Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 1

 

 

 

I.

 

[3] Das Geschlecht, dem Johann Sebastian Bach entstammte, ist ein grunddeutsches und läßt sich in seinem thüringischen Heimathsitze schon vor den Zeiten der Reformation nachweisen. Mit derselben Stetigkeit, welche im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert seine Angehörigen in den Dienst der Musik trieb, blieb es durch drittehalb Jahrhunderte in einer Gegend wohnhaft, verzweigte sich bis ins Unübersehbare und erschien zuletzt als ein wesentliches Stück der dortigen Volkseigenthümlichkeit. Nicht weniger ausdauernd hielt es an gewissen Vornamen fest, und durch einen bezeichnenden Zufall trägt der erste des Stammes, von dem wir Kunde erlangen konnten, schon den Namen, der als häufigster unter allen vorkommenden auch unserm großen Meister eigen ist.

Dieser früheste Vertreter ist Hans Bach aus Gräfenrode, einem Dorfe etwa 2 Meilen südwestlich von Arnstadt gelegen. Gräfenrode war am Anfange des 16. Jahrhunderts dem Grafen von Schwarzburg untergeben, wahrscheinlich gehörte es jedoch zur gefürsteten Grafschaft Henneberg und der Schwarzburger besaß es nur als Pfand. Die thüringischen Herren jener Zeit befanden sich häufig in Geldnoth, und versetzten dann Ortschaften oder ganze Districte ihres Gebietes wie ein Stück vom Hausrath. Hans Bach, den wir uns als einfachen Bauer denken müssen, scheint mit andern Gräfenrodern, unter denen sich ein gewisser Abendroth befand, in den nahen Ilmenauer Bergwerken gearbeitet zu haben, deren Betrieb zu derselben Zeit von Erfurt aus in Angriff genommen war. Wohlhabende Erfurter Bürger hielten sich wohl zu diesem Zwecke zeitweilig in Ilmenau auf, und einer von ihnen kann Hans Schuler gewesen sein, mag derselbe nun mit Johannes Schüler, dem Ober-Vierherrn des Raths zu Erfurt vom Jahre 1502 und 1506, identisch sein oder nicht. Jedenfalls war [3] dieser Schuler die Veranlassung, daß gegen Bach aus sonst unbekannten Gründen um das Jahr 1508 ein Process beim geistlichen Gericht des Erzstiftes Mainz anhängig gemacht und er mit dem genannten Abendroth in Gewahrsam gehalten wurde. Erfurt gehörte nicht nur zur Mainzer Diöcese, sondern die Erzbischöfe hatten auch seit langem in der Stadt eigne Besitzungen und beabsichtigten unablässig ihren Einfluß daselbst zu vergrößern. Die Verhafteten suchten durch Vermittlung des damaligen Grafen von Schwarzburg, Günther des Bremers, los zu kommen; dieser verwendete sich jedoch, wie es scheint, ohne besondern Erfolg für seine Unterthanen. Ein Brief, den er nach manchen vergeblichen Versuchen im Februar 1509 an den Domherrn Sömmering in Erfurt schrieb, mit der Versicherung, er wolle in strengster Form Rechtens die Sache vor seinen eignen Gerichten entscheiden lassen, wenn man Bach und Abendroth nur frei gäbe, ist erhalten und für den eben erzählten Vorgang die Quelle. Was weiter aus der Sache geworden, kann nicht angegeben werden1. Der Name Bach findet sich aber unter den Bewohnern von Gräfenrode noch das 16. und 17. Jahrhundert hindurch. Auch in Ilmenau war im Jahre 1676 ein Johannes Bach Diaconus2.

Wenden wir uns über Arnstadt hinaus eine starke Meile nordöstlich zu dem Dorfe Rockhausen. Hier wohnte in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Wolf Bach, ein reich begüterter Bauer. Als er starb, hinterließ er seiner Gattin Anna, welche ihm elf Kinder geboren hatte, sein sämmtliches Vermögen zum Nießbrauch. Im Jahre 1624 war diese »ein sehr alt verlebt Weib«, und wollte die Güter unter ihre noch lebenden Kinder theilen. Wir erfahren von einem Hofe, 4 guten und 32 geringen Ackern, zusammen geschätzt auf 925 Fl. – ein für damalige Verhältnisse sehr ansehnlicher Besitz und jedenfalls zur Zeit der bedeutendste des Ortes, was auf ein langes Ansässigsein daselbst hinweist. Die Kinder, deren uns drei Söhne: Nikol, Martin, Erhart, und eine verheirathete Tochter genannt werden, [4] waren zum Theil schon ziemlich bejahrt; Erhart befand sich seit 18 Jahren in der Fremde, war schon über die fünfziger hinaus, Nikol schritt im Jahre 1625 zu seiner dritten Ehe. Dieser hatte schon vor der Theilung des väterlichen Nachlasses einen stattlichen Grundbesitz und war zuverlässig auch der einzige, welcher als Stammhalter in Rockhausen zurückblieb. Anläßlich seiner letzten Verheirathung erwuchsen ihm allerhand Vermögensstreitigkeiten; eine eigenhändige Eingabe in dieser Angelegenheit ist erhalten, die ihn auch mit der Feder nicht ungewandt erscheinen läßt3. In den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts scheint sich kein Bach mehr in Rockhausen zu finden.

Unweit Rockhausen in westlicher Richtung liegt Molsdorf, wo das ganze 17. Jahrhundert hindurch ebenfalls eine reichverzweigte Bachsche Familie ihren Wohnsitz hatte. Der dreißigjährige Krieg hat die frühesten und wichtigsten Pfarr-Register vernichtet, die erhaltenen reichen nur bis zum Jahre 1644 zurück. Nach ihnen war der älteste der dort lebenden Bachs – er hieß wiederum Hans – 1606 geboren. Ein Andreas Bach, dessen Wittwe am 21. März 1650 starb, greift aber sicherlich noch in das vorhergehende Jahrhundert hinüber. Söhne desselben können Ernst und Georg Bach gewesen sein, letzterer war 1624 geboren. In einem Zeitraum von kaum 70 Jahren werden über zwanzig Glieder der molsdorfschen Familie erwähnt, die männlichen Individuen mit den Namen Johann, Andreas, Georg, Ernst, Heinrich, Christian, Jakob, Paul, die, von dem letzten abgesehen, auch in der Sebastian Bachschen Linie reichliche Anwendung fanden, während die weiblichen Namen abweichen. Andere Quellen berichten noch von einem Nikol Bach aus Molsdorf, welcher in das schwedische Heer eingetreten war und am 23. Juni 1646 in Arnstadt begraben wurde, da er »trunkener Weise aus selbstgegebener Ursache erstochen worden«4. Auch irren wir wohl kaum, wenn wir Johann Bach, »Herrn General Vrangels Musicanten«, gleichfalls aus dem Orte entstammt sein lassen, einen Mann, der als »kunstreich« gerühmt wird, von dem man aber sonst nur weiß, daß er 1655[5] schon todt war und eine Tochter hinterlassen hatte5. Dies wäre dann der erste Musiker der Molsdorfer Linie. Der zuvor erwähnte Georg Bach erhielt von seiner Gattin Maria am 23. Mai 1655 einen Sohn Jakob, welcher Corporal im kursächsischen Kürassier-Regimente und der fernere Stammhalter des Geschlechtes wurde. Dasselbe verließ Molsdorf im Anfange des 18. Jahrhunderts, um sich weiter nordwärts in Bindersleben bei Erfurt niederzulassen. Hier besteht es noch jetzt, nachdem mehre tüchtige Musiker daraus hervorgegangen waren, unter denen Johann Christoph (1782–1846) der bedeutendste gewesen zu sein scheint, der wenngleich einfacher Landwirth doch als Orgelspieler und Componist zu seiner Zeit in Thüringen einen guten Ruf besaß.

Wir wandern nun zum dritten Male weiter nach Süd-Westen, wo wir nahe bei Gotha die Heimath der directen Vorfahren Sebastian Bachs erreichen. In welchem Zusammenhange dieselben mit den vorher erwähnten Stämmen stehen, ist nicht zu sagen, aber es hieße das Unwahrscheinlichste annehmen, wenn man ihn zwischen Familien gleichen Namens und vielfach gleicher Vornamen, die auf einem kleinen Flächenraume neben einander wohnen, leugnen wollte. Wir müssen übrigens die gemeinsame Wurzel mindestens in die Mitte des 15. Jahrhunderts zurückverlegen, denn im 16. hatte der Stamm schon mächtige Aeste nach vielen Seiten hin getrieben. Auch in Wechmar – so heißt das letzte Ziel unseres Umganges – saßen die Bachs schon vor 1550 fest. Ihr ältester Repräsentant, der auch hier den Namen Hans führt, erscheint am Montage vor Bartholomaei des Jahres 1561 als Mitglied der Gemeindevormundschaft6. Ein solcher Posten verlangt einen gereiften Mann, sein Geburtsjahr mag also um 1520 zu setzen sein. Veit Bach, den Sebastian Bach selbst als Ahnherrn der Familie angiebt, kann als Hansens Sohn gelten, und dürfte zwischen 1550 und 1560 geboren sein; wahrscheinlich war er nicht der einzige, wie das Folgende ergeben wird. Seinen Vornamen trug er von St. Vitus, dem Schutzheiligen der wechmarischen Kirche7, [6] und deutet dadurch auf ein inniges und dauerndes Verwachsensein mit den Ortsangelegenheiten. Er lernte das Bäckerhandwerk, zog, wie sein Stammverwandter Erhart Bach aus Rockhausen, in die Fremde, und ließ sich in irgend einem ungarischen Orte nieder8. Im Kurfürstenthum Sachsen, zu dem bei Beginn der Reformation auch Gotha und Umgegend gehörte, war bekanntlich am frühesten die lutherische Religion angenommen worden; ebenso hatte sich dieselbe unter den Kaisern Ferdinand I. und Maximilian II. in Ungarn rasch und blühend entwickelt. Unter Rudolph II. (1576–1612) begann der Rückschlag; die Jesuiten wurden wieder ins Land geführt und bedrängten die Lutheraner mit wachsendem Erfolg. Veit wird das Jahr 1597, wo durch Erwerbung der Probstei Thurócz jesuitischer Einfluß übermächtig wurde, nicht abgewartet haben. »Ist dannenhero«, wie Sebastian Bach erzählt, »nachdem er seine Güter, so viel es sich hat wollen thun laßen, zu Gelde gemacht, in Deutschland gezogen«, und, fahren wir fort, in sein thüringisches Heimathdorf zurückgekehrt, wo er Sicherheit für sich und seinen Glauben fand. Hier soll er die Bäcker-Profession weiter getrieben haben, sicherlich aber nicht mehr lange, denn am Ende des 16. und Anfange des 17. Jahrhunderts waren die Wechmaraner Backhäuser in andern Händen. Die Mittheilungen Sebastian Bachs schildern den Veit auch eigentlich nicht als Bäcker, sondern als Müller, doch waren beide Handwerke wohl oftmals mit einander verbunden9. Als echter Thüringer liebte und übte er die Instrumental-Musik. »Er hat«, sagt sein Ururenkel, »sein meistes Vergnügen an einem Cythringen10 gehabt, welches er auch mit in die Mühle genommen, und unter währendem Mahlen darauf gespielet. Es muß doch hübsch zusammen geklungen haben! Wiewol er doch dabey den Tact sich hat inprimiren lernen. Und dieses ist gleichsam der Anfang zur Musik bey seinen Nachkommen gewesen.« Was jedoch Veit nur als Liebhaberei [7] trieb, war bei einem andern mitlebenden Familiengliede, vielleicht seinem leiblichen Bruder, schon zur Profession geworden. Veit starb am 8. März 1619 und wurde noch an demselben Tage begraben11. Er besaß möglicher Weise eine ganze Anzahl von Kindern, denn die große Menge männlicher und weiblicher Individuen der wechmarschen Linie läßt sich kaum auf die Söhne allein zurückführen, von denen die Genealogie redet. Genannt werden uns durch dieselbe zwei, oder genauer einer, da bei dem zweiten nur die Existenz constatirt, der Name aber verschwiegen wird. Der Genannte hieß natürlich Hans, und ist Sebastian Bachs Urgroßvater. Am passendsten denken wir ihn uns in Wechmar etwa um 1580 geboren, wie denn auch Veit sich wohl erst nach seiner Rückkehr aus der Fremde vermählt haben wird. Er zeigte Lust zur Musik, so beschloß denn der Vater, ihn einen »Spielmann« werden zu lassen, und gab ihn nach Gotha zu dem dortigen Stadtpfeifer in die Lehre. Dieser war aber ebenfalls ein Bach, hieß Caspar, und dürfte ein jüngerer Bruder, jedenfalls ein naher Verwandter Veits gewesen sein. Den Hans nahm er zu sich auf den Thurm des alten Rathhauses, wo er seine Dienstwohnung hatte: in den Hallen um die Kaufläden, welche das ganze untere Stockwerk einnahmen, ertönte das Treiben des Marktes und oben von der Gallerie mußte er nach Herkommen zu bestimmten Stunden den Choral mit seinen Gesellen abblasen12. Seine Gattin hieß Katharina, von seinen Kindern war Melchior im Jahr 1624 schon ein erwachsener Mensch, eine Tochter Maria wurde am 20. Febr. 1617, ein anderer Sohn Nikolaus am 6. Dec. 1619 geboren13. Hiernach wandte er sich nach Arnstadt, wo er als frühester Vertreter des Geschlechtes daselbst gestorben ist; seine Frau folgte ihm am 15. Juli 1651 hochbejahrt14. Hans kehrte also »nach ausgestandenen Lehrjahren« zurück in das väterliche Dorf, und nahm Anna Schmied, die Tochter des dortigen Gastwirths, zum Weibe. Wie man es in jener Zeit ungemein häufig findet, daß die Musikanten noch etwas andres [8] als Gewerbe nebenher treiben, so übte auch er als gewöhnliches Handwerk die Teppichflechterei15. Doch blieb das Musikmachen sein eigentlichster Beruf, wie die im Pfarr-Register ihm beigelegte Benennung »Spielmann« beweist. Der führte ihn weit durch Thüringen umher: oftmals wurde er »nach Gotha, Arnstadt, Erfurt, Eisenach, Schmalkalden und Suhl verschrieben, um denen dasigen Stadt-Musicis zu helfen«. Da ließ er lustig seine Fiedel ertönen, hatte den Kopf voller Späße und war bald eine volksthümliche Persönlichkeit. Ohne das wäre er wohl schwerlich zu der Ehre gekommen, zweimal portraitirt zu werden. Beide Bilder besaß Philipp Emanuel Bach unter seiner Sammlung von Familien-Bildnissen, eins davon war ein Kupferstich aus dem Jahre 1617, das andere ein Holzschnitt; hier sah man ihn Violine spielen mit einer großen Schelle auf der linken Schulter, linker Hand standen die Reime:


 

Hier siehst du geigen Hansen Bachen,

Wenn du es hörst, so mustu lachen.

