Mitte der rechts und links von ihm gruppirten Sänger und Geiger vor der Brüstung des Orgelchors152. Übrigens war doch der Dirigent nicht immer »still, was ihn betraf«. Manche Cantoren bedienten sich auch beim Dirigiren der Violine, um vermittelst dieser den Sängern zu Hülfe zu kommen, wenn es nöthig war153. Von den dreißiger Jahren des Jahrhunderts an änderte sich die Praxis. Der durchtaktirende stehende Dirigent kam aus der Mode, es wurde mit der Zeit immer allgemeinerer Gebrauch, von einem Cembalo aus zu dirigiren, d.h. je nachdem es nöthig war bald mit der Hand den Takt zu markiren, bald das betreffende Tonstück mitzuspielen, und also nicht nur durch stumme Zeichen sondern durch hörbares musikalisches Eingreifen die Ordnung aufrecht zu erhalten. Nur bei ganz großen Aufführungen mit weitläufig aufgestellten Massen blieb die ältere Praxis üblich, weil sie unumgänglich war. Sonst wurde jene unmerkliche, bescheidene Art der Leitung zu einem Ruhme für die deutschen Musikaufführungen, die sich hierdurch sehr vortheilhaft von den französischen unterschieden, wo der Takt mit einem großen [156] Stocke hörbar vorgeschlagen wurde, und von denen trotzdem Rousseau sagte: Die Oper in Paris ist das einzige Theater in Europa, wo man den Takt schlägt, ohne ihn zu beobachten, an allen andern Orten beobachtet man ihn, ohne ihn zu schlagen. Das Dirigiren am Cembalo fand besonders deshalb eine eifrige Nachahme, weil Hasse diese Methode in Dresden mit so großem Glücke anwendete, daß die dortigen Opernvorstellungen sich unter seiner Leitung zu einer kaum irgendwo übertroffenen Vollendung erhoben. Von der Aufstellung des Orchesters, welche er einführte, hat Rousseau uns eine Zeichnung überliefert154. Aus derselben ersieht man, was auch durch die Sache selbst geboten war, daß der Capellmeister an seinem Flügel nicht zugleich das Geschäft des Generalbassspielers übernahm. Für diesen war ein besonderes Clavecin d'accompagnement links längs der Bühnenwand aufgestellt, während der Capellmeister mit seinem Clavier die Mitte des Orchesters einnahm. Die Anwendung des Cembalos als Directions-Instruments war jedoch auch früher schon nichts unbekanntes mehr gewesen. In Torgau hatte man zu den Osteraufführungen 1660 das Spinett, ein kleines cembaloartiges Instrument, mit benutzt155, und auch in Leipzig gab es zu Kuhnaus Zeit auf dem Orgelchor der Thomas- und Nikolai-Kirche ein Cembalo, dessen er sich ab und an bediente; lieber wandte er statt dessen allerdings die italiänische Laute an, deren durchdringenden Klang er zur Zusammenhaltung der Musik für besonders geeignet hielt156. Als Bach sein Amt antrat, ließ er sofort das unbrauchbar gewordene Cembalo in der Thomaskirche neu in Stand bringen und erwirkte vom Rath, daß die Summe von jährlich sechs Thalern für ein regelmäßiges Stimmen desselben ausgeworfen wurde, setzte es aber im Jahre 1733 bis Ostern 1734 und sodann von Michaelis 1743 ab wieder außer Gebrauch157. In der Nikolai-Kirche, deren Orgelchor beschränkter war, benutzte er das dort befindliche [157] Cembalo wie es scheint mit einer noch längeren Unterbrechung; die erste Herrichtung desselben ließ er zum Charfreitag 1724 vornehmen, wo er in der Nikolai-Kirche die Passions-Musik aufzuführen hatte158, dann werden deutliche Spuren seines Gebrauches erst wieder im Jahre 1732 sichtbar und führen bis 1750159. Von Neujahr 1731 an bis ebendahin 1733 besorgte Bachs Sohn Philipp Emanuel, der am 1. October 1731 die Leipziger Universität bezog, das Stimmen des Flügels in der Thomaskirche. Mit Bezug hierauf wird eine Erörterung desselben über das Cembalo als Directions-Instrument von besonderer Bedeutung. »Das Clavier«, sagt er160, »welchem unsere Vorfahren schon die Anführung anvertrauten, ist am besten im Stande, nicht allein die übrigen Bässe, sondern auch die ganze Musik in der nöthigen Gleichheit vom Takte zu erhalten; diese Gleichheit kann auch dem besten Musico, ob er schon übrigens sein Feuer in seiner Gewalt hat, im andern Falle durch die Ermüdung schwer werden. Da dieses nun bei einem geschehen kann, so ist die Vorsicht, wenn viele zusammen musiciren, um so viel nöthiger, jemehr hierdurch das Takt-Schlagen, welches heut zu Tage blos bei weitläuftigen Musiken gebräuchlich ist, vollkommen ersetzet wird. Der Ton des Flügels, welcher ganz recht von den Mitmusicirenden umgeben stehet, fällt allen deutlich ins Gehör. Dahero weiß ich, daß sogar zerstreuete und weitläuftige Musiken, bei welchen oft viele freiwillige und mittelmäßige Musici sich befunden haben, blos durch den Ton des Flügels in Ordnung erhalten worden sind. Steht der erste Violinist folgends, wie es sich gehört, nahe am Flügel, so kann nicht leicht eine Unordnung einreissen. Bei Singe-Arien, worinnen das Zeit-Maß sich schleunig verändert, oder worinnen alle Stimmen gleich lärmen und die Singe-Stimme allein lange Noten oder Triolen hat, welche wegen der Eintheilung einen deutlichen Takt-Schlag erfordern, haben die Sänger auf diese Art eine große Erleichterung. Dem Basse wird es ohnedem am leichtesten, die Gleichheit des Taktes zu erhalten, je weniger er gemeiniglich mit schweren und bunten Passagien beschäftiget [158] ist, und je öfter dieser Umstand oft Gelegenheit giebt, daß man ein Stück feuriger anfängt als beschließet. Will jemand anfangen zu eilen oder zu schleppen, so kann er durchs Clavier am deutlichsten zu rechte gebracht werden, indem die andern wegen vieler Passagien und Rückungen mit sich selbst genug beschäftiget sind; besonders haben die Stimmen, welche Tempo rubato haben, hierdurch den nöthigen, nachdrücklichen Vorschlag des Takts. Endlich kann auf diese Art, weil man durch das zu viele Geräusch des Flügels an der genauesten Wahrnehmung nicht gehindert wird, sehr leicht das Zeit-Maß, wie es oft nöthig ist, um etwas weniges geändert werden, und die hinter, oder neben dem Flügel sich befindenden Musici haben einen in beiden Händen gleichen, durchdringenden und folglich den merklichsten Schlag des Takts vor Augen.« Hier haben wir eine umfassende Darlegung der Vortheile, welche das Dirigiren am Cembalo bietet, aus sachkundigstem Munde und zugleich das offene Zeugniß, daß Sebastian Bach sich dieser Methode bedient hat. Denn die Worte: »schon unsere Vorfahren vertrauten dem Clavier die Anführung an« lassen nur die Deutung zu: derjenige, welcher die Musik anführte, also der Dirigent, that dieses vom Flügel aus und vermittelst desselben. Man nehme dazu die schöne und lebendige Schilderung, welche Gesner von Bachs Direction entwirft, der ihn unterdessen ebenfalls am Flügel sitzen läßt, so wird man ein deutliches und zutreffendes Bild derselben sich machen können. Es ist mit diesem Bilde durchaus vereinbar, wenn Emanuel Bach und Agricola von Seb. Bachs Directionsthätigkeit rühmend erzählen: »Im Dirigiren war er sehr accurat, und im Zeitmaße, welches er gemeiniglich sehr lebhaft nahm, überaus sicher«161. Denn die Benutzung des Cembalo schloß ein theilweises Taktiren ja nicht aus; das Instrument war nur zu dem Zwecke da, die Sache im Gang zu erhalten und die Fehlenden rasch und unvermerkt wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Natürlich wurde meistens aus der Partitur dirigirt, zuweilen jedoch, wenn dieses aus irgend einem Grunde unthunlich war, auch aus einer bloßen Directionsstimme. Die Beschaffenheit einer solchen offenbart die Thätigkeit des Dirigenten sehr deutlich. Sie weist zwei Systeme auf, das untere für den Bass, das obere zur [159] Andeutung der dem Dirigenten nothwendigen Anhaltepunkte. Gewöhnlich ist hier nur die oberste Stimme notirt, bei fugirten Sätzen werden die Eintritte der Stimmen meistens im Bass-System vermittelst der den Stimmen entsprechenden Schlüssel angedeutet, zuweilen auch auf dem obern System. Außerdem steht hier alles, was zur Orientirung über die Gliederung der Composition und das in ihr verwendete Tonmaterial nöthig ist: ob ein gewisser Satz von einem Instrument oder von einem Sänger vorgetragen wird, und von welchem, ob mehre Stimmen, ob alle, ob sie mit oder ohne Instrumente singen, wo Ritornelle eintreten u.s.w. Kuhnau hatte sich zur Leitung der Aufführung seiner Marcus-Passion ein solches »Directorium sive Quasi-Partitura« angelegt; auch zu seiner Cantate »Welt ade, ich bin dein müde« ist eine solche Directionsstimme, welche zugleich als Generalbass-Stimme gedient zu haben scheint, vorhanden162. Die Methode, das Clavier als Directionsinstrument zu gebrauchen, wurde so probat erfunden, daß sie sich bis in unser Jahrhundert erhalten hat, z.B. bei den Aufführungen der Berliner Singakademie. Auch bei bloßen Instrumentalwerken wandte man sie an, und Haydn dirigirte in Salomons Concerten in London seine Symphonien am Flügel163. Doch findet sich in dieser Zeit neben dem Flügel-Dirigenten auch schon ein besonderer taktirender Dirigent. Bei der im Jahre 1808 in Wien stattfindenden Aufführung der Haydnschen Schöpfung saß Kreuzer am Flügel und Salieri leitete das Ganze164. Als im Jahre 1815 ebendort Beethovens Christus am Oelberg aufgeführt wurde, dirigirte Wranitzky und Umlauf hatte den Platz am Clavier165. In der Berliner Singakademie ließ Zelter in seinen späteren Jahren einen seiner Schüler Rungenhagen oder Grell den Flügel spielen, während er selber nur taktirte166. Es hatte hier der Cembalist auch die Aufgabe, die Secco-Recitative als Generalbassist zu begleiten, was bei Bachs Aufführungen Sache des Organisten war. Das Cembalo als selbständiges Instrument drang allmählig auch in [160] die Kirchenmusik ein, innerhalb der Bachschen Schule jedoch nur zum Zwecke der Klangverstärkung bei solchen Recitativen und Arien, welche der Componist ohne Orgelbegleitung ausgeführt wissen wollte. Wenigstens empfiehlt Emanuel Bach, dieses zu thun, wogegen freilich Rolle meint, in der Kirche bleibe eine derartige Klangverstärkung ziemlich illusorisch, und das namentlich in den Wintermonaten beständig nöthige Befiedern und Stimmen mache überhaupt den Gebrauch des Flügels in der Kirche beschwerlich und kostspielig167. Möglich, daß dieses der Grund war, weshalb auch Bach in seinen späteren Jahren mehr davon abkam. Indessen bot ihm in der Thomaskirche seit 1730 das selbständig spielbare Rückpositiv einen Ersatz und zugleich die Bequemlichkeit, manchmal selber die Generalbassbegleitung ausführen zu können, ohne den Organisten von seinem Platze verdrängen zu müssen168. Wie er es zu halten pflegte, wenn die mitwirkenden Sänger und Spieler so zahlreich waren, daß ein durchgängiges Taktiren nothwendig wurde: ob er in solchem Falle einen andern, beispielsweise seine Söhne Friedemann oder Emanuel den Flügel behandeln, oder ob er ihn ganz schweigen ließ und alles durch seine Direction allein zwang, läßt sich nicht mehr erkennen. Ist das erstere aus inneren Gründen wahrscheinlich, so ist es das letztere mit Hinblick darauf, daß er über haupt den Flügel jahrelang entbehren konnte; er muß also beim freien Dirigiren eine große Energie, Sicherheit und Klarheit entwickelt haben, was ja auch Emanuel Bach und Agricola ausdrücklich bezeugen. Was sonst noch über die Aufstellung der Musiker zu sagen wäre, ist größtentheils in Emanuel Bachs oben angeführten Worten schon enthalten. Es mag nur noch das besonders bemerkt werden, daß die Bässe – oder wenigstens ein Theil derselben, denn man liebte es zur Aufrechterhaltung der Ordnung die [161] Bassstimme recht stark zu besetzen – überall ganz nah bei dem Dirigenten ihren Platz zu haben pflegten, unter Umständen also hinter seinem Rücken am Cembalo, so daß sie nöthigenfalls mit ihm aus der Partitur spielen konnten. Ferner wurden die Trompeten und Pauken immer etwas entfernt von den übrigen aufgestellt, damit sie namentlich die Singstimmen nicht übertönten169. Ein beliebter Platz für sie war dicht an der Orgel, rechts und links vom Organisten170.

Fußnoten

 

 


 

170 S. das Kupfer vor der oben angeführten von Joachim Hahn herausgegebenen Liedersammlung; ferner den der Hillerschen Schrift über die 1786 veranstaltete Messias-Aufführung beigegebenen Grundriß der Aufstellung sämmtlicher Musicirenden. Zu vergleichen der Grundriß des Dresdener Orchesters, wo für die Trompeten und Pauken auf dem rechten und linken Flügel desselben zwei Tribünen gebaut waren, und endlich Petri, S. 188. – Hillers Grundriß ist von großem sowohl historischem als praktisch musikalischem Interesse, wenn auch für unsern Zweck daraus wenig zu gewinnen ist, da Bach über große Massen gewöhnlich nicht disponirte und in den Händelschen Oratorien das Cembalo eine andre Rolle spielt.

V.

 

Kuhnau hatte während der ganzen Zeit seines Thomas-Cantorats mit der Oper und den Operisten in einem ungleichen und für ihn durchaus erfolglosen Kampfe gelegen. Aus allen seinen Klagen tönt der Grundgedanke hervor, daß wenn er nur ein ausreichendes Personal zur Bestellung der Kirchenmusik zur Verfügung hätte, es ihm schon gelingen werde, die verderblichen theatralischen Tendenzen zu vernichten und einem ernsteren musikalischen Sinn in Leipzig zum Siege zu verhelfen. Er irrte sich; daß sein Einfluß auf das öffentliche Musikwesen ein immer schwächerer wurde, lag nur zum Theil in den äußern Verhältnissen, zu einem eben so großen Theile trugen sein Charakter und die Art seiner musikalischen Begabung die Schuld. In Zeiten, da Altes und Neues mit einander kämpfen, kann nur derjenige ein erfolgreicher Führer werden, der beides versteht und in seiner Berechtigung anerkennt. Die in den Opernformen nach Ausdruck ringende Potenz war Kuhnau unverständlich und seinem innern Wesen fremd. Einige Male hatte er es versucht, auch auf dem Gebiete der theatralischen Musik als Componist aufzutreten.[162] In früheren Jahren hatte er sich einen Operntext »Orpheus« aus dem Französischen selbst übertragen und in Musik gesetzt; mit welchem Erfolg ist nicht bekannt1. Aber mit einer andern Oper, deren Composition in die letzte Zeit seines Lebens fallen muß, machte er entschiedenes Fiasco2. Es war eine Schwäche seiner Natur nicht einzusehen, daß auch der Vielseitigste doch nicht alles könne; er hätte es sich sonst wohl erspart, durch die That den Beweis zu liefern, daß seine Abneigung gegen die Oper von dorther erwiedert werde. Kuhnau ist ein Meister der Claviermusik gewesen; auch in der kirchlichen Composition hielten ihn viele für einen solchen. Und es ist keine Frage, daß er hier Eigenschaften zeigt, welche ihn über seine Zeitgenossen erheben. Der Technik des vocalen Satzes war er in höherem Grade mächtig als mancher andre deutsche Componist von damals. Seine fünfstimmige Gründonnerstags-Motette Tristis est anima mea usque ad mortem3 kann man unter die hervorragenderen derartigen Arbeiten zählen; wenn sie gleich, auch nur auf die technische Seite angesehen, den Motetten Joh. Christoph und Johann Ludwig Bachs durchaus nicht ebenbürtig ist, so hat sie doch einen breitathmigen Zug, welcher das Studium classischer italiänischer Muster verräth. Eine Kammercantate Spirate clementes, o zephyri amici4 beweist es gleichfalls, daß Kuhnau von der Kunst der Italiäner zu lernen suchte. Kirchen-Cantaten liegen siebenzehn vor aus den verschiedenen Perioden seines Lebens5. Scheibe, welcher ihn, Keiser, Telemann und Händel als die größten deutschen Componisten [163] des Jahrhunderts hinstellt, sagt: Kuhnau »ist hie und da von dem Strome der harmonischen Setzer hingerissen worden; daher ist er sehr oft matt, ohne gehörige poetische Auszierungen und ohne verblümte Ausdrückungen und folglich hin und wieder zu prosaisch. Daß er aber dieses auch selbst eingesehen, und zuweilen überaus sinnreich und poetisch zu setzen gewußt hat, zeigen seine Claviersachen und seine letzten Kirchenarbeiten, vornehmlich aber sein Passionsoratorium, das er wenig Jahre vor seinem Tode verfertigte. Wir sehen auch aus diesen Werken, wie deutlich er den Nutzen und die Nothwendigkeit des Rhythmus erkannt hat. Daher ist es auch gekommen, daß er beständig bemühet gewesen, alle seine Kirchensachen melodisch einzurichten und dieselben fließend und sehr oft recht rührend zu machen, ob es ihm schon mit theatralischer Arbeit niemals geglücket hat«6. Diese Worte bezeugen, was sich überdies aus den Werken selbst ergiebt, daß Kuhnau mit der Zeit auch in seiner Kirchenmusik sich dem herrschenden Opernstil anzunähern suchte. Wenn ihn der Strom der »harmonischen Setzer« bisweilen hingerissen haben soll, so hat dieses Urtheil weniger die positive Bedeutung, daß Kuhnau sich in eine polyphone Setzart allzusehr vertieft habe, als die negative, daß er auf melodische Eindringlichkeit und wechselvolle Rhythmik nicht immer bedacht gewesen sei. In seinen älteren Werken, z.B. einer noch aus dem 17. Jahrhundert stammenden Cantate »Christ lag in Todesbanden« steht er durchaus auf dem Gebiete jener sogenannten älteren Kirchencantate, zu der uns früher Buxtehude die erläuternden Beispiele lieferte. Im Grunde ist er auch in späteren Jahren über dieses Gebiet nicht hinausgekommen; wenn er sich auch dem Opernstil in manchen Dingen anbequemte, Neumeistersche, oder in Neumeisters Form gedichtete Texte componirte7, es blieb eben doch ein äußerliches Compromiss. Ganz deutlich erkennt man dieses aus den Recitativen. Auch Bachs Recitative haben etwas stark melodisches, aber dieses ist auf Grundlage [164] des dramatischen Recitativs seiner Zeit neu von ihm geschaffen. Kuhnaus Recitativ ist immer noch das Arioso der älteren Kirchencantate, ausgestattet mit einigen neurecitativischen Wendungen. In der dreitheiligen Arienform hat er einige gelungene Exemplare hingestellt, namentlich ist ein Duett zwischen Alt und Bass in der Himmelfahrts-Cantate »Ihr Himmel jubilirt von oben«, das auch einen sehr flüssigen, geistreich entwickelten polyphonen Satz aufweist, ein Musterstück zu nennen. Weit heimischer aber fühlt sich Kuhnau doch in der alten einfachen Form der geistlichen Arie mit ihren freundlichen aber kurzathmigen Melodiegestalten, und den steifen, ehrenfesten Ritornellen. Von den Chören läßt sich nur sagen, daß sie hier und da Ansätze zu breiteren und kunstvolleren Entwicklungen zeigen, gewöhnlich aber in der landläufigen Weise: alternirend zwischen homophonen Vocalsätzen und bedeutungslosen Zwischenspielen oder zwischen Solostückchen und Tuttisätzen sich abhaspeln. Auch bei den Choralgebilden kann man fast nur von Entwicklungsansätzen sprechen. Eine freie Bewegung der contrapunctirenden Stimmen fehlt noch sehr, man muß sich, wie im Schlußchor der Cantate »Christ lag in Todesbanden« oder am Anfang der Cantate »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«, mit einigen kümmerlichen Imitationen begnügen. Soll das Orchester zum Choral figuriren, so bleibt es doch weit entfernt von der Ausführung eines selbständigen Tonbildes; in der Weihnachtscantate »Vom Himmel hoch« singt der Chor diesen Choral im einfachsten homophonen Satze und die Instrumente unterstützen ihn, nur die erste und zweite Violine bringen auf- und absteigende Sechzehntel-Passagen hinzu ganz in der Weise, wie der Schlußchor von Bachs frühem Werke »Uns ist ein Kind geboren« gehalten ist. Ähnlich, nur noch mit Hinzuziehung des Basses, ist der Choral »Gelobet seist du, Jesu Christ« in der Cantate »Nicht nur allein am frühen Morgen« behandelt. Fließend und gewandt geschrieben ist alles, dabei freundlich im Ausdruck, anmuthigen, selbst rührenden Zügen begegnet man oft; aber Tiefe der Empfindung und Größe der Gestaltung fehlt gänzlich. Kuhnau blieb deshalb im Kreise der älteren Kirchen-Cantate stehen, weil er nichts zu sagen hatte, was er nicht vollständig in den Formen derselben zum Ausdruck bringen konnte, dies gilt auch von den einleitenden Instrumentalsymphonien, so bedeutend er sonst grade in der selbständigen [165] Instrumentalmusik war. Seine zur Charwoche 1721 componirte Marcuspassion, welche Scheibe besonders rühmt, ist nur als Skizze erhalten8. Aus derselben läßt sich aber so viel doch ersehen, daß die gewinnenden Eigenschaften der Kuhnauschen Kirchenmusik auch hier vorhanden sind und vielleicht in erhöhtem Grade, daß auch in ihr der Componist bestrebt gewesen ist, sich der eindringlicheren Weise des Operngesanges anzunähern »durch poetische Auszierungen und verblümte Ausdrückungen«, d.h. durch Erfindung von Wendungen und Tonreihen, welche einen gewissen poetischen Begriff mit ihren Mitteln wiederspiegeln. Indessen sein innerstes Wesen ist auch hier dasselbe geblieben. Kuhnau verstand die Welt nicht mehr und sie ihn nicht; es war Zeit, daß sie von einander Abschied nahmen.

Ganz anders war die Stellung, in welcher sich Bach gegenüber der theatralischen Musik befand. Er hatte alle ihre Formen gründlich in sich verarbeitet und für seine Kunst ausgenutzt. So grundverschieden von der Opernmusik seine Compositionen auch erscheinen mögen, er stand jener keineswegs ohne einen andauernden inneren Antheil gegenüber, er hielt es vielmehr für eine berechtigte Forderung der Zeit, daß auch im Kirchenmusikstile auf sie Rücksicht genommen werde. Der Zustand der Musik, das erklärte er in seinem Memorial über die Verbesserung der Kirchenmusik dem Rathe ganz offen, sei jetzt ein andrer als in früherer Zeit, die Kunst habe bedeutende Fortschritte gemacht, der Geschmack sich auffallend geändert, und die ehemalige Art der Musik, wie sie noch Kuhnau componirte, wolle den Ohren der Zeitgenossen nicht mehr klingen. Das Interesse, welches er beispielsweise an den Dresdener Opernvorstellungen nahm, ist erwiesen, und eine Anzahl in dramatischer Form gehaltene weltliche Compositionen von ihm liegen vor. Eine wirkliche Oper hat er, soviel wir wissen, nicht geschrieben. Denn, mochte er auch vielleicht nicht in Gottscheds Urtheil einstimmen, der zu jener Zeit von Leipzig aus erklärte, die Oper sei das ungereimteste [166] Werk, das der menschliche Verstand jemals erfunden9, so begreift es sich doch, daß der gleißende Schein dieser nur der flüchtigen Unterhaltung dienenden Kunstgattung seiner ernsten, echten und tiefen Künstlernatur zuwider sein mußte. Wenn er einmal Lust bekam nach Dresden zu gehen, pflegte er zu seinem Lieblingssohne zu sagen: Friedemann, wollen wir nicht die schönen Dresdener Liederchen einmal wieder hören?10 Ist der Wortlaut der Äußerung genau überliefert, so charakterisirt sie Bachs Stellung zur Oper in treffender Kürze. Scheibe sagt gelegentlich: »Es giebt einige große Geister, die sogar das Wort ›Lied‹ für schimpflich halten; die wenn sie von einem musikalischen Stücke reden wollen, das nicht nach ihrer Art schwülstig und verworren gesetzet ist, solches nach ihrer Sprache ›ein Lied‹ nennen11«. Da ein schwülstiges und verworrenes Wesen grade dasjenige war, was Scheibe an Bach tadelte12, so ist es mehr als wahrscheinlich, daß mit den angeführten Worten auf Bach gezielt wird. Die einfach construirten Formen der Operngesänge däuchten ihn für die Verwirklichung seines Kunstideales allerdings unzulänglich, und in diesem Sinne mag er wohl manchmal geringschätzig über sie gesprochen haben. Aber wenn ein Hasse sich ihrer bediente und eine Faustina sie dem Hörer vermittelte, konnte er sie dennoch »schön« finden, und er wußte eben so gut wie sein strenger Kritiker, daß ohne die Opernmusik er nicht geworden wäre, was er war13. Nicht im Gegensatze zu ihr, sondern nur mit und auf ihr läßt sich Bachs kunstgeschichtliche Stellung vollständig begreifen. Zu einem lebensfähigen musikalischen Drama konnte sich die Oper damals in Deutschland und überhaupt unter der Hand eines Deutschen noch nicht gestalten. In freieren, breiteren Verhältnissen, wie sie England bot, wurde sie durch Händel zum Oratorium, in Deutschland entwickelte sie sich zur Bachschen [167] Kirchenmusik. Dort erreichte sie ihr Ziel durch Verbindung mit den Formen der italiänischen kirchlichen Tonkunst, hier durch eine gründliche Läuterung, welche sie auf Grund der nationalen Orgelkunst erfuhr. Ganz deutlich lassen auch die Schicksale der deutschen Oper diesen Entwicklungszug erkennen. Nachdem sie um 1700 zu einer bedeutenden musikalischen Macht angewachsen war, sank sie bald rasch von ihrer Höhe herunter und hört in den dreißiger Jahren so gut wie ganz auf, um sich erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts durch einen hauptsächlich aus Frankreich kommenden Anstoß in dem Hiller-Weißeschen Singspiele wieder zu erneuern. In Leipzig selbst war es schon 1729 mit der deutschen Oper völlig vorbei. Was an ihre Stelle trat, war eben Bachs Musik. In dieser war enthalten, was Kuhnau zu erreichen vergeblich getrachtet hatte: der Geist der Zeit, soweit er in den Opernformen einen entsprechenden musikalischen Ausdruck fand, und zugleich wirklich kirchlicher Stil. Ob Bach bewußterweise und unmittelbar etwas gethan hat, was der Leipziger Oper das Lebenslicht ausblies, weiß man nicht. Daß aber seine Kunstrichtung sehr bald dort die herrschende wurde, kann unter den obwaltenden Verhältnissen nicht bezweifelt werden. Es wird allgemein als Thatsache hingenommen und verbreitet, daß Bachs Kirchenmusiken unverstanden verklungen seien und seiner großartigen compositorischen Thätigkeit überhaupt der angemessene Erfolg gefehlt habe. Ich glaube, man legt hierbei auf gewisse abfällige Äußerungen, einzelne unverständige obrigkeitliche Maßnahmen und die zum Theil ungenügenden Mittel, mit welchen Bach sich behelfen mußte, ein zu großes Gewicht14. In Bezug auf den letzten Punkt darf man wohl fragen, ob denn Händel mit seinen Oratorien, Beethoven mit seinen Symphonien immer so viel besser daran gewesen sind, und ob ein eminentes Genie nicht im Stande sein soll, [168] auch mit geringen Kräften außerordentliches zu leisten? Das hohe Ansehen, in welchem Bachs Name und Musik das ganze Jahrhundert hindurch in Leipzig verblieb, der gewaltige Einfluß, den er auf die Musik Mittel- und Norddeutschlands gewann, die Verbreitung selbst mancher seiner kirchlichen Vocalcompositionen in Sachsen und Thüringen, dürften ebenfalls den Schluß berechtigt erscheinen lassen, daß sein Wirken in Leipzig ein tief eingreifendes gewesen ist.

Ein Cantaten-Dichter von Bedeutung war bisher in Leipzig nicht hervorgetreten. Im Jahre 1716 hatte hier Gottfried Tilgner fünf Jahrgänge Neumeisterscher Dichtungen mit Genehmigung des Verfassers zusammengestellt und unter dem Titel »Fünffache Kirchenandachten« herausgegeben15. Während bis dahin sich diese Poesien mehr nur unter der Hand verbreitet hatten, wurden sie jetzt in den weitesten Kreisen zugänglich und so viel gekauft, daß schon im folgenden Jahre eine neue Auflage nöthig war. Tilgner, ein junger Privatgelehrter, lebte in dem Hause des mehrfach genannten Magister Pezold, eines Collegen Kuhnaus16. Kuhnau hat unzweifelhaft manche Neumeistersche Texte componirt und war übrigens ganz der Mann, sich nach Neumeisters Mustern selbst dergleichen zu verfassen. Bach beherrschte die Sprache nicht mit solcher Gewandtheit. Er sah sich deshalb in der ersten Zeit zum Theil auf die Texte auswärtiger Dichter angewiesen, unter denen er Franck vor Neumeister bevorzugte. Nicht lange währte es jedoch, so fand er in Leipzig selbst einen ausreichend geschickten und stets willigen Helfer. Christian Friedrich Henrici, im Jahre 1700 zu Stolpe geboren, hatte in Wittenberg studirt und seit kurzem sich in Leipzig niedergelassen, wo er einstweilen als Privatmann in ärmlichen Verhältnissen und wohl größtentheils vom Ertrage von Gelegenheitspoesien lebte. In zwei Gedichten flehte er den König-Churfürsten an, ihm einen Freitisch zu gewähren und ließ im Jahre 1727 durch den Grafen Flemming ihm zu seinem Namenstage am 3. August eine Cantate »Ihr Häuser des Himmels, ihr scheinenden Lichter« überreichen17. In [169] demselben Jahre erhielt er eine Stelle als Postbeamter und figurirt im Leipziger Adressbuch von 1736 als Ober-Postcommissarius18. 1743 begegnen wir ihm wieder als Land- und Trank-Steuereinnehmer und als solcher ist er 1764 gestorben. Die höheren Kirchen- und Schul-Beamten erhielten jährlich eine gewisse Summe als Ersatz für die allgemein zu zahlende Tranksteuer; es war dies eine besondere Vergünstigung19. Diesem Umstande verdankt ein kleines eigenhändiges Schriftstück Bachs seine Entstehung, in welchem er um Ostern 1743 dem Herrn Einnehmer über einen Steuer-Ersatz für drei Faß Bier quittirt20. Aber beide Männer standen nicht nur im geschäftlichen, sondern seit langem schon im freundschaftlichen und künstlerischen Verkehr. Unter den Pathen eines im Jahre 1737 geborenen Bachschen Kindes bemerkt man auch die Frau Henricis, welcher nunmehr schon seit etwa zwölf Jahren als Dichter für Bach thätig war. Henrici begann seine litterarische Wirksamkeit im Jahre 1722 und zwar als Satiriker; insofern kann man ihn einen Nachfolger Christian Günthers nennen. Übrigens ist er an Talent diesem nicht von weitem zu vergleichen, und die Niedrigkeit und Geschmacklosigkeit seiner Anschauungs- und Ausdrucksweise wirkt darum nur noch abstoßender. Gleich fern stand ihm Günthers unabhängige Sinnesart und verzweifelte Ungenirtheit. Da seine satirischen Poesien [170] böses Blut setzten, bekam er Angst, erklärte, er habe bei seinen derartigen Erzeugnissen nur die beste Absicht gehabt, allein seine unglücklichen Nachfolger hätten ihm das Spiel verdorben und die Drohungen der Übelgesinnten die Lust benommen. Nun dichtete er zeitweilig nur auf Verlangen der Gönner und Freunde, bediente sich aber auch jetzt, wie er nicht leugnen wollte, »einer geschärften Feder«. Im Jahre 1724 warf er sich auf die geistliche Dichtung. Den plötzlichen Umschlag glaubte er öffentlich rechtfertigen zu müssen. Es würden wohl manche lachen, meint er, wenn sie ihn jetzt eine andächtige Miene machen sähen. Er verwahre sich aber dagegen, daß er ganz vergessen hätte an den Himmel zu denken, und glaube es sei nicht tadelhaft, wenn er seinem Schöpfer die Früchte der Jugend, und nicht die Hefen des Alters widme. Auch möge man ihn nicht beschuldigen, daß er die Poesie zu seiner Hauptbeschäftigung und mit andern Wissenschaften sich wenig oder nichts zu thun mache. Er könne nöthigenfalls glaubwürdige Zeugnisse seines akademischen Fleißes vorweisen. Außerdem werde ihm das Versemachen leicht und koste ihn wenig Zeit. Warum er also dies natürliche Talent für seine Existenz nicht verwenden und verwerthen solle? Die Arbeit, welcher er diese und andre Betrachtungen als Vorrede vorausschickte, hieß: »Sammlung erbaulicher Gedanken über und auf die gewöhnlichen Sonn- und Fest-Tage«; er bedient sich hier des seither stetig von ihm festgehaltenen Pseudonyms Picander. Es sind gereimte Betrachtungen größtentheils in Alexandrinern, deren meisten ein strophisches Gedicht nach der Melodie eines Kirchenliedes angehängt ist. Sie erschienen nicht gleich gesammelt; ein ganzes Jahr hindurch wollte der Poet Sonnabends und Sonntags nach geendigter Vesper, wenn sich andre an unzulässiger Leibesvergnügung belustigten, seine Einfälle über die Evangelia in Reime bringen und wöchentlich in einem halben Bogen herausgeben. Diesen Vorsatz hat er durchgeführt: das erste Stück kam zum 1. Advent 1724, das letzte, und mit ihm das Ganze zum 1. Advent 172521. Er glaubte [171] nun wohl seine Sünden genugsam gebüßt und seine Reputation wieder hergestellt zu haben, warf sich daher von neuem der weltlichen Muse in die Arme. Es erschienen 1726 von ihm drei deutsche Schauspiele nämlich: Der akademische Schlendrian, Der Erz-Säufer und Die Weiberprobe, »zur Erbauung und Gemüthsergötzung entworfen« – platte, widerwärtige Possenspiele22, aber der in ihnen herrschende Ton war sein eigentliches Element und er gesteht selbst, es sei ihm angenehmer und leichter, vier Hochzeitlieder zu singen, als nur einen Grabes-Seufzer zu erzwingen. Was er mit diesen Publicationen zumeist bezweckte, wollte sich freilich immer noch nicht einstellen: eine hinreichende materielle Versorgung. Er gab deshalb im Jahre 1727 eine neue Sammlung heraus: Ernst-, scherzhafte und satirische Gedichte, und widmete sie »dem Glücke, das doch höflich sein werde und ihm was wieder schenken«. Das Glück war höflich und er wurde Postbeamter. Nun folgte 1728 eine Sammlung Cantaten-Texte in Neumeisters Form23. Es ist die einzige, welche er herausgab, später verleibte er sie seinen ernst-, scherzhaften und satirischen Gedichten ein, von welchen nach und nach noch vier weitere Theile erschienen24. Henrici hielt sich für einen originellen Kopf und für einen Bahnbrecher zu Gunsten des besseren Geschmacks. Er sehe voraus, sagt er in der Vorrede zu der »Sammlung erbaulicher Gedanken«, daß ihm sofort Nachahmer erstehen würden. Diesen wünsche er nur, daß sie bessere Einfälle hätten als er. Seinerseits liebe er es mehr, auf einem Wege voran zu gehen, als in die Fußstapfen eines andern zu treten. Und dann, mit Anspielung auf den damals beginnenden starken Einfluß der englischen Litteratur: [172] »Es will zu Leipzig alles zu Spectateurs, Patrioten und Haupt-Moralisten werden, ohne seine Kräfte zu prüfen, und ist nur zu bejammern, daß der sonst weltberühmte Name Leipzig ein eitler Deckel solcher öfters unwürdigen Schriften bedeuten muß. Nichts löblicheres ist dannenhero, als die gute Vorsorge der Vorgesetzten, dergleichen untaugliche Scharteken zu unterdrücken, welche das delicate und wegen seines guten Geschmacks bei den Auswärtigen bekannte Leipzig von seiner Entweihung befreien helfen. Wie wohl sich auch solche unzeitige Geburten vor Scham ihrer Unvollkommenheiten endlich selber verlieren«. Das Beste, was er selbst zu leisten vermochte, enthalten seine satirischen Schriften. Sie geben von einer gewissen Schärfe der Beobachtung und einer für des Verfassers Jugend nicht gewöhnlichen Menschenkenntniß Kunde, sind außerdem gewandt gereimt25. Daß er aber von dieser Gattung bald ganz abkam, ist ein Beweis, daß seine Satire nicht sowohl das Product eignen Schöpferdranges, als eine durch äußere Veranlassungen bewirkte Nachahmung war. In den Hochzeitsgedichten, welche den breitesten Raum unter seinen Poesien einnehmen, werden wenige artige Einfälle überwuchert durch die Plattheit des Übrigen und die in glatter Rede vorgetragenen Unanständigkeiten wirken in der Kraftlosigkeit des ganzen Tons um so widerlicher. Thatsache ist indeß, daß seine Dichtungen sich ein Menschenalter hindurch großer Beliebtheit erfreuten; sie erlebten bis zum Jahre 1748 vier Auflagen, und spiegeln unzweifelhaft den poetischen Geschmack des damaligen Leipzig im allgemeinen treu zurück. Noch weniger als in der Satire und dem weltlichen Gelegenheitsgedicht zeigt Picander in seinen geistlichen Dichtungen ursprüngliches Talent. Diese Gattung lag seiner Natur fern und er hätte sich in der eigentlichen Cantatenpoesie wahrscheinlich gar nicht versucht, wenn Bach nicht eben einen Versemacher nöthig gehabt hätte und es dem mit der Noth des Lebens ringenden Jünglinge werthvoll gewesen wäre, zu dem berühmten Künstler in Beziehung zu treten. Es ist denn auch klar ersichtlich, daß Bach sich in ihm sein Werkzeug selbst bereitet hat. Mehre Anzeichen deuten darauf hin, daß er ihn schon zu Neujahr 1724, [173] vielleicht sogar zur Rathswahl 1723 für seine Zwecke beschäftigte. Das erste Picandersche geistliche Gedicht, welches er nachweislich componirte, der Text zur Michaelis-Cantate »Es erhub sich ein Streit«, stammt aus dem Jahre 1725. Während die im Jahre vorher begonnene »Sammlung erbaulicher Gedanken« auf Componirbarkeit noch garkeine Rücksicht nimmt, ist hier die Neumeistersche Form wenigstens in den Recitativen ganz geschickt angewendet, wogegen die Arientexte noch den Neuling verrathen. Da Picander schon vorher mehre weltliche Gelegenheits-Cantaten gemacht hatte, so konnte es ihm nicht schwer fallen, auch den geistlichen Cantaten bald ganz die rechte Fassung zu geben. Viele einzelne Wendungen lassen aber Neumeister als Vorbild deutlich erkennen und auch darin folgte er ihm, daß er durch Einmischung biblischer Ausdrücke und Anspielung auf – oftmals recht entlegene – biblische Vorgänge seiner Diction eine kirchliche Farbe zu verleihen suchte. Im Jahre 1725 verfertigte er auch zum ersten Male eine Passionsdichtung und nahm sich hierbei Brockes zum Muster. Nun wurde der künstlerische Verkehr zwischen Bach und ihm bald ein regerer. Picander war selbst nicht ohne musikalische Begabung und Kenntnisse, er hatte insofern vor Neumeister, dem er in leichter Handhabung der Sprache nicht nachstand, noch etwas voraus. In seinen weltlichen Gedichten sind die Anspielungen auf musikalische Dinge nicht selten und gehen oft so ins Specielle, daß sie auf ein lebhaftes Interesse und eigne Praxis mit Sicherheit schließen lassen26. Einmal giebt er sogar zwei artige Tänze als Notenbeilage27, und durch ein Gedicht vom Jahre 1730 erfahren wir auch, daß er Mitglied eines Musikvereins war – jedenfalls des von Bach dirigirten28. In dem Vorwort des 1728–1729 gefertigten Cantaten-Jahrganges sagt Picander: »Gott zu Ehren, dem Verlangen guter Freunde zur Folge und vieler Andacht zur Beförderung habe ich mich entschlossen, gegenwärtige Cantaten zu verfertigen. Ich habe solches Vorhaben desto lieber unternommen, [174] weil ich mir schmeicheln darf, daß vielleicht der Mangel der poetischen Anmuth durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meisters, Bachs, dürfte ersetzet, und diese Lieder in den Haupt-Kirchen des andächtigen Leipzigs angestimmet werden«. Dieser Jahrgang war also direct für Bach bestimmt und scheint einem unerwartet ausgesprochenen Wunsche des letzteren seine Entstehung zu verdanken, denn er deckt sich nicht mit dem Kreise des Kirchenjahres, sondern beginnt gegen allen Brauch mit dem Johannisfest und schließt mit dem vierten Trinitatis-Sonntage. Für den Charfreitag des Jahres 1729 dichtete Picander auch den Text zur Matthäus-Passion, bediente sich dieses Mal aber nicht der Brockes'schen Form, sondern behielt das Bibelwort unverändert bei. Hier tritt wieder Bachs Beeinflussung stark zu Tage, um nichts weniger aber auch in dem Umstande, daß Picander Francksche Poesie in seinen Passionstext aufnahm. Formale Gründe konnten ihn hierzu nicht bestimmen, denn Franck selbst bewegte sich in der madrigalischen Cantaten-Form zeitlebens nur mit mäßigem Geschick. Bach aber liebte diesen Dichter um seiner innigen, schwärmerischen Empfindung willen, kein andrer als er kann es gewesen sein, der Picandern auf ihn hinwies. Unter Francks Gedichten trägt eines die Überschrift »Auf Christi Begräbniß gegen Abend« und lautet so:


 

Mein Heiland wird zur Abendzeit begraben,

Damit auch ich am Abend meiner Zeit

Die wahre Ruh könn in dem Grabe haben,

Das durch sein Grab gesaubert und geweiht!

Das Lebenslicht muß blutroth untergehen,

Daß wir schneeweiß vor Gottes Augen stehen.