Er geigt gleichwohl [d.i. nämlich] nach seiner Art

Und trägt einen hübschen Hans Bachens Bart,


 

und unter den Versen war ein Schild mit einer Narren-Kappe. Wie der fröhliche Sinn auch auf eins seiner Kinder überging, werden wir später sehen.

Hans Bach ist nicht sehr alt geworden; er starb am 26. Dec. 1626 im Pestjahre, was auch andere Familienglieder dahin raffte. Als neun Jahre darauf die Seuche im Dorfe noch viel furchtbarer wüthete, so daß von damals ungefähr 800 Einwohnern 503 starben (im September allein 191), folgte ihm seine Wittwe nach (18. Sept. 1635). Von ihren Kindern werden uns in der Folge diejenigen drei beschäftigen, auf welche der musikalische Sinn des Vaters überging. Daß aber mehr noch vorhanden gewesen sind, deren die spätere Genealogie nur deshalb nicht gedachte, weil sie einfache Bauern blieben, ist sicher. Ohne uns bei den verschiedenen weiblichen Individuen aufzuhalten, von deren Existenz noch Spuren vorhanden sind, wollen wir nur ein kurzes Wort noch den übrigen Männern[9] gönnen. Es ist freilich nicht leicht, zuweilen auch nicht möglich, sich durch die bunte Schaar, welche sich aus den Pfarr-Registern entwickelt, sichern Weges hindurch zu finden; so wird denn gegeben was zu erreichen war. Von den drei musikalischen Söhnen bietet die genannte Quelle nur etwas über Johann, den ältesten. Neben diesem aber treffen wir noch auf sechs andre Persönlichkeiten, die muthmaßlich von ziemlich gleichem Alter waren und für Söhne von Hans Bach oder seiner Brüder oder altersgleichen dortigen Verwandten gelten können. Zunächst ein Hans Bach, welcher als junior dem alten Hans Bach senior mehrfach gegenüber gesetzt wird, also doch wohl sein Sohn war. Identisch mit Johann Bach kann er nicht sein, da er schon 1621 mit seinem Weibe zum Abendmahle ging, Johann sich aber erst 1635 verheirathete: halten wir ihn also für einen älteren Bruder, und viel leicht erstes Kind des alten Hans Bach, der nach damaliger einfacher Lebensweise früh in die Ehe getreten sein wird. Der Sohn starb am 6. Nov. 1636, jung an Jahren, seine Wittwe Dorothea lebte noch bis zum 30. Mai 1678, wurde 78 Jahre alt. Von Söhnen aus dieser Ehe erfahren wir nichts. Dann noch ein Hans Bach, der um einiges jünger erscheint, und sich am 17. Juni 1634 verheirathete, das Mädchen hieß Martha. Söhne werden angeführt: Abraham (geb. 29. März 1645), Caspar (geb. 9. März 1648) – dieser war späterhin Schafhirt in Wechmar –, ein nicht benannter dritter Sohn (geb. 27. März 1656), »so bei der Geburt kaum eine Spanne lang«. Auch dieser dritte Hans war ein Sohn des Spielmanns16. Also drei Brüder desselben Namens. Es ist charakteristisch für den Alten mit der Schelle, daß er an diesem Triumvirat von Hansen seine Freude hatte. – Ferner Heinrich Bach, von dem wir nur hören, daß ihm 1633 und 1635 zwei Söhne geboren wurden, die beide am 28. Jan. 1638 starben. Denselben Namen führte der jüngste des musikalischen Kleeblatts; wäre der genannte dessen Bruder, so hätte der lustige Fiedler zwei Heinriche gehabt, wie er drei Hanse besaß. – Weiter Georg Bach, welcher 1617 geboren wurde. Seine erste Gattin, Magdalena, war 1619 geboren und starb am 23. Aug. 1669. Er verheirathete sich am 21. Oct. 1670 zum zweiten Male, die Braut hieß Anna, sie starb am 29. Febr. 1672 [10] in Folge eines Wochenbettes. Unverehelicht konnten diese Leute nicht leben; er schloß die dritte Ehe am 19. Nov. 1672, starb am 22. März 1691; seine Gattin Barbara folgte am 18. April 1698. Söhne werden nicht erwähnt; ebenso wenig ist zu sagen, wessen Sohn er selbst war. Eines Bastian (Sebastian) Existenz endlich verräth uns nur sein Tod (3. Sept. 1631); er kann daher auch schon ein Greis gewesen sein und ist der einzige des Geschlechts, welcher vor dem großen Tonmeister diesen Namen führte.

Die Genealogie erwähnt, wie schon bemerkt, noch einen andern Sohn Veit Bachs, ohne dessen Namen zu kennen. Derselbe kann auch auf anderm Wege nicht mit Sicherheit bestimmt werden; doch läßt sich nach den Pfarr-Registern wenigstens ein Altersgenosse des Spielmanns Hans Bach beibringen, der sein Bruder gewesen sein könnte. Er hieß Lips, und starb am 10. Oct. 1620; ein Sohn gleichen Namens fiel am 21. Sept. 1626 der Pest zum Opfer. Die Söhne, welche das Geschlecht fortpflanzten, würden demnach in den Registern fehlen. Die Genealogie spricht von dreien, welche durch den regierenden Grafen von Schwarzburg-Arnstadt zu ihrer weitern musikalischen Ausbildung nach Italien geschickt werden und von denen Jonas, der jüngste, blind und Gegenstand vieler abenteuerlicher Erzählungen gewesen sein soll17. Dagegen läßt sich nachweisen, daß ein Sohn des ungenannten Bruders von Hans Bach den Namen Wendel führte, 1619 geboren ward und späterhin in Wolfsbehringen, einem Dorfe nordwestlich von Gotha, seßhaft war; er scheint Landwirth gewesen zu sein und starb am 18. Dec. 1682. Sein vermuthlich einziger Sohn Jakob (geb. 1655 in Wolfsbehringen) bekleidete das Cantorat in Steinbach, seit 1694 in Ruhla und starb dort 171818. Er war erster Lehrer des später merseburgischen Capellmeisters und nicht unbedeutenden Componisten Johann Theodorich Römhild19. Von ihm gehen, wenn man den vorhandenen Zeugnissen trauen darf, die meisten musikalischen Persönlichkeiten dieses Stammes aus, ganz sicher wenigstens der bedeutendste unter ihnen. Dieser, Johann Ludwig, wurde als Sohn des Cantors Jakob Bach im Jahre 1677 geboren. [11] 1708 war er Hofcantor in Meiningen, drei Jahre darauf aber, als er sich verheirathete, schon Capell-Director, und starb 174120. Da Sebastian Bach mit ihm von Weimar aus in persönlichen Verkehr trat, so erscheint es passend, ihn auch dann erst in seiner künstlerischen Bedeutung zu charakterisiren. Das bedeutende musikalische Talent dieses Mannes lebte in seinen beiden Söhnen, Samuel Anton (1713–1781) und Gottlieb Friedrich (1714–1785), sowie in dem Sohne des letzteren, Johann Philipp, weiter. Alle drei waren zeitweilig herzogliche Hoforganisten, der letzte reicht bis in die neueste Zeit hinab, da er erst 1846 im 95. Lebensjahre starb, nachdem am 22. Dec. 1845 auch der letzte Enkel Sebastians geschieden war21. Neben der musikalischen Begabung ist dieser Familie aber auch die für Malerei eigen, ein Talent, was sich in der Sebastianschen Linie nur bei einem Sohne Philipp Emanuels findet, und dieser scheint in der That erst durch die Meininger angeregt zu sein. Denn sie verkehrten in seinem elterlichen Hause, so daß Ph. Emanuel in der Genealogie schreiben konnte: »des Meinungschen Capellmeisters Sohn lebt noch da, als Hoforganist und Hofmaler; dessen Herr Sohn ist ihm adjungirt in beyden Stationen. Vater und Sohn sind vortreffliche Portraitmaler. Letzterer hat mich vorigen Sommer besucht und gemalt, und vortrefflich getroffen.«

Noch vielseitiger war Johann Ludwig Bachs Bruder, Nikolaus Ephraim, welcher bei der Aebtissin Elisabeth Ernestine Antonia zu Gandersheim, der Schwester des damaligen regierenden Herzogs von Sachsen-Meiningen, in Diensten stand und diese Stelle vielleicht durch Vermittlung seines Bruders erhielt. Es war freilich herkömmlich an kleinen Höfen, daß die Hofmusiker auch noch andre Obliegenheiten hatten, z.B. eines Schreibers oder Kammerdieners, aber ein solches Bunterlei von Diensten, wie von Nikolaus Ephraim geleistet werden mußte, wurde wohl selten auf die Schultern eines einzigen Individuums gepackt. Er war seit 1708 dort im Dienste und [12] wurde am 30. Nov. 1713 zum Lakaien ernannt, in seiner Bestallung heißt es aber speciell: »So haben Wir ihm hiemit die Aufsicht über Unsere Mahlereyen und Statuen-Gallerie aufgetragen, – – wobey er dann in der Musik und vorfallenden Compositionen sich gebrauchen laßen soll; dagegen wir ihm zur jährlichen Besoldung vom verwichenen Michaelis an 20 Thaler und vom letztverwichenen 22. Octobris aber wöchentlich 20 ggr. Kostgeld benebenst der gewöhnlich doppelten Livrée, Reiseröcken und Winter-Strümpfen, in Gnaden verwilliget.« Späterhin wurde er auch Mundschenk, am 15. Mai 1719 Organist und Kellermeister, mußte auch die »abteilichen Bedienten« in der Musik und Malerei »informiren«, und endlich seit 1724 die Privat-Rechnungen der Aebtissin führen. Man sieht, er war ein Factotum22.

Ein muthmaßlich dritter Sohn des Cantor Bach aus Ruhla war Georg Michael (1703–1771), Lehrer der achten Classe am lutherischen Stadtgymnasium zu Halle; dessen Sohn Johann Christian (1743–1814) war Musiklehrer dort, und wurde kurz »der Clavier-Bach« genannt. Er stand mit Friedemann Bach, dem ältesten Sohne Sebastians, in Verbindung, als dieser Organist an der Liebfrauenkirche in Halle war, oder vielleicht auch, als er es nicht mehr war. Denn von ihm erhielt er jenes »Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach«, welches der große Sebastian in Cöthen größtentheils selbst für sein Lieblingskind geschrieben hatte, und das uns später noch eingehend beschäftigen wird23. – Endlich ist noch Stephan Bach zu erwähnen, welcher der Genealogie zufolge mit dieser Linie zusammenhängen soll, ohne daß anzugeben wäre, in welcher Weise. Er war Cantor und Succentor am Blasius-Stift in Braunschweig, ein Dienst, den er 1690 antrat und bis zu seinem Tode 1717 bekleidete. Seine erste Gattin hieß Dorothea Schulze, und es wird daher der spätere Organist an der Lamberti-Kirche in Hildesheim, Andreas [13] Heinrich Schulze, dessen Gesanglehrer Stephan Bach gewesen ist24, für einen Verwandten seiner Frau zu halten sein. Der älteste Sohn hieß Johann Albrecht (geb. 1703) und stammte aus zweiter Ehe. Was sonst über ihn zu sagen wäre, bezieht sich nur auf Krankheiten und allgemeines Lebens-Elend, mit welchem diese Leute stets zu ringen gehabt haben. Bei Verfolgung der directen Vorfahren Sebastian Bachs wird uns dasselbe noch oft genug entgegen treten; darum schweigen wir hier darüber25.

Wir haben die Wurzeln des Bachschen Geschlechtes an verschiedenen Orten Thüringens bloslegen können, überall fanden wir nur dorfbewohnende Bauern. So recht aus der Kernkraft des deutschen Volkes ist Sebastian Bach entsprungen. Und wie überall in Deutschland vor dem dreißigjährigen Kriege Wohl stand herrschte, so fehlte auch dem thüringischen Bauer ein friedliches Behagen nicht. Mit seiner Tüchtigkeit und seinem Fleiße verband er die Frömmigkeit. Die wechmarischen Communicanten-Verzeichnisse von den Jahren 1618–1623 legen durch die reichliche Anführung der Bachs männlichen und weiblichen Geschlechts, aus alten und jungen Jahren, Zeugniß davon ab, daß denselben ihre protestantische Religion eine lebendige Herzenssache war. Es muß jedoch gesagt sein, daß, während Wolf Bach in Rockhausen ein freier Grundbesitzer von ungewöhnlicher Wohlhabenheit war, seinen Wechmaraner Stammesgenossen wahrscheinlich ein härteres Loos fiel. In dem Dorfe und dessen Bezirk befand sich eine Anzahl großer Adels-Güter, und wer von ihnen als Bauer denselben zugehörte, hatte an Abgaben und Knechtsdiensten nicht geringe Lasten zu tragen, und dies um so mehr, als die Besitzer jener Güter, Vasallen der Grafen von Gleichen, oft und viel Kriegsmannschaft stellen mußten, was natürlich den Zurückbleibenden nicht zu gute kam. Der Tod des Spielmanns Hans Bach (1626) führt uns auch schon in die Anfänge jener Zeit, wo Thüringen unter der furchtbaren Kriegsgeißel zu leiden und zu [14] bluten begann. Seit dem Jahre 1623, in welchem die ersten Truppendurchzüge stattfanden, brachen mit immer kürzeren Unterbrechungen durch die wilden Kriegshorden alle nur erdenklichen Gräuel über dies schöne Stückchen deutscher Erde herein. Die Dörfer wurden geplündert und verbrannt, die Fluren verwüstet, die Männer getödtet, die Frauen gemißhandelt, und auch die Kirchen nicht geschont. Dazu kamen die entsetzlichen Seuchen der Jahre 1626 und 1635. Wer aus all dem Elend sein Leben rettete, floh am liebsten Schutz suchend in die Städte, oder verbarg sich in den Wäldern, oder trat, weil nichts anderes übrig blieb, wie Nikol und Johann Bach aus Molsdorf, ins Heer ein. So zerstreuten sich auch die wechmarischen Bachs, die zurückbleibenden starben nach und nach aus, bis am Ende des vorigen Jahrhunderts erst ein Mann des Namens, Ernst Christian Bach, dorthin zurückkehrte, und als Cantor und Schullehrer sein Leben da am 29. Sept. 1822 beschloß26. Auch von Hans Bachs drei musikalischen Söhnen blieb keiner dauernd in seinem Heimathdorfe. Eine Zeit voll Blut und Schrecken ist es, in welcher sie heranwuchsen und lebten, eine Zeit, die auch den Sittlichsten verwildern, den Kräftigsten ermatten konnte, und die nach dem Beruf, wie den besondern Lebensschicksalen der drei Brüder auf ihr Wesen von großem Einfluß sein mußte.

Fußnoten

 

II.

 

Johann Bach, der älteste jener drei Söhne, wurde am 26. Nov. 1604 in Wechmar geboren. »Da nun sein Vater Hans Bach«, erzählt die Genealogie, »wenn er an obbenannte Oerter [s. S. 9] ist verlanget worden, ihn vielfältig mitgenommen, so hat einsmals der alte Stadtpfeifer in Suhl, Hoffmann genannt, ihn persuadiret, seinen Sohn ihm in die Lehre zu geben, welches auch geschehen; und hat er sich daselbst 5 Jahr als Lehrknabe, und 2 Jahr als Geselle aufgehalten.« Danach scheint er in dem immer lauter werdenden Kriegsgetümmel ein unstetes Leben geführt zu haben. Die Genealogie giebt an, er habe sich von Suhl nach Schweinfurt gewendet, wo er Organist geworden sei. Allein schon 1628 taucht er in Wechmar als »Spielmann« [15] auf und ebenso wieder im Jahre 1634, aber schwerlich war er dort ansässig, weil er sich sonst wohl einen eignen Hausstand gegründet haben würde. Die Art, wie er dies endlich that, läßt wiederum auf ein Verweilen in Suhl schließen, wo er vielleicht anstatt des alten und in den dreißiger Jahren des Jahrhunderts verstorbenen Hoffmann zeitweilig als Stadtpfeifer fungirte. Denn die Zunftmäßigkeit, welche auch in der Musik herrschte, brachte es mit sich, daß ein junger Meister seine Braut zunächst aus den Töchtern der Innungsgenossen wählte und häufig dadurch in die Stellung des Schwiegervaters hinein heirathete. So vermählt sich auch Johann Bach am 6. Juli 16351 mit Barbara Hoffmann, »seines lieben Lehrherrn Tochter«, und wurde in seinem Heimathdorfe getraut. In demselben Jahre wurde er als Director der Rathsmusikanten nach Erfurt berufen. Dieses, damals noch freie Reichsstadt, konnte auch schon genug von Kriegsschicksalen erzählen. Nach der Schlacht bei Breitenfeld (1631) war Gustav Adolph dort am 22. Sept. eingezogen und hatte nach vier Tagen eine Besatzung zurückgelassen, welche sofort eine allgemeine, wenn auch eigentlich nur auf die Katholiken abgesehene Plünderung und Mißhandlung der Einwohner begann. Auch des Nachts stahlen sie und brachen ein; kein Wächter durfte sich auf der Straße sehen lassen, und die öffentliche Unsicherheit stieg auf das Höchste2. Hernach kehrte wohl etwas Ordnung wieder zurück, allein die Contributionen und das wüste Soldatenwesen demoralisirte die Bürger mehr und mehr, nicht zum wenigsten natürlich auch die Stadtpfeifer-Zunft, für welche es eine Hauptaufgabe war, bei öffentlichen oder privaten Gelagen die nöthige Musik zu machen, und die dadurch zum nächsten Zeugen gesteigerter Rohheiten wurde, welche bei solchen Gelegenheiten nie ausblieben. Kurz bevor Johann Bach seinen Posten antrat, am 27. Febr. 1635, ereignete es sich, daß ein Bürger Namens Hans Rothländer einen Soldaten von der Straße mit sich in sein Haus genommen. Er »vermochte«, wie eine handschriftliche Erfurter Chronik erzählt3, »die Stadtpfeifer, weil der Meister sein Gevatter war, ihm zu Gefallen aufzuspielen, welches eigentlich verboten war. Als [16] sie alle ziemlich berauscht sind, streckt sich der Soldat, der ein Cornet aus Jena gebürtig war, auf die Bank und schläft ein. Rothländers Frau weckt ihn auf in der Absicht mit ihm zu tanzen; er fährt im Schlaf auf und ruft: ›was, ist der Feind vorhanden?‹ nimmt den Messing-Leuchter, schlägt den nächst gelegenen drei Wunden in den Kopf und eine Schmarre in den Backen, wodurch das Licht verlöscht. Er ergreift seinen Degen, sticht hinterwärts den andern durch und durch, faßt einen Musikanten aus Schmalkalden, der ein vorzüglicher Spieler war, sticht diesen durch den Leib, daß er nach 12 Stunden darauf starb und auf dem Kaufmanns-Kirchhof begraben wurde«4. Es wäre möglich, daß bei dieser Metzelei auch der Meister der Zunft umgekommen und Bach an dessen Stelle getreten wäre. Im Herbst des Jahres schien mit dem Prager Frieden eine bessere Wendung für die Stadt einzutreten: die schwedische Besatzung zog ab, und es wurde ein allgemeines Friedensfest gefeiert. Aber schon im folgenden Jahre warfen sowohl die Kaiserlichen, als die Kursächsischen, als die Schweden ihr Auge wieder auf diesen für militärische Operationen wichtigen Stützpunkt. Bach wurde mit seinen Leuten auf die Haupt-Thürme commandirt, »allda ihre Wache zu gemeiner Stadt Nutz mit Ernst und allem Fleiß abzuwarten«. Fässer, mit Reisig und Stroh gefüllt, wurden an exponirten Punkten aufgestellt, und den Wachen befohlen, sie anzuzünden, sobald sich etwas verdächtiges zeige; dann »sollte es der Stadt-Pfeifer Losung seyn, und mit Macht blasen, damit sich alles Volk ermuntere, und zum Gewehr greife«5. Jedoch der schwedische General Banér nahm im December die Stadt nach kurzer Belagerung, und nun blieben die Schweden dort bis nach dem westphälischen Frieden, mit Streifzügen und Ueberfällen in der Umgebung sich die Zeit vertreibend. Nachdem sie endlich 1650 abgezogen waren und die dringend ersehnte Ruhe wiederzukehren schien, veranstaltete der Rath ein wochenlanges Frieden- und Dank-Fest, bei welchem mitzuwirken für die Musiker eine würdige Aufgabe war. Es wird erzählt, daß »aus den berühmtesten Componisten, Praetorio, Scheid, Schützen, Hammerschmidt, die schönsten Concerte und prächtigsten Motetten musiciret wurden in jeder Kirche«. Von den [17] Kirch- und Wachthürmen, die mit weißen Fahnen und Zweigen geschmückt waren, erschollen Trompeten und Pauken, Kinderschaaren mit Kränzen auf dem Haupte und Palmenzweige tragend zogen unter Lobliedergesang zum Gotteshause. Sodann wurde auf einer im Freien errichteten Schaubühne, die mit Birken geziert war »mit allerlei Instrumenten, beneben einem Actu, was Frieden und was Krieg bringe? in ansehnlicher Versammlung musiciret, da Jedermann den Choral mitgesungen«, dazwischen Trompeten und Trommeln, und Freudenschüsse der endlich erlösten, dankend aufathmenden Bürgerschaft6. Aber zu hart hatte der Krieg auf der unglücklichen Gemeinde gelastet: die Stadt war tief verschuldet, die reichsten Patrizier verarmt, und unter den geringeren Leuten ließen Hunger und bittre Noth nicht nach. Schlimmer als das war die völlige Erschöpfung auch aller geistigen und sittlichen Energie. Der Krieg selbst hatte größtentheils mit einer noch gesunden Volkskraft zu thun gehabt, die folgende Periode traf nur ein entartetes und haltloses Geschlecht. Anstatt sich zu strenger Arbeit zu sammeln, ergab man sich gedankenlosem Genuß, und je zerrütteter die Verhältnisse wurden, einem immer sinnloseren Aufwande. Daneben nahm der Einfluß eines wilden Pöbels in bedrohlicher Weise zu: einsichtsvolle Männer wurden aus der Stadt vertrieben oder mißhandelt, so daß ein Bürger im Jahre 1663 schreiben konnte, die Stadt befände sich jetzt in einem so jämmerlichen Zustande, der »weder mit der Feder zu beschreiben noch mit Menschen-Zungen auszusprechen« sei, und prophezeien, es werde Erfurt wie einst Jerusalem seinem Untergange nicht entgehen7. Endlich hatte der Kurfürst von Mainz anläßlich der Leitung des Gemeindewesens erhöhte Rechte geltend gemacht, und wurde vom Kaiser darin unterstützt. Die fanatische Widerspenstigkeit des Volkes, welches einen Schützling des Kurfürsten ermordete und den Herold des Kaisers beschimpfte, veranlaßte schließlich die gewaltsame Unterwerfung der Stadt, welche von 1664 an ihre Selbständigkeit an Mainz verlor. Seit dieser Zeit trat allmählige Hebung des Wohlstandes und ein Zurückkehren geordneter Verhältnisse ein.

Johann Bach hat den größten und wichtigsten Theil seines Lebens in Erfurt verbracht. Die von ihm gegründete Familie hat sich [18] schnell vergrößert und ein Jahrhundert so ausschließlich in den Besitz der dortigen Stadtpfeifer-Stellen gesetzt, daß auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch die Stadt-Musikanten den Namen »die Bache« trugen, obwohl keiner dieses Namens in Wirklichkeit mehr darunter war8. Erfurt wurde neben Arnstadt und Eisenach ein Haupt-Sammelpunkt der großen Bachschen Familie, deren merkwürdig starkes Gefühl von Zusammengehörigkeit gewisse Centralstellen entstehen ließ, um ein gemeinsames Wirken zu ermöglichen. In dem flüchtig skizzirten Bilde eines 40jährigen Zeitraums städtischer Geschichte halten wir zugleich das Leben des Mannes selbst, dessen Stellung eine stetige Berührung mit den losgebundenen und erregten Gemüthern des Volkes mit sich brachte. Was sie irgend bewegte, mußte auch ihn von allen Seiten treffen, und aus dem Leidenschaftsstrudel, in welchem er stand, aus jenem wüsten und hohlen Treiben, dessen Lust- und Freudenäußerungen nur die eigne Jämmerlichkeit übertäuben sollten, sich Sittlichkeit, Lebensernst und Würde zu retten mußte doppelt schwierig sein. Und dies gilt gleichermaßen von allen seinen Geschlechtsgenossen, die in ähnlicher Thätigkeit neben ihm standen. Dazu seufzten sie mit allen unter der allgemeinen Noth und Armuth.