 

Am Abend ist die Sünd ans Licht gekommen,

Die Sünde die der erste Mensch verübt,

Am Abend hat sie Christus weggenommen,

Und in sein Grab verscharrt, was uns betrübt.

Des Heilands Grab zeigt uns den hellen Morgen,

Darinnen sich die Sonne selbst verborgen.


 

Die Taube kam zur Vesperzeit zum Kasten,

Und bracht ein Blatt dem frommen Noah zu.

Zur Abendzeit wollt auch mein Heiland rasten,

Und zeigte mir das Oelblatt wahrer Ruh!

Ich bin gewiß, die Sündfluth sei gefallen,

Gott läßt nicht mehr des Eifers Fluthen wallen.


 

[175] Mein Leben mag sich nun zum Abend neigen,

Ich lege mich zur Ruh in Christi Grab,

Dies wird an mir auch seine Kraft erzeigen,

Die aller Welt ein neues Leben gab.

Mit Christo muß man erst zu Grabe gehen,

Will man mit ihm zum Leben auferstehen29.


 

Im Texte der Matthäuspassion heißt es, nachdem Jesus vom Kreuze genommen worden ist:


 

Am Abend da es kühle war

Ward Adams Fallen offenbar,

Am Abend drücket ihn der Heiland nieder.

Am Abend kam die Taube wieder

Und trug ein Oelblatt in dem Munde,

O schöne Zeit! o Abendstunde!

Der Friedensschluß ist nun mit Gott gemacht,

Denn Jesus hat sein Kreuz vollbracht.

Sein Leichnam kömmt zur Ruh,

Ach liebe Seele bitte du,

Geh lasse dir den todten Jesum schenken,

O heilsames, o köstlichs Angedenken!


 

Man sieht, daß dieses eine verkürzende Umdichtung des obigen Franckschen Gedichtes ist, namentlich seiner beiden mittleren Strophen. Sie ist nicht überall wohl gerathen: die Zeile »Am Abend drücket ihn der Heiland nieder« ist an sich und in ihrem Zusammenhange ganz unverständlich, erst durch Vergleichung mit dem Franckschen Original ergiebt sich, daß mit dem Adam, welchen der Heiland »niederdrückt«, der alte Adam d.h. der sündige Zustand des Menschen gemeint ist, welchen Christus durch seinen Tod beseitigt hat. Etwas von dem innigen Tone Francks ist aber auch an dem Excerpt haften geblieben, es hebt sich dadurch sehr merkbar aus dem kraftlosen Schwulst der übrigen gereimten Masse heraus. Nach 1729 hat Picander nur noch sehr wenig von neuen geistlichen Texten drucken lassen, woraus nicht zu schließen ist, er habe überhaupt sonst keine mehr verfaßt. Man kann des Gegentheiles gewiß sein, da er ja mit Bach in dauerndem Verkehr blieb und in Leipzig die einzige Persönlichkeit war, welche dergleichen Aufgaben mit hinreichendem Geschick zu lösen vermochte. Wäre nicht Picander auch für die Texte der meisten übrigen Cantaten, die Bach in Leipzig [176] componirte, als Verfasser anzusehen, so müßte es unerklärlich heißen, warum Bach aus den zahlreichen Cantatensammlungen, welche in jener Zeit erschienen und ihm zugänglich gewesen sein müssen, nicht eine einzige in Musik gesetzt hat, wenigstens soweit man jetzt die Bachschen Cantaten kennt30. Daß Picander sie nicht in seine Werke aufnahm, ist nach dem Obigen sehr begreiflich: er legte, und mit Recht, keinen Werth auf diese Fabrikate, welche er dem Freunde zu Gefallen flüchtig zusammenschrieb. Franck dichtete aus wirklichem poetischen Drange, Neumeister als rühriger Theolog und Prediger, Henrici fühlte sich durch keinerlei inneres Interesse zur geistlichen Dichtung hingezogen. Der Impuls zu solchen Arbeiten kam ihm allein durch Bach. Daher denn auch seine Bemühungen fremde Erzeugnisse im Interesse Bachs zu verwerthen und umzudichten, wozu die mit dem Franckschen Liede vorgenommene Manipulation nicht das einzige Beispiel bietet. Bach interessirte sich auch für die Schriften Johann Jakob Rambachs, von dessen Erbauungsbüchern er mehre in seiner Bibliothek besaß. Von Rambachs Cantatentexten, die zu den besten ihrer Art gehören, hat er trotzdem keinen benutzt. Aber auf ein hübsches Madrigal desselben:


 

Erwünschter Tag,

Den man in Marmor graben

Und in Metallen ätzen mag


 

scheint er Picander doch aufmerksam gemacht zu haben, da der Text einer seiner Weihnachts-Cantaten mit der ähnlichen Wendung:


 

Christen ätzet diesen Tag

In Metall und Marmorsteine


 

anhebt. In einer Rambachschen Cantate auf Mariae Reinigung beginnt eine Arie:


 

Brechet, ihr verfallnen Augen,

Schließt euch sanft und selig zu,


 

und in einer von Bach componirten Musik auf dasselbe Fest lautet es gleichfalls:


 

[177] Schlummert ein, ihr matten Augen,

Fallet sanft und selig zu31.


 

Eine Ode Gottscheds hatte Bach für die Trauerfeierlichkeiten der Königin Christiane Eberhardine componirt, und wollte die Musik später anderweitig benutzen; Picander war hülfreich und dichtete einen neuen Text, so daß aus der Trauerode nun eine Marcus-Passion wurde32. Ebenso bereitwillig zeigte er sich, zu Compositionen über eigne Texte neue Wortunterlagen zu liefern, wenn dadurch die Musik für andre Zwecke verwendbar gemacht werden konnte.

Es lohnt sich wohl darauf hinzuweisen, wie in dieser Zeit die Schwesterkünste Musik und Poesie denselben Kunstidealen so ganz verschieden gegenüberstanden. Die Tonkunst hob sich an den kirchlichen Idealen zu einer Stufe empor, die in Bezug auf Tiefe und Reichthum des Inhalts, Mannigfaltigkeit und Weite der Formen eine vorher und nachher unerreichte genannt werden muß. Die kirchliche Dichtkunst aber, weit entfernt sich mit ihr zu heben, sank unter den Nachfolgern Neumeisters zu einem gänzlich hohlen und unwahren Scheinwesen herab. Man sagt nicht zu viel, wenn man den Einfluß der Cantaten-Dichtungen auf die poetische Bildung jener Zeit gradezu als einen verderblichen bezeichnet. Denn diese Textsammlungen, wenn sie zunächst auch im Hinblick auf musikalische Behandlung gefertigt waren, traten zugleich doch auch mit dem Anspruch auf, als selbständige Schöpfungen beachtet zu werden. Ursprünglich dem Druck übergeben, um der Gemeinde zum Nachlesen während der Musik zu dienen, wollten sie bald auch als eigne Erbauungsschriften gelten und wurden in der That als solche massenhaft gekauft. Sehr viele dieser Texte sind nie componirt worden; Picander schrieb auch für solche Sonntage des Kirchenjahres Cantaten, an denen, wie er wußte, gar keine Kirchenmusik gemacht wurde, für die Fastensonntage und die drei letzten Adventsonntage. Auf diesem Gebiete tummelten sich größtentheils solche Geister, die entweder [178] überhaupt keine poetische Begabung besaßen, oder deren etwa vorhandenes Talent nach einer andern Seite hin gravitirte; letzteres war bei Picander und, um neben ihm noch eine andre damals viel genannte Persönlichkeit anzuführen, bei dem Schlesier Daniel Stoppe der Fall. Wie gewaltig der Fortschritt war, den Brockes durch sein »Irdisches Vergnügen in Gott« und Gellert durch seine Geistlichen Oden und Lieder bewirkte – um von dem etwas späteren Klopstock ganz zu schweigen – das ermißt sich völlig erst durch den Vergleich mit der überwuchernden Cantatendichtung der Bachschen Zeit. Aber freilich, der in den Werken jener Männer sich regende neue Geist war bezüglich der Musik ein oppositioneller: sie wollten wieder durch eigne dichterische Begeisterung und durch selbständige Mittel wirken. Die künstlerische Stimmung und Empfindung im religiösen Bereiche war während der Bachschen Periode eine fast ausschließlich musikalische und von dem Momente ab, wo die religiöse Dichtung wieder freier ihr Haupt erhebt, beginnt die kirchliche Tonkunst zu verfallen. Dieses erdrückende Übergewicht des musikalischen Factors tritt in dem Verhältnisse Bachs zu seinem Leipziger Poeten recht greifbar hervor. Es hätte für ihn verhängnißvoll werden können, denn eine wirkliche Kirchenmusik ist bei völliger Verflüchtigung der besonderen poetisch-religiösen Stimmung nicht möglich, und die wahrlich nicht gering begabten Keiser, Telemann, Stölzel sind der Gefahr in der That erlegen. Bach bestand sie siegreich, denn wie voll und umfassend er auch den musikalischen Geist seiner Zeit aus sich reproducirte, er stützte sich dabei unentwegt auf den Urgrund der protestantischen Kirchenmusik, auf den Choral.

Bach hat im Ganzen fünf vollständige Jahrgänge von Kirchen-Cantaten auf alle Sonn- und Festtage componirt33. Dies bedeutet nach Abzug der sechs Fasten- und drei letzten Adventsonntage und unter Hinzurechnung der drei Marienfeste, sowie des Neujahrs-, Epiphanias-, Himmelfahrts-, Johannis-, Michaelis-und Reformations-Festes eine Anzahl von 59 Cantaten für das Leipziger Kirchenjahr. Hiernach hätte also Bach im ganzen 295 Kirchen-Cantaten geschrieben. Von ihnen gehören mindestens 29 der vorleipzigischen Periode an; als Maximalzahl der in Leipzig selbst entstandenen wären 266 anzusetzen. Da Bach 27 Jahre in Leipzig wirkte, so würde er [179] durchschnittlich in jedem Jahre daselbst 10 Cantaten componirt haben. Telemann, nur 4 Jahre älter als Bach, hatte schon im Jahre 1718 beinahe 7 Jahrgänge verfertigt34; Johann Friedrich Fasch schrieb 1722–1723 einen doppelten Jahrgang von Kirchenstücken, für die Vor- und Nachmittage, und wenn Festtage einfielen oft vier Cantaten in einer Woche35. Diese äußerliche Gegenüberstellung bloßer Zahlen geschieht nur, um der Meinung entgegen zu treten, als sei Bach ein Viel-und Geschwindschreiber gewesen. Die Anzahl seiner Werke ist freilich eine sehr große, aber dieselben vertheilen sich auch auf ein langes Leben. Telemann, Fasch und andre productive Zeitgenossen waren flachere Talente und insofern bietet ihr Schaffen für dasjenige Bachs keinen ausreichenden Maßstab. Aber auch mit ebenbürtigen Geistern wie Händel oder Mozart verglichen erscheint Bach als ein zwar klarer und sicherer aber doch bedächtiger Arbeiter. Seine Partituren machen nicht den Eindruck, als habe er zuvor viel skizzirt und mit den Grundgedanken experimentirt, wie z.B. Beethoven dieses that. Sie sehen aus als seien sie entstanden, nachdem das betreffende Werk zuvor in gründlicher und umfassender Art vom Componisten innerlich durchgebildet worden war, aber doch wieder nicht soweit, daß er nicht auch während des Niederschreibens noch producirt hätte. Die Fälle, in welchen er die ganze anfängliche Anlage eines Stückes verwarf, sind verhältnißmäßig selten36, häufig dagegen finden sich Änderungen in Einzelheiten. Wenn er nach Verlauf einer gewissen Zeit wieder eines seiner Werke vornahm, geschah es nicht, ohne von neuem zu prüfen und wenn es nöthig schien zu bessern; Compositionen, auf die er besonderes Gewicht legte, pflegte er sauber und zierlich ins Reine zu schreiben. Auch daß er sich am Ausziehen der Stimmen sehr häufig selbst betheiligte, zeigt diesen Zug sinnender Sorgfalt. Die Cantoren hatten unter den Alumnen immer einen oder einige ständige Notisten37 und Bach unterließ nicht, seine Schüler zu diesem Zwecke zeitweilig in eine sehr angestrengte Thätigkeit zu setzen: noch im Jahre 1778 [180] erinnerte sich Doles daran, wie viel Noten Bach die Thomaner habe schreiben lassen38. Auch die Söhne mußten helfen, doch sein bester Copist war seine Frau: die Züge ihrer Hand, welche die allerersten Leipziger Cantaten herstellen half, begegnen uns auch noch in den Kirchencompositionen aus Bachs letzten Lebensjahren, etwas größer und steifer hier, aber gleich fest und treu. Wo so viele Hände hülfreich waren, hätte sich wohl mancher andre die zeitraubende, mechanische Arbeit des Stimmenausschreibens erspart. Die drittehalbhundert Leipziger Cantaten sind das Werk echtesten, nur auf den Gegenstand selbst gerichteten Künstlerfleißes, ein mit sorgsamer Hand Stein auf Stein gefügtes großartiges Monument Ganz unversehrt hat es nicht bis auf unsre Zeit gedauert; einstweilen sind, wenn man die sechs Cantaten des Weihnachts-Oratoriums und die bedeutenderen Fragmente einschließt, alles in allem nur noch gegen 210 Kirchencantaten Bachs bekannt.

Sein Probestück hatte Bach am Sonntage Estomihi (7. Febr.) 1723 aufgeführt; es ist die Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe«39. Ursprünglich scheint er zu diesem Zwecke die Cantate »Du wahrer Gott und Davids Sohn«40 bestimmt zu haben, es läßt sich nämlich erkennen, daß sie um dieselbe Zeit und zwar in Cöthen geschrieben ist. Sie besteht aus einem Duett für Sopran und Alt, einem Recitativ für Tenor, einem freien und einem Choral-Chor, und zeigt den Meister auf einer Höhe, an die er mit keinem seiner früheren Werke hinanreicht. Der Text kommt der musikalischen Gestaltung nicht sonderlich entgegen; Bibelwort fehlt darin ganz, die gereimte Dichtung soll madrigalartig sein, schlägt aber mehre Male in den Alexandriner um. Bach hatte hier mehr als anderswo auch dem Ganzen seine Form zu geben und sie ist eine ganz besondere geworden. Der Sonntag Estomihi ist der letzte vor der Fastenzeit, welche die Gemeinde auf das Leiden Christi vorbereiten soll. Im Evangelium dieses Sonntages wird erzählt, wie Jesus in Begleitung seiner Jünger nach Jerusalem hinaufzieht, um den Erlösungstod zu erdulden. Ein Blinder sitzt am Wege; er fleht den vorübergehenden an, sich seiner[181] Noth zu erbarmen und erhält das Augenlicht wieder. Diese beiden Gedanken bilden des Werkes kirchlichen Kern: das brünstige Flehen um Hülfe und der Hinweis auf das düstre Ereigniß, das sie bringen soll. Das Duett (C moll, Adagio molto) wird von zwei Oboen begleitet, die mit dem Bass ihr eignes bewegteres Motiv durchführen und die breitathmigen Melodiezüge und langhallenden Klagetöne der in Nachahmungen gehenden Singstimmen umspielen. Milder wird die Stimmung im Recitativ und steigert sich erst gegen Ende desselben wieder zu leidenschaftlicher Innigkeit. Der Grundton dieses Stückes geht aber nicht vom Gesange aus, sondern von der ersten Violine und den Oboen, welche über den Recitativgängen ganz leise mit der Choralmelodie »Christe du Lamm Gottes« dahin ziehen. Diese kühne Combination von Choral und Recitativ ist auch in Bachs Werken eine ganz neue Erscheinung, auf die er aber bei seiner Art das Recitativ melodisch zu behandeln und nachdem er bereits ein Recitativ – Duett gewagt hatte41, endlich geführt werden mußte. Die Wirkung ist eine ergreifende: die volle traurig-trostreiche Passionsstimmung fluthet über den Hörer dahin. Im prachtvollen Bogen steigt (Es dur) der Chor auf, homophon gesetzt in seinen wiederkehrenden Hauptpartien, welche durch zweistimmige imitirende Zwischensätze des Tenor und Bass auseinander gehalten werden. Doch bildet das kraftvolle Pathos dieses Satzes nicht den Abschluß des Empfindungs-Processes. Der Ausblick auf Christi Leiden und Tod erweist sich als das stärker wirkende Moment: dem Es dur-Chore folgt unmittelbar in G moll der Choralchor »Christe du Lamm Gottes«. Daß alle drei Strophen durchgearbeitet wurden geschah wohl wegen der Kürze der Melodie; sonst pflegt Bach dieses nicht zu thun. Zu der ersten Strophe, welche der Chor ziemlich homophon singt, führen die Instrumente ein selbständiges Tonbild aus von leidvollem, schluchzendem Ausdruck; in der zweiten Strophe wird der Gang der Unterstimmen belebter, die melodieführende Oberstimme von den beiden Oboen einerseits und der ersten Violine andrerseits canonisch nachgeahmt, und zwar von ersteren auf dem dritten Melodietone in der Unterquart, von der letzteren auf dem sechsten Tone in der Oberterz; in der dritten, mit einem Amen schließenden, Strophe contrapunktiren [182] die Unterstimmen in andern Gängen aber mit gleicher Lebendigkeit weiter, über dem Cantus firmus lassen die Oboen eine neue, rhythmisch scharf contrastirende Melodie von höchster Innigkeit ertönen. Die Empfindung erhebt sich aus Betrübniß zu intensivem Schmerz und klärt sich endlich zur frommen, versöhnunghoffenden Bitte. Die Behandlungsart der ersten Strophe zeigt eine neue Choralform, welche Bach später sehr fleißig anwendete und weit entwickelte, während sie hier noch auf bescheidene Verhältnisse beschränkt ist. In der zweiten Strophe offenbart sich eine enorme Kunst polyphoner Combination; das directe Hervorgehen dieser Form aus der Orgelmusik liegt auf der Hand und Bach hat unter vielen andern grade auch diesen Choral in seinem »Orgelbüchlein« canonisch behandelt42. Die letzte Strophe dagegen schließt sich der Manier älterer Componisten an, und ragt nur dadurch über sie hinaus, daß die Instrumentalmelodie einen bestimmten Charakter festhält. Auch kann nicht übersehen werden, daß zwischen dem zweiten und vierten Satze der Cantate jene tiefere poetische Verbindung besteht, auf welche schon bei verschiedenen weimarischen Cantaten hingewiesen wurde43: die in einem früheren Satze einzig durch Instrumente eingeführte Choralmelodie erscheint am Schlusse gesungen, anfänglich bewirkt sie mehr nur Stimmung, schließlich die aus dieser hervorgehende klare kirchliche Empfindung. Nach allen Seiten hin ist diese Cantate ein Probestück, wie es eines Bach würdig war. Vergleicht man sie mit derjenigen, welche er in Wirklichkeit als solches benutzte, so ersieht man leicht, weshalb er sie dennoch einstweilen zurücklegen zu müssen glaubte. Sie war zu ernst, tiefsinnig und kunstvoll. Bach kannte den Geschmack des Leipziger Publicums, das an muntre Opernmusik und Kuhnaus milde Weisen gewöhnt war. In der Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« hat er sich diesem Geschmacke mehr anbequemt. Der fugirte Chor des ersten Satzes zeigt eine Einfachheit der Contrapunktik, wie sie wohl in Telemannschen Stücken gewöhnlich ist, die aber bei Bach auffallen muß. Auf eine sehr anmuthige Tenorarie folgt als Schluß ein leicht verständlicher Choralsatz, in welchem zu dem einfach vierstimmigen Chore die oberste Instrumentalstimme in Sechzehnteln contrapunktirt und in derselben Bewegung kurze Zwischenspiele herstellt. [183] Diese Form war damals beliebt; Bach selbst hatte sich ihrer in früheren Jahren bedient44, hier ist sie nur insofern etwas bereichert, als auch der zweiten Violine und Bratsche wenngleich nicht sehr charakteristische so doch meistens selbständige Gänge zuertheilt sind. Die übrigen Sätze greifen tiefer, namentlich der Eingang des ersten, ein Einzelgesang des Tenors und Basses; der Schwerpunkt liegt hier ganz in dem sehr fein gewobenen instrumentalen Theil, der, nichts weniger als Begleitung, vielmehr fast als ein selbständiges Stück erscheint. Aus diesem Stücke konnte man in der That schon ersehen, daß der Componist seine Sache verstand. Das ganze Werk entsprach seinem Zwecke, aber dem ersteren, das nun wahrscheinlich am Estomihi-Sonntage 1724 zur ersten Aufführung kam, kann es in keiner Beziehung als ebenbürtig gelten45.

Welches die Pfingstmusik war, mit der Bach seine Wirksamkeit an der Universitätskirche eröffnete46, läßt sich nicht mehr feststellen. Es könnte nur an die Cantate »Erschallet ihr Lieder, erklinget ihr Saiten« gedacht werden, aber triftige Gründe sind vorhanden, deren Entstehung um ein oder zwei Jahre später anzusetzen. Seine kirchliche Thätigkeit als Thomas-Cantor begann er am ersten Trinitatis-Sonntage. Zwar wird nicht ausdrücklich überliefert, daß die erste von ihm dirigirte und von den Zuhörern beifällig aufgenommene Kirchenmusik von seiner eignen Composition gewesen ist; nach den Bräuchen der Zeit darf dies jedoch als selbstverständlich gelten47. Es liegen zwei Cantaten auf den 1. und 2. Trinitatis-Sonntag vor, deren letzterer von Bach selbst die Jahreszahl 1723 beigeschrieben ist. Die erstere gleicht ihr in Bezug auf Text, musikalische Form im gesammten und einzelnen, sowie hinsichtlich der Empfindungsart so ganz und gar, daß es bei der oft berührten Eigenthümlichkeit Bachs, eine von ihm angewendete neue Form gleich in mehren Exemplaren hinzustellen, ihre enge Zusammengehörigkeit auch der Zeit [184] nach unzweifelhaft sein dürfte48. Neu ist die Form zunächst insofern, als hier zum ersten Male in Bachs Schaffen die zweitheilige Kirchencantate entgegentritt. Wir wissen schon, daß an den hohen Festen sowohl vor als nach der Predigt Figuralmusik gemacht wurde, und daß letzteres auch wohl an gewöhnlichen Sonn- und Festtagen gestattet war. Eine und dieselbe Composition aber so groß anzulegen, daß sie in zwei selbständige Theile zerfallen konnte, war bisher wenigstens in Leipzig nicht üblich gewesen. Es scheint mir, daß Bach mit dieser Neuerung dem Verfahren der Oratoriencomponisten folgte, deren zweitheilige Werke in der Weise dem katholischen Cultus eingefügt wurden, daß zwischen die beiden Theile die Predigt fiel49. Die Evangelien zu den zwei Sonntagen sind ungewöhnlich gedankentief, und reich an ergreifenden Gegensätzen. Leider hat der Textdichter es wenig verstanden, sie im Interesse der Musik auszunutzen. Beide Male ergeht er sich in lehrhaften Trivialitäten, die mit den biblischen Erzählungen nur mittelbar zusammenhängen, und mit demselben Rechte an sehr vielen andern Sonntagen vorgebracht werden könnten. In der ersten Cantate »Die Elenden sollen essen, daß sie satt werden«50 (E moll) wird mit Anlehnung an die Erzählung vom reichen Mann und armen Lazarus über die Werthlosigkeit und Vergänglichkeit irdischen Reichthums, über Jesus den Inbegriff aller Güter, über ein gutes Gewissen und Genügsamkeit weitläufig gehandelt. In vier gut contrastirenden Arien, deren erste kunst- und phantasievoll aus dem Motiv


 

5.


 

entwickelt wird, und sechs Recitativen hat Bach diese Wortmenge bewältigt. Eine bedeutende Rolle spielt in dem Werke der Choral »Was Gott thut, das ist wohlgethan«. Zuerst tritt er am Schlusse des ersten Theiles in einer neuen Combination der Pachelbelschen und einer Georg Böhm insbesondere eigenthümlichen Form51 auf. [185] Dieser Satz wiederholt sich auch am Schlusse des zweiten Theils; als Einleitung zu demselben aber findet sich eine Choralfantasie52 über dieselbe Melodie, nicht für Orgel, sondern für Streichquartett und Trompete: das Quartett führt das selbständige polyphone Tonbild aus, die Trompete bläst die Choralmelodie. Der durch die Predigt zerschnittene Faden der Cantate konnte nicht geistreicher wieder angeknüpft werden. Das lebhafteste Interesse aber zieht der über eine Psalmstelle gesetzte Eingangschor auf sich: in ergreifenden Klängen redet er von Trost im Leiden. Die Empfindung des Leidens ist, wie sich das von Bach erwarten läßt, noch ziemlich stark hervorgehoben, sowohl durch das Orchester, welches im ersten Satze des Chors in stockenden Pulsen selbständig einhergeht, als auch durch die schmerzlich gezogenen Melodien der Singstimmen. Aber eine Ahnung von Glück blitzt wunderbar hindurch (vrgl. namentlich Takt 53 ff.), und bei dem breitathmigen Thema des folgenden Fugensatzes:


 

5.


 

trinkt die kranke Brust mit vollen Zügen die Luft, welche ihr Genesung bringen soll. Doch herrscht immer noch ein gewisses umschleiertes Wesen und aus der verrenkten Cadenz Takt 13 (der Fuge) klingt es sogar wie schneidendes Weh. Von hier ab aber sammeln sich alle Kräfte und schwellen endlich in einer wunderschönen Wendung nach D dur hinüber: die im Sopran auftretende große Sexte, ein in der Melodiebildung der alten Praxis durchaus verbotenes, aber zu Bachs Zeit schon ziemlich häufig angewendetes Intervall, ist grade hier von wahrhaft leuchtender und befreiender Kraft.

Nicht nur in ihrer Zweitheiligkeit und der Einfügung eines Instrumentalstückes, auch in der Zahl der Chöre und Choräle, der Recitative und der Arien sowie in der Aufeinanderfolge der Formen stimmt die Cantate auf den zweiten Trinitatis-Sonntag, »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«53 (C dur) mit der eben besprochenen überein. Ja, ob absichtlich oder nicht, die Arien stehen auch in denselben [186] Tonarten, nur ist die Reihenfolge eine andre. Auch hier liegt das Hauptgewicht auf dem ersten Chore, zwischen dessen Texte und dem Sonntags-Evangelium freilich eine Beziehung kaum vorliegt. Wie dort besteht der Chor aus einem auch in der Taktart übereinstimmenden Anfangstheile mit freien Imitationen und selbständiger Instrumentalbegleitung und aus einer Fuge; dort geht dem Eintritt des vollen Chors ein Satz der Soprane und Alte vorher, hier heben einige Bässe allein an54. Die Gleichheit tritt selbst in ähnlichen Wendungen hervor (s. T. 24 ff. der C dur-, T. 26 ff. der E moll-Cantate). Das ganze Stück ist sehr tonreich und glänzend, das Fugenthema voll kräftigen Schwunges. Ein in der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« bemerkter Effect55 kehrt hier und in einem gleich zu charakterisirenden neuen Werke (»Ein ungefärbt Gemüthe«) abermals wieder: Solostimmen beginnen die Fuge, mit neuen Einsätzen des Themas fügen sich nach und nach die Tuttistimmen hinein – ein langsames Crescendo, wie es in der Orgelmusik durch das allmählige Hinzuziehen neuer Register hervorgebracht wird. Endlich lehnt sich noch dadurch diese Fuge an frühere Fugen an, daß die Trompete als fünfte Stimme die Durcharbeitung fortsetzt. Auch der Choral am Schlusse des ersten und zweiten Theils bewegt sich in einer einfachen und bekannten Form. Das Instrumentalstück am Anfang des zweiten Theils ist ein Trio für Oboe d'amore, Viola da gamba und Bass, also eine in die Kirche übertragene Kammermusikform, deren wir bei Bach schon mehren begegnet sind. Bald hernach verwandte Bach dieses Stück für eine seiner Orgelsonaten56, nicht ohne es mehrfach geändert zu haben. Zum Theil sind die Änderungen absolute Verbesserungen, in manchen Verschiedenheiten der älteren Fassung: in den ruhigeren Bässen, der theilweise tieferen Lage der Oberstimmen offenbart sich aber wohl auch die Rücksichtnahme [187] auf den kirchlichen Zweck, denn der zweite Cantatentheil wurde unter der Communion vorgetragen57.

Wahrscheinlich trat Bach schon 14 Tage später, am 4. Trinitatissonntage (20. Juni), mit einem neuen Werke hervor58. Der Verfertiger der Texte der beiden vorigen Cantaten konnte ihm nicht genügen, er griff deshalb zu den bewährten Neumeisterschen Dichtungen zurück. Der dem vierten Jahrgange der Fünffachen Kirchencantaten entnommene Text »Ein ungefärbt Gemüthe« ist in der Versfügung bequem, aber freilich an poetischem Gehalt auch kein Muster. Bach sah sich dieser lehrhaften, prosaischen Abhandlung gegenüber allein auf seine musikalische Phantasie angewiesen. Er hat mit den beiden Arien, welche die Cantate enthält, geistvolle und anregende Musikstücke geliefert; die erste derselben (F dur), welche zugleich das Werk eröffnet, gewinnt überdies den Hörer durch ihren freundlichen, zufriedenen Ausdruck. Man kann sie ein Trio für Geigen, Alt und Bass nennen, und die zweite ein Quatuor für zwei Oboi d'amore, Tenor und Bass, so wenig tritt die Singstimme herrschend auf. Hier war dies Verfahren durch die Qualität des Textes selbst geboten. Auch aus der Verwandtschaft des Hauptgedankens der ersten Arie mit demjenigen des letzten Satzes der H moll-Sonate für Violine und Clavier59 läßt sich schließen, daß Bach hier vorzugsweise im instrumentalen Gebiete lebte. Der an dritter Stelle befindliche Chor über den Bibelspruch Matth. 7, 12 »Alles nun, das ihr wollet, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihr ihnen« ist in der seinen zweiten Theil bildenden Doppelfuge ein sehr belebtes, energisch und eindringlich declamirtes Stück; die kurzen Perioden, mit welchen Chor und Instrumente anfangs respondiren, erinnern dagegen an den Stil der älteren Kirchencantate und die Takte 11–18 an Takt 11–25 des zweiten Chors aus Bachs früherer Cantate »Ich [188] hatte viel Bekümmerniß«. Der Schlußchoral ist einfach, wie in der Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe«, gestaltet60.

Für den 7. Trinitatissonntag (11. Juli) desselben Jahres wählte Bach einen Text aus Francks »Evangelischen Sonn- und Festtags-Andachten«, welche ihm schon in Weimar die Unterlage zu zwei Compositionen geboten hatten61. Franck hatte ihn zum dritten Adventsonntage bestimmt, die Verwendung für einen andern Zweck machte die Umdichtung der ersten beiden Arien nöthig. Recitative, welche in jenen Texten Francks überhaupt nicht vorhanden sind, wurden ein gelegt – man meint in ihnen den wortreichen Redner der Texte zum ersten und zweiten Trinitatis-Sonntage zu erkennen – so reichte der Stoff, um wieder eine zweitheilige Cantate herzustellen. Der erste Chor: »Ärgre dich o Seele nicht« (G moll) ist auffällig kurz und entbehrt einer reicheren Entwicklung, wie man sie sonst bei Bach gewohnt ist. Nach einem Vorspiel bringt der Chor zuerst ein dreitaktiges Sätzchen, das durch einschneidende Vorhalte die Empfindung des »Ärgers« oder Unwillens versinnlichen soll. Man macht bei Bachschen Gesangstücken häufig die Bemerkung, daß einerseits der Charakter derselben nicht sowohl aus dem Text unmittelbar, als vielmehr nur aus der kirchlichen Bedeutung des Sonntags oder einer andern allgemeineren poetischen Vorstellung, oft sogar allein aus dem rein musikalischen Bedürfniß des Contrastes hervorwächst; daß aber andrerseits wieder gewisse ganz specielle Vorstellungen das Motiv zu eigenartigen Tonbildungen hergeben, welche der musikalischen Entwicklung die Richtung weisen, die Empfindung selbst mehr nur äußerlich colorirend, als von innen heraus bestimmend – allgemeinstes und ganz besonderes in unmittelbarer Vereinigung. So ist es auch hier: da der Begriff des »Ärgerns« nur in der Negation auftritt, kann er nicht für die Haltung des Ganzen bestimmend sein; aber er gab Veranlassung zu einem musikalisch interessanten Anfang. In Gegensatz hierzu tritt nun ein mit Bachscher Eindringlichkeit declamirtes Fugato über dieselben Textworte; in kunstvoller Anlage stellen ihm die Instrumente ebenfalls einen Fugensatz über ein andres Thema entgegen, der Instrumentalbass nur geht seine eignen Wege. Nach einmaliger Durchführung [189] erfolgt ein Schluß in D moll und in einer kurzen homophonen Periode der logisch begründende Nebensatz. Dann wiederholt sich der ganze Process in C moll mit Zurückleiten in die Haupttonart; noch sechs Takte Epilog und das Stück ist zu Ende. Trotz der ungewöhnlichen und knappen Form ist dennoch die Stimmung erschöpft; nicht nur in dem kunstvollen Detail, auch in der Gestaltung des Ganzen empfindet man die sichre Meisterhand. Überhaupt ragt die Cantate an innerm Gehalt über die meisten vorhergehenden empor und stellt sich der Cantate »Du wahrer Gott« gleichbedeutsam zur Seite. Durchweg sehr ausdrucksvoll und zum Theil tief ergreifend sind die Recitative, man sehe namentlich die ariosen Ausgänge und unter ihnen wieder denjenigen des zweiten Recitativs mit den geistreich malenden harmonischen Anticipationen des Basses. Die drei Arien überbieten einander an Tiefsinn und Innigkeit, die Perle unter den Solostücken aber ist ein Zwiegesang (C moll) für Sopran und Alt »Laß Seele kein Leiden von Jesu dich scheiden«. Er trägt den Rhythmus einer Gigue und auch jene melancholische Grazie, die so manchen Bachschen Tanzstücken eigen ist. Hohes Interesse erregt endlich der Choral, welcher den ersten Theil der Cantate beschließt. Zum ersten Male tritt hier die Form der Choralfantasie in ihrer Übertragung auf das vocale Gebiet voll entgegen. In der Cantate »Du wahrer Gott« hatte zwar Bach schon die Hand zu dieser Neuschöpfung geregt, war aber in den folgenden Werken zu einfacheren Gebilden zurückgekehrt. Flöten und Violinen mit Bass führen, einander respondirend, ein fromm und kindlich klingendes Instrumentalstück aus; hinein senkt sich die Melodie »Es ist das Heil uns kommen her« mit der Strophe:


 

Ob sichs anließ, als wollt er nicht,

Laß dich es nicht erschrecken.


 

Der Cantus firmus liegt im Sopran, die andern Stimmen contrapunktiren, indem sie meistens die Melodie in verkleinerten Notenwerthen imitiren. Ein Choral am Schlusse der ganzen Cantate findet sich in der Partitur nicht; nach den Analogien der Cantaten zum ersten und zweiten Trinitatis-Sonntage ist aber mit Bestimmtheit anzunehmen, daß der Choral des ersten Theils wiederholt werden sollte.

Die Composition eines andern Franckschen Textes liegt für den 13. Trinitatis-Sonntag (22. Aug.) vor. Ganz sicher ist es zwar nicht, [190] ob dieses Werk nicht etwa erst im folgenden Jahre entstand, wo es dann am 3. September seine erste Aufführung erfahren haben würde. Doch halte ich das erstere für wahrscheinlicher62. Bach griff dieses Mal auf das »Evangelische Andachts-Opfer«63 zurück, dessen Poesien sich bequemer musikalisch behandeln ließen. Hier fehlt der Chor ganz, abgesehen von dem einfachen Choral, welcher mit der fünften Strophe des Liedes »Herr Christ der einig Gott's Sohn« am Schlusse ertönt. Das Evangelium giebt die Erzählung vom barmherzigen Samariter, und christliche Milde und Barmherzigkeit ist es, was das ganze Kunstwerk kündet. In der ersten Arie: »Ihr, die ihr euch von Christo nennet, wo bleibet die Barmherzigkeit« (G moll) glaubt man den Heiland selber reden zu hören voll göttlicher Milde aber doch menschlich warm empfindend und antheilvoll, dazu mit einem Beisatz von Schwermuth:


 

5.


 

In der zweiten Arie: »Nur durch Lieb und durch Erbarmen werden wir Gott selber gleich« (D moll) eignet sich der Mensch die hohe Lehre des Erlösers an und in der dritten verkündigt er sie mit freudiger Überzeugung zu zweien und in Tönen, die aus der Melodie der ersten Arie hervorgewachsen zu sein scheinen:


 

5.


 

Diese beiden Themen werden mit einer selbst bei Bach ungewöhnlichen Beharrlichkeit durchgeführt, meist canonisch im Einklange oder der Octave, im Duett auch in der Gegenbewegung; unablässig erklingt es bald im Gesange, bald in den Instrumenten, wie jenes johanneische Wort: Kindlein, liebet euch unter einander!

Mit einiger Sicherheit läßt sich auch noch die Umarbeitung der herrlichen weimarischen Cantate »Wachet, betet«64 in dieses Jahr setzen. Da an den drei letzten Adventsonntagen in Leipzig keine Kirchenmusik gemacht wurde, so benutzte sie Bach für den 26. Trinitatis-Sonntag, [191] zu dessen Evangelium sie auch sehr wohl paßt. Die Umarbeitung bestand wesentlich darin, daß das Werk durch Einfügung von Recitativen und dem Choral »Freu dich sehr, o meine Seele« zu einer zweitheiligen Cantate erweitert wurde. Einem der Recitative, das zu den großartigsten gehört, welche Bach geschrieben, ist wieder ein instrumentaler Choral zugesellt, der die leidenschaftliche persönliche Empfindung in das Gebiet der kirchlichen Stimmung bannt, während umgekehrt diese durch jene bereichert und individualisirt wird. Bach selbst hielt sehr viel von dieser Composition, und hat sie in späteren Jahren nochmals aufgeführt65.

Außer diesen acht Cantaten fallen in die Zeit des ersten Leipziger Kirchenjahres noch zwei Werke, welche außerordentlichen kirchlichen Veranlassungen ihre Entstehung verdanken. Am 24. August eines jeden Jahres, als am Bartholomäustage, pflegte die Wahl des neuen städtischen Rathes statt zu finden, und am ersten nachfolgenden Montag oder Freitag, bevor derselbe zu seiner ersten Sitzung zusammentrat, wurde ein feierlicher Gottesdienst gehalten. Im Jahre 1723 geschah dies Montag den 30. August66 und Bach componirte hierzu die durch schwung- und glanzvolle Chöre ebenso wie durch warme, melodische Sologesänge ausgezeichnete Festcantate »Preise, Jerusalem, den Herrn«67. Wie die Form des Werkes aus der Vorstellung eines festlichen Actes hervorgegangen ist, zeigt die Anordnung und der Charakter der einzelnen Musikstücke ganz deutlich. An der Spitze steht eine Ouverture im französischen Stil, zu deren Darstellung eine Instrumentenmasse von vier Trompeten, Pauken, zwei Flöten, drei Oboen, Streichquartett und Orgel herbeigezogen ist. Das überaus pompöse Grave wird von den Instrumenten gespielt, beim Allegro 12/8 fällt der Chor ein und führt seinen Bibelspruch (Psalm 147, 12–14) nicht sowohl in fugirter Weise, als mit frei imitatorischer und motivischer Benutzung des zuerst vom Bass [192] intonirten Hauptgedankens durch bis zur Wiederkehr des Grave, das abermals von den Instrumenten allein vorgetragen wird, und hier die Rolle des Nachspiels vertritt. Diese kühne Übertragung einer durchaus weltlichen Instrumentalform in die Kirchenmusik begegnet uns bei Bach nicht zum ersten Male; schon in der 1714 für Leipzig componirten Cantate »Nun komm der Heiden Heiland« tritt sie auf68. Ein wesentlicher Unterschied aber zeigt sich darin, daß in dem älteren Werke die Ouverturenform mit dem Choral combinirt ist, und daß der Gesang sich auch an dem Grave betheiligt. Das betreffende Stück der Rathswahl-Cantate neigt sich, indem es nur einen frei erfundenen Chor enthält, stärker nach der weltlichen, und insofern derselbe sich an zwei Hauptabschnitten der Form garnicht betheiligt, auch entschiedener nach der instrumentalen Seite hin. Es durfte dies hier geschehen, da der Zweck des Werkes kein kirchlicher im engeren Sinne war; übrigens ist durch die im Allegro sich entfaltende speciell Bachsche Polyphonie doch ein kirchlicher Grundton wenigstens gewahrt. Nicht mehr als dieses läßt sich auch in den nun folgenden Recitativen und Arien erkennen, deren Texte die glücklichen Verhältnisse der Stadt Leipzig auseinander setzen. Hätte Bach nicht über eine so große rein musikalische Erfindungsgabe verfügt, so würde es ihm wohl unmöglich gewesen sein, in der zweiten Arie: »Die Obrigkeit ist Gottes Gabe, ja selber Gottes Ebenbild« ein so reizendes Musikstück hinzustellen, denn aus dem Texte konnte er wahrlich keine Begeisterung schöpfen. Daß er aber, wo nur irgend eine poetische Anregung denkbar war, sich dieser sofort hingab, zeigt die erste Arie: »Wohl dir, du Volk der Linden, wohl dir, du hast es gut«. Es ist dies ein so sonniges, tief behagliches Stück, wie es wenige giebt; die hier von Bach angewendeten tiefen Schalmeien (Oboi da caccia) verleihen ihm einen idyllischen und doch – der Umgebung angemessen – ernsten Charakter, so daß es sich von der sonst in der Stimmung wohl verwandten B dur-Arie der Pales aus der Cantate »Was mir behagt«69 immer noch merklich unterscheidet. Ein ganz aparter Satz verbindet diese Arie (G dur) mit der schon genannten zweiten (G moll): eine schmetternde Trompetenfanfare leitet ein Bass-Recitativ ein: »So herrlich stehst [193] du, liebe Stadt«, das hernach außer von dem Generalbass von ausgehaltenen Harmonien zweier Flöten und zweier englischen Hörner begleitet wird, bis zum Schluß wieder die jubelnde Fanfare ertönt; Streichinstrumente sind bei diesem Satze garnicht betheiligt. Nach der G moll-Arie vereinigt sich der gesammte Instrumentalkörper mit den Singstimmen alsbald nochmals zu einem glänzenden Tonbild, das in der Form der Da capo-Arie erscheint. Den ersten Theil bildet eine Fuge, deren Thema:


 

5.


 

offenbar aus der ersten Zeile des Chorals »Nun danket alle Gott« gestaltet ist. Dergleichen freie Benutzungen von Choralmelodietheilen sind bei Bach äußerst selten (in der Motette »Nun danket alle Gott« hat er sich noch einmal etwas ähnliches gestattet); der Choral war ihm ein durch die Kirche gleichsam geheiligtes Wesen und wo er ihn einführt, pflegt er ihn unangetastet in den Mittelpunkt der eignen Composition zu stellen. Wenn er hier von diesem Verfahren abwich, glaubte er sich jedenfalls durch den kirchlich-weltlichen Charakter des ganzen Werks dazu berechtigt. Der zweite Theil der gewählten Form bildet zu dem ersten den homophonen Gegensatz; ein im Instrumental-Ritornell von den Trompeten intonirtes singendes Motiv:


 

5.


 

wird darin geistreich verarbeitet. Erst am Schlusse der Cantate kommt in ein paar Zeilen aus dem »Herr Gott dich loben wir« die streng kirchliche Empfindung zum Ausdruck.

In Störmthal bei Leipzig wurde während der Jahre 1722 und 1723 die Kirche erneuert und in Verbindung damit eine ganz neue Orgel angeschafft, welche Zacharias Hildebrand, ein Schüler Gottfried Silbermanns, für 400 Thaler zu erbauen hatte. Ein Kammerherr von Fullen, welcher auf Störmthal ansäßig war, hatte die Mittel dazu gewährt und nach Vollendung des Werkes Bach veranlaßt, dasselbe zu prüfen. Am 2. November, als dem Dienstag nach dem 23. Trinitatis-Sonntage fand zur Einweihung der Orgel ein öffentlicher Gottesdienst statt, für welchen Bach eine Cantate »Höchst [194] erwünschtes Freudenfest« componirt hatte, deren Aufführung er persönlich leitete. Die Orgel, welche von ihm »für tüchtig und beständig erkannt und gerühmet worden war«, besteht im wesentlichen noch heute; nur hat sie im Jahre 1840 eine durchgreifende Reparatur durch den Orgelbauer Kreuzbach erfahren, der bei dieser Gelegenheit sich ebenfalls sehr günstig über das Werk geäußert haben soll. Es ist ein laut redender Beweis für das enorme Ansehen, in welchem Bachs Person und Name in Sachsen stand und steht, daß die Tradition von seiner Anwesenheit in Störmthal sich bis heutigen Tages, also mehr als anderthalb Jahrhunderte hindurch, dort erhalten hat70. Die Cantate, welche Bach jedenfalls mit Leipziger Kräften aufführte, ist wohl wegen des hohen Bestellers mit ganz besonderer Sorgfalt geschrieben71. Sie ist aber auch inhaltlich bedeutend und wurde später von Bach, der es liebte seine Gelegenheitscompositionen im Interesse der regelmäßigen Amtspflichten auszunutzen, für das Trinitatisfest bestimmt und an diesem Tage mehrfach in verschiedener Gestalt aufgeführt. Ein Vergleich zwischen ihr und der Rathswahl-Cantate ist lehrreich. Auch hier liegt kein eigentlich kirchlicher Zweck vor und noch stärker als dort machen sich weltliche, wenn auch geläuterte und ins Kirchliche hinübergezogene Grundformen geltend. Den Anfang bildet wieder eine Ouverture im französischen Stil, auch die Art wie die Singstimmen sich betheiligen ist die gleiche, nur in die letzten Takte des am Schlusse wiederkehrenden Grave fallen sie nochmals bekräftigend ein. Übrigens ist das Allegro hier ein wirkliches Fugato, auch die unterbrechenden Triostellen fehlen nicht, sodaß der Ouverturenstil noch genauer bis ins Einzelne hinein beibehalten erscheint. Die erste Arie erhält durch die Wiederkehr des Hauptgedankens:


 

5.


 

5.


 

[195] etwas rondoartiges, obgleich die Arienform festgehalten ist. Die zweite Arie ist ganz im Gavotten-Rhythmus durchgeführt:


 

5.


 

Die dritte hält den Charakter der Gigue fest durch folgendes als Bass-Ritornell verwendetes Thema:


 

5.


 

72


 

Die vierte endlich zeigt Menuett-Bewegung:


 

5.


 

Man hat hier also die merkwürdige Erscheinung einer Cantate in Form einer Orchester-Partie, nur daß Recitative dazwischen stehen und am Schluß beider Abtheilungen je ein Choral sich befindet. Vermuthlich wollte Bach auf diese Weise dem Geschmack des adligen Patrons der Kirche zu Störmthal ebenso entgegenkommen, wie er sich mit seiner Probecantate dem Geschmack der Leipziger Bürger anbequemt hatte; denn französische Instrumentalmusik war unter [196] August dem Starken am Hofe zu Dresden sehr beliebt. Indessen that Bach damit nichts gegen seine Natur: er hatte einmal die Tendenz, alle Kunstformen jener Zeit in seinen Stil einzuschmelzen. Daher war es auch nicht gradezu ungereimt, wenn er die Orgelweih-Cantate später zum Trinitatisfest wieder aufführte. Unkirchlich ist sie nicht, aber allerdings fehlt ihr jener höchste Grad von Kirchlichkeit, der nur da vorhanden sein kann, wo die Phantasie des Künstlers durch einen für die christliche Gemeinde allgemeingültigen Vorgang zum Produciren gestimmt wird. –

Bach hatte sein Amt in der festlosen Zeit des Kirchenjahres angetreten. Wie bemerkenswerth auch die Thätigkeit war, die er während derselben als Kirchencomponist entfaltete, in seiner ganzen Größe sich zu zeigen hatte er doch erst mit Beginn des neuen Kirchenjahres 1723–1724 Gelegenheit. Selbstverständlich wollte er das erste Mal die Festtage möglichst mit eignen Musiken begehen. Auf diese Annahme gestützt können wir mit ziemlicher Bestimmtheit die meisten Festcantaten dieses Kirchenjahres bezeichnen. Zum ersten Weihnachtstage brachte Bach als Hauptmusik die Cantate »Christen ätzet diesen Tag in Metall und Marmorsteine«73. Die eigenartige Stimmung der Composition wird durch das in ihr befindliche Duett für Alt und Tenor enthüllt. Hier heißt es:


 

Ruft und fleht den Himmel an,

Kommt ihr Christen, kommt zum Reihen,

Ihr sollt euch an dem erfreuen,

Was Gott hat anheut gethan.


 

Das allgemeine Gefühl der Weihnachtsfreude erscheint also specialisirt durch die Vorstellung einer festlichen Schaar, die ihren feierlichen Reigen schlingt, gleichsam der Aufforderung des Psalmisten folgend: »Lobet den Herrn mit Pauken und Reigen, lobet ihn mit Saiten und Pfeifen«. Der Festestanz, welcher im Duett anmuthig und wiegend ausgeführt wird, tritt in den Ritornellen des ersten Chors, deren musikalischer Zusammenhang mit dem Duett augenscheinlich ist, rauschend und prächtig auf. Ohne diesem Charakter untreu zu werden entwickelt sich doch der Chor aus ganz andern zum Theil sehr wirksam canonisch geführten Melodien; er enthält Aufforderungen zur Weihnachtsfeier, und sobald er einen seiner Abschnitte [197] beendigt hat, bricht in unmittelbarer Folge der Jubel des Festreigens wieder herein. Auch der letzte Chor steht unter der Einwirkung dieser Vorstellung, die sich alsbald aber dahin ändert, daß die Schaar dicht gedrängt sich betend vor dem Herrn niederwirft: eine sehr eigenthümliche Doppelfuge von inbrünstigem, intensivem Ausdruck versinnlicht dies. Im zweiten Theile des Chors entspricht ihr eine andre Doppelfuge über die Worte »Laß es niemals nicht geschehn, daß uns Satan möge quälen«, in welcher der in das Wort »quälen« gelegte dramatische Ausdruck überrascht. Die übrigen Stücke der Cantate: zwei Recitative und ein kunstvoll gearbeitetes Duett für Sopran und Bass, in dem Oboe und Instrumentalbass ihr ganz eignes Gedankenmaterial ausspinnen, bewegen sich in einer allgemeineren kirchlichen Stimmung. Sonst aber greift der Stil des Werkes unverkennbar ins Oratorienhafte hinüber und dieses ist es, was dasselbe, dem auch ein sehr bedeutender rein musikalischer Werth innewohnt, unter Bachs Cantaten insbesondere merkenswerth macht. Es verdient Beachtung, daß in ihm der Choral gänzlich fehlt74.

Nach der Predigt wurde an den hohen Festtagen zur Einleitung der Communion das Sanctus im Figuralstile musicirt (vrgl. S. 100). Es liegt eine Anzahl solcher von Bach componirter Sanctus vor, unter welchen ich das für den ersten Weihnachtstag 1723 bestimmte erkennen zu können glaube. Es steht in C dur, wie die Cantate, und ist auch fast ebenso instrumentirt, zeichnet sich durch einen festlichen, glänzenden Charakter aus und wölbt sich im Pleni sunt coeli et terra zu prachtvollen, kreuzweis laufenden Bogen75.

Die Aufführung der Cantate »Christen ätzet diesen Tag« und des zugehörigen Sanctus während des Vormittagsgottesdienstes fand durch den ersten Chor in der Nikolaikirche statt. In der Vesper wurde die Cantate durch denselben Chor in der Thomaskirche wiederholt, nach der Predigt aber der Lobgesang Mariae in lateinischer Fassung figuraliter musicirt. Zu diesem Zwecke schrieb Bach sein großes Magnificat, welches seit es wieder allgemeiner bekannt geworden ist, unter die höchsten Offenbarungen seines Genius mit [198] Recht gezählt wird76. In Veranlassung der Weihnachtsfeier, welcher es dienen sollte, erweiterte Bach seine durch den biblischen Text gegebenen Verhältnisse, indem er vier Gesangstücke an passenden Stellen einlegte, deren Texte in einer ganz besondern Beziehung zu dem Leipziger Cultus standen. Es sind 1) die Anfangsstrophe des Liedes »Vom Himmel hoch«, 2) der Vers: »Freut euch und jubilirt, Zu Bethlehem gefunden wird Das herzeliebe Jesulein, Das soll euer Freud und Wonne sein«, 3) das Gloria in excelsis deo, 4) die Zeilen: Virga Jesse floruit, Emanuel noster apparuit, Induit carnem hominis, Fit puer delectabilis. Alleluja. Obgleich diese Texte zur Hälfte deutsch, zur Hälfte lateinisch und ohne formellen Zusammenhang sind, so hat sie doch Kuhnau zur Grundlage einer Weihnachts-Cantate gemacht und hierbei genau die obige Reihenfolge gewahrt77. Dieselbe ist innerlich wohl begründet, indem sie die Begebenheiten der Christnacht gleichsam dramatisch macht. Daß Bach die Texte unvermittelt aus dem Kuhnauschen Werke entnahm, zeigen mehre Merkmale ganz deutlich. Eines derselben liegt in der Fassung des Engelgesanges Gloria in excelsis. Die griechischen Worte: καὶ ἐπὶ γῆς εἰρήνη, ἐν ἀνϑρώποις εὐδοκία sind durch die Worte: et in terra pax hominibus bonae voluntatis in der Vulgata falsch übertragen. Es wird hierdurch der Sinn hineingelegt entweder: Friede auf Erden den Menschen die eines guten Willens sind, oder: Friede auf Erden den Menschen, welchen Gott geneigt ist, während es in Wirklichkeit bedeuten soll: Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen, wie Luther ganz richtig übersetzt. Trotzdem wurde die Version der Vulgata auch in den protestantischen Kirchen und namentlich für die musikalische Verwendung der Worte fast überall beibehalten. Wenn die Theologen gegen die Cantoren eiferten, welche ihre Texte meistentheils den päpstlichen Componisten entlehnten und sich oft damit breit machten, wie die Krähe mit bunten Federn, auf diese Weise Irrthümer einführten, oder doch aus Unwissenheit oder Trägheit durch den Gebrauch guthießen, so wurde ihnen nicht mit Unrecht [199] vom Standpunkte der Musiker aus erwiedert, daß die Übersetzung der Vulgata einen melodischeren Rhythmus habe78. Ausnahmsweise hat indessen Kuhnau in der genannten Cantate die Lesart der Vulgata emendirt und das dem Griechischen entsprechende bona voluntas eingesetzt, und Bach, der in allen seinen andern Gloria-Compositionen bonae voluntatis componirt, hat hier das Richtige ebenfalls. Wie aber aus der musikalischen Phrasirung hervorgeht, war ihm entweder der Sinn nicht ganz deutlich oder er hat sich aus musikalischen Gründen über ihn hinweggesetzt. Indem er interpungirt: et in terra pax hominibus, bona voluntas nähert er sich dem Ursinne ohne ihn doch ganz zu treffen, man erkennt, daß ihm die Version der Vulgata im Ohre lag und er einen gegebenen Text schlankweg in Musik setzte, ohne auf die sich daran knüpfende theologische Streitfrage sonderlich Acht zu haben. Ein zweites Merkmal hängt an den Zeilen Virga Jesse u.s.w. Dies ist ein Fragment eines längeren Weihnachtsgesanges, den Vopelius vollständig mittheilt79. Er lautet:


 

Virga Jesse floruit,

Emanuel noster apparuit,

Induit carnem hominis,

Fit puer delectabilis.

Domum pudici pectoris

Ingreditur Salvator et

Autor humani generis.

Ubi natus est Rex gloriae?

Pastores dicite!

In Bethlehem Juda.

Sause80, liebes Kindelein,

Eya, Eya,

Zu Bethlehem Juda.

Virga Jesse floruit,

Emanuel noster apparuit,

Induit carnem hominis,

Fit puer delectabilis,

Alleluja!


 

Nur die letzten Zeilen also hat Kuhnau benutzt und es wäre ein allzu [200] seltsamer Zufall, wenn Bach unabhängig auf denselben Gedanken gekommen sein sollte. Aber auch die Reihenfolge, in welcher Bach die vier Textabschnitte dem Magnificat eingefügt hat, ist genau dieselbe, in der sie Kuhnau zusammensetzte. Es wird nicht das letzte Mal sein, daß wir Bach so wie hier Kuhnaus Pfaden folgen sehen. Wie er die Traditionen seines Geschlechtes pflegte und hochhielt, wie er alles was bedeutende ältere und gleichzeitige Künstler geschaffen hatten lernbegierig ergriff, so war er auch jetzt weit entfernt, in den Verhältnissen, wo ein großer Meister vor ihm gewirkt hatte, mit Beflissenheit neu zu erscheinen oder im Gefühl überlegener Kraft die Arbeit des Vorgängers unbeachtet zu lassen. Innerlich stand er freilich dem Wesen Kuhnaus ziemlich fern und eine Fortsetzung seines Werkes konnte nur äußerlich sein. Sie ist aber für Bachs Charakter darum nicht weniger bedeutsam. In diesem Falle hängt übrigens Kuhnaus Weihnachtsmusik mit gewissen kirchlichen Gebräuchen Leipzigs zusammen, welche Bach auch um ihrer selbst willen interessant sein mußten. Der mitgetheilte lateinisch-deutsche Weihnachtsgesang kennzeichnet sich wenigstens zu einem Theile als ein an der Krippe Christi gesungenes Wiegenlied und weil der Leipziger Cantor Vopelius ihn in sein leipzigisches Gesangbuch aufnahm wird er dort gebräuchlich gewesen sein. Althergebracht war im christlichen Gottesdienst die Sitte, zur Christmette in der Kirche eine Krippe aufzustellen und die Vorgänge der heiligen Nacht dramatisch aufzuführen. Knaben stellten die Engel dar und verkündigten die Geburt des Heilandes, dann traten Geistliche, die Hirten, ein und näherten sich der Krippe; andre fragten, was sie dort gesehen hätten (Pastores dicite), sie gaben Antwort und sangen an der Krippe ein Wiegenlied. Auch Maria und Joseph an der Krippe wurden dargestellt; Maria fordert Joseph auf, ihr das Kindlein wiegen zu helfen; er erklärt sich bereit und die Hirten singen ein Lied81. Diese Sitte des Kindleinwiegens, welche sich ganz vereinzelt bis in unser Jahrhundert erhalten hat, herrschte im Anfange des vorigen Jahrhunderts auch noch in Leipzig. Sie gehörte zu den Bräuchen, welche der Rath im Jahre 1702 abschaffen wollte82. Daß er mit diesem Vorschlage nur sehr wenig Anklang [201] fand, ist schon bei einer andern Gelegenheit gesagt worden. Insbesondere der Brauch des Kindleinwiegens hat zuverlässig zu Bachs Zeit noch bestanden, da auch in seinem Weihnachts-Oratorium auf ihn Bezug genommen wird. Weil er mit den Laudes in Verbindung gebracht wird, kann er nur am Schluß der Mette in der Nikolaikirche geübt worden sein. Das Wiegenlied, welches bei dieser Gelegenheit gesungen zu werden pflegte, ist das alte, beliebte: »Joseph, lieber Joseph mein, hilf mir wiegen mein Kindelein«83. Es liegt auf der Hand, daß der Gesang Virga Jesse floruit für denselben Zweck bestimmt gewesen sein muß. Daß er in der Leipziger Christmette wirklich so verwendet worden ist, wird zwar nicht ausdrücklich gesagt; wie aber die Verhältnisse liegen kann man es mit Bestimmtheit annehmen. So viel ist unter allen Umständen klar: die von Kuhnau zu einer Weihnachts-Cantate zusammengefügten und von Bach wieder aufgegriffenen Texte spiegeln jenen alten, naiven und damals noch in Leipzig populären Brauch, die Engelbotschaft und Anbetung der Hirten in der Kirche dramatisch aufzuführen, im idealeren Bilde zurück, sind gewissermaßen sein poetisch-musikalischer Niederschlag. In diesem Lichte angesehen gewinnen sie für Bachs Magnificat eine besondere, die Stimmung dieser mächtigen Composition erheblich vertiefende Bedeutung. Vergleicht man die vier Stücke, welche sich an vier verschiedenen Stellen in das Magnificat hineinschieben und schon durch die theilweise deutschen Texte wie auch durch ihren poetischen Inhalt einen Gegensatz zu demselben bilden, hinsichtlich ihrer Construction mit den in jenem angewandten Mitteln und Formen, so springt ebenfalls eine bedeutende Verschiedenheit in die Augen. Außer dem Gloria, welches in bescheidenem Maße die Instrumente zur Mitwirkung heranzieht, werden alle übrigen Sätze nur vom Continuo begleitet84. Es war in den lutherischen Kirchen von Alters her beliebt, zur Weihnachtszeit mit [202] Wechselchören zu musiciren, sei es nun zwischen Chor und Gemeinde, oder zwischen kleinem und vollem Chor, wobei dieselben auch örtlich von einander entfernt zu sein pflegten85. Geschah dies anfänglich nur mit kürzeren Liedabschnitten, so dehnte man das Verfahren mit der Zeit auch auf längere Stücke aus. In Leipzig selbst waren Aufführungen mit respondirenden Chören nichts seltenes (vrgl. S. 115). Nun besaß die Thomaskirche, in welcher das Magnificat zum ersten Male aufgeführt wurde, eine über dem hohen Chor angebrachte, also der großen Orgel gegenüber befindliche kleinere. Wir wissen, daß sie nur an hohen Festtagen gebraucht wurde. Wozu wurde sie gebraucht? Jedenfalls doch nur zu solchen alternirenden Gesangsaufführungen. Daher glaube ich, daß Bach, als er dasMagnificat zum ersten Male zu Gehör brachte, vom Chor der kleinen Orgel herunter, dessen beschränkte Dimensionen nur für eine geringe Sängerschaar und wenige Instrumentisten Platz boten, jene vier Weihnachtsgesänge ertönen ließ. Durch diese Annahme erklärt sich am leichtesten die Art, wie er die Partitur derselben anlegte und wie er später mit ihnen verfuhr. Er hat sie zwar offenbar zu derselben Zeit wie das Magnificat componirt und mit diesen zusammen als ein Ganzes gedacht, aber sie doch nicht an die ihnen bestimmten Stellen gesetzt. Sondern sie laufen vom zwölften Blatte der autographen Partitur an auf den untersten unbenutzten Systemen der Seiten neben dem Magnificat her und sind mit Hinweisen auf die Stellen versehen, an welchen sie einzufügen waren. Wenn sie vom Chor der kleinen Orgel gesungen werden sollten, so konnten sie nur in der Thomaskirche gemacht werden, in der Nikolaikirche, wo am Nachmittage des zweiten Weihnachtstages die Hauptmusik war, mußten sie fortbleiben, da sich hier eine solche, oder eine ähnliche geeignete Örtlichkeit nicht befand. Und ferner: weil auch zu Ostern und Pfingsten dasMagnificat im Figuralstile musicirt wurde und Bach für diese Feste sein Werk jedenfalls auch verwenden wollte (außer diesem hat er, soviel man weiß, nur noch ein kleines Magnificat für Solo-Sopran geschrieben, das jedoch einstweilen verschollen ist), weil die Zwischenstücke aber nur für Weihnachten paßten, so ist es begreiflich, [203] daß er bei einer späteren Überarbeitung dieselben ganz fortließ86.

Das Magnificat ist für fünfstimmigen Chor componirt mit Begleitung von Orgel, Streichquartett, zwei Oboen, drei Trompeten und Pauken, wozu in der Überarbeitung noch zwei Flöten gefügt sind. Der Anfangschor ist nur über die Worte Magnificat anima mea Dominum gesetzt. Seine Form ist, äußerlich betrachtet, die der italiänischen Arie, wird aber erst durch einen Hinblick auf die Concertform ganz verständlich. Gleich die Instrumental-Einleitung ist weniger im Charakter eines Ritornells als in demjenigen eines Concert-Tuttis gehalten. Wir haben früher gesehen, wie Bach die Form des Concerts aus- und umbildete87, es war dies eine seiner Hauptbestrebungen in Cöthen, und man begreift es um so leichter, daß er frisch von dorther kommend die ihm geläufig gewordene Form hier verwendete. Zwei gegensätzliche Gedanken sind nicht vorhanden, das gesammte Material wird im Tutti dargelegt, dessen jubelnden Charakter das Motiv:


 

5.


 

feststellt88. Doch erweist sich in der Behandlung des Chors gegenüber dem Orchester die Concertidee in deutlicher Weise wirksam. Der erste Einsatz des Chors erfolgt wie der eines Solos nur zum begleitenden Grundbasse und seine melodische Gestalt klingt an den Anfang des Tuttis an, wie das ja auch im wirklichen Concert vorkam. Zwei Takte später fällt das Instrumentaltutti von neuem ein, bricht jedoch nach zwei Takten ab, um dem Chor Raum zu geben, sich mit einem andern, ebenfalls dem Tutti entnommenen Gedanken [204] abermals allein hören zu lassen89. Dann setzt es seinen Weg bis zum 16. Takte seiner Gesammtausdehnung und zwar in Gesellschaft des Chors fort, doch so, daß dieser im musikalischen Sinne als das untergeordnete Element erscheint. Seine Gänge schließen sich bald im Einklange bald in der Octave den Instrumentalstimmen an, nicht zwar ganz auf Selbständigkeit verzichtend, sondern sich loslösend und wieder mit ihnen zusammenfließend in Bewegungen von bewundernswerther Leichtigkeit, aber ein gleichberechtigter musikalischer Factor wie z.B. in dem Eingangschor der Cantate »Ärgre dich o Seele nicht« ist der Chor hier keineswegs; nur die Bestimmung der poetischen Empfindung – freilich das in höchster Instanz Entscheidende – geht von ihm aus. Anders liegen die Verhältnisse im zweiten Theil. Hier herrscht der Chor auch in musikalischer Beziehung und verarbeitet fleißig das Motiv, mit dem er das zweite Mal einsetzte, das Orchester redet nur in abgebrochenen Sätzchen, die dem großen Tutti entnommen sind, wiederum in concerthafter Weise hinein. Der dritte Theil gleicht dem ersten, ausgenommen daß die Entwicklung von der Unterdominante in die Grundtonart zurückführt; die letzten 15 Takte des Instrumentaltuttis werden Nachspiel. Um die formbildnerische Kraft Bachs recht zu würdigen, wolle man den Chor der Cantate »Wer sich selbst erhöhet« vergleichen, in welchen ebenfalls concerthafte Elemente hineingearbeitet sind90. Die folgende Arie des zweiten Soprans: Et exultavit spiritus meus in Deo salutari meo steht – ein bei Bach seltener Fall – in derselben Tonart. Sie setzt die anfangs ausgedrückte Empfindung fort, leitet sie aber aus dem Gebiete des allgemeinen Jauchzens und Frohlockens hinüber zu einer stilleren, kindlich-seligen Weihnachtslust. Wir kennen die Art wie Bach diese Empfindung auszusprechen wußte, zu genau, um sie hier nicht sofort wiederzufinden91. Überdies folgt, um über die Intention des Componisten jeden Zweifel zu benehmen, unmittelbar nach dieser [205] Arie als erstes Zwischenstück der Choral »Vom Himmel hoch da komm ich her«. Der Cantus firmus liegt im Sopran; der Satz ist vierstimmig in Pachelbelscher Form und mit ersichtlicher Liebe und Hingabe gearbeitet, die Contrapunkte sind durchweg aus den verkürzten Melodiezeilen gebildet, und mit großer Kunst imitatorisch geführt, nur einige Male ergeben sich etwas gewagte Harmonien. Auch dieses Stück steht in der Haupttonart und schließt sich mit den beiden vorhergehenden zu einer Gruppe zusammen. Man vergegenwärtige sich überdies, daß der Choral »Vom Himmel hoch« zu den Liedern gehörte, welche in der Weihnachtsvesper von der Gemeinde vor der Predigt gesungen zu werden pflegten, um die ganze Wirkung zu ermessen, wenn er jetzt inmitten der dem unmittelbaren Mitempfinden entrückteren lateinischen Gesänge aus der Höhe der Kirche herab in die Versammlung hineintönte. Nun werden andre Weisen angestimmt. Eine Arie des ersten Soprans (H moll) führt die Worte aus: Quia respexit humilitatem ancillae suae. Ecce enim ex hoc beatam me dicent (omnes generationes). Dadurch daß die Kirche in frühesten Zeiten schon den Lobgesang Mariä in die Liturgie aufnahm, ist ihm allerdings der persönliche Charakter abgestreift worden und auch Bach hat ihn, wie seine Composition beweist, in seiner kirchlichen Allgemeingültigkeit aufgefaßt. Andrerseits führten ihn jedoch die opernartigen Formen der Kirchenmusik wieder zu einer schärferen Individualisirung zurück. Wo überhaupt eine solche merkbar wird – und wir werden sie noch mehrfach zu constatiren haben – ist sie aber niemals dramatisch durchgeführt, sondern bezieht sich immer nur auf einen einzelnen Fall, ein einzelnes Musikstück. Sie war ihm in erster Linie Motiv zu musikalischen Zwecken. Überall drang Bach in die tiefsten biblischen und kirchlichen Beziehungen seiner Texte ein, um Anregungen zu neuen Kunstgestaltungen zu gewinnen; aber in deren Wahl bestimmte ihn zunächst immer das Gesetz musikalischer Zusammengehörigkeit oder Gegensätzlichkeit. Man wird bei Bachschen Compositionen, auch wenn man die innersten Beweggründe einzelner Theile nicht erkennen sollte, stets doch den Eindruck eines runden, in sich verständlichen musikalischen Organismus haben; Auffassungen, welche vom Nächstliegenden und Gemeinverständlichen abweichen, sind niemals derart, daß sie als beunruhigende Räthsel die Harmonie des Ganzen störten. Aber wie [206] wir von den Bachschen Sologesängen sagen mußten, daß sie unter einer sicher gefügten, gleichmäßig geebneten Fläche ein leidenschaftlich wechselndes Gefühlsleben bergen, so ist auch im Innern der ruhigen, einleuchtend zweckmäßigen Erscheinung eines mehrtheiligen Ganzen eine Fülle von oft ganz verschiedenartigen Kräften thätig und das eigenthümliche Weben und Walten des Bachschen Geistes begreift sich völlig erst durch die Aufdeckung dieser Kräfte selbst. Die Empfindung der er sten Arie war kindliche Weihnachtsfreude gewesen, bei der zweiten ist es das Bild der Mutter Gottes, welches den Tondichter begeisterte. Kaum dürften reine Jungfräulichkeit, Demuth, schüchtern empfundenes Glück je zu vollendeterem Ausdruck gekommen sein, als in diesem gleichsam ins musikalische übersetzten deutschen Madonnabilde. In der Grundstimmung einigermaßen verwandt ist die H moll-Arie der Cantate »Alles was von Gott geboren«92, doch giebt die directe Bezugnahme auf eine Persönlichkeit ebensowohl wie die zur Begleitung herangezogene Oboe d'amore der Arie des Magnificat eine größere Innigkeit und einen entschiedeneren Charakter. Die oben eingeklammerten Worte omnes generationes singt nicht mehr der Solosopran, sondern der Chor nimmt sie ihm vor dem Munde weg; die dramatische Fiction, welche den Charakter der Arie bestimmte, wird also bereits wieder aufgegeben. Der über jene beiden Worte componirte Chorsatz ist aber nicht minder tiefsinnig, nur nach einer andern Richtung hin. Es bedingt ihn die Vorstellung unzähliger, von einer und derselben Idee erfaßter Völkermassen. Bezeichnend genug für Bach gewinnt aber diese Idee nicht in einer hymnenartigen, lobpreisenden Form, welche die vorhergehenden Worte nahe gelegt hätten, Gestalt. So würde vielleicht Händel verfahren sein, der unpersönlichere Bach versinnlicht nur den Gedanken einer großen allgemeinen Bewegung. Diesen aber auch mit einer unübertrefflichen Plastik. Gleich dadurch, daß das Thema nicht allein, sondern von drei bewegten Stimmen überfluthet eintritt, werden wir wie mitten in den Strudel hineingeschleudert. Die Durchführung ist keine fugenartige, zuerst ergreifen die verschiedenen Stimmen den Grundgedanken, wie er ihnen eben bequem liegt, später überbieten sie sich in stufenweisen Eintritten, endlich thürmen [207] sie sich canonisch über einem Dominant-Orgelpunkt auf. Ein geistvoller Ausleger des Magnificat hat die Vermuthung geäußert, Bach habe hier unter der Idee der welterschütternden Macht des Christenthums gearbeitet, welche die Völkermassen in grimmigem Kampfe gegen einander trieb93. So weit möchte ich nicht gehen, zunächst deshalb nicht weil ein Tonbild dieser Intention für die Bestimmung des ganzen Werkes nicht passend erscheinen will, welches doch dem Jubel des Weihnachtsfestes dienen sollte. Auch habe ich bei Aufführungen gefunden, daß der Charakter dieses Chors wohl ernst und gewaltig wogend aber nicht eigentlich wild und leidenschaftlich ist. Bach giebt schon in Folge seiner musikalischen Natur derartigen Gebilden eine erregtere Haltung, als es andre, z.B. Händel, thun würden. Gewisse Änderungen, welche er bei der späteren Bearbeitung grade mit diesem Abschnitte seiner Composition vornahm, scheinen mir besonders lehrreich. Takt 6 und folgende vom Schluße ging der Bass ursprünglich so:


 

5.


 

über der Fermate blieb der zweite Sopran auf 5. liegen, die Instrumente schwiegen von hierab bis zum Eintritt des vorletzten Taktes. Auch im 3. Takte vom Anfang wurde durch diese anfängliche Führung des Basses:


 

5.


 

der Ausdruck ein herberer. Man kann nicht annehmen, daß Bach früher mit dem Chore etwas andres habe sagen wollen, als später. Technische Gründe können für die Änderungen auch nicht veranlassend gewesen sein. Vielmehr muß er gefunden haben, daß der Ausdruck hier und da sein Ziel etwas überflog und daher gemäßigt werden müsse94. Die über einen Böhmschen Basso quasi ostinato [208] gebaute Bass-Arie: Quia fecit mihi magna qui potens est et sanctum nomen ejus hellt die dunkler gewordene Stimmung wieder auf und vermittelt den Eintritt des Engelgesanges »Freut euch und jubilirt«, durch welchen eine zweite Gruppe abgeschlossen wird. Sinnvoll ist dieser Gesang nur zwei Sopranen, dem Alt und dem Tenor zuertheilt: er schwebt in lichter Höhe über der dunkeln Erde. Dem Continuo ist eine eigne fünfte Stimme gegeben. Vielleicht erinnerte sich Bach des alten Brauches, Knaben die als Engel verkleidet waren mit Weihnachtsliedern in die Fest-Liturgie einzuführen. Das schöne Stück klingt merkbar an Kuhnaus Composition an. Bei Bach lautet das Thema des ersten Abschnittes:


 

5.


 

bei Kuhnau:


 

5.


 

Der Mittelsatz ist bei beiden von sehr herzlichem Ausdrucke (Kuhnau schreibt affettuoso vor), der Schluß bei beiden ein regelrechtes Fugato, welches Bach indessen weiter ausgeführt hat. In einem fast ganz homophonen, sehr melodischen Zwiegesang des Alt und Tenor (E moll), zu welchem gedämpfte Geigen und Flöten begleiten, wird die Barmherzigkeit Gottes gepriesen; die Worte timentibus eum bieten Gelegenheit mit einer geistreichen Detailmalerei in interessanter Weise abzuschließen. Im Gegensatz hierzu schildert der Chor Fecit [209] potentiam die Macht des Herrn, welche den menschlichen Übermuth vernichtet und zum dritten Male mündet die Entwicklung in einen Gesang der Himmlischen aus, dieses Mal in das lateinische Gloria in excelsis Deo. Der Chor Fecit potentiam entwickelt in dem Hauptthema eine unwiderstehlich vordringende Energie und in den begleitenden Accorden sowie in dem eignen Rhythmus der Instrumentalbässe eine niederdrückende Wucht. Ein beachtenswerther poetischer Zug offenbart sich darin, daß die Instrumente, zu zwei Chören gesondert, die contrapunktirende Melodie der obersten Stimme:


 

5.


 

auf der dritten Note in der Gegenbewegung nachahmen, als ob sie versinnlichen wollten, daß es aus der Hand des Herrn kein Entrinnen giebt. Unter den übrigen frappanten Einzelheiten fesselt vor Allem derAdagio-Schluß, wo durch den gespreizten, aufgeblähten übermäßigen Dreiklang der Sinn der Hoffärtigen mit packender Wahrheit gezeichnet wird. Auch hier begegnet wieder ein Fall, wo dem einzelnen Textworte das Motiv zu einem besonders wirksamen musikalischen Schlusse abgewonnen wird. In späteren Jahren componirte Bach zum Feste der Heimsuchung Mariae ein deutsches, theilweise paraphrasirtes Magnificat,95 in welchem ihm dieselbe Textstelle zu einer ähnlichen malerischen Ausführung Veranlassung gab; dort steht sie im Recitativ und bildet das bei Recitativschlüssen beliebte, in diesem Falle sehr weit ausgeführte Melisma96. Eine vierte Gruppe wird durch zwei Arien und das als Duett behandelte Virga Jesse gebildet. Die erste Arie hat einen sehr energischen, ja gewaltsamen Charakter; sie hat in der Bearbeitung mancherlei Veränderungen erlitten, [210] die nur zum Theil auf praktischen Gründen beruhen und sich merkwürdiger Weise nicht immer als einleuchtende Verbesserungen darstellen. Für die zweite, in milder Stimmung gehaltene Arie hatte Bach auch in der älteren Form schon Flöten eingeführt. Sehr schön ist durch eine auffallende Rhythmisirung dem Hauptgedanken


 

5.


 

der Ausdruck des Verlangens eingeprägt; der abbrechende Schluß, eine Illustration der Worte dimisit inanes ist Neuerung der Überarbeitung, ursprünglich waren die Flöten bis zum letzten Tone fortgeführt. Vom Duett sind die Schlußtakte verloren gegangen; die Singstimmen schwingen sich auf und nieder über einem langsam wiegenden Continuo, der sich ähnlich wie in der Arie Quia fecit als ein quasi ostinato erweist. Bis hierher ist es vorzugsweise die naive Weihnachtsfreude gewesen, welche die Grundstimmung der vielgegliederten Composition bedingte. Nachdem das letzte der eigentlichen Weihnachtslieder verklungen ist, wird ein neues Element bemerkbar. In der Vesper wurde über die Epistel gepredigt, welche das Erlösungswerk Christi als den Zweck seiner Menschwerdung hervorhebt. Auf dieses deuten in dem Text desMagnificat allein die Worte Suscepit Israel puerum suum recordatus misericordiae suae mit Bestimmtheit hin. Bach hat sich die Andeutung nicht entgehen lassen. Er benutzt die Worte zu einer Choralfiguration, in welcher zwei Soprane und Alt das Geschäft des Contrapunktirens übernehmen, während eine Trompete (in der Überarbeitung beide Oboen) die altkirchliche Choralmelodie des Magnificat zart ertönen läßt. Über den Sinn dieser Form ist mehrfach gesprochen worden97. Bach wendet sie an, wenn er eine geheimnißvoll unbestimmte Empfindung ausdrücken will. In seinem deutschen Magnificat hat er mit offenbarem Rückblick auf die vorliegende Composition dieselbe Textstelle in derselben Weise behandelt. Die Wirkung ist aber dort nicht ganz die gleiche, weil die Choralmelodie schon vorher durch den Gesang zu Gehör gebracht war, und auch am Schlusse wieder so erscheint. In dem lateinischen Magnificat kommt außer an dieser Stelle der [211] Choral nicht vor. Er klingt daher doppelt ahnungsvoll, in seinem fremdartigen Melodieverlauf trüb und schwermüthig, das ganze Stück aber vermöge seiner hohen Lage wieder seltsam hell und visionsartig. Wie ein Schatten über ein sonniges Feld so gleitet es durch die frohe Stimmung, der man sich bisher hingegeben hatte und welche alsbald, in einer kräftigen fünfstimmigen Fuge ohne concertirende Instrumente, auch wieder die Oberhand gewinnt. Nach kirchlichem Gebrauch wird das Magnificat mit der Doxologie Gloria patri et filio et spiritui sancto, sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum. Amen geschlossen. Über das dreifache Gloria hat Bach eine sich in rollenden Triolengängen imitatorisch aufthürmende und dann in breiten Harmonien zum Stillstand kommende Musik von seltener Macht und Großartigkeit gesetzt. Im Sicut erat greift er auf den Anfangschor zurück, dessen Hauptmotive noch einmal zu einem strahlenden Bilde zusammendrängend.

Die Rolle, welche dem Magnificat im Vespergottesdienst zugewiesen war, hat auch seine äußere Form bedingt. Vor der Predigt war schon eine Cantate aufgeführt worden; sollte der Gottesdienst sich nicht über Gebühr in die Länge ziehen, so durfte Bach sich auf weite Ausführungen seiner musikalischen Gedanken um so weniger einlassen, als er überdies die Absicht hatte den Text noch durch vier Weihnachtsgesänge zu bereichern. Durch Knappheit und concentrirte Kraft der einzelnen Sätze, namentlich der Chöre, bei großem Mittelaufwand und lebhaft anregender aber nicht beunruhigender Mannigfaltigkeit unterscheidet sich das Magnificat von den übrigen großen Kirchenmusiken Bachs in scharfer Weise. Gleich bedeutungsreich an sich und verheißungsvoll für die weitere Wirksamkeit des gewaltigen und seinem eigensten Elemente zurückgegebenen Genius steht es am Eingang einer neuen fruchtreichen Periode seiner schöpferischen Thätigkeit.

Waren in der Cantate zum ersten Festtag die Gefühle der Christenheit wiedergegeben, welche sich im frohen Reigen um den Altar des heilspendenden Gottes bewegt, hatte im Magnificat die volksthümliche Weihnachtsfreude auf dem Hintergrunde alter, naiver Festgebräuche Ausdruck gefunden, so erscheint in der Cantate, welche wahrscheinlich zum zweiten Weihnachtstage 1723 componirt ist, Christus als der in die Welt gesandte lichte Held, welcher die [212] Mächte der Finsterniß bezwingt98. »Das Licht scheinet in die Finsterniß – das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen – das Wort ward Fleisch und wohnete unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingebornen Sohnes vom Vater voller Gnade und Wahrheit.« Diese Grundgedanken des Evangeliums tragen auch die Cantate. Sie werden durch das erste Recitativ zum Theil wörtlich reproducirt; der ihm vorausgehende große Chor gründet sich auf die Bibelstelle 1. Joh. 3, 8: »Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre«. Mehr als in andern Bachschen Cantaten liegt in ihm der Schwerpunkt des Werkes, da der Choral zwar reichlicher als sonst wohl angewendet ist – nicht weniger als drei vierstimmige Choralgesänge finden in ihm Platz – aber mit einer Ausnahme in neueren, dem Gemeindegesange ferner gebliebenen Melodien99. An Neuheit, Kühnheit und Weite des Aufbaus überragt er alle Chöre des Magnificat und der Cantate zum ersten Christtag. Das Instrumental Vorspiel ist kein eigentliches Ritornell, sondern trägt einen concerthaften Charakter, ganz wie im ersten Chore des Magnificat, in welchem Bach seine Schwingen gleichsam zum weiteren Fluge erprobt zu haben scheint. Was die Instrumente in gedrängter Kürze vortragen, wird dann vom Chor weiter ausgeführt. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als arbeite das instrumentale Vorspiel in einem ganz selbständigen Stoffe, bei genauerem Aufmerken überzeugt man sich, daß in ihm die Motive des Chors wie die Frucht in der Hülse beschlossen sind. Der erste Chorabschnitt zeigt ein fast gänzlich homophones Wesen, in kürzesten herausfordernden Abschnitten wechselt er zunächst mit dem Orchester; auf den trotzig declamirten Worten »daß er die Werke des Teufels zerstöre« sammeln sich die streitbaren Massen, sie ziehen sich [213] dann zu dem bei Bach so seltenen Unisono zusammen, um nun wie eine aus einem Lichtcentrum hervorbrechende Strahlengarbe, vor der die Schatten der Nacht entweichen, nach allen Seiten hin sich, zu ergießen. Wie aus dem Vorspiel der erste Theil des Chors, so geht aus diesem wieder die nachfolgende Doppelfuge hervor. Das erste Thema wird durch Verlängerung gebildet, das zweite wahrt die anfänglichen Werthverhältnisse. Mit unerhörter Kühnheit wird es auf der unvorbereiteten Septime eingeführt, das erste Horn, als sei hiermit noch nicht genug geschehen, verdoppelt es in Sexten, und ein wildes, siegesfrohes Kampfgetümmel breitet sich aus. Dann geht es, genau wie im Magnificat, von der Unterdominante aus in den ersten Theil zurück. Wenn gesagt wurde, dieser Chor stelle den eigentlichen Kern und Stamm des Ganzen dar, so gilt das auch insofern, als seine musikalischen Elemente im Verlauf der Cantate weiterwirken. Nach einer übermüthig höhnenden Bass-Arie »Höllische Schlange wird dir nicht bange?« hören wir ein Recitativ, dessen Begleitungsbewegungen in gewissen Instrumentalfiguren des Chors ihre Quelle haben, und auch die Motive der letzten Arie weisen auf Grundelemente dieses machtvollen Musikstückes zurück100.