In dem Familienleben Johann Bachs fehlte das Unglück eben so wenig. Seine erste Gattin brachte ein todtes Kind zur Welt und starb gleich darauf selbst. Kurz nachher führte er ein zweites Weib heim, Hedwig Lämmerhirt, aus einem Geschlechte, das uns späterhin noch begegnen wird. Der Tod fuhr fort bei ihm einzukehren; im Jahre 1639 entriß er ihm einen Sohn, vermuthlich den Erstling der zweiten Ehe, andere Kinder folgten in den Jahren 1648 und 1653 nach. Inzwischen verlor er aber seine echt Bachische Gesinnung nicht. Sein alter Lehrmeister und erster Schwiegervater, der Stadtpfeifer Hoffmann in Suhl, war gestorben und hatte einen unmündigen Knaben zurückgelassen; ein Jahr darauf folgte auch die Mutter, und das Kind war völlig verwaist. Da war der Schwager gleich bei der Hand, nahm den jungen Christoph Hoffmann zu sich ins Haus, und weil er Lust und Anlage zur Musik zeigte, unterwies er ihn fleißig [19] und mit solchem Erfolg, daß der Jüngling bald in weiterem Kreise Aufsehen erregte. Dies ist auch ein Haupt-Anhaltepunkt zu einem genaueren Schlusse auf Bachs eigne Tüchtigkeit. Zwar schon seine Stellung an der Spitze des Musik-Corps einer bedeutenden Stadt kennzeichnet ihn als einen Mann von höherer Leistungsfähigkeit, auch wird ihm von seinen Zeitgenossen das Prädicat eines »wohlberühmten Musikanten« nicht versagt. Zu jener Zeit befand sich sein Bruder, Christoph Bach, der Sebastian Bachs Großvater werden sollte, im Dienste am Hofe zu Weimar. Dieser wurde, wenn wir die fragmentarischen Nachrichten uns etwas zurecht legen und verbinden dürfen, die Veranlassung, den talentvollen Zögling dort zu produciren. Herzog Wilhelm wollte ihn gleich in der Capelle behalten, und bot seinem Lehrer für die ertheilte Unterweisung hundert Thaler an. Es spricht wiederum für Johann Bach und sein Haus, daß Hoffmann hierauf nicht einging: er verstand sich nur dazu, von Zeit zu Zeit in Weimar zu erscheinen und bei musikalischen Aufführungen mitzuwirken, übrigens blieb er seinem Schwager sechs Jahre als Lehrling und noch ein Jahr als Gesell treu, und bildete sich nach allem was wir wissen zu einem tüchtigen Musiker aus9. Wenn berichtet wird, daß er in Erfurt sowohl in der Instrumental- wie Vocal-Musik fleißige Fortschritte gemacht, so bezieht sich letzteres zunächst nur auf jenen rohen und naturalistischen Gesang, der als ein Theil des Musikanten-Handwerks mit erlernt werden mußte, da bei den sogenannten »Aufwartungen« auch nicht selten der Vortrag von Liedern verlangt wurde10, und der sich daher wohl an der Fertigkeit[20] des raschen Notenlesens und sichern Treffens meistens genügen ließ, welche sich mit der instrumentalen Uebung beinahe von selbst einstellen mußte. In einem Verhältniß zur kirchlichen Musik stand Johann Bach nur in indirecter, wenn auch innerlich nicht minder bedeutsamer Weise als Orgelspieler: er wurde, wahrscheinlich vom Jahre 1647 an, Organist an der Prediger-Kirche, und bewährt auch hierdurch eine vielseitige Tüchtigkeit. Der mit solchen Stellen verbundene Gehalt war, besonders in jener Zeit, gering, und was festgesetzt war, wurde sehr häufig nicht einmal ausgezahlt. Zum großen Theile waren Organisten und Cantoren auf Natural-Lieferungen angewiesen; oft genug freilich blieben selbst diese aus. Bach hatte seit 1647 eine jährliche Lieferung von einem Malter Korn zu fordern, im Jahre 1669 mußte er sich beim Rath beschweren, daß er in 22 Jahren nicht mehr als einmal zu dem Seinigen gekommen sei11. Er starb am 13. Mai 1673 im 69. Lebensjahre12. Als Stadtmusikant und Organist vereinigte er in seiner Person die beiden Richtungen, nach welchen in der Folgezeit die deutsche Musik durch Sebastian Bach sich zur herrlichsten Blüthe entwickeln sollte, das weltliche Instrumental-Spiel und die religiöse Tonkunst. Stand er mit der kirchlichen Vocal-Musik nicht als Cantor im unmittelbarsten Contact, so hat diese auch zu dem, was sie durch seinen großen Nachkommen wurde, die hauptsächlichste Kraft aus der entwickelten Orgel-Kunst gezogen. Seine Brüder und die meisten seiner Kinder und Abkömmlinge cultivirten vorzugsweise je einen von beiden Zweigen, bis wieder Sebastian das ganze genannte Gebiet, wenn auch nicht immer seinen äußern Stellungen nach, umfaßte. Durch eine lange unselige Zeit hindurch war Johann Bach das Haupt der Bachschen Musikanten-Familie, er hatte erlebt, wie dieselbe sich ausbreitete und gedieh und außer in Erfurt auch in Arnstadt und Eisenach tiefe Wurzel schlug. Von nun an begann zwischen diesen drei Städten ein emsiges Hin- und Herziehen: wo es dem einen gelang, dahin zog er den andern nach, und durch Verschwägerungen und andere Familienbande befestigten sie sich mehr und mehr in dem Gefühl eines enggeschlossenen patriarchalischen Gemeinwesens.

[21] Der älteste am Leben erhaltene Sohn Johann Bachs, Johann Christian, geb. 25. Aug. 164013, lernte und wirkte zuerst unter seines Vaters Leitung in der erfurtischen »Musikbande«, und wandte sich von dort nach Eisenach, als der erste seines Geschlechtes an diesem Orte. Hier heirathete er zunftmäßig Anna Margaretha Schmidt, die Tochter des dortigen Kunstpfeifers, am 28. Aug. 166514. Mit Ausfüllung seines Platzes in Erfurt – er spielte Bratsche – beeilte der Rath sich nicht, dem in jener Zeit ganz andre Dinge den Kopf erfüllten, erst 1667 trat sein Vetter Ambrosius für ihn ein15. Im folgenden Jahre aber war er schon wieder in Erfurt; hier schenkte ihm sein Weib einen Sohn, Johann Jakob16, welcher sich heranwachsend zu seinem Oheim Ambrosius, Sebastian Bachs Vater, zurück nach Eisenach begab, wo derselbe mittlerweile Stadtpfeifer geworden war, und dort als Hausmanns-Gesell im Jahre 1692, 24 Jahr alt starb17. (Hausmann ist der damals allgemein übliche Ausdruck für Spielmann oder Musikant.) Weiter brachte es ein zweiter Sohn, Johann Christoph (geb. 1673); dieser wurde Cantor und Organist in Unter-Zimmern, einem Dorfe nordöstlich von Erfurt, verheirathete sich 1693 mit Anna Margaretha König, und erhielt 1698 die Cantor-Stelle in Gehren, südlich von Arnstadt, wo sein Name durch den unlängst verstorbenen trefflichen Michael Bach, dessen eine Tochter später Sebastian Bachs erste Frau wurde, im besten Andenken stand. Er war ein gebildeter Mann, hatte Theologie studirt und schrieb eine schöne fließende Hand. Trotzdem machte er seinem Geschlechte wenig Ehre. Er hatte einen zänkischen, halsstarrigen und hochmüthigen Charakter, und kehrte diesen in unvortheilhafter Weise auch gegen seine Vorgesetzten heraus, was ihm unter anderm einen längern Arrest, ja von Seiten des Arnstädter Consistoriums die [22] Androhung der Remotion zuzog. Doch war auch wohl von Seiten der Behörden manches gegen ihn versehen18. Er starb dort 172719. – Johann Christian wurde nach seines Vaters Tode Director der Raths-Musikanten in Erfurt; er verlor bald darauf seine erste Frau und ehelichte danach eine Wittwe, Anna Dorothea Peter (11. Juni 1679), von welcher er noch eine Tochter Anna Sophia, und einen Sohn Johann Christian erhielt; letzterer wurde 1682 geboren, in seines Vaters Todesjahr20.

 

In die leer gewordene Stelle rückte der jüngere Bruder Johann Aegidius, der zweite lebend gebliebene Sohn Johann Bachs (geboren 9. Febr. 1645). Schon unter dem Directorium des Vaters hatte er im städtischen Musik-Corps seinen Platz gefunden, da er im Herbst 1671 anstatt seines Vetters Ambrosius Bratschist wurde21. Seine Braut holte er sich am 9. Juni 1674 von Arnstadt, wo damals sein Oheim Heinrich als Organist in hohem Ansehen stand, über welchen bald ausführlich gesprochen werden soll. Es war dies aber die Schwester der Frau seines Bruders Johann Christian: Susanna Schmidt, deren Vaterunterdeß von Eisenach nach Arnstadt gezogen sein muß22. Dieser Zug, daß die jüngeren Brüder die Schwestern der Gattinnen ihrer ältern Brüder sich vermählen, und auch in dieser Hinsicht treuherzig die Wege nachwandeln, welche jene vorher erprobt haben, hat etwas ungemein patriarchalisches und wird uns noch mehre Male entgegen treten. Bei dieser Gelegenheit erscheint Aegidius als Stadt-Musikant [23] und Organist; er hatte seitdem auch den Dienst an der Orgel der St. Michaelis-Kirche überkommen, und war in dieser doppelten Function ganz in die Fußtapfen seines Vaters getreten. Er starb betagt im Jahre 171723, nachdem er sich am 24. Aug. 1684 zum zweiten Male mit Juditha Katharina Syring vermählt hatte. Von seinen neun Kindern, deren Namen aufzufinden waren, fünf Söhnen und vier Töchtern, haben nur die ersteren für uns Interesse; von diesen aber erreichten, wie es scheint, nur zwei das Mannesalter, Johann Bernhard und Johann Christoph24. Ersterer (geb. 23. Nov. 1676) bekleidete das Organisten-Amt an der Kaufmanns-Kirche zu Erfurt, und wurde darauf für eine gleiche Stellung nach Magdeburg berufen. Läßt schon dieses Heraustreten aus dem heimathlichen Kreise eine besondere Tüchtigkeit vermuthen, so macht die Thatsache, daß man ihn 1703 in Eisenach als Nachfolger des hochbedeutenden Johann Christoph Bach annehmen konnte, eines Mannes, der noch später unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird und nach Seb. Bach der größte Musiker des Geschlechtes gewesen ist, jene Annahme zur Gewißheit. Neben seiner Organisten-Thätigkeit fungirte er auch als Kammer-Musicus in der Capelle des Herzogs Johann Wilhelm von Sachsen-Eisenach, grade so wie das sein Vetter Sebastian Bach eine Weile mit ihm gleichzeitig in Weimar thun mußte25; hier wird er, wozu unter ähnlichen Umständen die Organisten häufig gebraucht wurden, Cembalist gewesen sein26. Daß man seine Leistungen in Eisenach wirklich zu schätzen wußte, geht daraus hervor, daß sein aus 60 Thalern bestehender und allerdings bescheidener, aber für die dortigen und damaligen Verhältnisse nicht ungewöhnlich niedriger Jahresgehalt ihm 1723 auf hundert Thaler erhöht, also fast verdoppelt wurde. Dieselbe Summe bezog er noch 1741 und wird sie, obgleich wegen des Aussterbens der Eisenacher Linie in diesem Jahre die Capelle aufgelöst wurde, wohl ungeschmälert [24] bis zu seinem Tode fortbezogen haben. Dieser erfolgte am 11. Juni 174927. Johann Bernhard Bach war nicht nur ein tüchtiger Spieler, sondern auch ein geschätzter Tonsetzer. Es sind noch von ihm vier Orchestersuiten, einige wenige Clavierstückchen und eine mäßige Reihe von Choralbearbeitungen erhalten28. Hiernach zu urtheilen, gehört er als Orgelcomponist zu den tüchtigsten seiner Zeit, wenn auch nicht zu den ursprünglichsten. Denn er wandelte ganz in den Bahnen Johann Pachelbels, von denen in einem späteren Abschnitte die Rede sein wird. Eine Behandlung des Chorals: »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ«, in fünf Partiten, ist in der damals allgemein-üblichen Weise der Choralvariationen gehalten, zeigt aber manchen hübschen Einzelzug. In den übrigen wird ein Cantus firmus contrapunctirt, zwischen den einzelnen Zeilen und am Anfang des Ganzen ertönen Sätzchen, die aus der nächstfolgenden Choralzeile motivisch gebildet sind. Am wenigsten befriedigen die zweistimmigen (»Wir glauben all an einen Gott«; »Jesus, Jesus, nichts als Jesus«; »Helft mir Gott's Güte preisen«), der Contrapunct bewegt sich zuviel in reizlosen gebrochenen Accorden; unter den letzten vier (»Wir glauben all«, noch zweimal; »Christ lag in Todesbanden«; »Vom Himmel hoch da komm ich her«) tritt einmal die Melodie im Basse auf, hier ganz besonders auch in der Art der Contrapunctirung an Pachelbel erinnernd, doch geht es nicht ohne einige Härten ab. Am gelungensten ist wohl das Weihnachtslied, wo zu dem im Tenor auftretenden und durchaus geschickt geführten Chorale eine jubilirende Oberstimme sich auf- und abschwingt. Ein Freund seines Sohnes lobte seine Arbeiten mit den Worten, sie seien nicht schwer, aber doch ganz fein29. Auch gab es dergleichen von ihm, wo zur Darstellung [25] des Cantus firmus ein anderes Instrument zugezogen war, ein Verfahren, welches mehrfache Anwendung in jener Zeit fand, aber nicht von feinem Geschmacke zeugt30. Eine besondere Begabung für die betreffende Gattung verrathen aber die Orchestersuiten, oder wie man sie damals nach ihrem Anfangs-Stücke auch zu benennen pflegte, die »Ouverturen«. Die Handschriften, in welchen sie erhalten sind, stammen wenigstens zum größten Theile mit Sicherheit aus Seb. Bachs Hinterlassenschaft, zu dreien von ihnen hat er eigenhändig den größten Theil der Stimmen geschrieben und zwar in Leipzig zur Zeit eigner höchster Meisterschaft – ein deutliches Anzeichen für den Werth, welchen er diesen Compositionen beimaß! In den eigentlichen Ouverturen, den einleitenden Stücken dieser Instrumental-Suiten zeigt Bernhard Bach so viel Kraft und Feuer, daß er hinter den besten Opern-Ouverturen jener Zeit, z.B. Händels zum Radamist, Lottis zum Ascanio, nicht zurückbleibt, während er an Geist und Reichthum ihnen voransteht und hier nur durch Sebastian Bach selbst übertroffen wird. Die durchweg vorzüglichste der Suiten ist diejenige aus G moll, für concertirende Violine, Violine 1 und 2 ripieni, Viola, Continuo; das Fugenthema der Ouverture


 

2.


 

stimmt merkwürdiger Weise fast genau überein mit dem Anfang von Sebastian Bachs Flötensonate in H moll31; es wird durch 142 Takte ausgeführt und mit geistreicher Verwebung der Solo-Geige. Im folgenden Air erfreut ein schöner freibewegter Gesang der concertirenden Violine; dem Haupt-Thema des sich anschließenden Rondeau


 

2.


 

2.


 

 

[26] wird man zugestehen, daß es Kopf und Fuß hat. Außer einer Loure und einem Passepied enthält diese Suite noch eine wunderschöne, in der That Sebastians würdige Fantasia, und zwar in einem so flüssigen und gewandten Stile, wie er nur einer voll entwickelten Kunst eigen ist32.

Von Johann Bernhards jüngerem Bruder (geb. 15. Aug. 1685) ist nur zu sagen, daß nach Aegidius Bachs Tode das Amt des Dirigenten der Rathsmusik auf ihn überging, und er dieses im Jahre 1735 noch bekleidete33.