Auch für den dritten Christtag läßt sich eine Cantate bezeichnen, welche wahrscheinlich in diesem Jahre, jedenfalls in der ersten Leipziger Zeit componirt wurde und zur Aufführung kam101. Sie steht wiederum in einem scharfen Gegensatze zu den vorher beschriebenen Weihnachtsmusiken. Dem Festereignisse selbst tritt sie kaum näher, das hatten die vorhergehenden Compositionen zur Genüge gethan. In paränetischer Art weist sie auf die Liebe Gottes hin, der die Menschen zu seinen Kindern machen will, und auf die unvergänglichen Gnadengüter, welche Jesus durch seine Menschwerdung ihnen gebracht hat. Dies bedingte den Ton ernster Sammlung und gläubiger Hingabe, welcher das Werk durchdringt. Mit der Cantate »Dazu ist erschienen« hat es die reiche Verwendung des einfachen Kirchenliedes gemeinsam, die in solcher Ausdehnung und Mannigfaltigkeit sonst nicht der Weise Bachs entspricht, und ihrerseits die gleichzeitige Entstehung und dieselbe Dichterhand andeutet. [214] Auch hier treten in den Verlauf des Werkes drei verschiedene Choräle hinein. Der erste derselben, die letzte Strophe von »Gelobet seist du Jesu Christ« folgt unmittelbar auf den Eingangschor, eine schöne ernste Fuge über die Worte »Sehet, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeiget, daß wir seine Kinder heißen«, in welcher die Geigen und der Posaunenchor mit Cornett die Singstimmen verstärken. Die Wirkung dieses Chorals beruhte zum großen Theile auf dem Umstande, daß er vor Absingung des Evangeliums von der Gemeinde angestimmt war und somit die Empfindung desselben ihr hier nochmals im verklärteren Bilde entgegen getragen wurde. Der zweite Choral besteht in der ersten Strophe des Liedes »Was frag ich nach der Welt«; er schließt sich eng an ein Alt-Recitativ an, in welchem auf- oder absteigende flüchtige Bassgänge die Unbeständigkeit alles Irdischen andeuten, das »wie ein Rauch« vergehen muss. In demselben Sinne hatte Bach früher den Orgelchoral »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« contrapunktirt102, gestaltete er später den Eingangschor einer Cantate über diesen Choral103 und arbeitet er jetzt die nachfolgende Sopran-Arie aus. Der letzte Choral steht am Schlusse, die fünfte Strophe von »Jesu meine Freude«, einem Lieblingschorale des Meisters104.

Da Weihnachten in diesem Jahre auf Sonnabend fiel, gab es keinen Sonntag nach Weihnachten; die nächste Musik war also zum Neujahrsfeste 1724 zu schreiben. Unter den Neujahrs-Cantaten Bachs ist nur eine, von welcher sich mit Bestimmtheit behaupten läßt, daß sie zwischen 1724 und 1727 geschrieben sei. Es ist »Singet dem Herrn ein neues Lied«. Sie darf also an dieser Stelle eingereiht werden105. Der erste Chor (D dur 3/4) baut sich über Bibelworten auf, die dem 149. und 150. Psalm entnommen sind. Anfänglich werden die Singstimmen mehr homophon und massenhaft verwendet, mit den Worten »Alles was Odem hat lobe den Herrn« beginnt eine Fuge. An zwei Stellen treten im wuchtigen Unisono aller Stimmen die ersten beiden Zeilen des Chorals »Herr Gott, dich loben wir« in das prachtvolle Tonstück hinein. In dem zweiten Stücke machen sich dieselben Zeilen im vierstimmigen Chorgesang, von Recitativen [215] durchwoben, abermals geltend. Das dritte Stück ist eine Alt-Arie von fröhlichem, fast tanzartigem Charakter und knapper Form (A dur 3/4); nur das Streichquartett begleitet. Ein Bass-Recitativ leitet hinüber zu einem warm empfundenen Duett (D dur 6/8) zwischen Tenor und Bass mit concertirender Violine »Jesus soll mir alles sein«, und nach einem zweiten Recitativ für Tenor macht die zweite Strophe des Neujahrsliedes »Jesu nun sei gepreiset« den Schluß. An Bedeutung steht dieses Werk den vorher besprochenen Weihnachts-Compositionen durchaus nicht nach. Bach erachtete es für würdig, in einer Überarbeitung zum 25. Juni 1730 der Feier des ersten Jubeltages der Augsburgischen Confession zu dienen. Die erforderliche Umdichtung besorgte Picander. Da er sie in seine Werke aufgenommen hat106, da außerdem das letzte Recitativ der älteren Fassung einen ähnlichen Gedankengang nimmt, wie er am Schlusse des für Neujahr 1725 bestimmten Stückes von Picanders »Erbaulichen Gedanken« zu Tage tritt107, so ist es nicht unwahrscheinlich, daß Picander auch den Text der Neujahrs-Cantate dichtete. Auch erinnert jenes letzte Recitativ lebhaft an das erste Recitativ der Rathswahl-Cantate »Preise Jerusalem den Herrn«, es scheint demnach, daß hier derselbe Dichter thätig gewesen ist (vrgl. S. 173 f. dieses Bandes).108

Mit einer neuen großen Composition erschien Bach zum Epiphaniasfeste, das am 6. Januar gefeiert wurde. Sie bezieht sich nicht auf das lebendige, anregungsreiche Evangelium, sondern auf die Epistel des Tages und ist somit mehr für die Vesper als den Hauptgottesdienst gedacht. Das Auge des Propheten erblickt die Schaaren der Völker, über welche das Licht der neuen Lehre sich verbreitet, die Menge am Meer, die sich zu Christo bekehrt und die Macht der Heiden, welche zu ihm kommt. Leider hat der Dichter diese großartige Vorstellung nicht entschieden genug in den Mittelpunkt gerückt und den größeren Theil des ihm zu Gebote stehenden Raumes zu homiletischen Nutzanwendungen verbraucht, vielleicht durch den lehrhaften Zweck, welchen die Epistel im Gottesdienste hat, verleitet, sicherlich zum Schaden des ganzen Werks. Vom ersten Recitativ [216] an zeigt die Cantate »Sie werden aus Saba alle kommen«109 wohl einen ernsten, angemessenen, aber nicht einen besonders originellen Charakter und auch der Schlußchoral leitet nicht abrundend und zusammenfassend zu der Feststimmung zurück, sondern führt einen allgemeinen durch die letzte Arie angeregten Gedanken aus. Warum Bach nicht wenigstens in diesem letzten Punkte ändernd eingegriffen hat, läßt sich nicht sagen. Man würde glauben können, er habe auch seinerseits der epistolischen Richtung der Cantate Rechnung tragen wollen, wenn nicht dieselbe im Vormittagsgottesdienst ebenfalls zur Aufführung kommen mußte. Der Anfang aber – ein Chor über den letzten Satz der Epistel und ein unmittelbar darauf folgender Choral – ist von hoher, eigenthümlicher Schönheit. In dicht gedrängten Haufen zieht es heran um dem Heiland zu huldigen, »Gold und Weihrauch zu bringen und des Herren Lob zu verkündigen«. Zuerst auf dem Grundtone, dann auf der Dominante breiten sich die Massen der Waller aus, die in engen canonischen Nachahmungen sich fast auf die Fersen zu treten scheinen, nur spärliche Lücken werden in dem Gewimmel der nachfolgenden Fuge sichtbar, einstimmig singen sie in den letzten Takten den Ruhm des Herrn. Hörner, Flöten und Oboi da caccia geben dem Tongemälde einen feierlichen, fremdartigen Glanz. Daß hiernach noch der kurze Choral folgt »Die Könge aus Saba kamen dar«, scheint eine befremdliche Disposition. Nicht sowohl in poetischer Hinsicht, denn er verhält sich zum Vorhergehenden wie Erfüllung zur Weissagung. Musikalisch aber drückt die große und reiche Form die kleine und einfache zu Boden. Es ist wieder die enge Beziehung zum Gottesdienst, welche dem Auffälligen Erklärung und Berechtigung giebt. Der Festhymnus zu Epiphanias war Puer natus in Bethlehem, aus dessen ins Deutsche übersetzter vierter Strophe Reges de Saba veniunt der genannte Choral besteht. Durch die Wiederaufnahme dieses am Beginn des Gottesdienstes vom Chor a cappella gesungenen Hymnus bekommt derselbe ein kirchlich symbolisches Gewicht, das hinreicht um dem großen Chore die Wage zu halten. Er ist aber an dieser Stelle sogar mehr als berechtigt, er ist nothwendig, um dem Werke den vollen kirchlich-festlichen Charakter aufzudrücken. Die Recitative [217] und Arien sammt dem Schlußchoral tragen wohl ein kirchliches Gepräge, stehen aber mit dem Feste in einem zu lockeren Zusammenhange. Der erste Chor giebt dem Grundgedanken des Festes eine wunderbar schöne künstlerische Gestalt, nähert sich aber durch die Art, wie in ihm eine Begebenheit musikalisch verkörpert wird, in sehr bemerklicher Weise dem Oratorienstile, dessen unterscheidendes Merkmal ja darin besteht, daß er die durch ein Ereigniß angeregte Empfindung ohne den Durchgang durch ein kirchliches Medium unmittelbar zur Erscheinung gelangen läßt. Zwischen diesen beiden Gegensätzen wirkt der Choral nach zwei Richtungen hin präcisirend: die allgemein menschliche Empfindung beschränkt er entschiedener auf das kirchliche Gebiet, der allgemein kirchlichen Empfindung giebt er eine direct auf das Fest deutende Spitze. Durch die oratorienhafte Haltung berührt sich der erste Chor mit der Weihnachts-Cantate »Christen ätzet diesen Tag«. Sie sind einander auch in Einzelheiten verwandt. Wenn es im ersten Chor der Weihnachts-Cantate lautet:


 

5.


 

 

und in der Epiphanias-Cantate als Fugenthema:


 

5.


 

so erkennt ein jeder denselben Grundgedanken, der nur eine etwas verschiedene Einkleidung erfahren hat. Auch wird dort wie hier (von Takt 27 an) dieser Gedanke canonisch geführt110.

Das nächstfolgende Fest des Kirchenjahres war Mariä Reinigung. Es wurde auf den 2. Februar gefeiert, im Jahre 1724 also am Dienstage nach dem 4. Epiphaniassonntage. Die Musik, welche Bach zu diesem Tage gesetzt zu haben scheint – »Erfreute Zeit im neuen Bunde«111 – bietet ein Seitenstück zu den Eingangschören des Magnificat und der Cantate zum zweiten Christtage, ein Gegenstück [218] zu der Orgelweihcantate vom 2. November des vorhergehenden Jahres. Hier fanden wir eine Cantate in Form einer Orchesterpartie, in den Chören des Magnificat und der Weihnachts-Cantate Nachbildungen der Form eines ersten Concertsatzes. Die Musik zu Mariä Reinigung giebt die Form eines vollständigen italiänischen Concerts. Als wollte Bach dies dem Hörer recht zum Bewußtsein bringen, führt er im ersten und dritten Satze – beides Arien, die erste für Alt, die andre für Tenor – eine concertirende Sologeige ein. Und so lebhaft wird hierdurch die Mahnung an ein Instrumentalconcert, daß man versucht werden kann zu glauben, es läge wirklich ein solches zu Grunde, das nachträglich für den kirchlichen Zweck umgearbeitet wäre. Dem ist nun keinenfalls so. Die Anwendung der Arienform würde zwar nicht dagegen sprechen, da diese auch in wirklichen Bachschen Concerten, wie dem E dur-Violinconcert, vorkommt. Aber schon die regelrechten, wenn auch nach Weise des Magnificat und der Christcantate ausgebildeten Ritornelle beweisen, daß es sich um eine Originalcomposition handelt. Die Form-Übertragung muß eine meisterhafte und für die betreffenden Texte durchaus angemessene genannt werden. Die Worte des alten Simeon enthalten ein dankbares Motiv für eine Dichtung, welche den durch den Glauben an Christus gesicherten seligen Tod behandeln will, und massenhaft haben die Cantatendichter sich dieses Motiv zu Nutze gemacht. In dem vorliegenden Texte tritt es auch wohl auf, aber nicht mit durchgreifender Bedeutung, mindestens ein gleiches Gewicht erhält der Gedanke, daß der Glaube kräftigend und beglückend auch für das irdische Leben wirke. Bach ist durchaus von diesem Gedanken ausgegangen, und um ihn zu gestalten war namentlich der kraftvolle und zugleich geschmeidige Charakter eines ersten Concertsatzes ein eben so vorzügliches wie neues Mittel. Nicht ganz in dem Maße der gigueartige dritte Satz, hier die Tenorarie »Eile Herz voll Freudigkeit vor den Gnadenstuhl zu treten«; das gemeinsame Moment zwischen Gedicht und Tonform ist in dieser Arie zunächst mehr ein äußerliches, durch die Vorstellung des »Eilens« hergestelltes, in der Ausführung aber entwickelt sich auch hier eine spannkräftige und lebensmuthige Natur. Das von den beiden Arien eingeschlossene Stück vertritt gleichsam die Stelle des Concertadagios, mehr jedoch nur durch den Gegensatz zu seiner Umgebung als vermöge der eignen [219] Form. Der Lobgesang des Simeon wurde im Leipziger Cultus als Versikel vor der Collecte vom Chor gesungen112. In dem zweiten Stück der Cantate greift Bach die ersten drei Verse desselben auf, läßt sie vom Bass singen und durch einen selbständigen, zweistimmigen Instrumentalsatz, der bald streng canonisch, bald frei imitatorisch sich entwickelt, begleiten. Unterbrechend treten Recitative hinein. Der streng kirchliche Ausdruck der kunstvoll contrapunktirten alten Melodie setzt den Hörer zu dem ersten und dritten Satze in das rechte Verhältniß. Eine schöne Wirkung macht es, daß die Melodie zu den drei Versen sich nicht in derselben, sondern in immer tieferen Tonlagen wiederholt, ruhiger, dunkler werdend, wie die Todesempfindung eines »der in Frieden dahinfährt«. Auf die Tenorarie folgt noch ein kurzes Recitativ und dann vierstimmig die vierte Strophe des Chorals »Mit Fried und Freud ich fahr dahin«, welcher wenn auch nur in der Vesper dieses Festtages das stehende Gremeindelied war. Es ist nicht ohne Interesse, auf die Tonarten-Ordnung der einzelnen Theile der Cantate zu achten. Der erste Satz, die Altarie, steht in F dur, der zweite, die Choralfiguration, in B dur, der dritte, die Tenorarie, wieder in F dur, der abschließende vierstimmige Choral in D dorisch. Bach vermeidet es sonst, in Cantaten, die nur zwei Arien enthalten und deren zweite nicht zugleich den Schluß der ganzen Composition bildet, beide Arien in dieselbe Tonart zu bringen. Daß es hier geschah, beweist ebenfalls wie ihm die Form des italiänischen Concerts vorschwebte. Die drei ersten Sätze bilden ein musikalisches Ganze für sich, was nachfolgt, ist mehr äußerlich angefügt113.

Was Bach auf das Fest Mariae Verkündigung in diesem Jahre componirt hat, weiß man nicht. Über die Passionsmusik, die er am Charfreitage aufführte, gehen wir einstweilen hinweg und wenden uns dem ersten Ostertage zu. Ein gewaltiges Denkmal steigt vor uns auf, die Cantate »Christ lag in Todesbanden«114. Sicher ist, daß Bach sie in den ersten Leipziger Jahren geschaffen hat. Entdeckt man außerdem, daß der Künstler mit ihr in ähnlicher Weise auf Kuhnau Bezug nahm, wie in dem Magnificat zu Weihnachten, [220] so hat ihre Entstehung zum 9. April 1724 einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit115. In einer Handschrift aus dem Jahre 1693 ist eine kirchliche Composition des Vorgängers von Bach erhalten, welche den Choral »Christ lag in Todesbanden« ebenfalls zum Mittelpunkte nimmt116. Anfang und Schluß machen die erste und die letzte Strophe des Kirchenliedes, in der Mitte steht freie Dichtung in Kirchenliedform, welche die Grundgedanken des Kirchenliedes paraphrasirt. Eine Instrumentalsonate in alter Form bildet die Einleitung, die erste Strophe trägt der Sopran allein vor unter Begleitung von zwei Zinken und einem Continuo in folgender Bewegung:


 

5.


 

daran schließt sich unmittelbar ein lebhaftes vierstimmiges Hallelujah. Wer die ersten Theile der Bachschen Cantate: die kurze Instrumentalsinfonie, die Composition der zweiten Strophe, das Hallelujah am Schluß der ersten Strophe dagegen hält, bemerkt sogleich, daß Bach durch Kuhnaus Werk, welches er unter den Musikalien des Thomanerchors vorgefunden haben wird, sich anregen ließ. Die speciell musikalische Anregung erstreckt sich nicht über die ersten Sätze hinaus. Aber die ganze Cantate legt Zeugniß ab von einem geflissentlichen Zurückgreifen auf alterthümliche Ausdrucksformen, die im übrigen Bach längst hinter sich zurückgelassen hatte. Sie steht in dieser Beziehung unter seinen Werken unvergleichbar da. Man darf es dem Tiefsinne des Künstlers wohl zutrauen, daß er hiermit noch mehr bezweckte, als seinem geachteten Vorgänger nachzueifern und ihn zu überbieten. Die Melodie des Chorals gehört zu den allerältesten, sie ist eine leicht erkennbare Umgestaltung des schon im 12. Jahrhundert bekannten Gesanges »Christ ist erstanden«. Wenn dem Componisten das hohe Alter der Melodie bekannt war, was doch sehr wohl denkbar ist, so mußte es ihm nahe liegen, der ganzen aus ihr entwickelten Composition den Charakter des Alterthümlichen aufzuprägen, und dieses glaubte er am sichersten durch die Anwendung und Erneuerung von Formen zu thun, mit denen [221] seine Zeit zwar noch nicht aus aller Verbindung getreten war, die sie aber doch schon als veraltete ansah. Da im Hauptgottesdienste sowohl »Christ lag in Todesbanden« als auch »Christ ist erstanden« und in der Vesper das erstere Lied abermals von der Gemeinde der Nikolai- und Thomaskirche gesungen wurden (s. S. 107), die Melodie also mehr als an andern Festen den Kern der Festempfindung aussprach, so zwang er hierdurch die Stimmung des gesammten Gottesdienstes in seine Bahn. Gleich in der Zusammensetzung des Orchesters erkennt man den alterthümlichen Zug. Das 17. Jahrhundert bevorzugte bekanntlich die fünfstimmige Harmonie fast vor der vierstimmigen und gesellte deshalb den zwei Violinen gern auch zwei Bratschen. Bach ist dieser Sitte in einigen früheren Cantaten ebenfalls noch gefolgt, so in der Adventsmusik »Nun komm der Heiden Heiland« aus dem Jahre 1714, der Ostermusik »Der Himmel lacht, die Erde jubiliret« vom Jahre 1715; in der noch früheren Sexagesimae-Cantate »Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt«, finden sich vier Bratschen, indem die beiden Violinen ganz fehlen. Leipziger Cantaten weisen nur ausnahmsweise noch zwei Bratschen auf, eine dieser Ausnahmen ist die vorliegende. Andre als Streich-Instrumente sind nicht herbeigezogen, nur der Posaunenchor mit dem zugehörigen Zink verstärkt in einigen Sätzen die Singstimmen. Der Componist enthält sich ferner aller madrigalischen Musikformen, auch des Arioso und überhaupt jeglichen Sologesanges. Als Text dient ihm ausschließlich das siebenstrophige Kirchenlied Luthers, dessen Melodie er in ebensoviel Abschnitten in stets neuer Weise verarbeitet, die einzige unter Bachs Kirchenmusiken, welche durchaus in jenem Wortverstande Choralcantate ist, wie Buxtehude, Pachelbel und Bachs Amtsvorgänger in Leipzig deren componirten117. Ganz im Stil der Buxtehudeschen Kirchenmusik bewegt sich die einleitende Sinfonia, und es muß dahin gestellt bleiben, ob Bach sich absichtlich in die Ausdrucksweise einer früheren Zeit zurück versetzte, oder ob eine eigne Jugendarbeit die Grundlage abgab. Die von der ersten Violine zu Gehör gebrachte Melodie:


 

5.


 

5.


 

[222] der in den beiden ersten Takten liegende Ausdruck, die Wiederholungen derselben Wendungen, das stockende Fortschreiten, die motivische Zerpflückung der gleichsam nur im Vorübergehen aufgegriffenen ersten Choralzeile, endlich die sehr geringe Ausdehnung des nur 14 Takte zählenden Stückes, alles dieses ist Bachs entwickelter Schreibweise so fremd, daß die letztere Annahme viel Wahrscheinlichkeit für sich hat. Von den sieben Choralstrophen erfährt eine jede ihre besondere Bearbeitung. Die Pachelbelsche Form ist der ersten und vierten Strophe gegeben. Für sie ist der volle Chor beschäftigt, das eine Mal mit das andre Mal ohne selbständig begleitende Instrumente; dort liegt der Cantus firmus im Sopran, hier im Alt. In der zweiten Strophe, für Sopran, Alt und Continuo, werden die Zeilen nach Böhms Manier motivisch zerlegt und zerdehnt. Die dritte Strophe ist dem Orgeltrio nachgebildet, von den Singstimmen wird nur der Tenor beschäftigt, welcher den Cantus firmus führt. Dagegen singt die fünfte Strophe der Bass allein, die Melodie liegt in der ersten Violine des begleitenden Streichorchesters. Doch werden die Zeilen nicht unmittelbar an einander geschlossen, sondern durch Zwischenspiele, bei denen die erste Violine selbst mitthätig ist, gesondert. Diese Zwischenspiele, sowie den zum Vorspiel gelassenen Raum benutzt der Singbass, um seinerseits die betreffende Zeile vorher erklingen zu lassen, während er zu den Abschnitten, wo die Melodie instrumental auftritt, contrapunktirt. Auf diese Weise hört man jede Zeile zweimal und hört sie auch in denselben Zeitwerthen. Daß der eigentliche Vermittler des Chorals die Instrumente sind und nicht der Gesang, erkennt man nur aus der Tonstufe, auf welcher er bei jenen erscheint. Auch in diesem Abschnitte finden sich an inhaltschweren Stellen jene Erweiterungen der Melodie in Böhms Manier. Die sechste Strophe gehört dem Sopran und Tenor. Der Vortrag des Chorals ist zwischen sie vertheilt: die ersten beiden Zeilen erhält der Tenor, die dritte und vierte der Sopran, die fünfte darauf der Sopran und die sechste der Tenor, an den letzten betheiligen sie sich zusammen. Der Wechselgesang ist ein solcher aber nur rücksichtlich der Choralzeilen, übrigens sind beide Singstimmen meistens gleichzeitig thätig, indem die nicht melodieführende [223] contrapunktirt, vor den ersten beiden Strophenpaaren auch die Melodie vorspielartig, aber auf der Stufe der Oberquarte oder Unterquinte, vorsingt. Mit der siebenten Strophe tritt dann wieder der volle Chor zum einfachen Schlußgesange zusammen. An alterthümlichen Zügen fehlt es auch in diesen Choralbearbeitungen nicht. Sie liegen theils in den mehrfachen Nachbildungen des Böhmschen Choraltypus, theils in gewissen Combinationen der Instrumente im ersten Chor. Während zweite Violine und Bratschen meistens mit den Singstimmen gehen, läuft die erste Violine auf eignem Wege über der gesammten Tonmasse dahin. Indem sie in die Art ihrer Bewegung auch die zweite Violine hinein zieht, entwickelt sich ein Tonspiel, wie wir es in Bachs ältesten Cantaten mehrfach gefunden haben118. Auch die Einsätze der Streichinstrumente im zweiten Takt erinnern an Buxtehudes nur auf Klangfülle gehende Tendenzen, die von einer thematischen Bedeutung der Tonreihen absehen. Andrerseits aber zeigt die Cantate einen Reichthum von choralischen Gestaltungen, wie er den älteren Meistern noch nicht entfernt zu Gebote stand. Ebensowenig hatten sie eine Ahnung von dem poetisch kirchlichen Tiefsinn, dem man auf Schritt und Tritt begegnet. Der Typus des Anfangschors ist zwar der Pachelbelsche, doch nicht in den beiden ersten Zeilen, da gleich mit dem ersten Tone der Cantus firmus einsetzt und eine thematische Anlehnung der contrapunktirenden Stimmen an ihn kaum bemerkbar ist. Wenn aber diese nun zur Einleitung der folgenden Zeilen: »der ist wieder erstanden und hat uns bracht das Leben« einen breiten fugirten Satz anstimmen, den endlich der Sopran mit der verlängerten Melodie krönt, wenn alles anfängt sich zu strecken und zu dehnen und von innerem Leben überquillt, so merkt man, welche tiefe poetische Empfindung hier die herkömmliche Form durchdrang und durchbrach. Die Zerdehnung der Zeilen in der zweiten Strophe geschieht zu nächst nach Maßgabe eines älteren Choraltypus. Aber auch er muß einer poetischen Idee dienen. Wer die einzelnen Perioden aufmerksam betrachtet, sieht leicht, daß sie meistens fünftaktig oder fünftehalbtaktig sind. Der Text sagt von der Ohnmacht der Menschen gegen den geistigen Tod, der sie niedergezwungen hat und gefangen hält. [224] Deshalb also diese matten, geknickten Rhythmen, die sich wie ein schwerer Bann über dem Ganzen lagern. In der sechsten Strophe dasselbe Kunstmittel, aber zu welch anderm Zwecke! »So feiern wir das hohe Fest Mit Herzensfreud und Wonne, Das uns der Herre scheinen läßt, Er ist selber die Sonne«, singt der Dichter, und hinter jedem Melodieabschnitte fällt es wie ein langer Lichtschein auf die durchmessene Bahn. Die Behandlungsart der fünften Strophe haben wir mehrfach als das Ausdrucksmittel einer mystischen Empfindung bezeichnet. Sie ist es auch hier, wo es sich um die geheimnißvollen Beziehungen zwischen dem Osterlamme des Passahfestes sammt seiner schützenden Kraft und dem Opfertode Christi handelt. Die Instrumente, wie ein unsichtbarer Chor, tönen das Mysterium weiter, von welchem der Bass redet. Aber er redet von ihm nicht wie ein katholischer Priester, sondern mit persönlicher, protestantischer Antheilnahme. Das geht aus der Innigkeit hervor, mit welcher sich Bach in die einzelnen Vorstellungen des Textes versenkt. Der Begriff des Kreuzes wird durch ein schmerzvoll verrenktes Melisma, der des Todes durch einen verminderten Duodecimensprung in die nächtige Tiefe, der des überwundenen Würgers durch ein mehre Takte hindurch ausgehaltenes, beinahe prahlerisches Ä eindringlich gemacht; Takt 43 f. und 52 f. ahmt die Stimme gar die Bewegung des »Zeichnens« nach. Überhaupt ist die Cantate an malerischen Zügen reich. Im dritten Vers wird die »Todesgestalt«, welche allein übrig bleibt, während alle wirkliche Macht dem Tode genommen ist, durch eine wie beschämt und verlegen sich hinwegdrückende Contrapunktirung versinnlicht. »Die Schrift hat verkündigt das Wie ein Tod den andern fraß, Ein Spott aus dem Tod ist worden« heißt es im vierten Verse: nachdrücklich und machtvoll wie Heroldsrufe lassen sich zu der ersten Zeile die contrapunktirenden Stimmen vernehmen, zur zweiten weben sie ein enges canonisches Netz, in welchem eine Stimme die andre gleichsam verschluckt, in der dritten umtanzen sie siegesfroh und höhnend den Cantus firmus. Dieser gelangt in der vierten Strophe dadurch zu einer ganz eignen Wirkung, daß er nicht in der Grundtonart, sondern der Tonart der oberen Quinte erklingt; das Kühne und Frappirende dieser Combination dient offenbar auch einer poetischen Idee, denn »es war ein wunderlicher Krieg da Tod und Leben rungen«. Läßt man die Cantate als Ganzes an sich [225] vorüberziehen, so ist in Folge der stetig festgehaltenen Choralmelodie, der stetig festgehaltenen E moll-Tonart, der durchweg tiefen und dunkeln Lage der Eindruck zunächst ein etwas einförmiger. Er belebt sich erst bei tieferem Eindringen, bewährt sich dann aber auch als ein unerschöpflich mannigfaltiger. Ein trübes Licht liegt auf der Cantate, wie vom nordischen Himmel, sie ist knorrig und doch majestätisch gewachsen wie die Eichen des deutschen Waldes. Indem alle italiänischen Formen in ihr fehlen, trägt sie ein exclusiv nationales Gepräge. Unter südlicher Sonne konnte ein Kunstproduct nicht reifen, in welchem das Frühlingsfest der Kirche, das jubelvolle, hoffnungsreiche Ostern mit solch düstern Prachtklängen gefeiert wird.

Die Cantaten, welche Bach zum zweiten und dritten Ostertage des Jahres 1724 schrieb, ebenso die für das Himmelfahrtsfest bestimmte, sind verloren gegangen. Dagegen liegen wieder für den ersten und dritten Pfingsttag sowie für das Trinitatisfest Cantaten vor, die wahrscheinlich in dieses Jahr und sicher in die erste Leipziger Zeit fallen. Dem ersten Pfingsttage gehört die Musik »Erschallet ihr Lieder, erklinget ihr Saiten« an119. Die Dichtung wird von Franck sein. Sie steht allerdings in keiner seiner gedruckten Textsammlungen, indessen zwingt auch nichts zu der Annahme, daß Franck seine sämmtlichen Cantaten-Dich tungen durch den Druck veröffentlicht habe. Ein Blick in die »Geist- und weltlichen Poesien« lehrt uns, daß er es liebte, Bibelsprüche nicht nur an den Anfang oder Schluß eines Textes zu setzen, sondern auch im Verlauf desselben beliebig einzustreuen und aus ihnen die freie Dichtung fortzuspinnen. Einer einheitlichen musikalischen Gestaltung ist dieses Verfahren nicht grade förderlich, aber Franck verstand es überhaupt nur wenig dem Componisten in die Hände zu arbeiten. Auch in der Cantate »Erschallet ihr Lieder« steht der Bibelspruch »Wer mich liebet, der wird mein Wort halten«, welcher billig das Haupt des Ganzen hätte abgeben sollen, an zweiter Stelle. Die Arientexte sind, wie oft bei Franck, so auch hier nicht in der Da capo-Form, sondern wie Kirchenlied-Strophen abgefaßt. Recitativische Texte fehlen ganz. Am deutlichsten tritt Francks Eigenart in dem Duett hervor. [226] Es stellt das bei ihm so sehr beliebte Wechselgespräch zwischen Jesus und der Seele auf Grund der Vorstellungen des Hohenliedes dar. Man vergleiche mit den Zeilen:


 

Seele. Komm, laß mich nicht länger warten,

Komm, du sanfter Himmelswind.

Jesus.Ich erquicke dich mein Kind.

Seele.Wehe durch den Herzens-Garten,

Liebste Liebe, die so süße,

Aller Wollust Ueberfluß,

Ich vergeh, wenn ich dich küsse.

Jesus.Nimm von mir den Gnadenkuß.

Seele.Sei im Glauben mir willkommen,

Höchste Liebe, komm herein,

Du hast mir das Herz genommen.

Jesus.Ich bin dein und du bist mein120.


 

beispielsweise folgende Strophen aus einem Pfingsttexte der »Geist- und weltlichen Poesien«121:


 

Wenn weht von deinem schönsten Munde

Ein süßer Hauch, ein Lebens-West?

Erquicke mich! Ich geh zu Grunde,

Wenn mich dein reiner Geist verläßt!

Wird mir dein Kuß nicht Leben geben,

So ist mein Leben ohne Leben.


 

Ach! stärke mich, eh' ich vergehe

Und sende mir den kühlen Wind,

Daß er durch meine Seele wehe!

Ach! labe dein erlöstes Kind!

Bewege meines Herzens Klippen

Mit einem Kuß von deinen Lippen.


 

und man wird denselben Dichter erkennen. Vollends finden sich die letzten vier Zeilen des Duetts fast genau in der Cantate »Himmelskönig, sei willkommen« wieder, indem es dort heißt:


 

Himmelskönig, sei willkommen,

Laß auch uns dein Zion sein.

Komm herein!

Du hast uns das Herz genommen122.


 

[227] Wie unten gezeigt werden soll, ist es nicht der einzige ungedruckte Text Francks den Bach in Leipzig componirt hat. Das Duett, welches auch musikalisch an den Chor »Himmelskönig« anklingt, bildet das hervorragendste Stück der Cantate. Ueber einem Basso quasi ostinato duettiren Sopran und Alt; dazu führt eine selbständige Instrumentalstimme den Pfingst-Choral »Komm heiliger Geist, Herre Gott« aus (in einer späteren Bearbeitung hat Bach Bass und Choral der obligaten Orgel zuertheilt). Die Künstlichkeit des complicirten Satzes wird dadurch noch erhöht, daß Bach die Choralmelodie in Buxtehudes Weise reich colorirt verlaufen läßt. Er hat indessen nicht die ganze lange Melodie benutzt, sondern nur die drei ersten und die beiden letzten Zeilen (das doppelte Hallelujah am Schlusse als eine Zeile gefaßt). Beachtung verdient, daß er dieselbe Kürzung auch in der anfänglichen Gestaltung seiner für Orgel gesetzten Choralfantasie über dieselbe Melodie hat eintreten lassen, nur daß hier auch noch das Hallelujah fortgeblieben ist123. Der Satz athmet eine selbst bei Bach überraschende Innigkeit und Ueberschwänglichkeit. Wenn für eine solche Empfindung Buxtehudes Art der Choralführung besonders passend war, so erleichterte die phantastische Freiheit derselben auch die Durchführung der verwickelten Combination, indem sie kleine Abweichungen vom Gange der Melodie, wie beim Hallelujah, oder auch eine gelegentliche Unterbrechung des Melodiefadens, wie Takt 9, gestattete. Charakteristischer Schönheit voll sind auch die übrigen Sologesänge, die Tenor-Arie, wo die Gänge der vereinigten Geigen wie ziehende Frühlingsdüfte anmuthen, und die prächtige Bassarie, zu welcher nur Trompeten, Pauken und Fagott begleiten. Der Chor, welcher am Schlusse wiederholt wird, erinnert an den der Weihnachts-Cantate »Christen ätzet diesen Tag«, ist jedoch weniger bedeutend. Daß auch hier zwei Violen mitwirken, soll mit Rücksicht auf die Ostermusik »Christ lag in Todesbanden« hervorgehoben sein124.

Die Musik für den zweiten Pfingsttag 1724 fehlt wieder. Dagegen [228] dürfte die für den dritten Pfingsttag vielleicht in der Cantate »Erwünschtes Freudenlicht«125 erhalten sein. Jedenfalls gehört auch sie in die ersten Leipziger Jahre. Nur muß freilich kein Anstoß daran genommen werden, daß sie Ueberarbeitung einer weltlichen Cantate ist. Welchem Zwecke das Original bestimmt war, wissen wir nicht; es hat sich keine Spur desselben entdecken lassen. Aber daß wirklich eine weltliche Cantate zu Grunde liegt, erkennt man aus dem tanzartigen, volksthümlichen Duett und vor allem aus dem als Gavotte auftretenden Schlußchore. Mit ihm hat es insofern noch eine besondere Bewandtniß, als er mit anderm Texte auch in einer aus dem Jahre 1733 stammenden weltlichen Gelegenheitsmusik als Schlußchor wiederkehrt, wenngleich nur mit den ersten 24 Takten126. Es bestätigt sich hierdurch, daß er ursprünglich auch für einen weltlichen Zweck erfunden war. Bach muß das Stück selbst besonders gern gehabt haben, denn so häufig es bei ihm vorkommt, daß er weltliche Cantaten zu geistlichen umwandelte, so selten überträgt er aus einer weltlichen Cantate in die andere. Der dieser Gavotte vorhergehende Choral ist erst später eingeschoben, jedenfalls als das Werk eine kirchliche Bestimmung erhielt. Er vermag es nicht, den weltlich-heitern Charakter des Ganzen wesentlich zu ändern.

In dieselbe Zeit, und vermuthlich in dasselbe Jahr 1724 gehört die Cantate zum Trinitatisfest »O heilges Geist- und Wasserbad«, deren Text wieder aus Francks »Evangelischem Andachts-Opfer« entnommen ist127. Eine matte, gedankenarme Dichtung, aus welcher Bach ein, wenn auch nicht bedeutendes, so doch anmuthiges und feines Musikwerk geschaffen hat. Hervorragend ist der als Sopranarie auftretende erste Satz, eine äußerst kunstvolle Fuge mit Engführungen, Umkehrungen und Gegenthemen. Die andern beiden [229] Arien verlaufen einfacher, zeigen aber durchweg dieselbe saubere Detailarbeit. Der Chor tritt nur im einfachen Schlußchorale ein, die Gesammtstimmung ist eine milde, mittlere. –

Hiermit ist die Reihe der Fest-Cantaten geschlossen, welche sich mit größerer oder geringerer Sicherheit in das erste volle Leipziger Kirchenjahr verweisen lassen. Mustern wir nun die den gewöhnlichen Sonntagen bestimmten Compositionen, die diesem Jahre angehören, oder anzugehören scheinen.

1) Sonntag nach Neujahr (2. Januar 1724). Ich setze hierher die Cantate »Schau lieber Gott, wie meine Feind«. Einer großartigen, kühn gebauten Tenor-Arie »Stürmt nur, stürmt ihr Trübsals-Wetter«, und einer Alt-Arie von außergewöhnlichem melodischen Reize gesellen sich drei einfach gesetzte Choräle, von welchen der eine am Anfang, der zweite nach einem von Recitativen eingeschlossenen Bass-Arioso und der dritte am Schlusse seinen Platz hat. Ein Choralchor oder ein frei erfundenes Chorstück fehlt; die Disposition der Formen ist also eine von Bachs sonstigen Gewohnheiten abweichende128.

2) Erster Sonntag nach Epiphanias (9. Jan. 1724) »Mein liebster Jesus ist verloren.« Aehnlich wie in der vorigen Cantate ist der Chor nur mit zwei einfachen Chorälen betheiligt, deren einer den Schluß bildet, während der andere an dritter Stelle steht. Die Arien sind sämmtlich von hoher Schönheit. Schmerzlich verlangend und echt bachisch beginnt in H moll der Tenor:


 

5.


 

Die folgenden Zeilen: »O Schwert, das durch die Seele dringt, O Donnerwort in meinen Ohren« spielen offenbar auf das Lied Johann Rists an »O Ewigkeit, du Donnerwort, O Schwert, das durch [230] die Seele bohrt«. Bach hat zwei Cantaten componirt, welche mit diesem Choral beginnen. In einer derselben, zum 24. Trinitatis-Sonntage129, wird die bange Erwartung, mit welcher der Mensch dem göttlichen Richter entgegen sieht, durch eine leise bebende Sechzehntelbewegung der Geigen ausgedrückt. Ganz dasselbe Darstellungsmittel gebraucht Bach zu den analogen Worten hier und es mag ihm bei der Composition der Trinitatis-Cantate, welche um 1732 stattgefunden haben wird, das frühere Werk wieder in den Sinn gekommen sein. Einen andern auffallenden Anklang enthält die dem Schlußchoral vorangehende Tenor-Arie mit dieser Stelle:


 

5.


 

In einem Duett der Cantate »Liebster Jesu, mein Verlangen«, die ebenfalls dem ersten Sonntage nach Epiphanias gehört130, findet sie sich ebenso in fleißiger Durchführung. Hier ist an einer bewußten Anspielung nicht zu zweifeln. Wahrscheinlich ist sie aber auch in der Fis dur-Fuge des zweiten Theils des Wohltemperirten Claviers zu erkennen, wo zweimal der polyphone Fortgang durch eine längere homophonere Partie unterbrochen wird, die fast ohne motivischen Zusammenhang mit dem Vorigen obigen Gedanken durchführt. Und noch ein drittes Mal mahnt diese Cantate an eine andere Composition; man vergleiche mit folgender Stelle:


 

5.


 

den ersten Satz der Violinsonate in A dur, namentlich Takt 8131. Die Stelle kommt in der Alt-Arie vor:


 

Jesu, laß dich finden,

Laß doch meine Sünden

Keine dicke Wolke sein.

Wo du dich zum Schrecken

Willst für mich verstecken,

Stelle dich bald wieder ein.


 

[231] Eine zarte weibliche Anmuth äußert sich in dieser Composition. Gleich aus der Hauptmelodie:


 

5.


 

tritt sie entgegen; dadurch daß außer zwei Oboi d'amore nur Violinen und Bratsche im Einklang begleiten erhält das Stück einen milden ätherischen Glanz, und die wiegende Bewegung der Grundstimmen:


 

5.


 

welche von letzteren Instrumenten ausgeführt wird, giebt ihm auch ihrerseits einen besonderen Charakter. Die Eltern Christi, so erzählt das Evangelium, waren zum Osterfest mit ihm nach Jerusalem gezogen. Dort hatten sie den Sohn verloren, suchten lange und fanden ihn endlich im Tempel zuhörend und fragend in der Mitte der Lehrer sitzen. Mit sanftem Vorwurf sagt Maria: »Mein Sohn, warum hast du uns das gethan? Siehe dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht«. Darauf rechtfertigt sich das Kind in fast verweisenden Worten. »Und seine Mutter«, heißt es weiter, »behielt alle diese Worte in ihrem Herzen.« Der Dichter des Cantaten-Textes hat den Vorgang symbolisch auf das Verlangen der Seele nach Christus bezogen, und dies hat Bach auch als Grundempfindung des Werkes aufgefaßt. Aber wir wissen schon, wie gern er sich außerdem specielle Anregungen aus dem Bibeltexte selbst, oder der kirchlichen Bedeutung des Sonntages holt. Wenn man nun überdies sieht, daß auf obige Arie die Bibelworte folgen, welche Jesus dem Vorwurf der Mutter entgegen hält: »Wisset ihr nicht, daß ich sein muß in dem, was meines Vaters ist«, so wird man nicht zweifeln, daß bei der Arie das Bild der Maria, welche ja in der Erzählung des Evangeliums so bedeutsam hervortritt, dem tiefsinnigen Tondichter vorschwebte. Es ist ein ähnlicher Fall, wie in der H moll-Arie des Magnificat (s. S. 206 f.)132.

3) Vierter Sonntag nach Epiphanias (30. Jan. 1724) »Jesus [232] schläft, was soll ich hoffen«133. Jesus fährt mit seinen Jüngern über das Meer. Ein Sturm erhebt sich, aber er schläft. Sie wecken ihn angstvoll; er verweist ihnen ihren Kleinmuth, bedroht das Meer und es wird stille. Wer unter der Vorstellung dieser Begebenheit an die Cantate herantritt, den wird die erste Arie überraschen. Denn sie steht ganz außerhalb der bezeichneten Situation. Es ist ein düsteres Nachtstück: der Beschützer schläft, eine grausige Erscheinung entpreßt Angstrufe der Brust des einsam Wachenden. Erst mit der zweiten Arie schließt sich das Kunstwerk mehr an den evangelischen Vorgang an, hier dienen alle Mittel, auch die Singstimme, allein der Schilderung eines im Sturme wallenden Meeres. Im Folgenden wird dann der Anschluß immer enger: wir hören Christus selber, wie er spricht »Ihr Kleingläubigen, warum seid ihr so furchtsam?«, und in der grandiosen E moll-Arie sehen wir ihn hochaufgerichtet mit gewaltigem Ruf das Meer beschwören. Nach einem dramatischen Verlauf, welcher dem Ganzen seine Einheit gäbe, darf man nicht suchen wollen. Eben das ist der Vortheil des Componisten, daß er das Evangelium in seiner einfachen und symbolischen Bedeutung als einigendes Moment voraussetzen darf, er kann nun seinen Gegenstand von verschiedenen Seiten angreifen, und braucht in der Aufreihung der Tonbilder nur auf rein musikalische Forderungen Rücksicht zu nehmen. In dieser Cantate hat Bach gezeigt, wie er auch mit geringen Mitteln das Großartigste zu schaffen vermag. Sie gehört ohne Frage zu den bewundernswerthesten Erzeugnissen nicht nur seiner, sondern überhaupt der deutschen Tonkunst. In jedem Takte derselben, kann man sagen, ist der Genius in seiner vollen Stärke wirksam. Niemand wird dieses so trostvoll in dem Choral »Jesu meine Freude« ausklingende Werk ohne tiefste Bewegung an sich vorübergehen lassen können.

4) Sonntag Estomihi (20. Febr. 1724) »Du wahrer Gott und Davids Sohn«. Ueber diese schon ein Jahr zuvor componirte Cantate ist bereits gesprochen (s. S. 181 ff.).

5) Sonntag Jubilate (30. April 1724) »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen«134. Sehr deutliche Zeichen weisen darauf hin, daß die [233] Cantate mit der Pfingstmusik »Erschallet ihr Lieder« dieselbe Entstehungszeit hat. Indessen ist man, wie zu einem gewissen Theile auch gegenüber der Ostercantate »Christ lag in Todesbanden«, versucht an die Benutzung eines früheren Werkes zu denken. Die autographe Partitur, welche vorliegt, ist eine sehr schöne Reinschrift. Beruht sie auf einer älteren Composition, so dürfte diese in der weimarischen Zeit, etwa gegen 1714, geschaffen sein. Geist und Form der Dichtung verrathen die Art Salomo Francks. Die Sinfonie ist eines jener breiten, voll harmonisirten Adagios, in welchen bei Bach die einsätzige Gabrielische Kirchensonate gipfelt und ausläuft, nicht ohne von der Haltung der ersten Adagiosätze der italiänischen Kammersonate einiges angenommen zu haben; diese Form findet sich häufiger nur noch in seinen früheren Kirchencompositionen135. Der erste Chor hat dreitheilige Arneiform und ist im ersten und dritten Theile ein auf Chor und Orchester übertragener Passacaglio. Auch hierzu findet sich unter Bachs früheren Werken ein Seitenstück: die Ciacona am Schlusse der Cantate »Nach dir Herr verlanget mich«136. In beiden Fällen ist das Form-Problem meisterlich gelöst; musikalisch interessanter, harmonisch tiefsinniger ist noch der Passacaglio. Seine thränengesättigte, in Schmerzen schwelgende Stimmung weist ebenfalls auf jene Periode Bachs zurück, da er noch im Gebiete der älteren Kirchencantate thätig war, und mit den Formen derselben auch das ihnen eigenthümliche Stimmungsgebiet cultivirte. Ueber die innere Verwandtschaft des Passacaglio »Weinen, Klagen« mit einem Chore aus der Mühlhäuser Rathswechsel-Cantate von 1708 und einer Arie Erlebachs ist an einer andern Stelle schon gesprochen (Bd. I, S. 346 f.). Der Bass desselben ist ein Lieblingsmotiv Bachs; es findet sich in der Cantate »Nach dir Herr verlanget mich« ebenfalls, hier jedoch als Fugenthema für den ersten Chor, dann unter andern noch in der Cantate »Jesu, der du meine Seele«, wo außerdem [234] auch andere Wendungen auf den Chor »Weinen, Klagen« zurückdeuten137. Die Arien folgen, wie Franck es liebte, einander ohne zwischengeschobene Recitative. Die Alt-Arie zeichnet sich dadurch aus, daß das Instrumental-Ritornell einen andern Gedanken vorträgt, als die Singstimme; ebenso kommt es in der weimarischen Ostercantate »Der Himmel lacht, die Erde jubiliret« vor (s. Bd. I, S. 536). Darin endlich, daß das Werk in einer andern Tonart schließt, als es beginnt und mit seinen ersten vier und letzten drei Theilen gleichsam in zwei Hälften zerfällt, ähnelt es der 1714 geschriebenen Cantate »Nun komm der Heiden Heiland« (s. Bd. I, S. 501). Ueberall, so sieht man, lassen sich die Fäden aufzeigen, welche es mit einer früheren Schaffensperiode Bachs verbinden. Noch sei bemerkt, daß im 17. Takte der Alt-Arie eine mit dem vierten Achtel eintretende canonische Imitirung der Singstimme durch die accompagnirende Orgel vorausgesetzt wird. Dergleichen kommt nicht nur bei Bach sondern überhaupt in jener Zeit bei Schlußcadenzen, namentlich in Recitativen, öfter vor. Als Beleg diene der Schluß des Recitativs aus der Cantate »Gott der Hoffnung erfülle euch«138:


 

5.


 

6) Zweiter Sonntag nach Trinitatis (18. Juni 1724) »Siehe zu, daß deine Gottesfurcht nicht Heuchelei sei«. Die Cantate gehört mit der oben besprochenen Composition auf das Trinitatisfest »O heilges [235] Geist-und Wasserbad« augenscheinlich zusammen. Sie entfaltet sich in größeren Formen und ist bedeutend gehaltvoller. Aber es herrscht eine überraschende Uebereinstimmung im Bau der ersten Sätze und dieser ist ein ganz ungewöhnlicher und besonders complicirter. Was in der Festcantate Sopranarie, ist hier vierstimmiger Chor mit zum Theil selbständigem Grundbass. Das Fugenthema wird in beiden Stücken in motu recto und contrario durchgearbeitet, wie dort tritt auch hier ein zweites Thema auf, das sich hernach mit dem ersten zur Doppelfuge verbindet. Auch ist eine gewisse Verwandtschaft der Themen erkennbar, wenigstens der Hauptthemen. In der Festcantate lautet es:


 

5.


 

in der andern:


 

5.


 

Die Stimmführung in jener ist noch verwickelter, dichter, fast verkünstelt; man könnte die Arie in Fugenform eine Studie für die ungezwungen und imposant sich ausbreitende Chorfuge nennen. Nicht nur in ihr aber, auch in den beiden Arien und dem Schlußchoral hat Bach von seiner unübertroffenen Combinationsbegabung vollen Gebrauch gemacht; namentlich ist die zweite Arie, in welcher der Sopran mit dem Bass und zwei Oboi da caccia ein richtiges Quatuor herstellt, bewunderungswürdig durch ihren harmonischen und modulatorischen Reichtum. Darin daß die Cantate in einer andern Tonart schließt als beginnt, gleicht sie der vorigen139.

7) Zwölfter Sonntag nach Trinitatis (27. Aug. 1724) »Lobe den Herrn, meine Seele«. Den prachtvollen, festlichen Charakter verdankt die Cantate weniger ihrer Bestimmung für den genannten Sonntag, als dem Umstände, daß sie offenbar zugleich Rathswahl-Cantate sein sollte. Der bei dieser Veranlassung übliche Gottesdienst fand im Jahre 1724 am 28. August statt; in ihm wurde die [236] Cantate also abermals aufgeführt. Eine dritte Aufführung ist gegen 1730 veranstaltet worden; sie diente ohne Zweifel keinem sonntäglichen Zwecke mehr, sondern nur dem Rathswahl-Gottesdienste. Denn die Umarbeitung, welche das Werk für diese Aufführung erlitt, läßt im Texte die Beziehung auf die städtische Obrigkeit noch viel schärfer hervortreten und wendet sich dadurch von dem Inhalte des Evangeliums zum 12. Trinitatis-Sonntage vollständig ab. Die Solostücke dieser Cantate sind von keiner hervorragenden Bedeutung. Seine ganze Kraft aber hat Bach in den Anfangschor gelegt, eine in großen Verhältnissen ausgeführte Doppelfuge mit arienmäßigem Eingange. Er gehört zu den feurigsten, glänzendsten Stücken, welche wir in dieser Art von ihm besitzen140. –

Nachdem wir Bach durch das erste vollständige Kirchenjahr, das er in Leipzig erlebte, begleitet haben, mag nunmehr, was er als Cantatencomponist producirte, in größere Gruppen zusammengefaßt werden. Eine solche Gruppe wird passend abgegränzt durch den 7. September 1727, wo wegen des Todes der Königin Christiane Eberhardine eine viermonatliche Landestrauer eintrat, während welcher Kirchenmusik und Orgelspiel verstummen mußten141. Von dreien während dieser Zeit geschaffenen Cantaten lassen sich Jahr und Tag der ersten Aufführung genauer, von einer Anzahl anderer nur annähernd bestimmen. Picander gab, wie erzählt worden ist, für das Kirchenjahr 1724–1725 eine »Sammlung erbaulicher Gedanken« in wöchentlich erscheinenden Stücken heraus. Durften wir muthmaßen, daß er schon zur Rathswahl 1723 und zu Neujahr 1724 für Bach gereimt habe, so läßt sich vermittelst dieser Sammlung der erste Text aufzeigen, welchen Picander nachweislich für Bach verfertigte. Die »Erbaulichen Gedanken« an sich waren höchstens soweit componirbar als sie Strophenlieder enthielten. Aber ein Strophenlied in die musikalische Form einer madrigalischen Kirchenmusik eingehen zu lassen hatte mancherlei unbequemes. Deshalb sah sich Picander veranlaßt, dem in den »Erbaulichen Gedanken auf das Fest Michaelis« enthaltenen strophischen Gedichte durch Kürzung, Zusammenziehung, Umstellung und mittelst einiger Zusätze[237] die Form eines madrigalischen Textes zu geben. Als erstes einer unzähligen Menge gleichbeschaffener Producte, und weil man von Picanders Art zu arbeiten daraus das deutlichste Bild erhält, mag es hier in seiner Doppelgestalt Platz finden.


 

Text des strophischen Gedichtes.


 

(Mel. Allein Gott in der Höh sei Ehr.)


 

1.

Was ist der Mensch, das Erdenkind,

Der Staub, der Wurm, der Sünder?

Daß ihn der Herr so lieb gewinnt,

Und ihm die Gotteskinder,

Das große starke Himmelsheer

Zu einer Wacht und Gegenwehr,

Zu seinem Schutz gesetzet.


 

2.

Wir preisen deine Freundlichkeit,

Du Herr der Seraphinen,

Daß uns die Engel allezeit

Bewachen und bedienen.

So groß des Teufels Macht und List

Und alle seine Rüstung ist,

So sind wir doch in Friede.


 

3.

Gott schickt uns Mahanaim zu,

Wir stehen oder gehen,

So können wir in sichrer Ruh

Für unsern Feinden stehen.

Es lagert sich so nah als fern

Um uns der Engel unsers Herrn

Mit Feuer, Roß und Wagen142.


 

4.

Drum lasset uns, ihr Menschen, nicht

Auf Menschen wieder trauen;

Viel lieber unsre Zuversicht

Auf Gott alleine bauen.

[238] Je näher Gott, je größer Noth,

Uns muß ein Engel öffters Brod

Wie dem Propheten bringen.


 

5.

Uns kann kein einige Gefahr

In dem Beruf erschrecken,

Weil uns die Engel immerdar

Mit ihrem Schutz bedecken.

Wenn wir in höchsten Nöthen sein,

Und wissen weder aus noch ein

Muß uns ein Engel trösten.


 

6.

Drum lasset uns das Angesicht

Der frommen Engel lieben,

Und sie mit unsern Sünden nicht

Vertreiben und betrüben,

Erhebt mit Loben Gottes Reich

Und lasset uns den Engeln gleich

Sein dreimal Heilig! singen.


 

7.

Befiehlt uns Herr ein sanfter Tod

Der Welt Valet zu sagen,

So laß uns aus der Sterbensnoth

Die Engel zu dir tragen.

Verleihe, daß wir nach der Zeit

In deiner süßen Seeligkeit

Den Engeln ähnlich glänzen143.


 

Text der Cantate.


 

Chor.

Es erhub sich ein Streit.

Die rasende Schlange und höllische Drache

Stürmt wieder den Himmel mit wüthender Rache.

Aber Michael bezwingt,

Und die Schaar, die ihn umringt

Stürzt des Satans Grausamkeit.


 

Bass-Recitativ.

Gottlob! der Drache liegt.

Der unerschaffne Michael

Und seiner Engel Schaar hat ihn besiegt;

Dort liegt er in der Finsterniß

Mit Ketten angebunden,

[239] Und seine Stätte wird nicht mehr

Im Himmelreich gefunden.

Wir stehen sicher und gewiß,

Und wenn uns gleich sein Brüllen schrecket,

So wird doch unser Leib und Seel

Mit Engeln zugedecket.


 

Sopran-Arie.

Gott schickt uns Mahanaim zu,

Wir stehen oder gehen,

So können wir in sichrer Ruh

Für unsern Feinden stehen.

Es lagert sich so nah als fern

Um uns der Engel unsers Herrn

Mit Feuer, Roß und Wagen.


 

Tenor-Recit.

Was ist der schnöde Mensch, das Erdenkind?

Ein Wurm, ein armer Sünder.

Schaut, wie ihn selbst der Herr so lieb gewinnt,

Daß er ihn nicht zu niedrig schätzet

Und ihm die Himmelskinder

Der Seraphinen Heer

Zu seiner Wacht und Gegenwehr,

Zu seinem Schütze setzet.


 

Tenor-Arie.

Bleibt, ihr Engel, bleibt bei mir,

Führet mich auf beiden Seiten,

Daß mein Fuß nicht möge gleiten.

Aber lernt mich auch allhier

Euer großes Heilig singen

Und dem Höchsten Dank zu bringen.


 

Sopran-Recit.

Laßt uns das Angesicht

Der frommen Engel lieben

Und sie mit unsern Sünden nicht

Vertreiben oder auch betrüben,

So sein sie, wenn der Herr gebeut

Der Welt Valet zu sagen

Zu unsrer Seligkeit

Auch unser Himmelswagen.


 

Chor. Choral.

Laß dein' Engel mit mir fahren

Auf Elias Wagen roth,

Und mein' Seele wohl bewahren

Wie Laz'rum nach seinem Tod!

Laß sie ruhn in deinem Schooß

Erfüll sie mit Freud und Trost,

Bis der Leib kommt aus der Erde

Und mit ihr vereinigt werde.


 

Eine Vergleichung der beiden Dichtungen ergiebt, daß der Text [240] der ersten zwei Stücke der Cantate aus dem Ideenkreise der Festtags-Epistel heraus neu hinzu erfunden worden ist. Die Sopran-Arie stimmt wörtlich mit der dritten Strophe aus den »Erbaulichen Gedanken« überein. Das Tenor-Recitativ ist die erste Strophe, mit leichter Hand madrigalartig umgeformt. Dasselbe Verhältniß besteht zwischen den beiden letzten Strophen und dem Sopran-Recitativ, während die Tenor-Arie wieder ziemlich frei erfunden ist. Den Schlußchoral bildet die achte Strophe des Kirchenliedes »Freu dich sehr, o meine Seele«. Darüber daß Cantaten-Text und strophische Dichtung für dasselbe Michaelisfest des Jahres 1725 gemacht worden sind – und zwar letztere, um als selbständiges Werk veröffentlicht zu werden, ersterer nur um der Composition Bachs zu dienen – kann meines Erachtens kein Zweifel sein. Picander schrieb in madrigalischer Form viel zu schnell und mühelos, als daß es ihm hätte beikommen können, in späteren Jahren noch auf ein Gedicht zurückzugreifen, dessen Originalgestalt den Anforderungen eines Cantaten-Textes im ganzen doch nur wenig entsprach. Außerdem verräth sich obiger Michaelistext als frühe Arbeit durch den in der Tenor-Arie vorkommenden Ausdruck: »Aber lernt mich auch allhier Euer großes Heilig singen« – eine sprachliche Nachlässigkeit, der man in Picanders ersten Dichtungen mehrfach begegnet, die er aber später sich nicht mehr hingehen ließ.144 Das Michaelisfest fällt auf den 29. September.

Bei einer früheren Gelegenheit ist darauf hingewiesen, daß Bach sich bei dieser Michaeliscomposition durch ein Werk seines Oheims Johann Christoph Bach habe anregen lassen.145 Wir wissen daß er es in Leipzig aufführte und damit eine große Wirkung machte. Die Anregung zeigt sich zunächst in der Gestaltung des Textes, die Picander zuverlässig nach Angabe Bachs vornahm und welche dem Gebrauche entgegen, soweit es sich mit der Benutzung des vorhandenen strophischen Gedichtes noch vertrug, mehr auf die Epistel als auf das Evangelium Bezug nimmt. Ferner tritt in der [241] Composition das Streben nach plastischen, oratorienhaften Tonbildungen auffallend hervor. Wo nur im Text des ersten Chors ein Begriff entgegen tritt, der sich durch analoge Tonbewegungen versinnlichen läßt, geschieht es mit Beflissenheit. Dennoch entsteht kein eigentlicher Oratorienchor. Es ist nicht die objective – epische, wenn man will – Hingabe an den Gegenstand, welche wirksam wird, sondern ein durch die Vorstellung eines gewaltigen Ereignisses erregter Empfindungsstrom fluthet und braust vorüber, und spiegelt die zitternden Bilder der Begebenheiten nur in gebrochenen, unsichern Linien zurück. Der Chor zeigt durch den Vergleich mit der Composition Johann Christophs deutlich die Eigenthümlichkeit und Gränze von Sebastians Begabung: ein Oratoriencomponist wie Händel hätte nie aus ihm werden können, wären selbst die äußeren Bedingungen dazu vorhanden gewesen; aber den Anforderungen der Kirchenmusik zu genügen, dafür war die Art seines Schaffens grade die rechte. Geistreich wird in der Sopranarie die Vorstellung der »Mahanaim«, wel che den Menschen auf Schritt und Tritt schützend begleiten, durch ein aus der Hauptmelodie gewobenes dichtes Gespinnst ausgedrückt. Noch tiefsinniger ist die Tenorarie combinirt. Das Orchester begleitet den Gesang mit einem nahezu selbständigen Siciliano; dazu bläst die Trompete die Choralmelodie »Herzlich lieb hab ich dich o Herr.« Man hat nicht an die Worte der ersten Strophe dabei zu denken, sondern an die der letzten:


 

Ach Herr, laß dein lieb Engelein

Am letzten End die Seele mein

In Abrahams Schooß tragen,

Den Leib in sein'm Schlafkämmerlein

Gar sanft ohn einge Qual und Pein

Ruhn bis am jüngsten Tage!

Alsdann vom Tod erwecke mich,

Daß meine Augen sehen dich

In aller Freud, o Gottessohn,

Mein Heiland und Genaden – Thron!

Herr Jesu Christ!

Erhöre mich, erhöre mich!

Ich will dich preisen ewiglich!


 

Die Länge der Strophe hat auch eine ungewöhnliche Ausdehnung der Arie zur Folge gehabt. Es ist nöthig, die Choralmelodie als den gegebenen musikalischen Kern sich vorzustellen, damit das [242] Stück beim Hören nicht zu lang erscheine. Im übrigen sieht man, wie durch diese Combination der Schlußchoral vorbereitet wird, der von den kriegerischen Bildern des Anfangs weit hinweg zur Ruhe der Seligen führt.146

Die zweite der drei Cantaten aus den Kirchenjahren 1724–1727, deren Entstehungszeit genau bestimmt werden kann, gehört in den Anfang des Februar 1727 und ist ebenfalls von Picander gedichtet. Gleich der Cantate »Lobe den Herrn, meine Seele« vom Jahre 1724 hatte auch diese eine doppelte Bestimmung: sie sollte zugleich Kirchen-Cantate und Gelegenheitsmusik sein. In ersterer Verwendung gehörte sie dem Feste Mariä Reinigung (2. Febr.), in letzterer diente sie einer vier Tage später begangenen Trauerfeierlichkeit. Johann Christoph von Ponickau der Ältere, Herr auf Pomßen, Naunhoff, Großzschocher und Winddorff, Kammerherr, Hof- und Appellationsrath war im October 1726 im 75. Lebensjahre gestorben und wurde am 31. October im Erb-Begräbniß der Kirche zu Pomßen bestattet. Er hatte sich um Sachsen vielerlei Verdienste erworben und war eine hochangesehene Persönlichkeit gewesen. Auch Picander fühlte sich ihm persönlich tief verpflichtet und gab diesem Gefühle in einem Trauergedichte Ausdruck. Am 6. Februar 1727 wurde zu Ehren des Abgeschiedenen in der Kirche zu Pomßen ein solenner Trauergottesdienst veranstaltet; Picander dichtete hierzu eine Cantate »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« und Bach gab die Musik.147 Es hat den Anschein, daß er dieses weniger aus eigner Bewegung, als dem befreundeten Dichter zu Gefallen that, und seinerseits mehr nur darauf sah, wie die Musik zugleich zu einem kirchlichen Zwecke verwendet werden könne. Der Text enthält sich, wohl auf Bachs Veranlassung, aller persönlichen Anspielungen und konnte ohne Änderung eines Wortes zu dem wenige [243] Tage vorher einfallenden Feste Mariä Reinigung gebraucht werden. Auch die Composition trägt durchaus keinen solennen Charakter; sie ist ein ernstes, sinniges Stück in der Stimmung der Worte des alten Simeon: »Herr nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren«, der Chor fehlt, abgesehen vom Schlußchorale, gänzlich.

Als dritte ist die Cantate »Herz und Mund und That und Leben« zu nennen. Sie entstand freilich zum 4. Adventsonntag 1716 in Weimar, hat aber für Leipzig eine sehr durchgreifende Umarbeitung erfahren und wurde, wegen des Ausfalls der Kirchenmusik in der Adventzeit, nunmehr dem Feste Mariä Heimsuchung (2. Juli) bestimmt. Wenn auch nicht ganz gewiß, so ist es doch sehr wahrscheinlich, daß sie diese Bestimmung zuerst im Jahre 1727 zu erfüllen hatte.148

Es folgt eine Reihe von Kirchencantaten, von denen sich mit einiger Sicherheit nur im allgemeinen sagen läßt, daß sie innerhalb der vier Kirchenjahre 1723–1727 geschrieben worden sind.

1) Neujahrsfest »Herr Gott dich loben wir«. Schon bei der Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« ist darauf hingewiesen, daß Bach es nicht verschmähte, sich gelegentlich dem Geschmacke des Leipziger Publicums anzubequemen (s. S. 183). Unter allen bekannten Kirchenmusiken seiner Composition ist diese für das Neujahrsfest diejenige, in welcher ein Anschluß an Telemanns Schreibweise am deutlichsten hervortritt. Nicht freilich geschieht es im ersten Satze, einem prächtigen Choralchore über die vier ersten Zeilen des Ambrosianischen Lobgesanges: in solchen Formen konnte und mochte Bach nichts von Telemann annehmen und Telemann wäre nicht im Stande gewesen, es ihm auch nur von ferne darin nachzuthun. Aber ein ganz andrer Geist scheint aus dem zweiten Chore »Laßt uns jauchzen, laßt uns freuen« zu reden. Der Wechsel zwischen Bass und vollem Chor, die gefällige Melodik, die drastische Art des Ausdrucks, die Chorbehandlung, alles dies sieht Telemannschen Chorsätzen zum Verwechseln ähnlich149 wenn man gleich bei [244] näherem Eingehen selbst hierin Bachs kräftigeren Geist recht wohl spürt. Bachs Verhältniß zu Telemann beruhte nicht nur auf persönlicher Freundschaft, er unterschätzte ihn auch als Componisten keineswegs und schrieb sich zum Gebrauch für seine Leipziger Aufführungen eine Adventscantate desselben eigenhändig ab.150 Auch in der sehr melodischen, weich-innigen Tenor-Arie »Geliebter Jesu, du allein« ist der Widerschein der Keiser-Telemannschen Sologesänge garnicht zu verkennen. Wer sie mit der Tenor-Arie der oben genannten Estomihi-Cantate vergleicht, wird eine gewisse Verwandtschaft in der Empfindungsweise sofort bemerken.151

2) Dritter Sonntag nach Epiphanias »Herr wie du willt, so schicks mit mir.«152 Der an der Spitze stehende Choralchor, welcher auf eine Stelle des Evangeliums, wenngleich nur äußerlich, Bezug nimmt, hat eine in mancher Beziehung neue Form. Recitativische Partien, welche die Gedanken des Melissanderschen Kirchenliedes weiter ausführen, durchziehen ihn. Einer solchen Textanlage begegnet man öfter in Picanders kirchlichen Dichtungen: die letzte Arie von »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn« ist in dieser Weise gehalten, ähnlich auch der Anfang eines auf den 3. Epiphanias-Sonntag 1729 gemachten Textes. Es darf daher vermuthet werden, daß auch der vorliegende Text von ihm herrührt. Der Choral ist vierstimmig und insofern homophon gesetzt, als mit imitatorischen Durchführungen die Singstimmen nirgends behelligt werden. Sehr selbständig benehmen sich die Instrumente. Vor und zwischen den Zeilen lassen sie stets dasselbe, nur in der Tonart nach der jedesmaligen Zeile sich richtende Ritornell hören, das in motivischer Zerlegung auch die recitativischen Stellen begleitet; den Choralgesang umspinnen sie in andersartiger Figurirung. Außerdem treibt der Componist mit einem Motive des Chorals ein seltsames Spiel. Ein Horn153, welches den Cantus firmus verstärkt und anfänglich auch praeludirend vorträgt, macht sich nebenher [245] mit der Zerstückelung und Verkürzung der ersten Melodiezeile, unterstützt von den Saiteninstrumenten, angelegentlich zu schaffen. Namentlich sind es die auf die Worte »Herr wie du willt« fallen den Töne, welche in diminuirten Notenwerthen:


 

5.


 

 

immer und immer wieder angebracht werden. Schließlich, nachdem der Chor längst das seinige gethan hat, scheint es als ob er begriffen hätte, was der Tondichter ihm durch die Instrumente unablässig zuraunen ließ: dreimal nach längeren Zwischenräumen hören wir nun auch von ihm das kurz herausgestoßene »Herr wie du willt«, zuletzt auf dem Dominantseptimen-Accorde abbrechend, worauf die Instrumente rasch die Schlußcadenz machen. Der volle Sinn des seltsamen Tongebildes erschließt sich aber erst durch die Bass-Arie, welche dem Schlußchorale vorhergeht. Der Text besteht aus drei vierzeiligen Strophen, deren jede mit den Worten »Herr so du willt« anhebt. Bach nennt das Stück »Arie«, obwohl die Form desselben frei von ihm erfunden ist. Er setzt in ihm die Gedanken des Anfangschores in einer Weise fort, daß man sieht, diese Dichtung hatte für ihn auf die Gestaltung des Chores rückwärts gewirkt. Das Thema wird ohne Vorspiel von der Singstimme intonirt


 

5.


 

dann bemächtigen sich seiner, wiederum in der Verkürzung, alsbald auch die Instrumente, mehr nur den Rhythmus imitirend:


 

5.


 

und arbeiten es mit Beharrlichkeit durch. Eine begleitende Sechzehntel-Figur ist ebenfalls dem ersten Chore entnommen. Die Empfindung eines Menschen, der sich mit demuthsvoller Ergebung vor dem unbegreiflichen Rathschlusse Gottes beugt, ist hier mit ergreifender Inbrunst ausgesprochen. Aus der Stelle, wo die Saiteninstrumente pizzicato das Leichengeläut nachahmen, klingt es wie Friedensahnung, die durch die Schauerpforten des Todes herein weht (vrgl. Band I, S. 546).

3) Dritter Sonntag nach Epiphanias »Alles nur nach Gottes Willen«154. Dieses ist ein Text aus Francks Evangelischem Andachtsopfer, [246] und einer der ansprechendsten. Er verfolgt denselben Grundgedanken, wie derjenige der vorigen Cantate, und es scheint sogar, als sei er auf ihn nicht ohne Einfluß geblieben. Indessen nuancirt sich dort die Empfindung mehr nach der Richtung einer frommen Ergebung in die Leiden des Lebens, während hier das selige Genügen gepriesen wird, welches aus dem Bewußtsein erwächst, sich überall in der Hand eines liebreichen Gottes zu befinden. Den phantastischen Zug, die dunkle Färbung der vorigen Cantate findet man hier nicht, wohl aber eine vertrauensselige kindliche Innigkeit von rührender Gewalt. Den stärksten Ausdruck findet dieses Gefühl in der Sopranarie »Mein Jesus will es thun, er will mein Leid versüßen«, einem der holdesten Gesangstücke, die Bach geschrieben hat. Aber in seiner Art nicht weniger entzückend ist alles übrige: die erregtere Alt-Arie »Mit allem was ich hab und bin, Will ich mich Jesu lassen«, das vorhergehende Arioso, in welchem drei- und zweitheiliger Rhythmus so wirkungsreich durch einander spielen, endlich der in herrlicher Breite dahinwallende, von Innigkeit überquellende Eingangschor. Ein paar leichte Änderungen, die Bach im Texte vorgenommen hat, sind doch interessant genug, um hier erwähnt zu werden. Am Schlusse des Arioso heißt es bei Franck:


 

Herr, so du willt, so sterb ich nicht;

Ob Leib und Leben mich verlassen;

Wenn mir dein Geist dies Wort ins Herze spricht.


 

»Dies Wort« bezieht sich also bei ihm auf »Herr, so du willt«; Bach hat es auf die folgende Arie »Mit allem was ich hab und bin« bezogen, in welche das Arioso unmittelbar übergeht. In der Sopranarie singt der Dichter:


 

Mein Jesus will es thun! Er will dein Kreuz versüßen;

Obgleich dein Herze liegt in viel Bekümmernissen,

Soll es doch sanft und still in seinen Armen ruhn,

Wenn ihn der Glaube faßt! Mein Jesus will es thun.


 

Der Componist aber:


 

Wenn es der Glaube faßt: Mein Jesus will es thun.


 

4) Sonntag Septuagesimae »Nimm was dein ist und gehe hin«155. [247] Die Cantate beginnt mit einer Fuge, in welcher die energische, ja harte Abweisung der Forderungen werkgerechten Dünkels einen fast dramatischen Ausdruck gewinnt. Es ist schade, daß der Textdichter den tieferen Sinn des evangelischen Gleichnisses vom Hausvater, welcher Arbeiter für seinen Weinberg dingt, so ungenügend erfaßt hat und im folgen den nichts besseres zu thun weiß, als die Genügsamkeit zu preisen. So muß denn auch das Interesse an der Musik erlahmen. Was Bach aus den trivialen Reimereien machte, hat natürlich Kopf und Fuß; tiefer erregen kann es nicht. Doch scheint grade diese Cantate weitere Verbreitung gefunden zu haben und ihr Text mehrfach componirt zu sein«156.

5) Sonntag Sexagesimae »Leichtgesinnte Flattergeister«. Die Bass-Arie am Anfang, das Bild eines leichtfertigen und flatterhaften Sinnes, welcher die Segnungen des göttlichen Wortes in den Wind schlägt, ist ein Charakterstück von außerordentlicher Schärfe und Eigenart. Am Ende steht ein frei erfundener Chor in Form der italiänischen Arie. Er ist fugirt, aber von sehr populärer Melodik und dürfte ursprünglich eine weltliche Bestimmung gehabt haben157.

6) Sonntag Quasimodogeniti »Halt im Gedächtniß Jesum Christ«. Hier haben wir wieder ein Werk, das auch in poetischer Hinsicht allen gerechten Anforderungen genügt. Die schöne Erzählung des Evangeliums, wie Jesus nach seiner Auferstehung Frieden bietend im Kreise seiner Jünger erscheint und sie im Glauben stärkt, spiegelt sich hell aus der Dichtung zurück, die aus gut angebrachten Bibelstellen, passenden Chorälen und wohlklingenden Versen zusammengesetzt ist. Sie erinnert an die Weise Francks; sollte Picander der Verfasser sein, so hätte er sich selbst übertroffen. Der Sologesang ist in dieser Cantate, abgesehen von ein paar kurzen Recitativen, [248] nur durch eine schöne Tenorarie vertreten. In dem Anfangschor, einem herrlichen aus zwei Hauptthemen frei construirten fugirten Satze, hätte Scheibe seine für eine eindringliche Kirchenmusik erhobene Forderung »poetischer Auszierungen und verblümter Ausdrückungen« (s. S. 166) voll erfüllt finden müssen. Etwa in der Mitte des Werks tritt mit großer Wirkung der Osterchoral »Erschienen ist der herrlich Tag« ein. Aus der Wendung des Recitativ-Textes, durch welche er eingeleitet wird, sehen wir, daß derselbe Choral zuvor von der Gemeinde gesungen worden sein muß. Kirchliche Vorschrift war dies nicht; Bach wird also dieses Gemeindelied für den vorliegenden Fall ausdrücklich bestimmt haben (vrgl. S. 57 f.). Sehr eigenthümlich ist der nächste Chor. Er führt wegen der strophischen Gestaltung des Textes den Namen Aria. Der Bass trägt mit einer tief empfundenen milden Melodie, unter einer sanft schwebenden Begleitung der Flöten und Oboen die Worte Christi vor »Friede sei mit euch«. Ihm gegenüber stellen sich die drei oberen Stimmen mit Worten und Tönen gläubigen Vertrauens auf Christi Schutz und Beistand; im langverhallenden Friedensgruß des Basses klingt das Ganze aus, worauf dann der Choral »Du Friedefürst Herr Jesu Christ« die Stimmung der Cantate noch einmal kurz zusammenfaßt158.

7) Sonntag Misericordias Domini »Du Hirte Israels«. Ein kirchliches Pastoral, das Lieblichkeit und Ernst, Anmuth und Tiefe in selten schöner Vereinigung zeigt. Die Taktart des ersten Chores ist eigentlich nicht als Dreiviertel-, sondern als Neunachtel-Takt zu verstehen, insofern durchgängig Triolenbewegung herrscht und die rhythmische Figur 5. nach damaliger Art wie 5. auszuführen ist (s. Bd. I, S. 555). Hierdurch sowie durch den sackpfeifenartig liegenbleibenden Bass werden dem Tonstücke ganz zart auch die äußern Merkmale einer pastoralen Musik aufgedrückt. Neben seinem bezaubernden melodischen Reize ist der Chor zugleich ein Meisterwerk kunstreichen Satzes. Im Gesange wechseln homophone Partien mit fugirten Durchführungen. Drei Schalmeien (Oboen) schließen sich den drei obern Stimmen verstärkend und farbegebend an. Die Streichinstrumente aber umhüllen sie mit einem schimmernden[249] Netz wiegender und wallender, durchaus selbständiger Tonreihen. Ein solches Stück hatte Bach bisher nicht geschaffen; es ist ein neues Zeugniß seiner unerschöpflichen Phantasie. Zur Stimmung, dem darin entfalteten Klangzauber, wie auch zur Combination der verschiedenen Tonmassen wolle man die Hirtensinfonie aus dem Weihnachts-Oratorium als einzig würdiges Seitenstück vergleichen. Einen in mancher Beziehung ähnlichen Charakter trägt die Bassarie, wogegen die von ihr und dem Chor umschlossene Tenorarie jener beklommenen Empfindung Ausdruck giebt, welche Psalmstellen, wie »Und ob ich schon wandre im finstern Thal fürcht ich kein Unglück« und »Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott zu dir«, anzuregen geeignet sind. Daß Bach an diese Bibelstellen dachte, ist sicher, da auch der Text an dieselben anklingt und eine Strophe des versificirten 23. Psalms den Schluß der Cantate bildet159.

8) Sonntag Cantate »Wo gehst du hin?«. Der Text zeigt, wie leider so oft bei den Bachschen Cantaten, eine betrübende Unfähigkeit des Dichters, den Grundgedanken des Evangeliums zu erfassen und poetisch zu gestalten. Nach einer lockern Anknüpfung an dasselbe befinden wir uns bald wieder in dem alten, ausgetretenen Gleise: Aufforderung an den Himmel zu denken, Betrachtungen über die Vergänglichkeit alles irdischen. Es erregt Bewunderung, wie Bach immer wieder so ganz bei der Sache war, immer neue und neue Weisen und Formen in diesem poetischen Einerlei zu finden wußte. Das Werk ist Solo-Cantate, indem außer dem Schlußchoral wenigstens kein mehrstimmiger Chorgesang darin zur Anwendung kommt. Besondere Aufmerksamkeit erregen der erste und dritte Abschnitt. In jenem hat Bach es möglich gemacht, über einen Text von vier Worten, der noch dazu eine Frage darstellt (»Wo gehst du hin?«) eine Arie zu componiren. Sie ist eigenthümlich durch die dreitaktigen Perioden, aus denen sie sich aufbaut. Im dritten Abschnitt singt der Sopran die dritte Strophe des Ringwaldschen Liedes »Herr Jesu Christ, ich weiß gar wohl«, die Instrumente führen dazu einen zweistimmigen Contrapunkt aus. Es begegnet uns mit diesem Stücke zum ersten Male die vollständige und angemessenste Übertragung [250] des Choral-Orgeltrios auf die Vocalmusik; in der Cantate »Erfreute Zeit im neuen Bunde« war mehr nur ein Ansatz dazu hervorgetreten. Während Bachs erster Leipziger Zeit entstanden seine sechs großen Orgeltrios in Sonatenform. Wir sehen also, wie die Beschäftigung mit dieser Form hier weiter gewirkt hat160.

9) Sonntag Rogate »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, so ihr den Vater bitten werdet«. Ein Werk, das mit dem vorigen nach Inhalt und Entstehungszeit unverkennbar eng zusammengehört. Die Textanordnung ist ganz die nämliche: voran ein dem Evangelium entnommener Bibelspruch, dann Arie, Choral, Recitativ, Arie und Schlußchoral. Die von Bach verwendeten Tonmittel sind auch die gleichen; selbst die Arien sind für dieselben Stimmen gesetzt, nur in umgekehrter Anordnung, beide Male aber beginnt ein Solo des Basses und schließt ein einfach vierstimmiger Choral. Der Choralsatz in der Mitte, über die letzte Strophe von »Kommt her zu mir, spricht Gottes Sohn« gebaut, zeigt sich hier wie dort als eine aus der Orgelmusik übertragene Form; es contrapunktiren dieses Mal drei Stimmen, der melodische Gehalt der Contrapunkte hier und dort ist aber wiederum ein sehr verwandter: in der Cantate »Wo gehst du hin« lautet der Anfang:


 

5.


 

in der Cantate »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch«:


 

5.


 

Bibelworte im Munde einer einzelnen Stimme pflegt Bach als Arioso zu behandeln, weil eine Anwendung der Opernformen leicht als Profanation erscheinen konnte. Wenn er in der Cantate »Wo gehst du hin« hiervon einmal abwich, so geschah es sicherlich der Eigenthümlichkeit des Textes wegen. Das Musikstück, welches an der Spitze der Cantate »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch« steht, ist freilich auch kein Arioso. Aber die würdige Haltung, welche der Composition eines Bibelspruches zukam, ist auf anderm Wege erreicht, [251] einem Wege allerdings, den nur ein Meister wie Bach wandeln durfte. Er hat den Gesang in eine regelrechte vierstimmige Instrumentalfuge verflochten, und meist so geführt, daß er als selbständige fünfte Stimme erscheint; nur bisweilen fließt er mit dem Instrumentalbasse zusammen, grade hierdurch an die Gewohnheiten des älteren kirchlichen Arioso noch deutlich erinnernd. Ein Seitenstück zu dieser originellen Leistung fehlt nicht; wir haben es im ersten Satze der Cantate »O heilges Geist- und Wasserbad« und es ist demnach wahrscheinlich, daß beide Werke kurz nach einander entstanden sind161.