Rasch können wir auch über die beiden letzten Söhne des alten Johann Bach hinweggehen. Der dritte, Johann Jakob (26. April 1650 geb.) scheint kein Musiker gewesen zu sein, und kommt nur noch einmal am 5. Nov. 1686 im Pfarr-Register zum Vorschein. Der letzte, Johann Nikolaus (geb. 1653)34 dagegen war wieder Rathsmusikant und ein sehr guter Gambenspieler; als er mit Sabina Katharina Burgolt die Ehe geschlossen hatte (29. Nov. 1681), und ihm Jahrs darauf ein Sohn geboren wurde (31. Aug. 1682), wählte er sich das Pflegekind seines Vaters, Johann Christoph Hoffmann aus Suhl zum Pathen35. In demselben Jahre starb er aber an der Pest36, und wir haben den letzten Sproß der Johann Bachschen Linie vorgeführt, soweit diese für die Kunstgeschichte in Betracht kommt.

Fußnoten

 

 

III.

 

In den innigsten Beziehungen zu Johann Bach stand sein jüngster Bruder Heinrich, dessen Linie wir uns zunächst zuwenden wollen; der mittlere Bruder Christoph wird uns hernach geraden Weges auf Sebastian Bach hinführen. Heinrich Bach ist dasjenige unter Hans Bachs Kindern, auf welches außer der musikalischen Begabung auch der Charakter des Vaters, das heitere und harmlose Gemüth, übergegangen ist. Es kann darum leicht gedacht werden, daß er ein besonderer Liebling des Alten war, der ihn sorgfältig, soweit es in den Verhältnissen lag, und in frommer Weise, wie uns besonders gerühmt wird, erziehen ließ1. Sein erster Lehrer in der Instrumental-Musik war natürlich der Vater selbst, und der Knabe war hierin, d.h. also im Violinspiel, ein gelehriger Schüler. Mehr aber lockte ihn schon damals der mächtige Orgelklang, den er freilich in der Dorfkirche seiner Heimath nicht hören konnte, denn Wechmar erhielt ein kleines Orgel-Werk erst im Jahre 16522. Wenn es dann Sonntag wurde, so entlief der Kleine nicht selten in eine der herumliegenden Ortschaften, wie Wandersleben, Mühlberg, ja vielleicht gar Gotha, um sein Ohr an den erhabenen Tönen zu sättigen. Es mußte ihm Gelegenheit zu weiterer Ausbildung gegeben werden, und hierfür zu sorgen ward der älteste Bruder Johann ausersehen. Wo und wann dieselbe erfolgte, ist nicht ganz sicher zu bestimmen, erinnert man sich an das, was über Johann Bachs frühere Aufenthaltsorte erzählt ist, so wird man auf Schweinfurt und Suhl geführt, hier paßt auch die Zeit, da Heinrich am 16. Sept. 1615 geboren war, und demnach seine musikalischen Lehrjahre etwa von 1627–1632 fallen müssen. In Schweinfurt litten die Brüder sehr durch die Kriegsnoth, die Folgen des Restitutions-Edicts trieben sie aus der Stadt, und so mögen im Jahre 1629 beide nach Suhl gegangen sein. Als der ältere dann 1635 nach Erfurt übersiedelte, zog Heinrich mit ihm und spielte in der Raths-Compagnie, bis er im September 1641 endlich die Stelle [28] erhielt, welche seinen Neigungen und Fähigkeiten am meisten entsprach. Er wurde Organist in Arnstadt, und hatte diesen Posten über 50 Jahre inne bis zu seinem am 10. Juli 1692 erfolgten Tod3. Sobald er sich in dem neuen Amte orientirt hatte, sann er darauf, einen eignen Hausstand zu gründen, und wie er bislang sich an den ältern Bruder angeschlossen hatte, so führte er nun auch die jüngere Schwester von dessen erster Gattin als Weib heim. Sie hieß Eva und war 1616 geboren, die Vermählung fand in dem seiner Anstellung folgenden Jahre statt4. Zu dem ersten Sohne, Johann Christoph (geb. 8. Dec. 1642) wählte er seine beiden Brüder zu Pathen. Es gehörte Muth dazu in jenen Zeiten zu heirathen, nicht nur weil oft genug der Mann weder sich noch Weib und Kinder vor den Gewaltthätigkeiten einer gänzlich verwilderten Soldateska schützen konnte, sondern weil allzuhäufig nicht abzusehen war, woher nur die nöthigsten Subsistenz-Mittel kommen sollten. Nicht lange währte es, so klopfte denn auch die bittre Noth an Heinrich Bachs bescheidenes Häuschen. Als Besoldung waren ihm 52 Fl. und 5 Fl.5 Hauszins freilich angewiesen, aber damit hatte er sie noch lange nicht in Händen. Die kleinen Regierungen, sämmtlich durch den Krieg arg mitgenommen, hatten selber kein Geld, konnten also auch ihren Untergebenen nichts zukommen lassen. Allgemein ist in jener Zeit die Klage um rückständigen Gehalt. Bachs Vorgänger im Amte, Christoph Klemsee, hatte sogar einmal mehre hunderte von Thalern zu fordern. Dabei mußten trotzdem Kriegscontributionen gezahlt werden, und wenn grade die rechte Horde einfiel, so war man selbst seiner Kleider auf dem Leibe nicht sicher6. Es mußte schon schlimm kommen, ehe der anspruchslose Mann sich entschloß, bei den Grafen [29] von Schwarzburg deshalb als Bittsteller zu erscheinen. Er wußte aber im August 1644, wie er sagt, »aus sonderlicher Schickung des lieben Gottes« nicht mehr das Brod für sich und seine kleine Familie zu finden, da die zugesagte Besoldung ihm schon über ein Jahr nicht gezahlt war, und er alles vorher erhaltene, um seine eignen Worte anzuwenden, »sich fast mit weinenden Augen hatte erbitten müssen«7. Es wäre ganz unbegreiflich, wie er überhaupt nur bis dahin hätte existiren können, wenn man nicht annehmen müßte, daß er ein kleines Grundstück besessen, durch dessen Bebauung er sich allenfalls vom Hungertode retten konnte. Etwas Ackerbau wurde stets und wird auch noch im Thüringischen von den Lehrern, Cantoren und Organisten nebenher betrieben. Dazu kamen einige Naturallieferungen, die gegen Ende des dreißigjährigen Krieges um so leichter einflossen, als es sowohl an Käufern wie an Geld fehlte – waren doch zwei Drittel der Bevölkerung vernichtet! Von den jungen Grafen erging nun sofort ein ernster Befehl, dem Bach aus der Noth zu helfen und ihm zu weiterer Klage keine Veranlassung zu geben, der Verwalter der betreffenden Casse aber reichte seine Entlassung ein, indem er bemerkte, er habe während der 13 Jahre seines Amtes mehr Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen müssen, als der geringste Dienstbote. Wie groß die Gefahr war, unter diesen Verhältnissen in ein dissolutes Leben zu verfallen, sieht ein jeder, und der schon erwähnte Vorgänger Bachs war ihm durch sittenlose Lebensführung, die das strengste Einschreiten der Behörde nöthig machte, mit einem schlechten Beispiele vorangegangen8. Um so höher ist es anzuschlagen, daß nicht das allergeringste vorhanden ist, was einen Schatten auf sein Leben werfen könnte; dies erscheint von einer so unschuldsvollen Einfalt, daß das Auge nur mit dem innigsten Gefallen darauf ruht.

Wenn über dem Grabe Heinrich Bachs Johann Gottfried Olearius warmen Herzens und in Ausdrücken, die von gutmüthiger Schönrederei [30] weit entfernt sind, die musterhafte Frömmigkeit des Gestorbenen rühmte, und wir dieses Urtheil, soweit für uns noch eine Prüfung möglich ist, bestätigen müssen, so wird gleichwohl bei flüchtiger Betrachtung nur den wenigsten sofort klar sein, was damit in Wahrheit gesagt ist. Der Werth einer solchen Gesinnung ist den Zeiten nach verschieden; es kann Verhältnisse geben, wo ein frommer Mann genannt zu werden als gar kein so bedeutendes Verdienst erscheint. Aber es giebt auch Zeiten, wo die Frömmigkeit der einzige Hort für die idealen Güter der Menschheit ist, und die alleinige Bürgschaft für einen im Grunde liegenden unversehrten Kern menschlicher Natur. Einen solchen Abschnitt erlebte das deutsche Volk in den letzten Jahren des dreißigjährigen Krieges und nach demselben. Die große Masse vegetirte in dumpfer Gleichgültigkeit weiter, oder ergab sich einem rohen, sittenlosen Genußleben, die wenigen, welche der Muth zu existiren noch nicht ganz verlassen hatte, richteten, als alle realen Lebensgüter durch ein furchtbares Schicksal rings um sie her zermalmt waren, den Blick über die allgemeine Verwüstung hinweg auf das, was ihnen ewig und unvergänglich erschien und fanden Trost und Erhebung in dem Gedanken, daß alles Thun und Leiden der Menschen in der Hand Gottes ruhe. So hegten sie still in sich den Keim, aus welchem Deutschland zu seiner Wiederbelebung neue Kraft saugen sollte, und man kann auch hier die Bemerkung machen, wie von der Religion die Cultur ausgeht. Der erste Schritt zur geistigen Freiheit geschah auf religiösem Gebiet durch Spener und dessen Anhänger, aus dem Pietismus erwuchs das erste Werk wissenschaftlicher Geschichtsschreibung. An der Religion entwickelte sich, da auf dem Boden des reinen Gefühlslebens keine äußeren Hindernisse zu überwinden waren, die Musik in kaum einem Jahrhundert zu einer Höhe, welche wie keine zweite Erscheinung den unzerstörbaren, in unmeßbare Tiefen gegründeten Lebenskern des deutschen Volkes untrüglich bewiesen hat. Und wenn die Neigung zur instrumentalen Musik mit ihrem unsinnlichen Ideale uns im allgemeinen tief im Wesen steckt, so begreift man, weshalb es dieses Mal grade die Orgelkunst sein mußte, die zuerst machtvoll emportrieb, und warum alles, was auch in vocaler Richtung der deutschen Musik damals zu leisten möglich war, sich nur auf jene stützen konnte. Wer aber in jener Zeit durch seine Lebenslage in Verbindung mit der Religion stand, [31] oder – was bei den Menschen, deren Schicksale uns hier interessiren, gleichbedeutend ist – im Dienste der Kirche sich befand, den dürfen wir vor andern bevorzugt nennen. Und wer in einer solchen Stellung jenen idealen Schatz in schlichter, treuherziger Frömmigkeit in sich nährte, den müssen wir schon aus diesem Grunde als einen Träger der Cultur bezeichnen. Heinrich Bach hatte das Glück, unvergeßliche Eindrücke aus seiner Kindheit zu besitzen, in welcher durch eine fromme Erziehung seine eigne Neigung zur Musik der Kirche gekräftigt war, und wie lebendig dieselben noch in späten Jahren in ihm waren, geht aus den Worten des Begräbnißpredigers hervor, welcher den Bericht über seine Knabenzeit doch aus keiner andern Quelle haben konnte, als aus der Erzählung des Greises allein. Darum begreift man den Schrecken desselben, als er einst vor das Consistorium citirt wurde, weil bei einer kleinen Festlichkeit, die er in Folge eines Baues seinen Zimmerleuten gegeben hatte, über das »Vaterunser« gelacht und gespottet sein sollte: er betheuerte hoch und bei Gott, daß er davon nichts gehört noch gewußt habe, und in der That stand ihm wohl nichts so fern, als eine solche Blasphemie9. Ein einfach schöner Zug ist es auch, daß er wenn irgend möglich nie versäumte einer Leiche, sie mochte noch so arm und niedrigen Standes sein, seinerseits das letzte Geleit zu geben10. Freundliches und hülfreiches Wesen war ihm in dem Maße eigen, daß es niemanden in der Stadt gab, der ihm etwas anderes, als »liebes und gutes« nachzusagen wußte. Bei dem großen Rufe, den er als musikalische Autorität genoß, hatte er auch die Aspiranten auf die Organisten-Plätze der Grafschaft zu prüfen und ein Urtheil über sie abzugeben. Als im Jahre 1681 ein neuer Organist in Rockhausen angestellt werden sollte, und dieser sich vor ihm producirt hatte, äußerte er sich: was das Orgelspiel des Candidaten betreffe, so sei er hierin für die Besoldung gut genug. Zu gutmüthig, um den vielleicht recht armseligen Spieler an der Erreichung seines Zieles zu hindern, hielt er doch einen leisen Spott über die geringe Besoldung nicht zurück – er wußte aus eigner Erfahrung ein Klagelied über die schwarzburg-arnstädtischen [32] Gehalte zu singen11. Daß er den fröhlichen Sinn seines Vaters geerbt hatte, ist schon früher gesagt, und es war dies ein so hervorstechender Zug seines Charakters, daß nach 100 Jahren noch Philipp Emanuel Bach von seinem »muntern Geiste« zu sagen wußte12. Vielerlei Ungemach hatte ihn während seines langen Lebens betroffen, besonders in der Kriegszeit, und auch später noch in seiner Familie und schließlich an der eignen Gesundheit, er hatte jedoch stets den Kopf oben behalten, den Dingen die beste Seite abzugewinnen gewußt, und sich seinen Frohsinn bewahrt.