10) Sonntag Exaudi »Sie werden euch in den Bann thun« (G-moll). Auch zwischen diesem Texte und den der beiden vorigen Cantaten besteht hinsichtlich der Construction vollständige Übereinstimmung. Ebenso zeigt die Composition im allgemeinen eine ähnliche Schreibweise, zumal in den beiden Arien. Das Anfangsstück ist ein Zwiegesang zwischen Tenor und Bass, der in einen Chor übergeht. In dem Zwiegesang herrscht eine große polyphone Kunst, vergleichbar derjenigen, welche im Duett der Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn« aufzuzeigen war (s. S. 182). Der Chor dagegen in seiner populären Disposition und leichtfaßlichen Polyphonie erinnert an die Chöre aus »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« (s. S. 183) und »Ein ungefärbt Gemüthe« (s. S. 188). Etwas ganz neues offenbart uns wieder der mittlere Choralsatz »Ach Gott, wie manches Herzeleid«. Zwar keinem Orgel-Trio oder -Quatuor aber einem Choraltypus Böhms ist er frei nachgebildet162. Den schlichten Choral singt der Tenor; es begleitet nur der Generalbass und zwar mit Tonreihen, die durch Verkürzung aus der ersten Choralzeile entwickelt sind und durch chromatische Ausrenkungen das »Herzeleid« andeuten sollen. Da die Strophe nur vier Zeilen enthält so geht der Satz rasch vorüber, fast zu rasch als daß er in seiner ganzen Bedeutsamkeit erfaßt werden könnte. In einer viel späteren Cantate hat Bach diese Melodie in derselben Weise bearbeitet,163 nur daß an Stelle einer Stimme ein vierstimmiger Chor tritt. Aber in der späteren Composition wird die Wirkung dadurch eine größere, daß sich Recitative [252] zwischen die Choralzeilen schieben, und somit der Hörer Zeit gewinnt, den originellen Bau der Form zu begreifen. Den Schlußchoral unserer Cantate bildet die letzte Strophe des Flemmingschen Liedes »In allen meinen Thaten«.164

11) Erster Sonntag nach Trinitatis »O Ewigkeit, du Donnerwort«. Zu Grunde liegt das Ristsche Kirchenlied, dessen 1., 2. und 16. Strophe wörtlich herüber genommen sind; das übrige, mit Ausnahme von Strophe 7 und 8, die keine Berücksichtigung gefunden haben, ist in madrigalische Form umgegossen. Man darf in dieser Arbeit Picanders Hand erkennen, da sie in ähnlicher Weise ausgeführt ist, wie für die Mi chaelis-Cantate »Es erhub sich ein Streit«. Das Werk zerfällt in zwei Theile, deren jeder von einer Choralstrophe, in derselben Harmonisirung, beschlossen wird – also ganz die Weise, wie Bach in der ersten Leipziger Zeit seine Cantaten häufiger anzulegen pflegte. Bach hat ersichtlich mit grosser Hingabe gearbeitet. Eine leidenschaftliche Aufregung, zu deren Darstellung ein staunenswerther Reichthum melodischer, harmonischer und namentlich auch rhythmischer Mittel entfaltet wird, verbindet sich mit kraftvollem, erschütterndem Ernst. In vier Arien und einem Duett wird die Vorstellung von der Furchtbarkeit des göttlichen Richters und der ewigen Qual dem Hörer persönlich so nahe gerückt und mit einer so dramatischen Lebendigkeit gepredigt, wie es der kirchliche Stil nur eben gestattet. Die Stücke contrastiren im Charakter sehr scharf, so daß, obgleich immer derselbe poetische Grundgedanke variirt wird, man doch bis zum Schlusse das lebhafteste Interesse behält; es erhöht die Energie ihres Ausdrucks, daß sie sämmtlich ziemlich knapp gefaßt sind. Und selbst in dem Anfangschor macht sich jene persönliche, leidenschaftliche Auffassung des Gegenstandes geltend, die in gewissem Maße ja immer bei Bach stattfindet, in diesem Werke aber gradezu als charakteristisches Merkmal hervortritt. Man wolle sich die Tonreihen ansehen, mit denen die drei tieferen Stimmen die erste und vorletzte Choralzeile contrapunktiren, die erbebende Bewegung, welche sich T. 13, 17, 23, 27 der Instrumente bemächtigt, die gleichsam entsetzt zusammenfahrenden Rhythmen T. 90 ff. Im übrigen bietet dieser Chor das dritte [253] Beispiel aus Bachs ersten Leipziger Jahren für eine Übertragung der französischen Ouverture in die Kirchenmusik. In den Cantaten »Preise Jerusalem den Herrn« und »Höchst erwünschtes Freudenfest« handelt es sich aber nicht um einen Choral. Indem hier ein solcher mit der Ouverturen-Form verschmolzen ist, bildet die Cantate »O Ewigkeit, du Donnerwort« ein genau entsprechendes Seitenstück zu der Adventsmusik »Nun komm der Heidcn Heiland« aus dem Jahre 1714165. Auch in einer späteren Cantate (»In allen meinen Thaten«)166 findet sich Choral und französische Ouverture combinirt, jedoch tritt der Choral nur im Allegro ein, sodaß das Vorhergehende gleichsam als Vorspiel aufzufassen ist, während er in den andern beiden Fällen auch am Grave betheiligt ist. Bei Stücken festlichen Charakters, wie z.B. auch in der Weihnachts-Cantate »Unser Mund sei voll Lachens«167, läßt sich diese Form verstehen; hier ist man um einen innern Grund verlegen. Die kurz zuvor in zwei andern Werken erprobte Meisterschaft in Verwendung der Ouverturenform mochte den combinationsfreudigen Künstler zu dem Experiment veranlassen. Natürlich ist es in technischer Beziehung vollständig geglückt; daß der Empfindungsausdruck dadurch eine Vertiefung erfahren habe, wird man nicht behaupten können, doch macht sich auch nirgends ein Widerspruch zwischen Form und Inhalt fühlbar168.

12) Fest Johannis des Täufers »Ihr Menschen rühmet Gottes Liebe«. Eine Cantate von geringerer Bedeutung, die zu besonderen Bemerkungen kaum Veranlassung giebt. Ihr Charakter ist heiter und gefällig, die Formen sind durchsichtig und leicht zu fassen. Nur für das mittlere Duett mit Oboe da caccia hat der Meister größere Kunst aufgeboten. Doch haftet grade ihm eine gewisse Trockenheit an, was freilich bei den nichtssagenden Worten desselben nicht Wunder nehmen darf. Als ein hübscher Zug mag erwähnt werden, daß in dem den Schlußchoral einleitenden Bass-Recitativ die erste Zeile desselben gleichsam praeludirend auftritt. Die Form des Chorals [254] selber ist die aus der Cantate »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« bekannt169.

13) Achter Sonntag nach Trinitatis »Erforsche mich Gott und erfahre mein Herz«. Man könnte aus Bachs Cantaten eine Gruppe aussondern und mit dem Namen »orthodoxe Compositionen« belegen. Die genannte würde zu ihnen gehören. Es ist ihnen ein Zug strengen bis zur Härte gehenden Eifers eigen, den unter allen Kirchencomponisten jener Zeit nur Bach zeigt und der im vorliegenden Falle besonders stark in dem sehr bedeutenden ersten Chore hervortritt. Die Auffassung der zu Grunde liegenden Bibelworte (Psalm 139, v. 23) wurde durch das gegen die »falschen Propheten« gerichtete Sonntags-Evangelium bedingt – eines der ergiebigsten Themen für orthodoxe Prediger.170

14) Neunter Sonntag nach Trinitatis » Thue Rechnung! Donnerwort.« Der Text ist aus Francks »Evangelischem Andachtsopfer«; aus diesem Grunde muß angenommen werden, daß die Composition in der ersten Leipziger Zeit entstand. Wahrscheinlich schuf sie Bach mit der Cantate »Ihr, die ihr euch von Christo nennet« (s. S. 190 f.) in demselben Jahre.171 Sie enthält außer dem Schlußchoral keinen Chor. Von den Solostücken ist die Tenor-Arie ihres unglaublichen Textes wegen (»Capital und Interessen, Meine Schulden groß und klein Müssen einst verrechnet sein«) schwer genießbar. Die Bassarie dagegen und das Duett zwischen Sopran und Alt sind Prachtstücke an Kraft und charakteristischer Haltung.

15) Neunter Sonntag nach Trinitatis »Herr, gehe nicht ins Gericht«. Mit den Weisen eines inbrünstig flehenden Bußgesanges, anfänglich von den beiden Oberstimmen canonisch geführt, beginnt das Orchester (G-moll). In die Schlußcadenz tritt der vierstimmige Chor ein »Herr, gehe nicht ins Gericht mit deinem Knecht« (Psalm 143, v. 2). Er entnimmt dem Instrumentalsatze nur das Motiv der canonischen Führung, baut sich sonst über dem Grundbasse aus einem neu erfundenen Gedanken auf. Nach sechs Takten verstummt [255] er vor dem auf der Oberquinte sich wiederholenden wortlosen Bußgesange der Instrumente. Derselbe erscheint jetzt im doppelten Contrapunkt. Ebenso wird in dem nach acht Takten sich wiederholenden Chore der Sopran zum Tenor, der Alt zum Sopran, der Tenor zum Alt. Die Instrumente entnehmen dem Chorgedanken ein rhythmisches Motiv und entwickeln aus ihm ein selbständiges Gebilde, das meisterlich mit dem Chor zu einem Ganzen zusammengefügt wird. Nochmals eine kurze Chorpause, in welcher die Instrumente ihr Motiv weiter führen, dabei aber auch vernehmlich auf eine gewisse Stelle ihres Anfangssatzes (Takt 5 ff.) zurückdeuten. In den zum dritten Male anhebenden und mit freier Benutzung seines Hauptgedankens weitergeführten Chor treten sie endlich mit ihrem eignen Bußgesange hinein und lassen ihn in der mittleren Tonlage, wie recht aus dem Herzen der singenden Schaar hervorquellend, vollständig vorüberziehen. Der Chor endigt, auf einem langen Dominantorgelpunkte klingt leise die Stimmung aus. An den bewundrungswürdig aufgebauten Adagio-Satz schließt sich eine sehr lebendige Fuge »Denn vor dir wird kein Lebendiger gerecht«. Man könnte ihr als Motto den Bibelspruch beigeben »Ich der Herr, dein Gott, bin ein eifriger Gott« (2. Mos. 20, 5). Die Durchführung des energischen Themas führt mehrfach zu Stellen welche wie zürnende Meereswogen rollen und brausen. Einmal tritt – ein bei Bach höchst seltener Fall – plötzlich eine längerePiano-Stelle ein, die hernach sogar im Pianissimo fortgesetzt wird, gleich als ob der Mensch sich vor dem Auge des furchtbaren Gottes scheu verbärge. Hinter der ergreifenden Wirkung dieses Anfangschores steht die der übrigen Theile der Cantate nicht zurück:


 

»Wie zittern und wanken

Der Sünder Gedanken,

Indem sie sich unter einander verklagen

Und wiederum sich zu entschuldigen wagen.

So wird ein geängstigt Gewissen

Durch eigene Folter zerrissen.«


 

lautete der gelungene Text der ersten Arie, welchen Bach zu einem hochoriginellen Musikstück verwendet hat. Ununterbrochen zieht sich durch dasselbe eine zitternde Sechzehntel-Bewegung der Violinen, zu denen der Sopran mit einer Oboe in kühn gezeichneten, scharf eindringenden Melodien concertirt. Kein Generalbass tritt [256] hinzu, die tiefste Stimme wird durch die gleichmäßig in Achteln fortbebende Viola gebildet. Eine heimliche Angst, zugleich eine tiefsinnige Traurigkeit ist über die Arie gebreitet. Mit dem folgenden, begleiteten, Bassrecitativ tritt die Wendung ein: in Jesus ist Trost, er öffnet uns einst die ewigen Hütten. Die Töne, in denen dies verkündet wird, konnte in solcher Innigkeit nur ein Bach erfinden. Sie führen zu einer in beruhigter Empfindung ausströmenden, sehr reichen, kunstvoll construirten Tenor-Arie. Namentlich interessant ist ihr Rhythmus. Die Worte des Anfangs »Kann ich nur Jesum mir zum Freunde machen« hat Bach zu einem Hauptgedanken benutzt, der sich in einen halben und einen ganzen Viervierteltakt gliedert:


 

5.


 

die drei Töne des ersten Gliedes werden im Verlaufe motivisch in erfinderischer Weise ausgenutzt. Der Schlußchoral faßt die beiden Grundstimmungen der Cantate: Angst und Beruhigtsein noch einmal zusammen. Letzteres kündet der Gesang, erstere die aus der Sopranarie nachhallenden zitternden Sechzehntel der Violinen. Aber das klopfende Herz kommt je länger, je mehr zum Frieden: aus den Sechzehnteln werden allmählig Achtel-Triolen, dann einfache Achtel, dann zusammengezogene Triolen (5.), endlich, in den letzten Takten, Viertel. Daß es Bachs Absicht war, bis zum Schlusse die Erinnerung an die Sopranarie lebendig zu erhalten, geht auch daraus hervor, daß das Choralnachspiel ohne Generalbass, mit der Bratsche als tiefstem Instrumente abschließt. Nie genug kann es bewundert werden, wie vorzüglich die Mischung der entgegengesetzten Stimmungen in diesem Stücke gelungen ist, und wie dadurch ein Gebiet erschlossen wird, von dessen Vorhandensein vor und neben Bach niemand etwas wußte. Die Arie Orests aus Iphigenie in Tauris »Le calme rentre dans mon coeur« preist man mit Recht als eine der musikalisch-dramatischen Großthaten Glucks. Aber der erste, der in dieser Weise die tiefsten Tiefen des unsagbar complicirten menschlichen Empfindens aufdeckte, ist er nicht gewesen; ein halbes Jahrhundert vorher hatte schon Bach gleich meisterlich eine ähnliche Aufgabe gelöst.

[257] Eine auffallende Reminiscenz an Händels Passionsmusik nach Brockes, welche Bach, aller Wahrscheinlichkeit nach in der letzten Cöthener Zeit, zum Theil eigenhändig copirte, soll hier nicht übergangen werden. So frei und bewegt die Melodieführung der Sopranarie in der Cantate ist, so überrascht doch eine Stelle durch ihr fast gesuchtes und gewaltsames, zum übrigen nicht völlig in Harmonie stehendes Wesen. Takt 78 ff. heißt es nämlich:


 

5.


 

In Händels Passion kommt folgende Stelle vor:


 

5.


 

172


 

Ich zweifle nicht, daß Bach hier von der Erinnerung an den sehr schönen, eindringlichen Händelschen Satz fortgerissen worden ist. Daß derselbe ihn während der Composition dauernder beeinflußte, kann man wohl auch aus der Anwendung der imitirenden Oboe schließen, die Grundstimmung ist ohnehin eine ähnliche. Für das Interesse, welches Bach an den Werken seines großen Zeitgenossen nahm, ist diese Reminiscenz ein gewichtiges Zeugniß. Wie man sich von früher erinnern wird (s. Band I, S. 781), ist sie nicht die einzige.173

16) Zehnter Sonntag nach Trinitatis »Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei, wie mein Schmerz.« Die Cantate bildet mit der vorigen zusammen ein Paar, welches sicherlich in derselben Zeit geschaffen wurde. Sie stimmen in ihrem Bau und soweit es die verschiedenartige Beschaffenheit des Gegenstandes zuließ, auch in der Empfindungsweise überein. Im Evangelium prophezeit Jesus der Stadt Jerusalem weinend ihren dereinstigen Untergang. Der an diese Vorstellung anknüpfende Text ist recht ungeschickt entwickelt. Er nimmt zuerst Bezug auf die frühere Zerstörung durch [258] Nebukadnezar, macht sodann einen linkischen Uebergang auf die vorausgesagte Zerstörung durch Titus und zieht hieraus die Nutzanwendung auf das allen sündigen Menschen bevorstehende Strafgericht, unter welchem aber Jesus die Frommen liebreich schützen wird. Indem nun durch die musikalische Ausführung auf den Anfang das Hauptgewicht fällt, kommt etwas schiefes und unklares in die poetische Haltung des Ganzen. Dies ist sehr zu beklagen, denn in Bezug auf Conception und Ausführung der einzelnen Stücke gehört die Cantate zu dem Packendsten und Erschütterndsten, was Bach überhaupt geschaffen hat. Mit einer Kraft ohne gleichen ist die Gesammtstimmung der Klagelieder Jeremiae in den ersten Chor (D moll) zusammengedrängt; an jedem Tone hängen Thränen, jede Wendung ist ein Seufzer. Wie in der Cantate »Herr gehe nicht ins Gericht« besteht der Chor aus einem langsamen, in canonartigen Führungen der Singstimmen sich entwickelnden Satze, und einer lebhafteren Fuge. Ersterer zählt 66, letztere 76 Dreiviertel-Takte, die Dimensionen sind also beträchtlich. Sie entsprechen aber nur der Urgewalt der Empfindung, welche in diesen Tönen hervorströmt. Den Chor verstärken an planvoll gewählten Stellen eine Trompete und zwei Oboi da caccia, das Streichquartett und zwei Flöten umkreisen den Adagiosatz in freien, bedeutungsvollen Arabesken. Vernehmlich klingen gewisse schluchzende Flötengänge an den Choralchor der Matthäuspassion »O Mensch, bewein dein Sünde groß« an.174 Aber in der Passion erscheint die Empfindung gelindert durch den Gedanken an Christi Erlösungstod, in der Cantate giebt es für die zehrende Gluth der Schmerzen keinen Trost; wie altes und neues Testament stehen sich diese beiden wunderbaren Schöpfungen ebenbürtig gegenüber. Nächst dem Chor fesselt die mächtige Bassarie »Dein Wetter zog sich auf von weitem« am stärksten die Aufmerksamkeit. Der in Terzen über dem B der Instrumentalbässe auftseigende Hauptgedanke:


 

5.


 

[259] hat etwas unheimliches und grauenerregendes, wie es in solcher Stärke bei Bach kaum wieder zum Ausdruck gekommen sein dürfte. Erhöht wird diese Stimmung durch das lange tönende darüberliegende 5. der Trompete175, das wie ein Strahl aus finsterem Gewittergewölk hervorschießt und, wie treffend bemerkt worden ist, eine wahrhaft blutrothe Farbe giebt.176 Von großer Wirkung sind auch im der Mitte (Takt 45–54 und 67–76) die taktweise auf- und absteigenden chromatischen Schritte der Instrumentalbässe. Die Altarie (G moll), welche nur von Flöten und Oboen ohne Generalbass begleitet wird, paraphrasirt Christi Worte: »Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne versammelt ihre Küchlein unter ihre Flügel« (Matth. 23, 37) und ist beruhigend wenngleich ernst gehalten, wie es dem Zusammenhange gemäß war. Im Schlußchoral, der 9. Strophe des Meyfartschen Liedes »O großer Gott von Macht«, lassen sich wieder die Flötengänge des Anfangschors zwischenspielartig vernehmen. Also findet hier eine ähnliche Rückbeziehung statt, wie im Schlußchorale der Cantate »Herr, gehe nicht ins Gericht«.

Es ist früher (Bd. II, S. 152 f.) auseinandergesetzt worden, daß auch beim Vortrag der Chöre die Anwendung von Auszierungen nicht ganz ausgeschlossen war. Zwei Stellen des ersten Chors liefern Beispiele hierzu. Takt 37 sollen im Tenor und Takt 51 im Alt die abwärts führenden Terzenschritte durch Anbringung von Accenten ausgefüllt werden. In den Singstimmen ist dieses nicht vorgeschrieben, [260] wohl aber in den mitgehenden Oboen.177 Nothwendig sind die Accente durchaus, weil nur so eine verständliche Harmonie herauskommt; freilich bleiben sie dann eigentlich keine Verzierungen mehr, sondern werden Hauptnoten. Die Gränze zwischen beiden wird aber von Bach oftmals verwischt (vergl. Band II, S. 147).178

17) Dreizehnter Sonntag nach Trinitatis »Du sollst Gott deinen Herren lieben«. Der Stil dieser Cantate weicht auffällig ab von dem aller bisher besprochenen. Die Arien sind bedeutend einfacher, als wir es nachgrade von Bach gewohnt geworden sind. In einer derselben concertiren zwei Instrumente (vermuthlich zwei Oboen) mit dem Sopran; sie thun dies aber fast immer in parallelen Terzen oder Sexten und eine nennenswerthe Polyphonie entwickelt sich zwischen ihnen nirgends. Die Empfindung streift an jene weiche Schwärmerei, welche Bachs frühesten Kirchencompositionen, da er noch auf dem Gebiete der älteren Cantate sich wohl fühlte, eigen ist, die Sopranarie mahnt sogar vernehmlich an die Arie »Jesu dir sei Dank gesungen« aus der Cantate »Uns ist ein Kind geboren«179. Die Beschaffenheit der autographen Partitur bietet keine Stütze für die Annahme, Bach habe hier ältere Compositionen überarbeitet, man müßte denn in der großen auf Zeitmangel deutenden Eile, in der sie hingeworfen ist, eine solche erkennen. Hinsichtlich des Anfangschors aber beruht die Stilverschiedenheit darin, daß er sich in einer ganz neuen, geistreich erdachten und meisterlich ausgeführten Form präsentirt. Der Text ist dem Evangelium entnommen: »Du sollst Gott deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüthe, und deinen Nächsten als dich selbst«. Dem bibelkundigen Componisten war [261] es nicht unbekannt, daß der Vorgang, welcher diese Äußerung hervorruft, bei den Evangelisten Matthäus (22, 35–40) und Marcus (12, 28–34) in ausgeführterer Form sich findet. Der dort hinzugefügte Satz: »In diesen zweien Geboten hanget das ganze Gesetz und die Propheten« wurde ihm bedeutungsvoll. Er führte die Melodie des Lutherliedes »Dies sind die heilgen zehn Gebot« in den Instrumentalbässen mit halben Noten als Cantus firmus ein, entwickelte in Achtelnoten den darüber gebauten Chor aus der ersten Zeile des Chorals und ließ endlich von einer Tromba da tirarsi den Choral in Viertelnoten ertönen. Indem so das Wesen desselben den Tonsatz in allen Theilen durchdringt und von allen Seiten umschließt, erscheint der Gedanke, daß sämmtliche Gebote Gottes in jenen zwei Sätzen einbegriffen seien, in sinnvollster musikalischer Verkörperung.180 Es ist klar, daß die Form, rein vom musikalischen Standpunkte angesehen, die des Orgelchorals ist. Wir besitzen über dieselbe Melodie zwei wirkliche Orgelchoräle Bachs. Der eine steht im dritten Theile der »Clavierübung«181 und gehört somit in Bachs letzte Schaffensperiode. Den andern enthält das »Orgelbüchlein«182, er wird also aus der weimarischen Zeit stammen. Der spätere zeigt die Melodie im strengen Canon der Octave in den Mittelstimmen. Bei dem früheren Orgelchoral liegt die Melodie in der Oberstimme, die Contrapunkte werden aus der ersten Zeile entwickelt. Der Chor hält demnach auch bezüglich seiner musikalischen Form zwischen beiden Orgelchorälen die Mitte. Eine eigentlich canonische Führung zwischen Instrumentalbass und Trompete läßt sich nicht statuiren, da einmal die Notenwerthe nicht dieselben sind noch die Intervallenabstände immer die gleichen, sodann aber auch die Trompete nach jeder Zeile die erste wiederholt, wie um recht nachdrücklich die Worte einzuschärfen »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, endlich über dem Orgelpunkt G die ganze Melodie im Zusammenhange abschließend noch einmal ertönen läßt. Dieses Spiel mit Melodiefragmenten – denn so darf man es wohl nennen – deutet eher auf Nachwirkungen des Stiles der nordländischen Schule. Und noch [262] ein andrer Umstand deutet dahin. Sonderbarerweise zerschlägt Bach die vierte Zeile:


 

5.


 

in zwei Stücke, indem er die vier ersten Noten abgetrennt behandelt, die letzten drei aber mit dem »Kyrieleis« zusammenzieht. Weder ein poetischer, noch ein musikalischer Grund für dieses Verfahren läßt sich ausfindig machen. Es ist eben ein Spiel jener Künstlerlaune, welche grade die Nordländer so gern schalten ließen, und wirklich findet sich etwas ähnliches in einer Choralbearbeitung Buxtehudes.183 Uebrigens hat Bach in dem Orgelchoral der »Clavierübung« dasselbe Verfahren beobachtet, woraus zu schließen ist, daß er sich bei Composition desselben an den Choralchor erinnert habe.184

17) Sechzehnter Sonntag nach Trinitatis »Liebster Gott, wann werd ich sterben?« Die Cantate scheint der Composition zum 13. Trinitatissonntage »Ihr, die ihr euch von Christo nennet«185 zeitlich ganz nahe zu stehen. Ihr Gegenstand sind Betrachtungen über den Tod, welche durch das Evangelium vom Jüngling zu Nain aber nur sehr äußerlich motivirt erscheinen. Das Neumannsche Kirchenlied »Liebster Gott, wann werd ich sterben« ist am Anfang und Ende mit je einer Original-Strophe verwendet, dagegen sind Strophe 2, 3 und 4 in der Weise madrigalisch paraphrasirt, daß Strophe 2 den Text der Tenor-Arie, Strophe 3 den des Alt-Recitativs, die erste Hälfte der vierten Strophe den Text der Bass-Arie, die zweite den des Sopran-Recitativs bilden. Die arienhafte Weise des Liedes rührt von dem 1721 als Organist der Nikolaikirche zu Leipzig verstorbenen, im Verlauf unserer Darstellung schon mehrfach erwähnten Daniel Vetter her. Vetter war ein Schüler von Werner Fabricius, dem er nach dessen Tode (9. Januar 1679) im Organistenamte folgte [263] (11. August desselben Jahres).186 Er stammte aber aus Breslau und hatte das Lied »Liebster Gott« auf Wunsch eines Freundes, des Cantors Wilisius an St. Bernhardin in Breslau zu dessen Begräbnißfeier (1695) componirt. Es hatte sich verbreitet und viele Entstellungen erlitten, weshalb er es 1713 im zweiten Theil seiner »Musicalischen Kirch-und Haus-Ergötzlichkeit« vierstimmig gesetzt nochmals herausgab.187 Bach hat die vierstimmige Arie gekannt, denn eben dieselbe ist es, welche, wenn auch umgearbeitet, so doch in leicht wieder zu erkennender Gestalt den Schluß seiner Cantate ausmacht. Man sieht wieder, Bach hielt seine Leipziger Kunstvorgänger in Ehren. Im ersten Chore wird die Melodie in der Form einer Choralfantasie (vrgl. S. 190) behandelt. Dieses Stück ist sehr merkwürdig: ein Tonbild wie aus Glockenklang und Blumenduft gewoben, die Stimmung eines Kirchhofs im Frühling athmend. Daß nicht ein eigentlicher Choral, sondern nur eine geistliche Arie zu bearbeiten war, mag wohl zum Theil auf den Charakter des Stückes bestimmend eingewirkt haben, giebt aber keine vollständig genügende Erklärung. Eher wäre, namentlich auch wenn man die gesammte Cantate in Betracht zieht, deren liebliches, manchmal in kindliche Spielseligkeit übergehendes Wesen gegen den Ernst andrer Bachscher Sterbecantaten seltsam contrastirt, die Annahme gestattet, daß die mild anmuthende Erzählung des Evangeliums den Grundton hergestellt habe. In ganz ähnlicher Weise, wie in der weimarischen Cantate »Komm, du süße Todesstunde«188 wird durch Pizzicatos der Saiteninstrumente und schnell repetirte hohe Flötentöne das Sterbegeläut nachgeahmt. Ueber den Saiteninstrumenten gleiten, bald in süßen Melodien einander nachschwebend, bald zu weichen Terzen- und Sextengängen vereinigt, zwei Oboi d'amore dahin. Das in dieser Weise entwickelte Instrumentalstück gewährt fast schon durch sich allein eine völlige Befriedigung. Der musikalische Nachdruck ruht auch auf ihm: er zählt 68 Takte, der homophon zu nennende Chor dagegen, welcher mit Unterbrechungen hineintritt und die Originalmelodie nur durch [264] zarte Melismen ausschmückt, insgesammt nicht mehr als 20 Takte. Dennoch stimmen seine Sterbeworte das Gemüth zu einer ganz eignen Schwermuth, wie man sie etwa am Sarge eines Kindes oder Jünglings empfindet. Der Glockenklang hallt in den Bässen der empfindungsreichen Tenorarie weiter, dringt hier sogar einmal bis in die Singstimme hinein (Takt 29–31). Die melodische, weit ausgeführte Bassarie sowie auch beide Recitative sind von einer den übrigen Stücken entsprechenden hohen Schönheit.189

19) Sonntag nach Weihnachten »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende«. Die letzte Bachsche Composition eines Neumeisterschen Textes190, welche wir zu besprechen haben, und was die Chorverwendung betrifft die großartigste. Der Hauptchor steht hier an zweiter Stelle; er tritt mit solcher Wucht auf, daß sich nur die ausgereifte Schönheit der vorhergehenden Sopranarie mühsam neben ihm behauptet, alles nachfolgende dagegen fast wirkungslos zu Boden sinkt. Bach hat die Composition des Chors früher als die der übrigen Theile in Angriff genommen und zuerst separat entworfen, denn im Zusammenhange der gesammten Partitur zeigt er fast keine Correturen und hat das Ansehen einer Reinschrift. Der Meister sah nach Vollendung des riesigen Stückes selbst mit stolzer Befriedigung auf dasselbe hin; was er sonst fast nie thut, ist hier geschehen: er hat seine 174 Takte gezählt und am Schlusse vermerkt. Es ist ein Choralchor über »Nun lob mein Seel den Herren«, einer Motette ähnlich, insofern die Instrumcnte (Streichinstrumente, drei Oboen, Cornett und drei Posaunen) mit den Singstimmen gehen und nur der Generalbass hier und da seinen eignen Weg nimmt. Die Form ist die des Pachelbelschen Orgelchorals in seiner höchstmöglichen Entwicklung innerhalb der Motettengattung. Dazu gehört ganz besonders auch die sinnvolle musikalische Ausdeutung der einzelnen Strophenzeilen durch die contrapunktirenden Stimmen, welchedie der Vergebung bedürftige Sünde durch schmerzliche chromatische Gänge zeichnen, den Trost Gottes wie aus reichem Füllhorn stromweis über den armen Menschen ausschütten, und »dem Adler gleich« stolz sich aufschwingen. Späterhin [265] hat Bach noch mehre Stücke dieser Art geschrieben191; sie sind dem Erstling ebenbürtig, aber überragen thut ihn keines.192

Am 7. September 1727 trat wegen des Todes der Königin Christiane Eberhardine eine viermonatliche Landestrauer ein. Die Unterbrechung, welche Bachs Thätigkeit hierdurch erfahren mußte, macht einen natürlichen Einschnitt in die lange Reihe seiner Leipziger Kirchencompositionen. Es ist daher angemessen hier einen Augenblick still zu stehen und Rückschau zu halten. Das abschließende Urtheil über die weimarischen Kirchencantaten lautete ungefähr dahin, daß in ihnen das Ideal der Bachschen Kirchenmusik bereits fertig dastehe, wenn man absehen wolle von der Verwendung, welche in ihnen der Chor erfährt.193 Trotz mancher sehr bedeutender Chorstücke wiegen im ganzen genommen doch die Sologesänge schwerer; ihre Formen machen den Eindruck vollkommenster Reife und wer sie gründlich studirt hat, dem werden die späteren Bachschen Sologesänge in formeller Hinsicht nicht allzuviel neues mehr bieten. Aus der Cöthener Cantate »Wer sich selbst erhöhet«194 ging sodann hervor, daß Bach sich aus seiner langen Beschäftigung mit Orgel- und anderer Instrumental-Composition nunmehr auch die volle Meisterschaft erworben hatte, freie Chorsätze in reichen und großen Formen auszuführen. In den Cantaten der ersten vier Leipziger Jahre finden wir den unbegränzten Gestaltenreichthum wieder, welcher dem Künstler daraus erwuchs, daß er die instrumentalen Formen in ungeahnter Weise für seine Kirchenmusik zu verwenden wußte. Wir sehen ihn Theile der Kammersonate ohne weiteres übertragen und als Instrumentaleinleitung dem zweiten Theile der Cantate »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« voranstellen. Er schmilzt die Elemente des ersten italiänischen Concertsatzes mit Chorformen zusammen, wie im Magnificat und der Weihnachtsmusik »Dazu ist erschienen der Sohn Gottes«. Ganze Cantaten gießt er in die Formen des Concerts (»Erfreute Zeit im neuen Bunde«) oder der Orchesterpartie (»Höchsterwünschtes Freudenfest«). Er combinirt die französische Ouvertüre mit dem frei erfundenen Chor, selbst mit dem Choral [266] (»Preise Jerusalem, den Herrn«, »O Ewigkeit, du Donnerwort«), zwingt die Gigue einem kirchlichen Zwiegesange zu dienen (»Ärgre dich, o Seele, nicht«) und den Passacaglio einen Klagechor zu bauen (»Weinen, Klagen«). In der Cantate »Die Elenden sollen essen« stellt er mit den Mitteln der weltlichen Instrumentalmusik eine Choralfantasie her und in der Michaelismusik »Es erhub sich ein Streit« contrapunktirt er eine Choralmelodie durch einen Siciliano. Was auf dem Gebiete des Orgelchorals von ihm und seinen Vorgängern irgend geschaffen war, versteht er für die kirchliche Vocalmusik auszunutzen. Die Typen Pachelbels, aber auch diejenigen Buxtehudes und Böhms treten uns in neuen sinnvollen Umkleidungen bald rein (»Erschallet ihr Lieder«, »Sie werden euch in den Bann thun«), bald vermischt (»Die Elenden sollen essen« »Christ lag in Todesbanden«, »Du sollst Gott deinen Herrn lieben«) entgegen. Das Choraltrio und -Quatuor, welches Bach für die Orgel so meisterhaft zu gestalten gelernt hatte, finden wir in den Cantaten »Wo gehst du hin?« und »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch« als Gesangsmusik wieder. Mit mächtiger Hand zwingt er Orchester und Chor zur Gestalt der Choralfantasie zusammen. Von dem instrumentalen Choral fordert er, das regellose Recitativ zu begleiten, zu zügeln und mit der heiligen Stimmung der christlichen Gemeinde zu durchdringen, (»Du wahrer Gott und Davidssohn«), zwischen die Theile des Choralchors schiebt er die aufregenden Tonreihen des persönlich betrachtenden Recitativs (»Herr, wie du willst, so schicks mit mir«), und den einstimmigen Gesang zwängt er in die polyphonen Formen der Instrumentalfuge (»O heilges Geist- und Wasserbad«, »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch«). Dazwischen dann immer wieder die altbekannten Formen der Arie, des Arioso, des Recitativs und des einfachen Chorals, aber mit stets neuem Inhalte aus dem Born einer unerschöpflichen Erfindungskraft gefüllt, vertieft, großartig ausgeweitet, auch wohl durch geistreiche, tief poetische Bezüge unter einander oder mit jenen neu geschaffenenen Formen verknüpft. Alles dieses bemerkt man in kleinerem und bescheidenerem Maße schon in den weimarischen Cantaten. Wodurch sich aber die Leipziger Productionen in stark hervortretender Weise von ihnen unterscheiden, das sind die reichlich angewendeten, mächtig und kühn gestalteten Chorbilder. Nur ein geringer Theil der bisher besprochenen Cantaten entbehrt derselben. [267] Es braucht kaum gesagt zu werden, und ergiebt sich überdies schon aus der oben entworfenen Schilderung, daß auch in ihnen die eines Bach würdige größte Mannigfaltigkeit herrscht. Indessen sind – und das ist für diese Gruppe von Cantaten charakteristisch – die frei erfundenen Chöre entschieden in der Ueberzahl. Die Choralchöre, welche sich in den Cantaten »Du wahrer Gott und Davidssohn«, »Christ lag in Todesbanden«, »O Ewigkeit, du Donnerwort«, »Du sollst Gott deinen Herrn lieben«, »Liebster Gott, wann werd ich sterben«, »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende« und hier und da sonst noch finden, sind ein jeder an sich ohne Zweifel tiefsinnige, zum Theil großartige Erscheinungen, wie sie eben nur Bach hinstellen konnte. Auch soll nicht verschwiegen werden, daß in diese Periode noch der Schlußchor des ersten Theils der Matthäuspassion zu setzen ist. Wenn man sie aber insgesammt gegen die Menge der frei erfundenen Chöre dieser Zeit hält, so sieht man doch, daß den letzteren vorzugsweise Bachs Neigung zugewendet war. Die Form derselben ist verschieden; doch erfährt die Fuge, der häufig ein breites Adagio vorhergeht, eine gewisse Bevorzugung. Es ist bei Bachs innigem Verhältniß zum Choral ein nicht zu übersehendes Merkzeichen, daß unter diesen Cantaten solche sind – und zwar keine von geringer Bedeutung – in denen der Choral gänzlich fehlt (z.B. »Christen ätzet diesen Tag«), nicht wenige auch, in denen er eine nur nebensächliche Rolle spielt. Bach fand in Leipzig ein Publicum vor, das neben Kuhnauscher vor allem Telemannsche Musik liebte. Telemanns Stärke lag in einer gewissen Art glänzender, äußerlich lebhafter und durch ihre handgreiflichen Malereien auf die große Menge wirkender Chöre. War nun auch Bach keineswegs gesonnen, ihn hierin sich zum Vorbilde zu nehmen, so mochte doch die Geschmacksrichtung der Menge, welcher er schon in seiner Probecantate Rechnung getragen hatte, ihm ein Impuls sein, sich vorzugsweise mit der freien Chorcomposition zu befassen, wie er denn auch nicht anstand, eine Adventsmusik Telemanns eigenhändig zu copiren. Es fehlt selbst nicht an Zügen in seinen Chören und Sologesängen, die gradezu etwas Telemannsches haben, am stärksten tritt dieses in der Cantate »Herr Gott, dich loben wir« hervor. Aber wir sahen auch, daß er sich an Kuhnau anschloß und einen beliebt gewordenen Tonsatz Vetters berücksichtigte. Dieser [268] offene Sinn für die Productionen seiner Zeitgenossen, die Begierde, von ihnen soweit es irgend möglich war zu lernen oder ihnen und in ihnen ihrem Publicum, wenigstens seine Achtung zu erweisen, ist ein bisher wohl kaum hinreichend gewürdigter, für sein Künstlerthum wie für seinen Charakter gleich bedeutsamer Zug.

Fußnoten

 

 

 

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).

 

 

 

 

 

Fußnoten

 

I

 

1 Archiv der Leipziger Universität, Repert. II/III. Nr. 3. Litt. B. Sect. II. Fol. 17 ff. – Gerber, N.L. II, Sp. 9


 

2 S. Bd. I, S. 514. In den Acten des Leipziger Rathsarchivs wird er Johann Christian Rolle genannt, an der Identität ist aber nicht zu zweifeln.


 

3 Acten des Leipziger Raths VII. B. 117. Fol. 182. – Rathsprotokolle vom 18. Aug. 1704 – 1. Sept. 1753. Fol. 1 und 2. – Telemanns Selbstbiographie bei Mattheson, Große General-Bass-Schule, S. 173 f. und Ehrenpforte S. 358 f.


 

4 S. Bd. I, S. 116.


 

5 S. Mattheson, Ehrenpforte S. 410 f.


 

6 Acten des Leipziger Raths VII. B. 117. Das Protokoll, welches vom 21. Dec. datirt ist, sagt: »es hätten sich noch mehrere gemeldet, als der Capellmeister Graupner in Darmstadt und Bach in Köthen«.


 

7 Laut einer Notiz auf einem zwar nicht autographen, aber von Bach durchgesehenen und ergänzten Manuscript dieser Cantate, welches sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindet. Übrigens s. Bd. I, S. 764 f.


 

8 Maturini Corderii Colloquia scholastica, pietati, literarum doctrinis, decoro puerili, omni muneri, ac sermoni praecipue scholastico, utiliter concinnata. 3. Aufl. Leipzig, 1595.


 

9 Acten des Leipziger Raths »Schuel zu S. Thomas.Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 41a, 63, und 308.


 

10 »Alle drei [nämlich: Bach, Kauffmann und Schott] würden zugleich nicht informiren können.« Rathsacten VII. B. 117. Protokoll vom 9. April.


 

11 Diesen Sachverhalt meldet der Superintendent Deyling dem Consistorium unter dem 24. Febr. 1724. S. »Acta die Besetzung des Cantoramts bei der Schule zu St. Thomä zu Leipzig bet.« L. 127. (Aus den Leipziger Consistorialacten, jetzt im Consistorialarchiv zu Dresden.) – Das Actenstück über Bachs Berufung ist mitgetheilt Anhang B.I.


 

12 S. Anhang B, II.


 

13 Den Bestand des Consistoriums im Jahre 1724 mit Nennung der einzelnen Mitglieder und der Zeit ihres Eintrittes giebt an Sicul, Leipziger Jahr-Buch, Band III, S. 358 f. Es befanden sich damals darin sechs Assessoren: die Doctoren Wagner, Lange, Schmid, Packbusch, Deyling, Mascov; Director war schon seit 1709 Dr. Johann Franz Born.


 

14 »Dn. Jo. Sebastianus Bach ad quaestiones a me propositas ita respondit, ut eundem ad officium Cantoratus in Schola Thomana admitti posse censeam.

D. Jo. Schmidius.«

Darunter steht: »Consentit

D. Salomon Deyling«,

Leipziger Consistorialacten »Acta die Besetzung des Cantoramts bei der Schule zu St. Thomä zu Leipzig bet.« L. 127.


 

15 S. Anhang A, Nr. 1.


 

16 Der Titel »Baumeister« bedeutet keinen Architecten, sondern eine Würde im städtischen Rath, analog dem römischen aedilis; s. Wustmann, Der Leipziger Baumeister Hieronymus Lotter. Leipzig, 1875. S. 27. »Baumeister« Lehmann war Jurist; s. Sicul, Leipziger Jahrbuch, Bd. IV, S. 764 ff.


 

17 Die damaligen Mitglieder des Lehrercollegiums werden aufgezählt in »E.E. Hochw. Raths | der Stadt Leipzig | Ordnung | Der Schule | zu S. THOMAE. | Gedruckt bey Jmmanuel Tietzen, 1723. |« S. 11 und 12.


 

18 S. Anhang B, III.


 

19 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. Leipzig, bey Joh. Theodori Boetii seel. Kindern. 1723. S. 78: »Joh. Sebastian Bach, Director Music. und Cantor, am Thomas-Kirchhofe auf der Thomas-Schule«. Daß Kuhnau am Thomas-Kirchhofe gewohnt habe, sagen die Leipziger Leichenregister bei Vermerk seines Begräbnisses.


 

20 Nach den Viertelsbüchern der Stadt Leipzig, auf dem Bezirksgericht daselbst.


 

21 Er stand Pathe bei dem 1732 geborenen Sohne Bachs.


 

22 Acten des Leipziger Raths »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.«


 

23 Eine Ansicht des Platzes in Kupferstich findet sich vor der 1723 gedruckten Schulordnung. Übrigens hat die Thomasschule seit dem Herbst 1877 jene alten erinnerungsreichen Räume mit einem vor der Stadt gelegenen neuen Gebäude vertauscht.

 

II

 

1 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. 1723. S. 84 ff.


 

2 Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation. Leipzig, 1839. S. 128 ff.


 

3 Acten des Leipziger Raths »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.« und »Fasc. II. sign. VIII, B. 6.« – Stallbaum, Die Thomasschule zu Leipzig. Leipzig, 1839. – Derselbe, Über den innern Zusammenhang musikalischer Bildung der Jugend mit dem Gesammtzwecke des Gymnasiums. Nebst biographischen Nachrichten über die Cantoren an der Thomasschule zu Leipzig. Leipzig, Fritzsche (1842).


 

4 Im Wahlprotokoll (s. Anhang B, I) nennt einer der Rathsherren den Cantor Collega quartus. Dies ist ein ungenauer Ausdruck und soll sich nur auf den wissenschaftlichen Unterricht beziehen, in welchem allerdings der Cantor thatsächlich dem Tertius nachstand. Ordnungsmäßig folgte er auf den Conrector, dieser auf den Rector; s. Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 10 ff. Wenn aber die Schulordnung angiebt, es habe vorher außer dem Rector noch acht Lehrer an der Anstalt gegeben, so gilt dieses mindestens nicht für Kuhnaus Zeit. Nach Ausweis der Acten von 1717 existirten damals außer dem Rector nur sieben Lehrer, grade so wie es auch zu Bachs Zeit war; einen Quartus über den beiden Baccalaureen gab es nicht.


 

5 Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 30.


 

6 Acten des Leipziger Raths »Schuel zu S. Thomas.Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 16 und 41a, vrgl. Fol. 63, 113 und 114. – »Acta, Die Verhältnisse des Pfarrers der Nicolai-Kirche zu Leipzig zu dem Superintendenten daselbst betr.«, auf dem Ephoral-Archiv zu Leipzig, einen Lectionsplan aus dem Jahre 1714 enthaltend.


 

7 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. VIII. B. 6.«, Notiz J.M. Gesners. S. außerdem Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 27 ff. Unter Gesners Rectorat wurde die Hausordnung etwas verändert. S. Gesetze der Schule zu S. Thomae. 1733. S. 12 ff.


 

8 Rathsacten VII. B. 110. Fol. 77.


 

9 Sie erhielten hierfür ein besonderes Gratial, früher Speisen und Kuchen, später jährlich 13 Thlr. 3 gr. Rechnungen des Hospitals im Archiv der Stiftungsbuchhalterei auf dem Rathhause zu Leipzig.