Aber es lohnte das Geschick einem so trefflichen und liebenswürdigen Charakter auch mit Gütern, die bei seiner Naturanlage ihm das Leben zu einem vorzugsweise glücklichen machen mußten. Aus einer mehr als 37jährigen einträchtigen Ehe erwuchsen ihm sechs Kinder, darunter talentvolle, ja genial begabte Söhne, deren musikalische Ausbildung ihm Genuß sein mußte. Der älteste Sohn, von allen weit der bedeutendste, ist schon angeführt; ein zweiter, Johannes Matthäus (3. Jan. 1645), überlebte sein zweites Lebensjahr nicht. Es folgten Johann Michael (9. August 1648) und Johann Günther (17. Juli 1653). Auch die letzteren wurden bald tüchtige Orgelspieler und konnten, wenn es galt, den Vater im Amte vertreten. Als der Erstgeborne, Johann Christoph, nach Eisenach berufen war und 1668 die älteste Tochter, Maria Katharina (geb. 17. März 1651) sich mit Christoph Herthum, Organisten in Ebeleben bei Sondershausen vermählt hatte, zog es den Vater wohl oftmals zu seinen auswärtigen Kindern, und Michael und Günther mußten inzwischen den Orgeldienst versehen. Dem Grafen Ludwig Günther schien jedoch dieses Arrangement, was sicher nicht die geringste Störung brachte, zu eigenmächtig, und als im Jahre 1670 die einigermaßen heruntergekommene sonntägliche Chormusik wieder mehr gehoben und in Schwung gebracht werden sollte, indem unter Direction des Cantor Heindorff auf jeden Sonntag eine besondere musikalische Uebungsstunde angesetzt wurde, in welcher Bach zu accompagniren hatte, ließ er bei Gelegenheit der Anzeige hiervon ihm eine solche Selbständigkeit [33] verbieten13. Im Jahre 1672 begegnet uns eine Eingabe des bescheidenen Künstlers: er habe gehört, daß sein Vorgänger neben seinem Gehalte einige Maß Korn geliefert bekommen habe; seine eignen Neben-Einnahmen seien sehr gering, noch fühle er sich freilich gesund, aber das Alter nahe doch: er bäte daher um eine ähnliche Vergünstigung. Er hatte 31 Jahre lang gedient, ehe er nur daran dachte, das für sich zu beanspruchen, was man seinem unwürdigen Vorgänger gegeben hatte, und was er nun natürlich, als Mann von 57 Jahren, auch erhielt. Dann arbeitete er wieder rüstig in seinem Amte weiter, und wurde es ihm einmal sauer, so half der jüngste Sohn – denn Michael war mittlerweile auch davon gezogen – diesmal aber mit Vorwissen des Grafen. Nach zehn Jahren war er ein Greis geworden, die treue Gattin war gestorben (21. Mai 1679), die Glieder wurden schwach und die Finger steif. Nun erbat er sich (9. Nov. 1682) den Sohn zum wirklichen Substituten, der »seine Kunst ohne eitlen Ruhm so erlernt, daß er verhoffentlich dem lieben Gott und seiner Kirche darin wohl dienen, auch gnädiger Herrschaft, Hohen und Niedrigen, ja der ganzen Bürgerschaft damit aufwarten« könne. Dies wurde gewährt und froh über die feste Anstellung feierte Günther drei Wochen darauf seine Hochzeit mit Anna Margaretha, Tochter des vormaligen Bürgermeisters Krül in Arnstadt. Aber der Tod entriß am 8. April des folgenden Jahres dem alten Vater die Stütze und der jungen Frau ihren Gatten; Bach mußte wieder allein auf der Orgelbank sitzen, und es war einsam um ihn her geworden. Doch hatte sich inzwischen sein Schwiegersohn Herthum in Arnstadt niedergelassen, und verband mit seinem Amte als gräflicher Küchenschreiber den Dienst an der Orgel der Schloßcapelle, wogegen Bach, wie bisher, in der Barfüßer- und Liebfrauen-Kirche fungirte. Er hatte seit 1683 den Greis ganz in sein im Lengwitzer Viertel gelegenes Haus14 aufgenommen, verrichtete den Dienst erst theilweise, dann ganz für ihn, und suchte mit seinen Kindern dessen alte Tage zu erleichtern und zu erheitern; Sebastian Bachs ältester, von Erfurt herübergekommener [34] Bruder unterstützte ihn zeitweilig. Noch einmal vergingen zehn Jahre, und nun wandte der Siebenundsiebzigjährige sich mit seiner letzten Bitte an den Grafen Anton Günther: er sei über 50 Jahre dort Organist gewesen, und erwarte nunmehr eines seligen Endes von Gott; er habe noch keine (derartige) Bitte an den Grafen gerichtet, es werde ihm eine Freude und ein Trost sein, wenn noch vor seinem Ende seinem Schwiegersohne die Zusicherung der Nachfolge im Amte gemacht werde. Er war bereits erblindet, mit zitterndverzogenen Buchstaben steht sein Name und Charakter unter dem Briefe. Aber auch jetzt noch war sein Geist hell und rege und seine Enkel mußten ihm die Bibel vorlesen. Am 14. Jan. 1692 hatte er die letzte, sofort erfüllte Bitte gethan15, am 10. Juli starb er. Von seinen Kindern waren nur Christoph und Michael noch am Leben, auch die beiden Töchter waren dem Vater schon vorangegangen; aber 28 Enkel und selbst Urenkel folgten dem Sarge, und die ganze Bürgerschaft betrauerte ihn. Es wird dem aufmerksamen Leser nicht entgangen sein, daß Bach in seinem Schreiben von 1682 seine Kunst nicht nur in den Dienst des Hofes, sondern der gesammten Gemeinde, von Arm und Reich gestellt wissen will.

Sein eigentliches Instrument war die Orgel, und wenn er hier und da noch Stadt-Musikant dazu genannt wird, so hat dies nach seinen eignen schriftlichen Aeußerungen, sowie nach allen sonst vorliegenden Nachrichten nur die Bedeutung, daß ihm das Recht zustand, auch in der städtischen Musik-Zunft mitzuwirken und sich dadurch eine Erwerbsquelle zu öffnen. Auch hatte er als Mitglied der gräflichen Capelle seinen Dienst bei Hofe, und mag dort den Platz am Cembalo eingenommen haben. Von dem Grade und der Art seiner virtuosen Fertigkeit jetzt noch eine nähere Anschauung zu gewinnen, ist nicht möglich, da sehr wenig von seinen Compositionen erhalten ist, und die allgemeine Bewunderung seiner Zeitgenossen sich nur in unbestimmten Ausdrücken bewegt. Einer der bedeutendsten Orgelspieler seiner Zeit war er jedenfalls. Doch verdankt er seinen Ruhm zuverlässig auch einer ausgedehnten Thätigkeit als Tonsetzer, und wenn Olearius in der Leichenrede von Heinrich [35] Bachs Chorälen, Motetten, Concerten, Fugen, Praeludien redet, so umfaßt er damit ziemlich alle in der kirchlichen Musik jener Zeit gebräuchlichen Kunstformen. In diese ergoß Bach seinen frischen, kindlich-frohen Sinn, jenen »munteren Geist«, den noch Philipp Emanuel Bach an seinen Compositionen zu loben wußte. Eins seiner beliebtesten Werke war ein kirchliches Tonstück, welchem der Psalmspruch: »repleatur os meum laude tua« zu Grunde lag, so daß Olearius noch an seinem Sarge hieran erinnern konnte. Wenn derselbe Redner sagt, daß Bach in seinen Compositionen »dero Final erst bei dero Endigung gewiß gefunden, zu selbigem aber vorhero alles abgesehen und gerichtet« habe, so läßt sich dies zwar allgemein so verstehen, daß der Künstler in planvoller Anlage seine Werke gegen das Ende hin wirksam zu steigern vermocht habe. Doch darf man auch wohl einen Hinweis auf reichere Gliederung der Kunstmittel und lebendigen Wortausdruck darin finden, Elemente, die, besonders durch Heinrich Schütz aus Italien nach Deutschland verpflanzt, der protestantisch-kirchlichen Musik des ganzen 17. Jahrhunderts ihr überwiegendes Gepräge aufdrückten. Andrerseits aber erscheint Bach in einem uns erhaltenen Orgelstücke über den Choral: »Christ lag in Todesbanden«16 vollständig vertraut mit Charakter und Forderungen der alten Schule. Obgleich selbständig für Orgel gedacht, unterwirft sich doch diese Choralbearbeitung den strengen Gesetzen vocaler Stimmführung, und weiß mit Verständniß, im vorletzten Takte sogar etwas absichtsvoll, das Auszeichnende der dorischen Tonart hervorzuheben. Es muß erwähnt werden, daß unserm Meister zu Studien der altkirchlichen Tonwerke in Arnstadt eine nicht gewöhnliche Gelegenheit gegeben war, da die dortige Kirchenbibliothek in einer Reihe von Folianten Compositionen von Orlando Lasso, Philippus de Monte, Alardus Nuceus, Franciscus Guerrerus, L. SenflsLiber selectarum cantionum von 1520 und anderes besaß, welche Schätze zum Theil durch Schenkung des Grafen Günther des Streitbaren dorthin gelangt waren, und noch jetzt sich daselbst befinden. Dagegen legen freilich [36] die in der Arnstädter Chorbibliothek vorhandenen mannigfachen Compositionen Andreas Hammerschmidts, welche Spuren reichlichen Gebrauchs tragen, Zeugniß ab, daß man ebenso der neuen Richtung Rechnung zu tragen wußte. Heinrich Bach hat in seinem bescheidenen Sinne vielleicht nie an Veröffentlichung seiner Compositionen gedacht. So müssen wir uns fast nur auf Vermuthungen über seine künstlerische Art beschränken, die jedoch eine Befestigung durch den Hinblick auf seine Söhne erhalten, deren vorzüglicher, wenn nicht einziger Lehrmeister der Vater war, und über deren Werken ein etwas günstigeres Schicksal gewaltet hat.

 

Es sind nur Joh. Christoph und Joh. Michael, mit denen wir uns werden beschäftigen müssen, denn über Johann Günther ist außer dem, was schon mitgetheilt wurde, nichts weiter bekannt geworden. Beide waren sich, wenn auch nicht gleich an Talent, so doch ähnlich an Charakter: Michaels stiller, nach Innen gekehrter Sinn wird uns aus mitlebendem Munde bezeugt, und wenn sein älterer Bruder trotz hoher Begabung und großer Kunstfertigkeit sowohl seiner Zeit wie der Nachwelt fast unbekannt blieb, so verschmähte er es eben gänzlich, seine Vorzüge geltend zu machen, ja war vielleicht selbst sich ihrer nicht völlig bewußt. Höchst wenig ist es, was wir über dessen äußere Lebensschicksale mitzutheilen haben. Daß er zum Zweck seiner Ausbildung fremde Kunststätten aufgesucht habe, ist ganz unwahrscheinlich: aus eignen Mitteln konnte er das schwerlich unternehmen, zu einer Unterstützung von Seiten der schwarzburgischen Grafen waren die Zeiten nicht angethan, auch finden wir ihn schon mit 23 Jahren in einer festen amtlichen Stellung, und endlich zog ihn seine Neigung sicherlich nicht in die Ferne. Kernig und ursprünglich, wie das ganze Bachsche Geschlecht war, hat es keinen hervorragenderen Musiker, einschließlich Seb. Bachs und dessen Generation, hervorgebracht, der zu seiner Ausbildung Italien besucht oder die Unterweisung eines fremdländischen Meisters genossen hätte; strebsam und emsig suchten sie sich stets mit den neuen Erscheinungen und Kunstrichtungen vertraut zu machen, aber sie zogen sie in sich hinein, ohne sich ihnen hinzugeben. Hätte sich unter Joh. Christoph Bachs älteren Verwandten ein seinen Fähigkeiten entsprechender Lehrer gefunden, so würde wohl in dessen Hände seine Unterweisung gelegt worden sein; allein in jener Zeit war sein Vater als Orgelspieler [37] wie als Componist sicherlich der bedeutendste des Geschlechts, und ihm zunächst wird der Sohn Können und Richtung verdanken. Im Jahre 1665 als Organist an die Eisenacher Kirchen berufen17, ist er in dieser Stellung bis an das Ende seines mehr als 60jährigen Lebens verblieben. Unter den Gotteshäusern, an welchen er den Dienst zu verrichten hatte, war das hauptsächlichste die St. Georgenkirche, deren Orgel jedoch hinfällig oder aus andern Gründen ungenügend gewesen sein muß, denn sie wurde vier Jahre nach Bachs Tode durch eine neue ersetzt von vier bis ins 3. reichenden Manualen, einem bis zum ē sich erstreckenden Pedale und 58 Stimmen18. Ob und wann er auch Hoforganist war, ist nicht mit Bestimmtheit zu sagen; jedenfalls bekleidete diesen Posten von 1677 bis 1678 Joh. Pachelbel. Bach vermählte sich am 23. Trinitatis-Sonntage 1667 mit Maria Elisabeth Wedemann, deren Vater Stadtschreiber in Arnstadt war. Dieser Ehe verdankten sieben Kinder das Leben, unter ihnen vier Söhne: Johann Nikolaus (10. Oct. 1669), Joh. Christoph (27. Aug. 1674), Joh. Friedrich und Joh. Michael19. Von 1696 an hatte er freie Wohnung im fürstlichen Münzgebäude, wo ihm sieben Wohnräume nebst Boden und zwei Ställen zur Verfügung gestellt waren, ein für seine und damalige Verhältnisse ziemlich ansehnliches Local20. [38] Er starb am 31. März 1703; sein Nachfolger im Amt wurde, wie schon erwähnt ist, der Erfurter Bernhard Bach21.