 

10 Bach bemerkt in einer von ihm aufgestellten Tabelle der vier Chöre zu dem vierten: »Und dieses letztere Chor muß auch [NB] die Petri Kirche besorgen«. Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 520.


 

11 S. Anhang B, IV, A. – Sicul, Neo-Annalium Lipsiensium Continuatio II. 2. Aufl. 1719. S. 568. – Außerdem die Actenstücke zum Streit zwischen Bach und Ernesti im sechsten Buche des vorliegenden Werkes.


 

12 S. Anhang B, IV, A.


 

13 Sicul, a.a.O. S. 568 f.


 

14 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«, hinten unter »Anmerkungen über die Ordnung der Schule zu St. Thomas, 1. Des HerrnGesners Lit. A. 2. Des Herrn Rect. Ernesti Lit. B.« S. 2. – S. Anhang B, IV, B unter 9 und IV, D.


 

15 Ordnung der Schule zu S. Thomae. 1723. S. 45 ff., 35 f., 71. – Anhang B, II unter 13.


 

16 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 113 und 114.


 

17 S. das unter Anmerk. 14 angeführte Actenstück, unter den Anmerkungen Ernestis zu Cap. V, §. 13 der Schulordnung.


 

18 Gesetze der Schule zu S. Thomae. 1733. S. 23, und aus den Actenstücken zum Streit Bachs gegen Ernesti das Promemoria des letzteren vom 13. Sept. 1736.


 

19 Nach dem Protokoll über die im Jahre 1717 gehaltene Schulvisitation. Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.« In der Schulordnung von 1723 ist auf S. 53 auch von einem »Music-Gelde« die Rede, »so im Sommer colligiret wird«. Wann und in welcher Art diese sommerlichen Umgänge stattfanden, weiß ich nicht zu sagen.


 

20 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


 

21 Es ist anzunehmen, daß die vier Kirchenchöre etwas anders zusammengesetzt waren, als die behufs der Gesangsumgänge gebildeten vier Cantoreien. Auch letztere können nicht bei allen Umgängen gleich stark gewesen sein: zu Neujahr sangen im Ganzen nur 32 Alumnen, also 8 in jeder Cantorei, eine Einrichtung, die offenbar aus der Zeit beibehalten worden war, da es in der Anstalt überhaupt nur 32 Alumnenstellen gab. Hieraus erklärt es sich auch, wenn in den Acten und der Schulordnung hin und wieder von den 8 Concentores die Rede ist.


 

22 S. aus den in Anmerk. 18 erwähnten Actenstücken die Eingabe Bachs vom 12. Aug. 1736 und Ernestis Promemoria vom 13. Sept. 1736. – Das Anstimmen der Lieder gehörte eigentlich zu den Obliegenheiten des Cantors, aber dem Herkommen gemäß thaten es die Präfecten und dabei blieb es auch, wie in so manchen andern Dingen ebenfalls, trotz den Bestimmungen der Schulordnung von 1723.


 

23 Schulordnung von 1723, S. 37.


 

24 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 36.


 

25 Bemerkungen Joh. Aug. Ernestis zu Cap. V, §. 13 der Schulordnung von 1723, in dem unter Anmerk. 14 angeführten Actenfascikel.


 

26 »Leipziger Kirchen-Staat, Das ist Deutlicher Unterricht vom Gottes-Dienst in Leipzig, wie es bey solchem so wohl an hohen und andern Festen, als auch an denen Sonntagen ingleichen die gantze Woche über gehalten wird,« u.s.w. »LEIPZIG verlegts Friedrich Groschuff, 1710.« 8. (Befindlich auf der Ponickauschen Bibliothek zu Halle.) S. 32 und 34.


 

27 Nach eigner Angabe Bachs in seinem Briefe an Erdmann.


 

28 »Jahres Rechnung des Raths der Stadt Leipzig über Einnahme und Ausgabe vom 29. Augusti 1723. bis 26. dito 1724.« – »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« VIII, B. 6. – Rechnungen der Schule zu St. Thomae von Lichtmeß 1723 bis Lichtmeß 1724.


 

29 So wurde es unter dem Rectorat Joh. Heinr. Ernestis gehalten, auch nachdem die Schulordnung von 1723 bestimmt hatte, daß nur für jeden Alumnen Schulgeld, und zwar im Betrage von wöchentlich 12 Pfennigen berechnet werden sollte. Überhaupt giebt die obenstehende Darstellung die Verhältnisse, wie sie zur Zeit von Bachs Eintritt wirklich waren, nicht wie sie den Vorschriften des Rathes gemäß sein sollten; ersteres deckte sich keineswegs überall mit letzterem.


 

30 S. darüber Anmerk. 19.


 

31 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


 

32 Schulordnung von 1723. S. 47 ff.


 

33 Zu Kuhnaus und seiner Vorgänger Zeit, s. Rathsacten unter Anmerk. 31. Die Schulordnung von 1723, S. 36, widerspricht dem freilich und setzt 1 Thlr. fest.


 

34 S. Anhang B, IV, D.


 

35 Rathsacten unter Anmerk. 31.


 

36 Sicul, Leipziger Jahrbuch. 4. Bd. S. 920 ff., und Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig, 1729. S. 791 f.


 

37 S. Anhang B, IV, B, 11, und IV, D. – Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.«


 

38 Protokoll über die am 5. und 6. April 1717 gehaltene Schulvisitation, in den Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


 

39 Nach einem wahrscheinlich von Gesner herrührenden Entwurf, wie man die drei untersten Classen der Thomasschule ganz eingehen lassen könnte, in den Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.« – Außerdem s. Schulordnung von 1723, S. 46.


 

40 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol. III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 364b.


 

41 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5.«


 

42 Rathsacten »Ersetzung Derer Schul-Dienste in beyden Schulen zu St. Thomae und St. Nicolai. Vol. II. VII. B. 117.« Fol. 260.


 

43 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II. sign. VIII, B. 6.«


 

44 Die hora Cantoris war allgemein von 12–1 Uhr, also gleich nach dem Mittagsessen; s. Ungewitter, Die Entwickelung des Gesangunterrichtes in den Gymnasien seit der Reformationszeit. Königsberg i. Pr. 1872. S. 11. Auf der Thomasschule war dies freilich nicht der Fall, da hier um 10 Uhr zu Mittag gegessen wurde. Aber noch ein so feiner Geist, wie Gesner, konnte vorschlagen, das Mittagsessen um eine Stunde hinauszuschieben und unmittelbar nach demselben Singstunde zu halten, denn die Singstunde diene zur gesündesten Bewegung nach Tische (Rathsacten unter Anmerk. 39).


 

45 S. Anhang B, IV, D.


 

46 Geschichte des Theaters in Leipzig. Von dessen ersten Spuren bis auf die neueste Zeit. Leipzig, 1818 (Verfasser: B.[lümner]). S. 32 ff.


 

47 S. Anhang B, IV, A.


 

48 Musikalische Bibliothek Oder Gründliche Nachricht, nebst unpartheyischem Urtheil von Musikalischen Schrifften und Büchern. Erster Theil. Leipzig,Anno 1736. 8. S. 64.


 

49 S. Bd. I, S. 624.


 

50 Mattheson, Große General-Bass-Schule, S. 173. – Derselbe, Ehrenpforte, S. 117 f. – »Das Anno 1713. florirende Leipzig. Zu finden bei C.F. Rumpffen.« 8. S. 30. – Sicul, »Des Leipziger Jahr-Buchs Andere Probe, Auf das 1716 Jahr ausgefertiget«. 12. S. 414. – Gerber, L. I, Sp. 656. – Anhang B, IV, A, B und E.


 

51 »Continuation Derer Leipzigischen Jahrbücher von Anno 1714 bis 1728.« Manuscript in Fol. auf der Leipziger Stadtbibliothek. Fol. 18.


 

52 Rechnungen der Neuen Kirche zu Leipzig von Lichtmeß 1719–1720, S. 27; von Lichtmeß 1720–1721, S. 28.


 

53 S. Anhang B, IV, D; ferner die Rechnungen der Thomas- und Nikolai-Kirche.


 

54 S. Anhang B, IV, E.


 

55 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VII, B. 117.« Fol. 218.


 

56 Wahrscheinlich derselbe, welcher sich später imCollegium musicum hervorthat.


 

57 Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 348b und 351. – Anhang B, IV, B.


 

58 »Herr Vetter, als der vornehmste Organicus allhier.« Bericht über die neue Pauliner-Orgel in »Die Andere Beylage zu dem Leipziger Jahr-Buche, aufs Jahr 1718«. S. 198 f.


 

59 S. Anhang B, IV, C; dazu die später folgenden Schriftstücke Bachs in seinem Conflict mit der Universität.


 

60 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. Leipzig, bey Joh. Theodori Boetii seel. Kindern. 1723. 8. S. 59.


 

61 Rathsacten VII. B. 108. Fol. 91. Ebenda Fol. III.


 

62 Ephoralarchiv zu Leipzig »Trauer-Feiern beim Absterben der sächsischen Fürsten. Vol. I«.


 

63 Johann Adolph Scheibens Critischer Musikus. Neue Auflage. Leipzig, 1745. S. 60. S. Anhang A. Nr. 2.


 

64 »Bach, Wilhelm Friedemann, Vinario-Thuringensis« unter den Depositi, nondum inscripti vom 22. Dec. 1723.


 

65 Walther, Lexicon S. 64. Unter den Bestellungen des Weißenfelser Hofes von 1712–1745, welche im Staatsarchiv zu Dresden aufbewahrt werden, fehlen alle in das Jahr 1723 gehörige, und somit auch diejenige Bachs.

 

III

 

1 S. Anhang B, IV, C.


 

2 S. das unten folgende ausführliche Schriftstück Bachs, in Betreff seines Conflictes mit der Universität, gegen Ende.


 

3 Grosch war ein gothaisches Landeskind, wurde 1724 Prinzenerzieher und bekleidete später verschiedene Pfarrstellen im dortigen Lande (nach Mittheilungen aus dem herzoglichen Archiv zu Gotha).


 

4 Vogel, »Continuation Derer Leipzigischen Jahrbücher von Anno 1714 bis 1728«, und die in Anmerk. 6 angeführten »ACTA«, 1724. S. 231 f.


 

5 Gerber, L. I, Sp. 491.


 

6 In den ACTA LIPSIENSIVM ACADEMICA. Leipzig, 1723. S. 514 wird Bach »Cantor und Collegii Musici Director« genannt. Vermuthlich ist »Collegii« nur ein Schreib- oder Druckfehler für »Chori«; gewiß aber ist hier der Thomanerchor gemeint.


 

7 Original: zugeignet.


 

8 Staatsarchiv zu Dresden: »Rescripte. 1724–1728«. Loc. 2127. Bl. 115n. Abschriftlich durch Herrn Moritz Fürstenau gefälligst vermittelt.


 

9 Dieses sowie die im Folgenden erwähnten oder mitgetheilten Actenstücke befinden sich im Archiv der Universität Leipzig, Repert. II/III. Nr. 22. Litt. B. Sect. I. »ACTA das von dem Cantore zu St. Thomas Johann Sebastian Bachen gesuchte Salarium vom Neuen Gottesdienste in der Pauliner Kirche betreffend. de Anno 1725«.


 

10 Der Brief ist durchgängig autograph. Das Siegel scheint die Rosette mit der Krone gewesen zu sein; vrgl. Bd. I, S. 38, Anmerk. 20.


 

11 Ohne Siegel. Die bei den Acten der Universität befindliche Abschrift dieses Schriftstückes ist von Bach nur unterzeichnet.


 

12 Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation. S. 293.


 

13 Christoph Ernst Siculs | ANNALIVM | LIPSIFNSIVM | MAXIME ACADEMICORVM | SECTIO XXIX. | u.s.w. Leipzig beym AVTORE 1728. 8.


 

14 »Das jetzt lebende und florirende Leipzig.« S. 32.


 

15 Der deutschen Gesellschaft in Leipzig Oden und Cantaten. Leipzig, 1738. S. 126. – Eine Festaufführung zum Geburtstage des Königs veranstaltete im Jahre 1728 Schotts Musikverein; der Text war von Gottsched und steht in dessen Gedichten II, S. 270 ff.


 

16 ANTONII WEIZII Verbessertes Leipzig. Leipzig, 1728. S. 12.


 

17 S. Bd. I, S. 559.


 

18 Gerlach hatte noch vier Mitbewerber, aber er war »von Herrn Bachen gelobet worden«. Protocoll in den Drey Räthen vom 31. Aug. 1722. bis 18. July 1736. sign. VIII, 43. Fol. 182b.


 

19 S. Anhang A. Nr. 3.


 

20 Johann Schelle »wurde 1677 Cantor auf der Thomas Schule, wobey ihm zugleich die Universität dasDirectorium Chori musici in der Pauliner Kirche auffgetragen«; handschriftlicher Nachtrag in G.M. Telemanns Exemplar von Matthesons Ehrenpforte (auf der königl. Bibliothek zu Berlin). Im Leipziger Leichenregister steht bei Kuhnaus Tode: »Director Musices bey der Löbl. Universitaet und Cantor bey der Schulen zu St. Thomae«.


 

21 So in seiner Denkschrift über »eine wohlbestallte Kirchenmusik« vom Jahre 1730, obgleich diese sich fast durchaus mit den Thomasschülern befaßt.


 

22 Heinrich Nikolaus Gerber schreibt auf seine Copien der französischen und englischen Suiten immer: »Joh. Seb. Bach. H.[ochfürstlich] A.[nhalt] C.[öthenischer] Capell-Meister, Dir.[ector] Ch.[ori] M.[usici] L.[ipsiensis] et [oder: »auch«] Cant.[or] S.[ancti] T.[homae] S.[cholae] Lips.[iensis]«.


 

23 »Das jetzt lebende und florirende Leipzig.« Leipzig, 1723. S. 78.


 

24 Sicul, Leipziger Jahr-Geschichte 1721. S. 227 f. – Adelung, Fortsetzungen zu Jöchers Gelehrten-Lexicon. Bd. 2. Leipzig, 1787. Sp. 684 ff. – Deylings Oelgemälde hängt im Chor der Thomaskirche, ein Kupferstich findet sich in »Geographischer Schau-Platz Aller vier Theile der Welt von Christian Ehrhardt Hoffmann. Anderer Band« (Leipziger Stadtbibliothek).


 

25 Rochlitz, Sebastian Bachs große Passionsmusik, nach dem Evangelisten Johannes. Für Freunde der Tonkunst. 4. Bd. 3. Aufl. Leipzig, Cnobloch. 1868. S. 271 ff. Zum Theil abgedruckt im Vorwort zu B.-G. IV. S. XIII-XV. Daß die von Rochlitz gegebene Darstellung vom Leipziger Cultus vor und zu Bachs Zeit zum Theil ganz unrichtig ist, wird des weitern noch aus Cap. IV dieses Abschnittes hervorgehen. Rochlitz erzählt auch, Bach habe jedesmal zu Anfang der Woche mehre auf den folgenden Sonntag gerichtete Texte seiner Kirchenstücke (gewöhnlich drei) dem Superintendenten zugeschickt und dieser daraus gewählt. Eine Bestätigung dieser Behauptung kann ich nicht beibringen; unmöglich ist es nicht, daß Rochlitz, der von 1782 an selbst Alumne der Thomasschule war, hier einer verläßlichen Tradition gefolgt ist.


 

26 S. Anhang B, V.


 

27 Als Parallele diene, daß Kuhnau am 4. April 1722 vom Bürgermeister einen Verweis erhielt, weil er wegen der Passionsmusik in der Thomaskirche nicht den Rath, sondern das Consistorium um Erlaubniß gefragt habe. Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VII. B. 117. Fol. 218«.


 

28 Das betreffende Actenstück, welches Bitter II, S. 86 f. mittheilt, habe ich nicht wieder auffinden können, muß mich daher auf ihn berufen.


 

29 »gleichwie ich die Lieder in allen 3 Kirchen anordne«. Kuhnau, Memorial vom 4. Dec. 1704; s. Anhang B, IV, A.


 

30 S. Anhang B, VI.


 

31 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas. Vol. IV. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 410. Von der Eingabe Bachs ist nur die Namensunterschrift autograph.


 

32 Die Stadtpfeifer waren in den ersten 12 Jahren von Bachs Amtszeit: Gottfried Reiche, Christian Rother, Joh. Cornelius Gentzmar, Joh. Caspar Gleditsch. Die Kunstgeiger hießen: Heinrich Christian Beyer, Christian Ernst Meyer, Joh. Gottfried Kornagel. S. Rechnungen der Thomas- und Nikolai-Kirche im Archiv der Stiftungsbuchhalterei zu Leipzig.


 

33 Eine aus fünf Musikanten bestehende besondere Compagnie musicirte unter Schott in der Neuen Kirche. S. Rechnungen der Neuen Kirche von 1725–1729.


 

34 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VIII. B. 2«. Fol. 460, 498, 508, 515.


 

35 Rathsacten VII, B. 117. Fol. 409. – Irmler erhielt die Stelle.


 

36 Gerber, L. I, Sp. 17. – Burney, Tagebuch III, S. 58 ff. – Rolle, Neue Wahrnehmungen u.s.w. Berlin, 1784. S. 93.


 

37 Tosi, Anleitung zur Singkunst. Mit Erläuterungen und Zusätzen von Johann Friedrich Agricola. Berlin, 1757. S. 139.


 

38 Bei Scheibe, Critischer Musikus. Leipzig, 1745. S. 997 (Birnbaums Äußerung stammt aus dem Jahre 1739). – Vrgl. außerdem Band I, S. 666 f.


 

39 S. Band I, S. 658 ff.


 

40 Rathsacten »Protocoll zum Drey Räthen vom 18.August: 1704 bis 1. Septembr: 1753.« sign. VIII, 53. Fol. 374b. (8. August 1750.)


 

41 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV Stift. VIII. B. 2.« Fol. 516.


 

42 Im Original verschrieben »zu«.


 

43 Offenbar derselbe, welchem Bach am 3. Juni das oben mitgetheilte, etwas weniger strenge Zeugniß ausstellte.


 

44 Jedenfalls derselbe, welchem Bach das oben mitgetheilte Separat-Zeugniß ausstellte.


 

45 Rathsacten a.a.O. Fol. 518, 519, 520.


 

46 Rathsacten a.a.O. Fol. 524.


 

47 Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. Leipzig. 1729. S. 791 f.


 

48 »Protocoll zum Drey Räthen vom 18. Augusti 1704 bis 1. Septembr: 1753.« sign. VIII, 53.


 

49 S. Anhang B, VII.


 

50 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I.« sign. VIII, B. 5. Am Ende des Fascikels befinden sich aus der Feder des jüngeren Ernesti »Anmerckungen über die Ordnung der Schule zu St. Thomas.«, in welchen auch von einer angemessenen Beschränkung der Vorbereitungen zum Gregorius-, Martini- und Neujahr-Singen auf bestimmte Nachmittage gehandelt wird. Endlich sagt Ernesti: »Es wäre aber zu überlegen, ob nicht diese Übungen gar auf die Stunden nach der Lection von 3. bis 6. Uhr verlegt werden könnten. Auf diese Weise gienge auch die Singestunde, so derCantor von 12–1 Uhr zu halten hat nicht ein, welche um so vielmehr beyzubehalten, da derselbe ietzo ohnedem nur 1. Singestunde hält, da er doch deren zwo zu halten schuldig, und also die Knaben nicht genug in der Music geübet werden«. Dies ist gegen 1736 geschrieben.


 

51 S. Joh. Friedr. Köhlers unten folgende Mittheilungen über Gesner.


 

52 Dr. Stiglitz schreibt unter dem 18. Mai 1729 dem Rathe,die neuen Bewerber um Alumnenstellen hätten sich entweder schriftlich und zwar zum Theil unter Beifügung eines Zeugnisses vom Rector oder Conrector, oder ohne Schreiben nur durch den Vorschlag des Cantors Bach gemeldet und angegeben. Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 516.


 

53 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« sign. VIII, B. 6.


 

54 Rathsacten »Schuel zu St. Thomas Vol: IV. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 525b ff.


 

55 S. Band I. S. 323.


 

56 »Musiciren« bedeutet bei Bach und im allgemeinen Sprachgebrauche seiner Zeit, wenn es sich um die Kirche handelt, immer nur die Aufführung einer von obligaten Instrumenten begleiteten Figuralmusik.


 

57 Die Alumnen liebten es sich krank zu melden, oft auf Monate, ja Viertel- und halbe Jahre; die verschriebenen Arzneien schütteten sie aus dem Fenster und labten sich an der kräftigen Krankenkost. Niclas in Eyrings Biographia Academica Gottingensis. Vol. III, pag. 52.


 

58 Dieser war unter der ganzen ehrenwerthen Gesellschaft der einzige hervorragendere Musicus, aber, als Bach obiges schrieb, schon 64 Jahr alt. Die von ihm im Jahre 1696 erschienenen 24 Quatricinia für Zink und drei Posaunen besitzt die königliche Bibliothek zu Berlin. Er starb 1734 unverheirathet »im Stadtpfeiffer Gäßgen, allwo er am 6. 8br vom Schlag gerühret, umgesunken und tod nach Hauße getragen worden ist« (Leipziger Leichenregister), und wurde mit der großen halben Schule beerdigt. Nach Gerber, L. II, Sp. 258 war er am 5. Febr. 1667 zu Weißenfels geboren; die Leichenregister lassen ihn 68 Jahr alt geworden sein.


 

59 Diese »beneficia« müssen aus Ersparnissen, Verwaltungsüberschüssen u. drgl. gewährt worden sein; besondere Summen sind dazu nicht ausgeworfen worden, da diese sonst in den Kirchen- und Schul-Rechnungen zu finden sein müßten. Aus den Mitteln der Nikolaikirche wurden schon zu Kuhnaus Zeit »vor Bestellung der Kirchen Music« jährlich 50 Gülden = 43 Thaler 18 ggr. gezahlt; auf diese Summe kann Bach nicht anspielen, da sie regelmäßig weiter gezahlt worden ist.


 

60 Vrgl. Anhang B, IV, B unter 12.


 

61 Bach gebraucht, wie man sieht, das Wort Figuralmusik in einem engeren Sinne, der die Motette nicht einbegreift.


 

62 Jedenfalls identisch mit dem obengenannten Johann Tobias Dieze.


 

63 S. Anhang B, IV.


 

64 S. Anhang B, VII.


 

65 1736 wurde noch ein Exemplar dieser Motettensammlung eigens für den Gebrauch in der Nikolai-Kirche angeschafft; es kostete 10 Thaler; im folgenden Jahre abermals eins zum Preise von 8 Thalern für die Thomaskirche. Das erste Exemplar scheint demnach nicht gereicht zu haben.


 

66 Im December 1725 war Erdmann zur Ordnung nothwendiger Angelegenheiten von Danzig in sein Vaterland Sachsen-Gotha gereist. Wie aus diesem Briefe hervorgeht, hatte er sich aber bei der Gelegenheit mit Bach nicht gesehen.


 

67 Adresse fehlt. – Seit ich in Band I, S. 755 und 764 f. zwei Bruchstücke dieses Briefes mittheilte, bin ich durch Freundeshand in Besitz einer photographischen Nachbildung des ganzen Briefes gelangt. Dieselbe hat ergeben, daß in einer der S. 755 abgedruckten Zeilen ein Wort ausgelassen war; außerdem noch ein paar andre unbedeutende Versehen des Copisten, welche man durch Vergleichung leicht entdecken wird.


 

68 S. Anhang B, IV, D.


 

69 S. Band I, S. 390.


 

70 J. Aug. Ernesti narratio de Jo. Matthia Gesnero ad Davidem Ruhnkenium. Addita opusculis oratoriis. 1762. pag. 306 seqq. – H. Sauppe, Johann Matthias Gesner. Weimar, 1856. 4.


 

71 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. I.« sign. VIII, B. 5, und zwar die am Schlusse des Fascikels befindlichen »Anmerckungen über die Ordnung der Schule zu St. Thomas, 1. Des Herrn Gesners Lit. A.«.


 

72 »E.E. Hochweisen Raths der Stadt Leipzig Gesetze der Schule zu S. THOMAE. Leipzig, druckts Bernhard Christoph Breitkopf. 1733.« 4. 39 S.S.


 

73 Historia Scholarum Lipsiensium collecta a Joh. Frid. Köhlero, pastore Tauchensi. 1776 seqq. pag. 160. Ein Manuscript, das die königliche öffentliche Bibliothek zu Dresden aufbewahrt. Zu dem oben mitgetheilten fügt der Verfasser noch hinzu: »Diese Bemerkungen sind aus dem Munde eines seiner Schüler, der oft, und immer mit Enthusiasmus von seines großen Lehrers Verdiensten sprach«.


 

74 Rechnungen der Thomas- und Nikolai-Kirche 1732–1733, S. 49 und S. 60.


 

75 Im Original illic, was ein Druckfehler sein muß. Offenbar will Gesner die Ausführung einer Stelle beschreiben, wo Hände und Füße sich in Gegenbewegung befinden.


 

76 Wird eundem heißen sollen; eadem giebt kaum einen Sinn.


 

77 Der erste, welcher auf diese Stelle aus Gesners Commentar aufmerksam machte, war Constantin Bellermann im Parnassus Musarum (s. über diesen Band I, S. 801) S. 41; später zog sie von neuem hervor Johann Adam Hiller, Lebensbeschreibungen, Erster Theil. Leipzig, 1784. S. 27–29. Ich gebe eine Übersetzung, weil dieselbe von Siebigke, Museum berühmter Tonkünstler. 2. Band, S. 21 ff. und auch von Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, S. 261 f. theilweise falsch übertragen ist.


 

78 Rathsacten a.a.O.


 

79 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« sign. VIII, B. 6.


 

80 »Accidentien« hier in der allgemeinen Bedeutung als zufällig bei außergewöhnlichen Gelegenheiten einlaufende Gelder. Die Accidentien für Leichenbestattungen, Trauungen, der Antheil des Cantors an dem auf den Schülerumgängen gesammelten Gelde, waren gesetzlich normirt.


 

81 S. Band I, S. 517 f.


 

82 S. Band I, S. 616. Als Schneiders Antrittsjahr ist dort, nach Walther, 1729 angegeben. Dies ist falsch; die Stelle wurde allerdings 1729 vacant, aber erst zum 1. August 1730 Schneider übertragen; s. Leipziger Rathsacten VII. B. 108. Fol. 111b.


 

83 S. Band I, S. 516 f.


 

84 Rathsprotokolle vom 18. Aug. 1704 – 1. Sept. 1753. Fol. 161b. Im Jahre 1766 erbat sich Schneider einen Substituten und erhielt ihn; Leipziger Consistorialacten »Praesentationes und Confirmationes dererOrganisten bey der Kirche zu St. Nicolai. No. 121«.


 

85 S. Band I, S. 765 f.


 

86 Stallbaum, Die Thomasschule zu Leipzig. S. 69, Anmerkung. – In der Tags zuvor ausgeschickten Einladungsschrift wünscht Gesner, daß die Thomaner sein möchten »juvenes ad humanitatem, quae litteris censetur et musice, probe instituti atque exculti«. (S. 14 daselbst.)


 

87 S. Anhang B, X, 4

 

IV

 

1 Um ein Beispiel anzuführen, so wurde vom 19. Nov. 1736 an für eine Frau Anna Elisabeth Seeber jährlich in der Neuen Kirche der Choral »O Jesu Christ, mein's Lebens Licht« gesungen, wofür 15 Thaler Jahreszinsen zur Vertheilung kamen. S. Rechnungsbücher der Neuen Kirche vom obigen Jahre.


 

2 Rathsarchiv »Acta die Kirchen-Musik E.w.d.a. betr.« VII. B. 31. Fol. 1, 2, 4, 6. – M. Johann Jacob Vogels Leipziger ANNALES Dritter Band. S. 1051.


 

3 S. Band I, S. 513 f.


 

4 Dieselben wurden im Jahre 1628 gegeben, wo also vermuthlich das Institut ins Leben trat. Gottfried Vopelius, der bekannte Verfasser des Neuen Leipziger Gesangbuchs von 1682, und seiner Zeit Cantor der Nikolaikirche, hat sie 1678 nochmals niedergeschrieben. Das Manuscript befindet sich jetzt in der Bibliothek der Nikolaischule zu Leipzig. – Der Nikolai-Cantor zu Bachs Zeit war Magister Johann Hieronymus Homilius.


 

5 Als im Jahre 1767 der Palmsonntags-Hymnus Gloria, laus et honor tibi sit, Rex Christe gesungen werden sollte, erklärte der Cantor Doles, die Noten dazu hätten sich verloren. »ACTA die veränderte Einrichtung des öffentlichen Gottesdienstes zu Palmarum und am Char-Freytage u.s.w. 1766«; Ephoral-Archiv zu Leipzig.


 

6 Das Verbot des Orgelspiels während der Fastenzeit wurde erst im Jahre 1780 insofern eingeschränkt, als von da ab wenigstens die Communionlieder mit Orgelbegleitung gesungen werden durften; s. Rechnungen der Nikolaikirche von Lichtmeß 1780 – Crucis 1780, S. 38.


 

7 Dieses erweist eine Verordnung des Leipziger Consistoriums vom 31. Januar 1810, welche den bisherigen Gebrauch abschafft. »Acta Ephor. Das gestattete Orgelschlagen an den Bußtagen und zu andern Zeiten betr.«, auf dem Ephoral-Archiv zu Leipzig; außerdem die Rechnungen der Thomaskirche von 1719, S. 34.


 

8 In Bachs Aufzeichnung findet sich unter 8) hinter den Worten »Evangelium verlesen« die nachher durchstrichene Bemerkung »und Credo intoniret«; Bach hatte also irrthümlich die ihm ertheilte Auskunft zuerst auch auf den ersten Adventsonntag bezogen.


 

9 So entstand, was Rochlitz als eine kaum glaubliche Ungeheuerlichkeit erzählt (Für Freunde der Tonkunst. 4. Bd. 3. Aufl. S. 278, Anmerk.), daß unmittelbar vor dem deutschen Credo das lateinische »munter« gesungen wurde.


 

10 »12. ggr. vor reparirung der Sand Uhr auf der Orgel.« Rechnungen der Thomaskirche von 1739–1740, S. 62.


 

11 Für die Beleuchtung auf dem Orgel-Chor hatte, wenn Figural-Musik war, der Cantor, sonst der Conrector zu sorgen. Der Cantor erhielt zu diesem Zwecke aus den Mitteln der Thomaskirche jährlich 11 Thaler 15 ggr., aus denen der Nikolaikirche, in welcher das Chor kleiner war, 7 Thaler 21 ggr. ausgezahlt (Rechnungen der Thomas- und Nikolai-Kirche).


 

12 S. Vopelius, Neu Leipziger Gesangbuch, S. 440 ff.


 

13 Ich schließe dies aus Vopelius, der Versikeln für alle Feste in sein Gesangbuch aufgenommen hat.


 

14 S. »Texte zur Leipziger Kirchen-Music, auff die heiligen Oster-Feyertage, ingleichen auff Jubilate, Cantate, und das Fest der Himmelfarth Christi, Anno 1711. LEIPZIG, gedruckt bey Jmmanuel Tietzen.« 8. 13 S. S., und »Texte zur Leipziger Kirchen-Music, Auf die Heiligen Weyhnachts-Feyertage, und den Sonntag darauf, 1720. Ingleichen auf das Fest Der Beschneidung Christi, den drauf folgenden Sonntag, Das Fest der Offenbahrung, und den Sonntag darauf, des 1721 sten Jahres. Leipzig, gedruckt bey Jmmanuel Tietzen«. 8. 8 Bll. Beide Heftchen auf der Bibliothek des Vereins für die Geschichte Leipzigs.


 

15 »ACTA die Feyer des Reformations-Festes betr.Superintendur Leipzig 1755.«, Leipziger Ephoralarchiv. – Gerber, Historie der Kirchen-CEREMONIEN in Sachsen. Dresden und Leiptzig. 1732. 4. S. 227.


 

16 Wenigstens war sie es im Jahre 1755, wo übrigens die Ordnung des Reformationsgottesdienstes ein paar Veränderungen erlitt. Vrgl. auch Schöberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesangs. Erster Theil. Göttingen, Vandenhoeck und Ruprecht. 1865. S. 487.


 

17 Vopelius, S. 263 ff. – Johann Adam Hiller sagt in der Vorrede seiner ierstimmigen lateinischen und deutschen Chorgesänge. Erster Theil. Leipzig, 1791., daß diese Motette zur Fastenzeit noch immer in den Kirchen gesungen werde.


 

18 S. über diese Schöberlein, a.a.O., I, S. 371 und 373.


 

19 Die Quellen »61/2 Uhr«. Dies muß ein Versehen sein, da schon um 7 Uhr der Vormittagsgottesdienst anfing, und die Mette am Palmsonntag zu keiner andern Zeit gehalten sein wird, als an den andern Sonntagen.


 

20 Man sieht dies daraus, daß Bach seine erste Passionsaufführung gegen seinen Wunsch in der Nikolai-Kirche veranstalten mußte. Rathsarchiv »Acta die Kirchen-Musik E.w.d.a. betr.« VII. B. 31. Fol. 12.


 

21 »ACTA die veränderte Einrichtung des öffentlichen Gottesdienstes zu Palmarum und am Char-Freytage u.s.w. 1766«; Ephoralarchiv zu Leipzig.


 

22 Antonii Weizii Verbessertes Leipzig. Leipzig, 1728. S. 12: In der Paulinerkirche »wurde dieses 1728. Jahr die erste Char-Freytags-Vesper-Predigt gehalten, zu denen Teutschen Liedern die Orgel gespielet, auch dazu mit Instrumenten musiciret«. Diese letzteren Worte können selbstverständlich nur eine concertirende Kirchenmusik bedeuten, da außer demTe Deum kein Gemeindelied mit Instrumenten außer der Orgel begleitet wurde.


 

23 S. Anhang B, IV, C, Eingang.


 

24 Der in obigem gegebenen Beschreibung des Leipziger Cultus haben außer den in ihrem Verlaufe schon angeführten noch folgende Quellen gedient: »Leipziger Kirchen-Staat, Das ist Deutlicher Unterricht vom Gottes-Dienst in Leipzig« u.s.w. Leipzig, 1710. – »Neo-Annalium Lipsiensium Continuatio II. Oder Des mit dem 1715ten Jahre neu-angegangenen Leipziger Jahr-Buches Dritte Probe, Auf das 1717 Jahr ausgefertiget von Christoph Ernst Sicul«. 2. Aufl. 1719. S. 565 ff. (»Etwas Neues. Von itziger Verfassung des Leipziger Gottesdiensts.«) – Bruno Brückner, Betrachtungen über die Agende der evangelisch-lutherischen Kirche im Königreich Sachsen. I. Leipzig, Edelmann, 1864. 4.


 

25 Ein Exemplar desselben wurde 1722 für den Schülerchor der Neuen Kirche angeschafft; s. Rechnungen der Neuen Kirche von Lichtmeß 1722 – ebendahin 1723. S. 34.


 

26 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomas betr. Fasc. I. sign. VIII, B. 5. Anmerckungen über die Ordnung der Schule zu St. Thomas, 1. Des Herrn Gesners Lit. A.« S. 3. – Vrgl. S. 58 dieses Bandes.


 

27 Die erste Auflage erschien 1694. Im Jahre 1741 wurde auch ein Dresdener Gesangbuch in Octav herausgegeben.


 

28 Wahrscheinlich »Gläubiger Christen Himmel-aufsteigende Hertzens-und Seelen-Music«, ein hallesches Gesangbuch in 8., von dem 1710 die fünfte Auflage erschien. Sicul a.a.O. S. 572 f. sagt, weil jeder von dem dort gebrauchten Gesangbuch wisse, habe man dort jetzt die Einrichtung getroffen, an schwarze Tafeln nur die Nummern der Lieder anzuschreiben.


 

29 S. das im Anhang B mitgetheilte Inventar des Bachschen Nachlasses.


 

30 Bei der Reformationsfeier im Jahre 1755 und 1757 wurde von dieser Sitte abgewichen. »ACTA die Feyer des Reformations-Festes betr. Superintendur Leipzig 1755.«


 

31 Gerber, Historie der Kirchen-Ceremonien. S. 280. – »Acta Ephor. Das gestattete Orgelschlagen an den Bußtagen und zu andern Zeiten betr.«; Ephoralarchiv zu Leipzig. – Scheibe (Critischer Musikus S. 421) spricht von einer Einrichtung, nach welcher bei Responsorien der Geistliche allein, der Chor mit Orgelbegleitung singt.


 

32 Mattheson, Das beschützte Orchestre. Hamburg, 1717. S. 83.


 

33 »In den vorigen Zeiten war in den Kirchen die Music mit Zincken und Posaunen gebräuchlich, da nemlich die Moteten annoch herrschten.« Ruetz, Widerlegte Vorurtheile von der Beschaffenheit der heutigen Kirchenmusic. Lübeck, 1752. S. 27.


 

34 Kirnberger, Grundsätze des Generalbasses. Berlin, 1781. S. 64.


 

35 Vrgl. Band I, S. 53 ff.


 

36 Scheibe, Critischer Musikus. S. 182.


 

37 Ch. G. Thomas aus Leipzig nennt in dem Programm eines von ihm am 19. Mai 1790 in Berlin veranstalteten Kirchenconcerts unter Nr. 5 »Den 149. Psalm, für zwey Chöre, bloße Vokalmusik«, fügt aber sofort hinzu, daß die Orgel begleiten werde. – Zelter nennt den Eingangschor der Bachschen Cantate »Sehet welch eine Liebe« (B.-G. XVI, Nr. 64) »a capella gearbeitet«; s. dessen Katalog zur Amalienbibliothek auf dem Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin.


 

38 S. Anhang B, IV, B, unter 1 und 2.


 

39 Sicul a.a.O. S. 569 sagt ganz allgemein, daß, wenn die Orgel nicht gespielt werde, auch die Motette ausfalle.


 

40 S. Band I, S. 59 f. und S. 79, Anmerk. 29.


 

41 Rechnungen der Thomaskirche von Lichtmeß 1721 – ebendahin 1722.


 

42 Über verschiedene sinnreiche Erfindungen Scheibes in der Mechanik des Orgelbaues ist ausführlicheres zu lesen in der Leipziger Neuen Zeitung von gelehrten Sachen. XVIII, S. 833 f. Scheibe starb am 3. September 1748.


 

43 S. Anhang A, Nr. 4.


 

44 Rechnungen der Thomaskirche von 1747–1748, S. 52. Bach und Görner waren demnach auch die Verfasser des Contracts, welcher erhalten und Anhang B, VIII mitgetheilt ist.


 

45 Über dieses Register s. Anhang A, Nr. 4.


 

46 Vogel, Leipziger Chronicke, Buch III, Cap. 6, S. 110 f. – Derselbe, Leipzigisches Geschicht-Buch oder Annales. 1714. S. 113 und 742.


 

47 Rathsacten St. IX. A. 2. Vol. I. Bl. 125 ff.


 

48 Handschriftliche Bemerkung des Rectors Rost zu S. 35 der Schulordnung von 1723, in dem auf der Bibliothek der Thomasschule befindlichen Exemplare.


 

49 Rathsacten St. IX, A. 4. Bl. 64 und 187 ff.


 

50 Vogel, Leipziger Chronicke a.a.O. – DesselbenAnnales S. 562.


 

51 Rechnungen der Thomaskirche 1727–1728, S. 41.


 

52 Rechnungen der Johanniskirche von 1740 – 1744. – Agricola bei Adlung, Musica mechanica, S. 251.


 

53 D.h. die Quinte 3 Fuß und die Octave 2 Fuß.


 

54 Als Scheibe die Orgel abbrach, war sie schon um einige Register reducirt: es fehlte der Dulcian im Rückpositiv und im Pedale das Fagott und der Subbass. Auch waren aus Mixtur und Sesquialter einige Pfeifenreihen entfernt. Das Lieblich-Gedackt wird jetzt als Grobgedackt, das Trichter-Regal als Ranquet bezeichnet. Rathsacten St. IX. A. 2. Vol. I, Bl. 96.


 

55 Sie ist mitgetheilt von Winterfeld, Evang. Kirchenges. II, Musikbeilagen S. 102 ff.


 

56 Ruetz, Widerlegte Vorurtheile u.s.w. S. 86 f. – Ruetz sagt, der volle Chor habe jedesmal mit den Worten »Freuet euch mit großem Schalle« eingesetzt. Daß hier ein Schreib- oder Gedächtnißfehler vorliegt, ist selbstverständlich, denn mit diesen Worten beginnt der Refrain nicht. Ob die von ihm genannte einzelne Stimme nicht auch drei gewesen sind, wie es das Original vorschreibt, muß dahingestellt bleiben.


 

57 Sicul, Die andere Beylage zu dem Leipziger Jahrbuche auf 1718. S. 73. – Auch im Jahre 1716 hatte Kuhnau ebendort eine dreichörige lateinische Ode aufgeführt; s. Sicul, Beylage zu des Leipziger Jahrbuchs Dritten Probe. 1717. S. 11, vrgl. S. 20.


 

58 Archiv der Leipziger Universität, Repert. II/III No. 5. Litt. B. Sect. II. – Ch. G. Thomas, auch ein Leipziger Musiker, veranstaltete 1790 in der Garnisonkirche zu Berlin ein Concert mit drei- und vierchörigen Compositionen: der erste Chor stand auf der Emporkirche der Orgel gegenüber, der zweite auf dem Orgelchor, der dritte rechts und der vierte links auf der Mitte der Emporkirche. Er versicherte in seiner Ankündigung, die Musik werde trotz der weiten Entfernungen dennoch zusammentreffen (Sammelband der königl. Bibliothek zu Berlin, Abtheilung Bibliotheca Dieziana. Quarto 2900).


 

59 Vogel, Leipziger Chronicke, S. 97.


 

60 Rechnungen der Nikolaikirche von Lichtmeß 1724 –1725, S. 49 und Lichtmeß 1725 – 1726, S. 53. Der Contract wurde am 11. Dec. 1724 abgeschlossen, am 22. Dec. 1725 war die ganze Arbeit vollendet.


 

61 S. Anhang A, Nr. 5.


 

62 Scheibe unterschied genau zwischen der wirklichen und der sogenannten Viola di gamba; jene hatte eine engere Mensur. In der Orgel der Neuen Kirche arbeitete er 1722 eine sogenannte Viola di gamba mit großer Geschicklichkeit zu einer wirklichen um.


 

63 Die Fuß-Bezeichnung fehlt.


 

64 Was für ein Register dieses sein soll, ob es überhaupt eines und der Name nicht etwa aus Serpent verschrieben oder verdruckt ist, kann ich nicht angeben.


 

65 Ein Octav-Register, s. Adlung, Musica mechanica, S. 107.


 

66 Wörtlich. Der Sinn wird sein sollen: zum Brustwerk und zwar Pedal und Manual.


 

67 Sammlung einiger Nachrichten von berühmten Orgel-Wercken in Teutschland mit vieler Mühe aufgesetzt von einem Liebhaber der Musik. Breßlau, 1757. 4. S. 54.