Des jüngern Bruders Michael Jugend verlief zuversichtlich genau so, wie die des Erstgebornen: er genoß die Unterweisung seines Vaters und ging demselben, als er es vermochte, in der Erfüllung seiner Dienstleistungen zur Hand. 1673 wurde die Organistenstelle in Gehren bei Arnstadt vacant; Johann Effler, der mit ihr bis dahin betraut gewesen war, und sehr tüchtig gewesen sein muß, denn man machte große Anstrengungen, ihn zu halten, zog davon, um an der Predigerkirche in Erfurt den Platz des verstorbenen Johann Bach einzunehmen. Michael legte am 5. Oct. daselbst seine Orgelprobe ab, und befriedigte den Pfarrer und die Rathsverordneten so, daß sie der gräflichen Herrschaft ihren besondern Dank ausdrückten, weil sie »die Gemeine und Kirche mit einem stillen, eingezogenen und kunsterfahrenen Subjecto« versehen wolle. Zugleich wurde er Gemeindeschreiber und erhielt dafür eine jährliche Remuneration von 10 Gülden. Sein Einkommen giebt er 1686 selbst an auf 72 Gülden, 18 Klafter Holz, 5 Maß Korn, 9 Maß Gerste frei zu brauen, 31/2 Eimer Bier und einige sonstige Kleinigkeiten der Art, dazu etwas Ackerland und freie Wohnung. Das Haus, was ihm hierzu diente, steht noch jetzt, und ist zur Zeit Wohnung des Diaconus22. Neben der Erfüllung seiner Dienstpflichten und seiner Thätigkeit als Componist erübrigte er noch Zeit sich dem Instrumentenbau zu widmen, hierin das Vorbild und vielleicht auch der Lehrer seines Neffen Nikolaus. Wir finden ihn im November des Jahres 1686 damit beschäftigt, für den Kammerrath Wentzing in Arnstadt mehre Clavichorde herzustellen23, und eine Geige seiner Fabrikation befand sich im Anfange dieses Jahrhunderts im Besitze des Geometer Schneider in Gehren, welcher sie an Albert Methfessel schenkte, der sich, ein geborner Thüringer, damals [39] in Rudolstadt aufhielt24. Da der Bruder Christoph die ältere Tochter des Stadtschreibers Wedemann geheirathet hatte, so war es nach Bachscher Anschauungsweise natürlich, daß Michael sich die jüngere, Katharina, erwählte. Sie reichte ihm ihre Hand am dritten Weihnachtstage 1675 und schenkte ihm während achtzehnjähriger Ehe fünf Töchter, von denen die jüngste Sebastian Bachs erste Gattin werden sollte, und einen Sohn, Namens Gottfried (geb. 20. März 1690), zu dem er seinen Vetter, den Stadtpfeifer Joh. Christoph Bach aus Arnstadt, zum Pathen wählte. Der Knabe starb jedoch schon im nächsten Jahre, und den Vater selbst raffte in seinen besten Mannesjahren ein frühzeitiger Tod im Mai 1694 dahin.

Fußnoten

 

 

IV.

 

In der Verfolgung der neuen musikalischen Richtung, welche etwa um das Jahr 1600 von Italien her zuerst sichtbar wurde und in Deutschland bald lebhafte Anhänger und sehr talentvolle Fortbildner fand, hatte der verheerende Krieg die Deutschen empfindlichst gestört. Zwar jene Künstler, deren Lebenswurzeln noch in die kraftvolle vorhergehende Periode hinabreichten, fuhren auch während des Krieges fort zu schaffen, ja entwickelten wohl gar in den schlimmsten Zeiten die allergrößte Thätigkeit, äußerlich zuweilen hart bedrängt, aber innerlich unversehrt. Auch was in dem ersten Decennium der Unglücksjahre geboren wurde, konnte noch aus einer wenngleich angegriffenen so doch nicht überbürdeten Volkskraft Nahrung ziehen. Allein innerhalb der letzten fünfzehn Jahre der Kriegszeit und auch noch eine Weile darüber hinaus lag das deutsche Land in völliger Erschöpfung darnieder, geistig und körperlich trat scheinbar ein Stillstand ein, und durch den ganzen Zeitraum etwa von 1650 bis 1675, in welchem die junge Saat jener Zeit schon hätte ihre Früchte tragen können, sehen wir auf musikalischem Gebiete fast nur ältere Meister thätig, keinen frischen und vollen Nachwuchs. Erst nachher hat man den Eindruck, daß auch die Kunst sich allgemeiner wieder aufrichtet und suchend und tastend ihren Weg fortsetzt.

Johann Christophs und Johann Michaels Geburtsjahre fallen genau in die genannte Periode der Ermattung. Und da ist es fast wunderbar, [40] und für ihr Geschlecht tief bedeutsam, daß die allgemeinen Zeichen der Zeit an ihnen beinahe gar nicht wahrzunehmen sind. Beide zeigen eine Tiefe und Frische der Begabung, die sie zu einer einzigen Erscheinung in ihrer Art machen dürften. Daß ein solches Unberührtbleiben von den Einflüssen der Kriegs-Drangsale, der Gräuel, der allgemeinen Entartung möglich war, ruft mit Nothwendigkeit den Rückschluß hervor auf ein Geschlecht von größter Gesundheit, auf eine Familie von tüchtigster Sittlichkeit. Eben diese muß auch die Heranwachsenden in dem ideal- und haltlosen Leben jener Tage ohne Wanken gestützt, schirmend stets umgeben und so erzogen haben, daß, als sie ins selbständige Leben entlassen wurden, sittlich und künstlerisch kein Abfall mehr möglich war. Ihre Mitgift war der ins Innere gerichtete beschauliche Sinn, der sie auf die tiefsten Regungen eines unverdorbenen Gemüths lauschen und auf die reinen Bilder einer ungetrübten Phantasie schauen ließ, und der ihr musikalisches Schaffen ebenso kennzeichnet, wie später das Sebastian Bachs. Wie Heinrich Bach in der einfachen Frömmigkeit seiner kindlichen Seele ein Stück jener geheimnißvollen Kraft hegte, welche dem zerknickten Volke zu neuem Leben verhelfen sollte, so kann man auch bei diesen beiden Persönlichkeiten sagen, daß dasjenige, was in ihnen künstlerische Gestalt gewann, als ringsumher alles todt und öde lag, das bessere Selbst der deutschen Nation war. Hierin liegt nun auch die Geschichte ihrer Werke vorgezeichnet und der Grund beschlossen, warum man späterhin ihre Compositionen so bald, und die des größten von beiden am raschesten vergaß. Als die deutsche Kunstentwickelung eine Generation hindurch stockte, waren andre Völker, zumal die Italiäner, rüstig fortgeschritten, und hatten um eben so viel früher den Gipfel erreicht. Die neugekräftigten Deutschen sahen eine Kunstblüthe vor und über sich, die sie nach deutschem Triebe sich zu eigen zu machen und für sich auszunutzen trachteten. Mit dem, was hinter ihnen lag, hatten sie die unmittelbare Fühlung verloren; so eilten sie vorwärts neuen Idealen nach. Eigen und tragisch waltet die Weltgeschichte! Damit die höchste Kunsthöhe jener Epoche von zwei deutschen Meistern erklommen werden konnte, mußte ihr Volk zeitweilig in todähnlicher Erstarrung liegen, mußten andere es überflügeln, um hernach alles errungene ihnen zur Benutzung darbieten zu können; diejenigen aber die ungeschwächt [41] in dem Siechthum aller sich behaupteten und im reinen Gefäß den köstlichsten Inhalt deutschen Wesens bargen und hegten, über sie rollt das Rad hinweg und tilgt ihre Spur, und bald fragt keiner nach ihnen mehr.

Doch nicht für immer sollen sie vergessen sein. Nicht nur als Vorfahren Sebastian Bachs haben sie für uns Bedeutung, ihr absoluter künstlerischer Werth ist groß genug, um ihnen aus eignem Verdienst einen Ehrenplatz in der Kunstgeschichte anzuweisen. Die Gleichgültigkeit hat freilich den größten Theil ihrer Werke zu Grunde gehen lassen; dies ist besonders für Michael Bach zu beklagen, dessen Stärke vorwiegend im Instrumentalen gelegen haben muß, und von allen derartigen Productionen sind nur noch geringe Trümmer übrig, während Vocal-Compositionen in etwas reichlicherer Anzahl erhalten sind, in denen schon nach der Aussage der nachfolgenden Generation Johann Christoph seine ganze Kraft entfaltet hat. Doch darf man, auch abgesehen von diesem Mißverhältnisse, aus allgemeinern Gesichtspunkten dem letztern unbedenklich das größere Talent zusprechen. Seine Werke sind von einer Bedeutsamkeit und Vollendung, die den, welcher sich mit dem damaligen, unsicher tastenden Kunstschaffen vertraut gemacht hat, befremdend berühren muß, wenn er sich nicht die eigenartige Stellung des Meisters zu seiner Zeit klar gemacht hat. Ein rastloser Fleiß und großes technisches Geschick muß sich hier mit einer tief und stark empfindenden musikalischen Natur verbunden haben, die in ihrer Einsamkeit die Ideale älterer Künstler selbständig weiter bildete, unbekümmert um Beachtung oder Nichtbeachtung der Welt, und fast noch mehr ein Vorläufer Händels als Seb. Bachs genannt zu werden verdiente, wenn nicht ein Zug schwärmerischer Innigkeit die Stammesverwandtschaft mit letzterem sprechend bewiese.

Heinrich Schütz hatte im dritten Theile seiner Symphoniae sacrae und Andreas Hammerschmidt besonders in den beiden Theilen seiner »Musikalischen Gespräche über die Evangelia« um die Mitte des Jahrhunderts eine Kunstform angebaut, welche für die Entwicklung einiger Hauptzweige der damaligen Kunst von größter Bedeutung sein und schließlich vorzugsweise im Händelschen Oratorium gipfeln sollte, wenngleich auch Seb. Bachs Kirchenmusik Nahrung aus derselben gezogen hat. Es ist dies die poetisch-musikalische [42] Gestaltung abgeschlossener biblischer Vorgänge, entstanden durch theilweise Anregung der damals in Italien sich entwickelnden dramatischen Kunstform und mit Anlehnung an die Form des sogenannten geistlichen Concerts. Die Art, das Bibelwort zu behandeln, war hier bald dramatisirend, so daß die Reden verschiedener Personen auch verschiedenen Stimmen zugetheilt wurden, bald chorisch erzählend oder auch betrachtend, wie denn zumal Hammerschmidt mit Vorliebe Strophen protestantischer Kirchenlieder einflocht. Sie wollten den betreffenden Vorgang durch die der Musik gegebenen Mittel möglichst anschaulich machen; ausdrucksvolle Declamation, charakteristisches Instrumentenspiel, besonders aber ein Streben nach Erfindung von Tongestalten, die in allgemeiner Anlage wie in besonderer Ausführung den behandelten Ereignissen musikalisch analog waren, kamen hinzu, um die Phantasie zu lebendiger Reproduction zu reizen. Da es nicht Aufgabe des Oratoriums ist, wirklich dramatisch zu sein, sondern nur, den in einer Begebenheit liegenden Stimmungsgehalt musikalisch zu entbinden, so ist es bei Schütz und Hammerschmidt principiell schon ganz so vorgebildet, wie es sich bei Händel und in der Bachschen Passion vollenden sollte. Wenn jedoch nahezu noch ein Jahrhundert verging bis zu dieser höchsten Blüthe, so liegt der Grund hiefür zu einem Theile in der erwähnten Entkräftung, welche das deutsche Volk in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts befiel. Während zu der Zeit in Italien schon ganz bedeutende oratorische Schöpfungen entstehen konnten, wie z.B. Allessandris »Santa Francesca Romana«, fanden die genannten deutschen Meister, wie es scheint, sehr wenige Talente, die auf ihren Pfaden erfolgreich weiter zu wandeln vermochten, und ganz sicher war, daß, wer es konnte, vorläufig nur für sich selbst arbeitete. Auch von Johann Christoph Bach besitzen wir nur ein einziges Werk dieser Gattung, dasselbe ragt aber dermaßen über die Leistungen seiner Vorgänger hinaus und aus der Umgebung seiner Zeit hervor, daß es allein schon seinen Schöpfer auf eine imponirende Künstlerhöhe hebt. Es ist ein Tonbild über den mystischen Kampf zwischen dem Erzengel Michael und dem Teufel, dem die Worte der Offenbarung Johannis 12, 7–12 zu Grunde gelegt sind: »Es erhob sich ein Streit im Himmel. Michael und seine Engel stritten mit dem Drachen, und der Drache stritt und seine Engel, und siegeten nicht. Auch ward [43] ihre Stätte nicht mehr funden im Himmel. Und es ward ausgeworfen der große Drach, die alte Schlange, die da heißet der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführet; und ward geworfen auf die Erden und seine Engel wurden auch dahin geworfen. – Und ich hörete eine große Stimme, die sprach im Himmel: Nun ist das Heil und die Kraft und das Reich und die Macht unsers Gottes seines Christus worden; weil der verworfen ist, der sie verklaget Tag und Nacht für Gott. Und sie haben ihn überwunden durch des Lammes Blut, und durch das Wort ihrer Zeugniß, und haben ihr Leben nicht geliebet bis an den Tod. Darum freuet euch, ihr Himmel und die darinnen wohnen.« Bach hat, um dieser kühnen und großartigen Schilderung gerecht zu werden, Tonmittel aufgeboten, die nicht nur für die damalige Zeit außergewöhnlich zu nennen sind: zwei fünfstimmige Chöre, zwei Violinen, vier Bratschen, Fagott, vier Trompeten, Pauken, Bass und Orgel werden verwendet. Sologesang fehlt natürlich, doch treten einige Male die Bässe choranführend heraus. Eine Sonata der Instrumente, ohne Trompeten und Pauken, leitet ein, die nach damals beliebter und an die französische Ouverture mahnender Weise auf breitgelagerte Accordgänge im geraden Takt ein imitatorisch bewegteres Zeitmaß im 3/4 Takt folgen läßt. Dann schweigen alle Instrumente; nur durch die Orgel gestützt beginnen die beiden Bässe des ersten Chors canonisch ihren mehr declamatorischen als melodischen Gesang:


 

4.


 

[44] vom 17. Takte an gesellt sich in dumpfen Viertelschlägen auf Tonika und Dominante die Pauke hinzu, vier Takte später eine Trompete mit einem wie von fern her tönenden Schlachtsignal, eine zweite antwortet, eine dritte, das Getümmel wächst an, es ist als sähe man aus allen Himmelsgegenden streitbare Schaaren heranziehen, jetzt schmettert endlich die vierte Trompete hinein, und nun prallen beide Chöre wie feindliche Heeresmassen an einander. Der Schall sämmtlicher Instrumente und der Orgel gießt sich brausend darüber her, aus dem dichtesten Haufen heraus ruft Trompetenklang in wirbelnden Sechzehntelgängen, herausfordernd und entweichend in sinnverwirrendem, rastlosem Doppelcanon. Man glaubt mit Schlachtgetöse den unermeßlichen Himmelsraum sich anfüllen zu sehen; es bildet sich eine Tonsäule, welche nahezu das ganze klingende Gebiet vom großen bis zum dreigestrichenen C harmonisch ausfüllt, und, mit einer ganz kurzen Ausnahme am Anfang, nicht weniger als sechzig Takte hindurch unbeweglich auf dem C dur-Dreiklange ruht: nur rhythmisch bewegt fluthen die kämpfenden Chöre heran und zurück, auf keiner Seite wollen die harmonischen Fugen nachgeben. Aber endlich legt sich der kriegerische Lärm und triumphirend treten die Chöre mit den Worten: »und siegeten nicht« hinüber auf die Dominante. Ein energisches, sorgfältig gestaltetes Fugato des ersten Chors schließt sich an: »auch ward ihre Stätte nicht mehr funden«; nach der Sitte dieser Zeit, der auch noch Seb. Bach treu blieb, führen die Geigen über dem Soprane den Bau selbständig bis zur Siebenstimmigkeit weiter. Von breiten Harmonien der Instrumente getragen, führt ein Bassmotiv:


 

4.