 

68 Band I, S. 621.


 

69 Archiv der Leipziger Universität »ACTA. Den Orgel- und andern Bau, ingl. Verschreibung der Capellen, Verlosung der Stühle und was dem mehr anhängig, in der Pauliner Kirche betr. De aõ. 1710.Volum. III.« Repert. II/III, No. 5. Litt. B. Sect. II. Fol. 63–64.


 

70 Durchweg von Bachs eigner Hand. Die Adresse fehlt.


 

71 Critischer Musikus S. 428. – Dagegen lehrt Petri, Anleitung zur praktischen Musik. Leipzig, 1782. S. 297, daß das Postludiren auch gegen Ende des 18. Jahrhunderts nur erst »in einigen Städten gebräuchlich« war.


 

72 Petri, a.a.O., S. 299. – Türk, Von den wichtigsten Pflichten eines Organisten. Halle, 1787. S. 121 f.


 

73 [Voigt], Gespräch von der Musik zwischen einem Organisten und Adjuvanten. S. 92 f. – Adlung, S. 731. – Rathschläge um dem Unwesen bei diesem Praeludium zu steuern geben Petri, S. 176 ff., und Türk, S. 136 ff.


 

74 Voigt a.a.O. S. 27 meint zwar, zum Überschreiben der Singstimme werde sich kein Cantor die Mühe nehmen. Es kommt bei Bach aber doch bisweilen vor, z.B. bei der Cantate »Christus der ist mein Leben«, B.-G. XXII, Nr. 95. – S. auch Anhang A, Nr. 7.


 

75 Bei Voigt a.a.O. S. 101 sagt der Adjuvant: »Ich dächte es wäre in der Kirche viel schwerer zu spielen als in einem Collegio Musiko, und könnten die Fehler besser auf der Orgel als auf einem Clavicympel angemercket werden«.


 

76 Band I, S. 710 ff.


 

77 Ich erwarb sie im Frühjahr 1876 aus der Musikaliensammlung des kurz zuvor verstorbenen Musikdirectors Rühl in Frankfurt a.M. Rühl hatte das Manuscript aus dem Nachlasse des Hofrath André, André aus dem Nachlasse des jüngeren Gerber erworben. Eine auf demselben befindliche Notiz des jüngeren Gerber lautet: »Von Heinr. Nic. Gerber ausgesetzt und von Sebast. Bach eigenhändig corrigirt«. Die Hauptstimme und die Bezifferung fehlen, ebenso eine Angabe, aus welchem Werke Albinonis die Sonate entnommen ist. Sie steht aber als sechste in Albinonis Trattenimenti Armonici per Camera divisi in dodici Sonate. Opera sesta., und konnte somit vollständig hergestellt und als Beilage 1 mitgetheilt werden. Ein Exemplar der Trattenimenti, von Walsh in London gedruckt, hat auf meine Anregung Herr Dr. Espagne vor einiger Zeit für die königliche Bibliothek in Berlin angekauft.


 

78 Georg Michael Telemann, Unterricht im Generalbaß-Spielen. Hamburg, 1773. S. 17.


 

79 S. Band I, S. 710.


 

80 Musikalische Bibliothek, Zweiter Theil. Leipzig, 1737. S. 52.


 

81 Georg Simon Löhlein, Clavier-Schule u.s.w. 4. Auflage. Leipzig, 1785. S. 114.


 

82 Löhlein, a.a.O. S. 76.


 

83 Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. S. 653.


 

84 Scheibe, Critischer Musikus. S. 62.


 

85 B.-G. VII, S. 296 ff.


 

86 In den Zusätzen zu Tosis Anleitung zur Singkunst. S. 74.


 

87 Kuhnau, Der Musicalische Qvack-Salber. 1700. S. 20 ff.


 

88 Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Zweiter Theil. S. 219 f. und S. 241.


 

89 Bei Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste. Erster Theil. 2. Aufl. S. 194. Über Kirnbergers Betheiligung an diesem Werke s. Gerber, N.L. IV, Sp. 304 f.


 

90 Anleitung zur praktischen Musik. S. 169 ff. Von seinem Verhältniß zu Friedemann Bach erzählt Petri in eben diesem Werke, welches zu den vortrefflichsten Musiklehren des 18. Jahrhunderts gehört, S. 101, 269 (s. dazu S. 268) und 285.


 

91 Neue Wahrnehmungen zur Aufnahme und weitern Ausbreitung der Musik. Berlin, 1784. S. 49.


 

92 Critischer Musikus. S. 416.


 

93 Adlung, S. 657. »Man redete sonst auch viel vom getheilten Spielen; das ist, wenn die Mittelstimmen zum Theil mit der linken Hand gegriffen werden. Es ist dieses gar wohl thunlich, wenn die Noten durch das Pedal können ausgedruckt werden, daß beyde Hände auf einem Claviere bleiben. Aber bey geschwinden Bäßen, so auf 2 Clavieren am besten vorzustellen, fällt diese Art zu spielen in die Brüche.« – Petri, S. 170.


 

94 Rolle, S. 51. »Die Bearbeitung des Pedals ist mit ungemeinen Schwürigkeiten verknüpft, um allemal die rechten Noten ausfindig zu machen, welche man angiebt (antritt) und solche, die man wegen Geschwindigkeit auszulassen gezwungen ist.« – Schröter, Deutliche Anweisung zum General-Baß. Halberstadt, 1772. S. 188, §. 348. – Türk, S. 153. – Dasselbe galt übrigens auch für die Contrabässe; s. Quantz, Versuch u.s.w. S. 221, §. 7.


 

95 Türk, S. 156.


 

96 Petri, S. 170.


 

97 Scheibe, Critischer Musikus, S. 415. – Adlung, S. 386. – Rolle, S. 50. – Vrgl. Gerber, Historie der Kirchen-Ceremonien, S. 280.


 

98 [Voigt], Gespräch u.s.w. S. 29. – Petri, S. 171, vrgl. S. 311. – Türk, S. 162 ff.


 

99 Schröter, S. 186, §. 344. – Türk, S. 174.


 

100 Gerber, L. II, Sp. 455.


 

101 So hörte es noch Herr Professor Eduard Grell aus Berlin, wie er mir mündlich mitzutheilen die Freundlichkeit hatte.


 

102 Petri, S. 170.


 

103 B.-G. V1, S. 352 ff. – X, S. 72 ff.


 

104 B.-G. V2, S. XVI.


 

105 B.-G. V1, S. 307 ff.


 

106 S. Band I, S. 353.


 

107 Schröter, S. 187 ff., wo genaue Registrirungsvorschriften für die verschiedenen Theile einer Cantate und mit Rücksicht auf den wechselnden Charakter derselben gegeben werden. – Petri, S. 169.


 

108 S. Anhang A, Nr. 3.


 

109 Hiller, Nachricht von der Aufführung des Händelschen Messias in der Domkirche zu Berlin, den 19. May 1786. 4. Das von Hiller durch Hinzufügung von Flöten, Oboen, Fagotten, Waldhörnern und Posaunen verstärkte Orchester bestand aus 38 ersten, 39 zweiten Violinen, 18 Bratschen, 23 Violoncellen, 15 Bässen, 10 Fagotten, 12 Oboen, 12 Flöten, 8 Waldhörnern, 6 Trompeten, 2 Posaunen, Pauken, Orgel und Cembalo. Der Chor, welchen sämmtliche Sänger der Berliner und Potsdamer Schulen, und sämmtliche Opern-Sänger und -Sängerinnen bildeten, zählte 37 Soprane, 24 Alte, 26 Tenöre, 31 Bässe.


 

110 Rolle, Neue Wahrnehmungen. S. 85 f. – S. Anhang A, Nr. 6.


 

111 S. Anhang B, IV, E, Anmerk. d.


 

112 Forkel, S. 36.


 

113 Musica modulatoria vocalis, oder manierliche und zierliche Sing-Kunst. 1678. S. 46 f.; er nennt den Triller Tremolo, das eigentliche Tremolo dagegen, mit welchem er sich auch beschäftigt (S. 57 f.), nennt er Trillo und Trilletto.


 

114 A.a.O. S. 203.


 

115 Anweisung zum musikalisch-richtigen Gesange. Leipzig, 1774. S. 38.


 

116 »Der feinere ausdrucksvollere Gesang ist vom Chorschüler nicht zu verlangen.« Forkel in seiner schönen Abhandlung über Kirchenmusik (Allgemeine Geschichte der Musik. Zweyter Band, S. 37).


 

117 Kuhnau, Der Musicalische Qvack-Salber. S. 336: »Denn wenn er das Clavier spielte, und sein Alt-Falsettgen (sonsten war seine rechte Stimme ein Baß) in etlichen verliebten Arien hören ließ, so wurde die Jungfer schon eingenommen«. – Petri, S. 205 f. giebt ausführlichere Anweisungen über die Ausbildung des Falsetts.


 

118 Tosi-Agricola S. 150 ff.


 

119 Scheibe, Critischer Musikus. S. 163.


 

120 Georg Philipp Telemann, »Harmonischer GOttes-Dienst, oder geistliche CANTATEN zum allgemeinen Gebrauche, welche, zu Beförderung sowol der Privat- Haus- als öffentlichen Kirchen-Andacht, auf die gewöhnlichen Sonn- und Fest- täglichen Episteln durchs ganze Jahr gerichtet sind«, u.s.w. Fol. Die Vorrede ist datirt: »Hamburg den 19. Decembr. 1725«.


 

121 B.-G. IV, S. 159, Takt 1.


 

122 Agricola, a.a.O. S. 151 f.


 

123 B.-G. V2, S. 236, T. 9 ff. – Ein andres Beispiel in der Cantate »Brich dem Hungrigen dein Brod«, B.-G. VII, S. 335.


 

124 B.-G. XVI, S. 15, T. 7 f.


 

125 B.-G. VII, S. 44, T. 3 und 4. – Eine Stelle wo dieser Accent in der Originalpartitur fehlt, in der autographen Stimme aber ausgeschrieben ist, findet sich in einem Duett B.-G. VII, S. 79, T. 3.


 

126 Kirchengesänge von Johann Sebastian Bach. Berlin, Trautwein und Co. III, S. 19, T. 10. – S. ferner B.-G. V1, S. 30, T. 1. – II, S. 27, T. 10.


 

127 B.-G. II, 34, T. 13–14.


 

128 B.-G. IV, S. 200, T. 8.


 

129 B.-G. V2, S. 246, T. 12–13.


 

130 B.-G. XXII, S. 241, T. 7–8. Vrgl. auch T. 10–11.


 

131 Vrgl. auch die Vorrede Rusts zu B.-G. XXII, S. XXI.


 

132 B.-G. XII1, S. 29, T. 14–15, und S. 33, T. 7.


 

133 B.-G. IV, S. 192, T. 13.


 

134 Agricola bei Tosi S. 155 f.


 

135 Matthäus-Passion. B.-G. IV, S. 29, T. 9–10.


 

136 Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß«. B.-G. V1, S. 30, T. 1 und 2; S. 31, T. 6–7.


 

137 Cantate »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig«. B.-G. V1, S. 207, T. 6–7.


 

138 Tosi-Agricola, S. 151.


 

139 Agricola, a.a.O. S. 235. In der Instrumentalmusik wurden namentlich die Adagio-Sätze gern so vorgetragen. Beispiele bei Quantz, Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen. Tab. XVII – XIX, und in Wittings Ausgabe der Corellischen Violinsonaten. Wolfenbüttel, Holle. Zwei Beispiele variirter Arien, allerdings aus etwas späterer Zeit, giebt Hiller, Anweisung zum musikalisch zierlichen Gesange. Leipzig, 1780. S. 135 ff.


 

140 Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Theil II, S. 1.


 

141 Agricola, a.a.O. S. 195 f.


 

142 B.-G. V1, S. 347.


 

143 Petri, a.a.O. S. 211 f.


 

144 Petri, S. 210.


 

145 Gerber, N.L. II, Sp. 674.


 

146 Leipziger Neue Zeitung von gelehrten Sachen. XVIII, 833 f.


 

147 Petri, a.a.O. S. 183.


 

148 Adlung, Anleitung, S. 387.


 

149 S. Anhang A, Nr. 7.


 

150 Petri, a.a.O. S. 184.


 

151 Johann Beerens Musikalische Discurse. Nürnberg, 1719. S. 171 ff.


 

152 Auf den Kupfern vor »Der Durch das herrlich-angelegte Paradis-Gärt-lein Erquickten Seele Geist-volle Jubel-Freude bestehend In einem Kern auf allerley Anliegen und Zeiten angerichtete Lieder. Nürnberg, 1724.«, ferner »Altes und Neues aus dem Lieder-Schatze, Welcher von GOtt der einigen Evangelischen Kirchen reichlich geschencket« u.s.w., herausgegeben von M. Herrmann Joachim Hahn. Dresden, 1720., und vor Walthers Lexicon. Leipzig, 1732.


 

153 [Voigt], Gespräch von der Musik, S. 36. – Vrgl. dazu Petri, a.a.O. S. 172.


 

154 In seinem Dictionnaire de Musique, Planche G, Fig. I., abgedruckt bei Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden. II, S. 291.


 

155 Taubert, Die Pflege der Musik in Torgau. Torgau, 1868. S. 18, Anmerk. 3.


 

156 S. Anhang B, IV, A und B, 3 und 7.


 

157 Rechnungen der Thomaskirche.


 

158 S. Anhang B, IX.


 

159 Rechnumgen der Nikolai-Kirche.


 

160 Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen. Erster Theil. S. 5 f. Anmerk.


 

161 Mizlers Nekrolog S. 171.


 

162 Auf der Stadtbibliothek zu Leipzig.


 

163 Pohl, Mozart und Haydn in London. Zweite Abtheilung. Wien, Gerold. 1867. S. 119.


 

164 Gerber, N.L. II, Sp. 557.


 

165 Nottebohm, Beethoveniana. S. 37.


 

166 Nach mündlicher Mittheilung des Herrn Professor Grell.


 

167 Rolle, a.a.O. S. 56: »Den Flügel bey der Kirchenmusik einzuführen wird zwar sehr angerathen [bezieht sich auf die Band I, S. 831 mitgetheilte Äußerung Em. Bachs]. Da aber bey der Theatralmusik der Schall heraufgehet: bey der Kirchenmusik hingegen der Schall von dem Orgelchore herunterkommen muß, so giebt das Mitspiel des Flügels wohl keine sonderliche nach drückliche Unterstützung [E. Bach, a.a.O. hatte gesagt, daß man auch bei den stärksten Musiken, in Opern, sogar unter freiem Himmel den Flügel hören könne, wenn man sich an einem höher gelegenen Orte befände.]«.


 

168 S. Anhang A, Nr. 8.


 

169 Scheibe, Critischer Musikus, S. 713 ff.

 

V

 

1 »Es war der thörichte Kerl über die Opera vom Orpheus gekommen, die ich ehmals aus dem Frantzösischen in die teutsche Poesie übersetzet, und zugleichcomponiret hatte.« Kuhnau, Der Musicalische Qvack-Salber. S. 456; vrgl. S. 458 ff.


 

2 Scheibe, Critischer Musikus S. 879, Anmerk.: »Allein ungeachtet aller seiner [Kuhnaus] großen Verdienste, weis man gar wohl, wie schlecht es ablief, als er sich unternahm ein Singespiel in die Musik zu setzen, und solches auf die Bühne zu bringen«.


 

3 In Stimmen befindlich in der Bibliothek der Leipziger Singakademie, gez. Nr. 362.


 

4 Auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


 

5 Zehn auf der königl. Bibliothek zu Berlin, sieben auf der Leipziger Stadtbibliothek. In dieser letzteren Collection befindet sich noch eine Weihnachts-Cantate »O heilge Zeit, wo Himmel, Erd und Luft«, die aber sicherlich keine Kuhnausche, sondern die Composition eines jüngeren Meisters ist.


 

6 Critischer Musikus. S. 764.


 

7 Neumeisters Cantate »Uns ist ein Kind geboren« (S.B. I, S. 481 ff.) kam in Leipzig am Weihnachtsfeste 1720 zur Aufführung; aber schon in den Texten zu Kirchenmusiken aus dem Jahre 1711 findet sich die vollständige Neumeistersche Form. Eine in dieser Form gehaltene Dichtung liegt beispielsweise Kuhnaus Cantate »Und ob die Feinde Tag und Nacht« zu Grunde.


 

8 »Directorium sive Quasi-Partitura Passionis ex Evangelista Marco.« In einer von Burmeister gefertigten Abschrift aus dem Jahre 1729 befindlich auf der königl. Bibliothek zu Königsberg i. Pr., Abtheilung Gottholdsche Bibliothek.


 

9 Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst. Leipzig, 1730. S. 604.


 

10 Forkel, S. 48.


 

11 Critischer Musikus, S. 583.


 

12 Ebendaselbst, S. 62.


 

13 Ebendaselbst, S. 591, Anmerk.: »Wenn wir es in Deutschland dahin bringen werden, – – die Singespiele ganz und gar von der Bühne zu verbannen: so können wir auch versichert seyn, daß wir alsdann auch niemals weder einen Hassen, noch einen Graun, noch einen Telemann, Händel, oder Bach, wieder erblicken werden«.


 

14 Bierey, der bekannte breslauische Musikdirector, wollte, wie er an Julius Rietz erzählte, in Leipzig die Bekanntschaft eines alten Kirchendieners gemacht haben, der schon zu Bachs Zeit im Dienste gewesen war. Er habe in Biereys Bewunderung des Altmeisters aus vollem Herzen eingestimmt, so weit sie sich auf dessen Virtuosität im Orgel- und Clavierspiel bezog, von den Cantaten indessen gemeint: »Na, die hätten Sie aber auch nur hören sollen!« Es steht aber doch dahin, ob der Kirchendiener hier das allgemeine Urtheil wiedergegeben hat.


 

15 S. Band I, S. 469.


 

16 Sicul, Die andere Beilage zu dem Leipziger Jahr-Buche, aufs Jahr 1718. S. 187 ff. Melancholie und Lebensüberdruß trieben den begabten und hochstrebenden Mann im Jahre 1717 zum Selbstmorde.


 

17 Acten des Dresdener Staatsarchivs.


 

18 Das jetzt lebende und florirende Leipzig. 1736. S. 14.


 

19 »Fruuntur nostri privilegio potus a collectis cerevisiae exemti.« Kuhnau, Jura circa musicos ecclesiasticos. Leipzig, 1688. 4. Cap. VI, § 1.


 

20 »Daß von Ihro Königl. Majest. in Pohlen und Churfürstl. Durchl. zu Sachsen Wohlbestallten Creyß- und Tranck-Steuer Einnehmer, Herrn Christian Friedrich Henrici von Quasimodogeniti 1742. biß dahin 1743. laut der Churfürstlich Sächsischen Anordnung de anno 1646 d. 9. Novembris von Drey Faß, iedes à 40 ggr., und also zusammen 5 Thlr. sage


 

Fünff Thaler


 

an Steuerpaaren Müntz-Sorten richtig empfangen habe; Solches bekenne hiermit und quittire darüber danckschuldigst. Termino Quasimodogeniti 1743 zuLeipzig.

Joh. Sebast: Bach.«

Darunter stehen noch die eigenhändigen Unterschriften Deylings und eines gewissen Johann Andreas Vater. Das von Bach nebengedrückte Siegel zeigt die Rosette mit Krone darüber. Das Blatt befand sich im October 1870 in der Autographensammlung des seither verstorbenen Generalconsul Clauss zu Leipzig.


 

21 Der auf dem ersten Stück befindliche Titel lautet, von dem Gesammttitel etwas abweichend,: »Sammlung | Erbaulicher Gedancken, | Bey und über die gewöhnlichen | Sonn- und Festtags- | Evangelien, | Mit | Poetischer Feder entworffen | Von | Picandern. | Leipzig, | Gedruckt bey Immanuel Tietzen«. | 8. Die Vorrede, welche der Gesammtausgabe fehlt, ist vom 30. November 1724 datirt. In der Gesammtausgabe steht statt ihrer nur ein kurzes Wort an den »geneigten Leser«, datirt vom 1. Advent 1725; gewidmet ist sie dem Grafen Sporck. Ein Exemplar auf der königlichen Bibliothek zu Berlin, Ei 2436.


 

22 Über diese und ihren Zusammenhang mit den Weiseschen Schauspielen vrgl. Gervinus, Geschichte der deutschen Dichtung. 3. Bd. (fünfte Aufl.) S. 600 f.


 

23 »Cantaten | Auf die Sonn- | und | Fest-Tage | durch | das gantze Jahr, | verfertiget | durch | Picandern. | Leipzig, 1728.« Vorrede datirt vom 24. Juni 1728. Ein Exemplar auf der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Lit. Germ. rec. B. 1126.


 

24 Der zweite 1729, der dritte 1732, der vierte 1737, der fünfte 1751. Der Cantaten-Jahrgang ist im dritten Theile wieder abgedruckt.


 

25 Am vollständigsten findet man sie in der ersten Auflage des 1. Theils der Ernst-, scherzhafften und satyrischen Gedichte, S. 477–566.


 

26 Vrgl. »Das Orgel-Werck der Liebe«, aus dem Jahre 1723, in »Ernst-, scherzhaffte und satyrische Gedichte«. 1727. S. 303 ff. – »Die Vortrefflichkeit der Music«, vom Jahre 1728, in der Gesammtausgabe von 1748, Bd. II, S. 662 ff. – S. auch ebendaselbst S. 621 f.


 

27 Gedichte von 1727, zu S. 540.


 

28 Gesammtausgabe II, 819 ff.


 

29 Geist- und Weltliche Poesien. Jena, 1711. S. 31 f.


 

30 Z.B. aus den von J.D. Schieferdecker und E.G. Brehme zur Musik in den Schloßkirchen zu Weißenfels und Sangerhausen für die Jahre 1731–1735 verfaßten Dichtungen. Bach war Weißenfelsischer Capellmeister und hatte als solcher dem Hofe gewisse Dienste zu leisten.


 

31 »M. Joh. Jacob Rambachs, | HALLENSIS, | Geistliche | Poesien, | Davon | Der erste Theil | Zwey und siebenzig CANTATEN über | alle Sonn- und Fest-Tags-Evangelia; | Der andre Theil | Einige erbauliche Madrigale, | Sonnette und Geistliche | Lieder | in sich fasset.« Halle, 1720. S. 218 und 257. – B.-G. xx1, S. 37.


 

32 Diesen Sachverhalt hat W. Rust in überzeugender Weise aufgedeckt im Vorworte zu B.-G. xx2, S. VIII f.


 

33 Nekrolog, S. 168.


 

34 Mattheson, Grosse General-Baß-Schule. S. 176.


 

35 Gerber, N.L. II, Sp. 92.


 

36 Die ersten Entwürfe der Cantaten »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes« und »Man singet mit Freuden vom Sieg« haben dieses Schicksal erfahren.


 

37 S. Anhang B, IV, D.


 

38 In einer unter dem 15. Juli 1778 an den Rath gerichteten Vertheidigungsschrift. S. Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« sign. VIII, B. 6.


 

39 B.-G. v1, Nr. 22.


 

40 B.-G. v1, Nr. 23.


 

41 S. Band I, S. 549.


 

42 S. Band I, S. 591.


 

43 S. Band I, S. 537 ff.


 

44 S. Band I, S. 485.


 

45 S. Anhang A, Nr. 9.


 

46 S. S. 37 dieses Bandes.


 

47 ACTA LIPSIENSIVM ACADEMICA. 1723. S. 514 »Den 30. dito [nämlich Maji] als am 1. Sonnt. nach Trinit. führte der neue Cantor u. Collegii Musici Direct. Hr. Joh. Sebastian Bach, so vom Fürstl. Hofe zu Cöthen hierher kommen, mit gutenapplausu seine erste Music auf.« Vrgl. hierzu S. 38 Anmerk. 6 dieses Bandes. – Bei Sicul, ANNALIVM LIPSIENSIVM MAXIME ACADEMICORVM SECTIO XX. Leipzig, 1726. S. 479 wird noch bemerkt, daß diese Aufführung in der Nikolai-Kirche stattfand.


 

48 S. Anhang A, Nr. 10.


 

49 Die Zweitheiligkeit der Oratorien schon des 17. Jahrhunderts, gegenüber der Dreitheiligkeit der Opern, erklärt sich aus diesem Gebrauche, der wenigstens in Italien das ganze 18. Jahrhundert hindurch fortbestand. S. Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise. Erster Band, S. 277.


 

50 B.-G, XVIII, Nr. 75.


 

51 S. Band I, S. 204 f.


 

52 S. Band I, S. 600.


 

53 B.-G. XVIII, Nr. 76.


 

54 Anfänglich wollte Bach den Chor gleich mit einer Fuge und selbständig contrapunktirenden Instrumenten anfangen. Dieses sollte das Thema sein:


 

5.


 

55 Vrgl. Band I, S. 528.


 

56 B.-G. XV, S. 40 ff.


 

57 Beide Cantaten sind abschriftlich auch in verkürzter Gestalt verbreitet worden, die erstere nach dem Anfang des ersten Recitativs unter der Bezeichnung »Was hilft des Purpurs Majestät«, die zweite als »Gott segne noch die treue Schaar« nach dem Anfang des zweiten Theils. Auch wurde die zweite als Reformationscantate gebraucht. S. Breitkopf, Verzeichniß musikalischer Werke. Leipzig, Michaelismesse 1761. S. 20.


 

58 B.-G. V1, Nr. 24.


 

59 B.-G. IX, S. 80 ff.


 

60 S. Anhang A, Nr. 11.


 

61 S. Band I, S. 561 ff. und S. 812 ff.


 

62 S. Anhang A, Nr. 12.


 

63 S. Band I, S. 534.


 

64 S. Band I, S. 562 ff., und S. 812.


 

65 S. Anhang A, Nr. 13.


 

66 Am Montag nach Bartholomäi auch in den Jahren 1724, 1725, 1726, 1727, 1731, 1739; am Freitage nach Bartholomäi dagegen in den Jahren 1728, 1729 und 1730. S. Rathsacten »Rathswahl betr. 1701. Vol. 2.« und »Nützliche Nachrichten von Denen Bemühungen derer Gelehrten und andern Begebenheiten in Leipzig, Im Jahre 1739«. S. 78.


 

67 B.-G. XXIV, Nr. 119.


 

68 S. Band I, S. 501.


 

69 S. Band I, S. 560.


 

70 Wie mir Herr Pastor Ficker in Störmthal mittheilte, dessen Gefälligkeit ich auch den betreffenden Auszug aus den dortigen Kirchenrechnungen verdanke.


 

71 Die autographe Partitur nebst den Originalstimmen befindet sich auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Den Stimmen liegt der auf einen Foliobogen gedruckte Text bei.


 

72 Zu dem vom gewöhnlichen etwas abweichenden Rhythmus vrgl. die Gigue aus Bachs E moll-Partita B.-G. III, S. 133 ff.


 

73 B.-G. XVI, No. 63.


 

74 S. Anhang A, No. 14.


 

75 B.-G. XI1, S. 69 ff. – S. Anhang A, No. 9.


 

76 B.-G. XI1, S. 3 ff. nach einer von Bach später vorgenommenen Überarbeitung. In der anfänglichen Gestalt erschien es bei N. Simrock in Bonn schon im Jahre 1811.


 

77 Die Cantate befindet sich in Stimmen auf der Stadtbibliothek zu Leipzig.


 

78 S. Rango, Von der Musica, alten und neuen Liedern u.s.w. Greiffswald, 1694. S. 22 ff.


 

79 Neu Leipziger Gesangbuch. 1682. S. 77 ff.


 

80 »Sausen« = »in Schlaf singen« oder »sich in Schlaf singen lassen«; gebräuchlich noch jetzt in der niederdeutschen Form »susen«.


 

81 Vrgl. Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder. Graz, 1870. S. 47 ff.


 

82 »daß mehr gemelte lateinische Responsoria, Antiphonae, Psalmen, hymni und Collecten, so wol die zur Weihnacht Zeit üblichen so genannten Laudes mit dem Joseph lieber Joseph mein, und Kindlein wiegen, forthin bey dem öffentlichen Gottesdienste alhier weiter nicht gebrauchet – – würden«. S. S. 94 u. 95 und die daselbst angeführten Rathsacten.


 

83 Man findet es wieder abgedruckt auch bei Schöberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesanges. Zweiter Theil. S. 164 ff.


 

84 Beim »Vom Himmel hoch« ist nicht einmal dieser notirt, was aber nicht beweist, daß die Orgel nicht mitgespielt habe.


 

85 Beispiele bei Schöberlein a.a.O. S. 52 f. und S. 96 f.


 

86 Sowohl zu der ersten Conception als zu der Überarbeitung besitzt die königl. Bibliothek in Berlin die autographen Partituren. In letzterer ist das Werk aus Es dur nach D dur transponirt, außerdem hinsichtlich der Instrumentirung bereichert, in der Stimmführung hier und da ausgefeilt, und auch in andern Beziehungen an einzelnen Stellen noch vollkommener gemacht oder doch abgeändert. Diese Überarbeitung hat gegen 1730 statt gefunden. – Über das verschollene kleineMagnificat s. Rust im Vorwort zu B.-G. XI1, S. XVIII. – Außerdem s. Anhang A, No. 14.


 

87 S. Band I, S. 733 ff.


 

88 Ich citire in der Tonart der Bearbeitung.


 

89 Man vergleiche hierzu den ersten Satz des Violin-Concerts in E dur. B.-G. XXI1, S. 21 ff.


 

90 S. Band I, S. 625 f.


 

91 S. Band I, S. 504 f. und S. 554, und im Weihnachts-Oratorium (B.-G. V2) namentlich den Choral S. 37 ff. – In der Simrockschen Partitur-Ausgabe desMagnificat fehlen, wie es scheint aus Versehen, die vier letzten Takte des Anfangs-Ritornells.


 

92 S. Band I, S. 556.


 

93 Robert Franz in seiner gedankenreichen kleinen Schrift: Mittheilungen über Johann Sebastian Bach's »Magnificat«. Halle, Karmrodt. 1863.


 

94 Ich mache bei dieser Gelegenheit auf einen Schreibfehler aufmerksam, welchen Bach beim Notiren der Bearbeitung in diesem Chore begangen hat und der auch in die Ausgabe der Bach-Gesellschaft übergegangen ist. Takt 6, zweite Hälfte steht hier im Alt:

5.


 

Wie aber die mitgehende erste Flöte und außerdem die ältere Partitur in der Altstimme selbst ausweisen, muß es heißen:

5.


 

95 B.-G. I, Nr. 10.


 

96 Franz a.a.O. S. 19 f. vermuthet, Bach habe die Worte der Vulgata mente cordis sui mißverständlich auf Gott bezogen, denn es würde geschmacklos sein, wenn er den Sinn der Hoffärtigen mit den gewaltigsten und erhabensten Ausdrucksmitteln seiner Kunst habe verherrlichen wollen. Bei dem bibelkundigen Bach ist indessen ein solches Mißverständniß kaum denkbar und sui müßte es auch im classischen Latein heißen. Der Sinn des übermäßigen Dreiklangs scheint mir klar; die Anregung zu dem ganzen Adagio-Schlusse empfing aber Bach nicht aus einer vereinzelten Vorstellung, welche demselben nur eine eigenartige Nuance giebt, sondern aus der Grundidee des Tonstücks.


 

97 S. Band I, S. 454 f. und S. 537.


 

98 B.-G. VII, Nr. 40.


 

99 Daß die Melodie »Schwing dich auf zu deinem Gott« (»Schüttle deinen Kopf und sprich«) nicht, wie Winterfeld meint, von Bach selbst erfunden ist, hat L. Erk in seiner vortrefflichen Ausgabe der Bachschen Choralgesänge, Erster Theil S. 121 unter Nr. 114, nachgewiesen. Der Schlußgesang, die vierte Strophe des Keimann-Hammerschmidtschen »Freuet euch ihr Christen alle«, war weniger als Gemeindelied, wie als geistliche Chor-Arie populär geworden. Der erste Choral ist die dritte Strophe des aus dem 16. Jahrhundert stammenden Weihnachtsliedes »Wir Christenleut«.


 

100 S. Anhang A, Nr. 15.


 

101 B.-G. XVI, Nr. 64.


 

102 S. Band I, S. 592 f.


 

103 B.-G. V1, Nr. 26.


 

104 S. Anhang A, Nr. 16.


 

105 Ein Bruchstück der autographen Partitur und ein Theil der Originalstimmen auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


 

106 Band I, S. 207 ff. der Gesammtausgabe seiner Gedichte.


 

107 Sammlung Erbaulicher Gedancken. Leipzig, 1725. S. 78 ff.


 

108 S. Anhang A, Nr. 17.


 

109 B.-G. XVI, Nr. 65.


 

110 S. Anhang A, Nr. 18.


 

111 B.-G. XX1, Nr. 83.


 

112 Nach Vopelius, S. 112 f.


 

113 S. Anhang A, Nr. 19.


 

114 B.-G. I, Nr. 4.


 

115 S. Anhang A, Nr. 20.


 

116 Auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.


 

117 S. Band I, S. 303 ff.


 

118 S. Band I, S. 440, 448 f. und B.-G. XXIII, S. 169 ff.


 

119 In Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


 

120 Die Bezeichnungen Seele und Jesus füge ich hinzu. Eigentlich sollte es sich hier um den heiligen Geist handeln; die Vorstellungen sind in dem Gedichte unklar vermischt.


 

121 Erster Theil, S. 50.


 

122 S. Band I, S. 533 und 805 ff.


 

123 S. Band I, S. 608 f. Weil das Hallelujah fehlt, kann man auch annehmen, Bach habe dort die vier ersten Zeilen bearbeitet und der letzten derselben eine auf den Grundton zurückführende Schlußwendung geben wollen. Denn die vierte Zeile stimmt mit der vorletzten fast ganz überein.


 

124 S. Anhang A, Nr. 21.


 

125 Original-Partitur und Original-Stimmen auf der königl. Bibl. zu Berlin.


 

126 »Laßt uns sorgen, laßt uns wachen«; zum Geburtstage des Churprinzen von Sachsen am 5. Sept. 1733. Der Text bei Picander, Vierter Theil. 1737. S. 22 ff. Autographe Partitur und Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Daß der Anfang des Schlußchors nicht für diese Cantate componirt ist, sieht man daraus, daß er Reinschrift ist.


 

127 S. Anhang A, Nr. 22.


 

128 Die Originalstimmen auf der königl. Bibl. zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 23.


 

129 B.-G. XII2, S. 171 ff.


 

130 B.-G. VII, Nr. 32. S. 69 ff.


 

131 B.-G. IX, S. 84 f. – S. Band I, S. 721.


 

132 S. Anhang A, Nr. 24.


 

133 B.-G. XX1, Nr. 81. – S. Anhang A, Nr. 25.


 

134 B.-G. II, Nr. 12. Die Angabe des Vorwortes, daß nur die einleitende Sinfonie in der autographen Partitur beziffert sei, ist nicht ganz richtig; die Bezifferung erstreckt sich, wenngleich unvollständig, auch auf das erste Recitativ und die erste Arie. – Ueber die Chronologie s. Anhang A, Nr. 21.


 

135 Z.B. in »Ich hatte viel Bekümmerniß« (s. Bd. I, S. 525), »Himmelskönig sei willkommen« (Bd. I, S. 533), auch in »Der Herr denket an uns« (Bd. I, S. 370). Vrgl. noch Bd. I, S. 123.


 

136 S. Band I, S. 442 f.


 

137 Man vergleiche Takt 83 ff. von »Weinen, Klagen« mit Takt 25 ff. und 57 ff. von »Jesu, der du meine Seele«. S. Bd. I, S 236.


 

138 S. über diese Cantate Anhang A, Nr. 11.


 

139 Autographe Partitur und einige Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 26.


 

140 B.-G. XVI, Nr. 69. – S. Anhang A, Nr. 27.


 

141 S. Anhang A, Nr. 23.


 

142 Neumeister, Fünffache Kirchenandachten, S. 781:

So laß auf beiden Seiten

Die Mahanaim mich begleiten.

Wird mir von Feinden nachgestellt,

So laß die Feuer- Ross' und Wagen

Ihr Lager um mich schlagen,

Das mich in sicherm Schutze hält.


 

Vrgl. S. 171 dieses Bandes.


 

143 Sammlung Erbaulicher Gedancken S. 434 f.


 

144 In einem Gedichte vom Jahre 1724 (Theil II der Gesammt-Ausgabe, S. 499) heißt es: »Er sieht zu hölzern aus; lernt doch dem albern Knoll, Wie man in Compagnie mit Jungfern leben soll.« Dagegen in einem Gedicht von 1730 (ebenda S. 906) »Der will euch Menschenweise lehren«.


 

145 S. Band I, S. 50.


 

146 B.-G. II, Nr. 19. Autographe Partitur und Originalstimmen, welche sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin befinden, bieten keinerlei für die Entstehungszeit des Werkes verwerthbare Merkmale.


 

147 S. Schwartz, Historische Nachlese Zu denen Geschichten der Stadt Leipzig, Sonderlich der umliegenden Gegend und Landschaft. Leipzig, 1744. 4. S. 33 f. – Picanders beide Gedichte stehen Bd. I, S. 434 der Gesammtausgabe. – Das Autograph der Bachschen Musik ist unbekannt; ich kenne sie nur aus der auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindlichen Abschrift.


 

148 S. Band I, S. 565 und 813 f. – Anhang A, Nr. 28.


 

149 Ich mache, um nur ein Beispiel anzuführen, auf Telemanns beliebt gewordene Pfingst-Cantate »Ich bin der erste und der letzte«, aufmerksam, namentlich auf den Chor »Auf, laßt uns jauchzen«.


 

150 »Machet die Thore weit«, als Bachsches Autograph auf der königlichen Bibliothek zu Berlin aufbewahrt.


 

151 B.-G. II, Nr. 16. – S. Anhang A, Nr. 29.


 

152 B.-G. XVIII, Nr. 73. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

153 Später übertrug Bach den Part des Horns dem Rückpositiv der Thomas-Orgel.


 

154 B.-G. XVIII, Nr. 72. – S. Anhang A, Nr. 30.


 

155 Autographe Partitur auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Veröffentlicht in »Kirchengesänge für Solo-und Chor-Stimmen mit Instrumentalbegleitung von Joh. Seb. Bach«. Berlin, Trautwein. als Nr. 1. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

156 Der erste Chor der Bachschen Composition wird seiner vortrefflichen Declamation wegen als Muster aufgestellt bei Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst. Erster Band. S. 381. Hier ist auch von einer öffentlichen Aufführung desselben die Rede. – Der Anfang der Altarie »Murre nicht, lieber Christ« wird citirt bei Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste. Vierter Theil. Leipzig, 1779, S. 267; jedoch zu einer andern Musik. Weiteres nach dieser Richtung hin habe ich nicht erforschen können.


 

157 Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. S. Anhang A, Nr. 9. – Eine später zugefügte Flötenstimme und Oboenstimme erweisen eine zweite um 1737 erfolgte Aufführung der Cantate.


 

158 B.-G. XVI, Nr. 67. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

159 B.-G. XXIII, Nr. 104. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

160 Originalstimmen der Cantate auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

161 B.-G. XX1, Nr. 86. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

162 Vrgl. Band I, S. 204 f.


 

163 »Ach Gott wie manches Herzeleid« (A-dur); B.-G. I, S. 84. ff.


 

164 B.-G. X, Nr. 44. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

165 S. Bd. I, S. 501. Ganz allein stehend, wie dort vermuthet wurde, ist also der Fall doch nicht.


 

166 B.-G. XXII, Nr. 37.


 

167 B.-G. XXIII, Nr. 110.


 

168 S. Anhang A, Nr. 31.


 

169 Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

170 Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

171 S. Band I, Anhang A, Nr. 28. S. 809.


 

172 Ausgabe der deutschen Händel-Gesellschaft. Lieferung XV, S. 80, T. 3 ff.


 

173 B.-G. XXIII, Nr. 105. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

174 Dieser Chor war ursprünglich zur Johannes-Passion geschrieben und existirte schon, als Bach die in Rede stehende Cantate componirte. Das Nähere darüber weiter unten, wo von den Passionen gehandelt wird.


 

175 Bach schreibt hier, wie auch im Anfangschor und Schlußchoral vor: Tromba o Corno da tirarsi. DasCorno da tirarsi, welches bei ihm mehrfach z.B. auch in der Cantate »Halt im Gedächtniß Jesum Christ« vorkommt, wird dasselbe oder doch ein ähnliches Instrument sein, wie die in jener Zeit aufgekommeneTromba da tirarsi, in welcher man die Construction der Trompete und der Posaune zu combiniren suchte. Kuhnau erwähnt sie im Musikalischen Quacksalber S. 82 f. (»Die in der Compagnie sahen einander an: Denn sie wusten, daß es nicht angehen könte, absonderlich, wenn er von Altisten redte, derer Stimme er mit der Trompete wolte imitiret haben, da doch solches Instrument in dem Ambitu dieser Stimme gar arm ist, und wo sich nicht nach ietziger Invention eingerichtet ist, daß sie sich nach Art der Trombonen ziehen lasset, die wenigsten Tonos hat«.).


 

176 Lindner, Zur Tonkunst. Berlin, Guttentag 1864. S. 124.


 

177 An der zweiten Stelle steht in der Oboestimme

5.


 

was ziemlich auf dasselbe hinauskommt, da der Triller mit der oberen Hülfsnote begonnen wurde.


 

178 B.-G. X, Nr. 46. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

179 S. Band I, S. 485.


 

180 Schon W. Rust hat den Tiefsinn dieses Chors verständnißvoll gedeutet. B.-G. XVIII, S. XV.


 

181 B.-G. III, S. 206 ff.


 

182 P.S. V, C. 5. – S. Band I, S. 590.


 

183 »Te Deum laudamus«. S. meine Ausgabe der Orgelcompositionen Buxtehudes, Band II, S. 53, Takt 5 ff.


 

184 B.-G. XVIII, Nr. 77. – S. Anhang A, Nr. 9.


 

185 S. S. 190 f. dieses Bandes.


 

186 Leipziger Universitätsarchiv. Repert. II/III Nr. 5. Litt. B. Sect. II. Fol. 2b. – Rathsarchiv VII. B. Fol. 108, 23 f., 31.


 

187 S. Winterfeld, Ev. K. III, S. 487 und Musikbeilage S. 140 f.


 

188 S. Band I S. 543 f.


 

189 B.-G. I, Nr. 8. – S. Anhang A, Nr. 32.


 

190 Vergl. Bd. I, S. 481.


 

191 »Ach Gott vom Himmel sieh darein« (B.-G. I, Nr. 2), »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« (B.-G. VII, Nr. 38).


 

192 B.-G. V1, Nr. 28. – S. Anhang A, Nr. 30.


 

193 Band I, S. 557 f.


 

194 Band I, S. 625 f.

 

 

 

 

 

 

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