 

die Schilderung fort, der sich aber bald wieder die gesammte Chormasse bemächtigt und in allmähligem malerischen Niedersinken das Hinabstürzen des Satanas aus dem Himmel versinnlicht. Nun folgt in straffen marschartigen Rhythmen eine Siegessymphonie der Instrumente, und nach derselben folgender neue großartige Aufschwung des Chores:


 

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[47] Die Worte der »großen Stimme« giebt der Meister mit der vollen Pracht sämmtlicher Tonmittel, wie es der oratorische Stil erfordert, welcher vor allem den vollen musikalischen Gehalt des Textes entfesseln muß, ehe er dramatisirende Rücksichten nehmen darf. Das Tonwerk breitet sich hiernach noch durch mehre Abschnitte aus, unter denen die Stelle: »und haben ihr Leben nicht geliebet bis in den Tod« durch Innigkeit und charakteristische Zeichnung besonders ergreift, und schließt mit einem jubelnden Triumphgesang der alternirenden Chöre. Auch dadurch kennzeichnet es sich als oratorienhafte Schöpfung, daß bei aller Plastik und Lebendigkeit der Schilderung [48] doch die größte modulatorische und harmonische Ruhe darin herrscht: nicht das fessellos strömende, sondern das einen festen Gegenstand umfluthende Gefühl kommt zur Aussprache; ein Umstand, der sich als principieller Unterschied auch zwischen Sebastian Bachs und Händels Werke legt. Insofern nun die meisten Kirchencomponisten am Ausgange des 17. Jahrhunderts auch in ihren rein lyrischen Chorsätzen jene harmonische Simplicität aufweisen, haben dieselben auch in diesen als Vorläufer Händels zu gelten, während Seb. Bach zu seinem Chorstile auf anderm Wege, durch das Mittel der Instrumentalmusik kam. Dem vorliegenden Werke würde vielleicht etwas größere modulatorische Mannigfaltigkeit gar nicht einmal nachtheilig geworden sein; dient das reichliche Verwenden des C dur-Dreiklangs mit den nächstverwandten Harmonien auch schildernden Zwecken, und heben sich einige überraschende Ausweichungen dann auch um so mächtiger hervor, wie die großartige Wendung vom C dur- nach dem B dur-Dreiklange über den Worten: »der die ganze Welt verführet«, so verlangt doch besonders am Schlusse das Ohr nach einem mehr aus der Tiefe hervordringenden Harmonienstrome, besonders einer energischeren Verwendung der Unter-Dominante. Aber es wäre auch die ganze Anlage des Werkes nicht so geworden, wie sie ist, hätte nicht Bach nach einem sehr bestimmt und deutlich gezeichneten Vorbilde Hammerschmidts gearbeitet. Dieser hat in seinem »Andern Theil geistlicher Gespräche über die Evangelia« Nr. XXVI (Dresden, 1656) dieselben Bibelworte für sechsstimmigen Chor mit Trompeten, Zinken und Orgel gesetzt, und der Gedanke, den Kampf in der lange fest gehaltenen Dreiklangs-Harmonie von C dur sich austoben zu lassen, hat ihn zum eigentlichen Erfinder; auch in der musikalischen Darstellung des Sturzes aus dem Himmel und in dem langaushallenden C dur des Schlusses ist die Originalität bei dem älteren Meister. Aber die Erfindungskraft und der Geist, mit welchem Bach das überlieferte Gebilde ausgestaltete, und den schlichten Carton zum großen Frescobilde umschuf, zeigt ihn seinem nicht zu unterschätzenden Vorgänger so überlegen, wie wir es ohne die Thatsache dieser Nachbildung zu erkennen gar nicht im Stande sein würden. Wir dürfen uns nicht auf die Einzelheiten einer höchst interessanten Vergleichung einlassen; doch sei daran erinnert, wie auch hier eine Analogie hervortritt zwischen Joh. [49] Christoph Bach und Händel, der gleichfalls Tonwerke, durch welche er angeregt wurde, in directer Weise weiter zu bilden keinen Anstand nahm1. Es konnte nicht fehlen, daß eine so gewaltige Tonschöpfung trotz des geringen Verständnisses, welches im allgemeinen Mit- und Nachwelt für Joh. Christoph Bach hatte, doch manchem offenen Künstlergemüthe imponirte. Georg Philipp Telemann lernte sie offenbar kennen, als er 1708–1711 Concert- und Capellmeister in Eisenach war, und versuchte in einer jedenfalls aus dieser Zeit stammenden Cantate zum Michaelisfeste einen ähnlichen Flug; allein da sein Talent für das Großartige wenig ergiebig war, so bleibt er auch hier im Alltäglichen sitzen, oder bringt es mit der krampfhaften, stimm- und chorwidrigen Gesangsbehandlung, die ihm in seinen frühern Werken eigen ist, nur zur Carricatur. Groß aber war die Bewunderung, welche der Meister in der nachlebenden Generation seines Geschlechtes fand. Sebastian Bach, der auch sonst seinem Oheim künstlerisch verpflichtet ist, hielt grade dies Chorstück besonders hoch und brachte es noch in Leipzig zur öffentlichen Aufführung. Unverkennbar ist auch die Anregung, die er aus ihm für das eigne Tonbild gleichen poetischen Gegenstandes gewann, welches den Anfang einer seiner größten Cantaten bildet2. Aber es tritt an demselben auch der durchgreifende Unterschied der Auffassung hervor: Sebastian steht überwiegend auf dem Boden der reinen Musik, und wenn vor der genialen Urkraft, die aus jenen Tönen redet, auch das Werk des Oheims zurücktreten muß, so behauptet dieses doch grade durch sein oratorisches Gepräge wiederum seine Stellung. Die Bibelworte: »Nun ist das Heil und die Kraft« u.s.w., welche bei Joh. Christoph einen Theil des Ganzen bilden, hat Sebastian einem eignen Doppelchore zu Grunde gelegt3, der nun natürlich keine Vergleichungspunkte mit des ältern Meisters Arbeit zuläßt, und überhaupt unvergleichlich ist, wie sein Schöpfer es war. – Auch Philipp Emanuel, Sebastians Sohn, verehrte den großen und »ausdrückenden« Componisten, wie er Johann Christoph bezeichnend [50] nennt4; er ist es, durch den wir erfahren, daß bei einer Aufführung jenes Chorstückes durch Sebastian Bach in Leipzig alle Welt über die Wirkung erstaunt gewesen sei5. Dies Erstaunen würde wohl heutzutage auch nicht fehlen. –

Ein Werk gleicher Gattung besitzen wir von Michael Bach nicht, doch hat sich ein Tonstück desselben mit Instrumental-Begleitung erhalten, welches rein lyrischer Art ist, und daher geradezu eine Kirchen-Cantate genannt werden kann6. Zu Grunde liegt das zweistrophige Kirchenlied: »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ«, doch ist keinerlei Choral-Melodie für die Composition verwendet, der Componist hat vielmehr die einzelnen Verszeilen mit besonderer Beachtung des jedesmaligen Wort- und Satz-Ausdrucks für sich durchgearbeitet. Ohne sich noch auf eine specielle Würdigung der Musik einzulassen, sieht man doch schon das Unangemessene dieser Form im allgemeinen. Denn diese Behandlungsweise kann nicht da angewendet werden, wo es sich fast ausschließlich um den Ausdruck eines Grundgefühls handelt, welches stromartig das Ganze durchdringen und alle Einzelheiten überfluthen müßte. Das Stück ist halb motettenhaft, halb oratorisch; die rechte Form für solche Aufgaben war eben noch nicht gefunden, und es ist noch mancher daran gescheitert, bis Sebastian Bach die Sache klar machte. Im übrigen ist die Composition voll interessanter Einzelheiten und geistreicher Intentionen; hierin stand Michael seinem ältern Bruder kaum sehr nach, dagegen bedeutend an Sinn für große, plastische Formen. Verwendet sind vierstimmiger Chor, 2 Violinen, 3 Violen, Fagott und Orgel; zur Tonart ist G moll gewählt. Eine einleitende Sonate von 14 Takten, in welcher langsame Tonfolgen mit krausen Figurationen abwechseln, macht einen etwas zerfahrenen Eindruck. Die erste Zeile giebt zu einem Gebilde von 16 Takten Veranlassung, das mit [51] Fermate abschließt; es ist ein leidenschaftlicher Ausdruck in den Ausrufen: »ach bleib! ach bleib!«, die schon im dritten Takt nach Es dur und As dur hinüberdrängen, dann nach G moll zurücksinken, sich wieder erheben und endlich auf der Dur-Parallele ausruhen. Die Worte: »weil es nun Abend worden ist« werden von einem absteigenden, tonleiterartigen Gange getragen, der suchend und abbrechend durch die Stimmen irrt (nicht ohne einige harmonische Härten):


 

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nach 6 Takten schließt wieder eine Fermate auf der Dominante von G moll ab. Nun bringt der Sopran allein mit einem bewegten, stufenweise aufsteigenden Motive die Worte: »dein göttlich Wort das helle Licht«, darüber bauen sich imitirend zwei Geigen, deren erste allmählig bis zu der damals unerhörten Höhe des dreigestrichenen G und A sich emporschwingt, augenscheinlich um den Begriff des hellen Lichtes zu versinnlichen; einfallend schließt der ganze Chor: »laß ja bei uns auslöschen nicht«, und führt dann dasselbe Motiv eine Weile mit den Instrumenten durch, zum Ende nach G dur zurückkehrend. Die zweite Strophe ist ganz analog behandelt; der Alt singt allein die erste Zeile in chromatischen Gängen, wie sie damals zum Ausdruck von Schmerz und Kummer schon sehr beliebt waren:


 

4.


 

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[52] Nach zwei durch Fermaten begränzten Sätzen folgt dann ebenfalls ein freies Fugato mit dem prägnanten Thema:


 

4.


 

An der Fugirung betheiligen sich in selbständiger und geschickter Weise die beiden obersten Streichinstrumente, während an andern Stellen der Cantate, wo dieselben über den Stimmen eigne Gänge auszuführen haben, sie meist recht unbeholfen sich gebärden und durch wunderliche Sprünge fehlerhafte Stimmfortschreitungen vermeiden wollen, – ein weniger Michael Bach als der unfertigen Technik seiner Zeit zuzuschreibender Mangel. Durch häufige Benutzung der großen Sexte erhält das Fugato ein an das Dorische mahnendes Gepräge, was ihm sehr gut ansteht.

Eine ähnliche Unsicherheit in der Formbehandlung zeigt Michael Bach in der Motette. Aber auch dies müssen wir mehr auf Rechnung seiner Zeit schreiben.

Die wesentlichen Gattungs-Merkmale der Motette sind, daß sie mehrstimmig ist, keine obligaten Instrumente zuläßt, und daß ihre Töne über einen Bibelspruch oder Vers eines kirchlichen Liedes gesetzt sind. Daraus folgt, daß ihre Blüthezeit in die erste große Kunst-Periode fällt, die etwa bis 1600 sich erstreckt, wo die Musik wesentlich polyphon, vocal und kirchlich war. Mit der seitdem erfolgten Umgestaltung des polyphonen Systems in das harmonische und dem damit zusammenhängenden raschen Umsichgreifen der Instrumental-Musik, des Strebens nach leidenschaftlicherem, wortgemäßem Tonausdruck und des Einzelgesanges wurde die Motette allmählig der neutrale Boden, auf dem die verschiedensten Richtungen[53] sich ungehindert glaubten bewegen zu dürfen. Wir reden hier vorzugsweise von Deutschland, wo durch Anregung der protestantischen Kirche eine weit buntere Fülle von Formen emportrieb, als in Italien. Heinrich Schütz, sonst ein Hauptvertreter der neuen Schule, hatte in seinen Musicalia ad chorum sacrum die Anforderungen derselben mit den Grundsätzen der alten Richtung zu verschmelzen gesucht (vergl. z.B. Nr. IV: »Verleih uns Frieden gnädiglich«, und Nr. VII: »Viel werden kommen von Morgen und Abend«), aber es konnte doch nicht fehlen, daß das eigentlich polyphone Wesen immer mehr vernachlässigt wurde, und man das, was man so an innerm musikalischen Reichthum einbüßte, durch freiern Schwung der Melodie, lebendigeren Rhythmus und schärfer gewürzte Harmonien zu ersetzen suchte. Um die Anwendung derselben möglich zu machen, mußte man sich der unterstützenden Instrumente bedienen. Dann wurde man aufmerksam auf die Neuheit des so entstehenden Klangkörpers und die Möglichkeit neuer Combinationen, auch manche dem reinen Instrumentalwesen abgelauschte Erscheinungen übertrug man auf die Vocal-Musik. Viele Motetten des 17. Jahrhunderts sind ohne mitgehende Orgel oder andre Instrumente gar nicht denkbar, man sieht dies an der Führung des Basses, welcher nicht selten durch Uebersteigen des Tenors die Harmonie ganz unkenntlich machen würde, wenn nicht ein sechzehnfüßiger Orgelbass hinzukäme, man erkennt es aus dem unbekümmerten Auftreten mancher für den so sehr empfindlichen Organismus reiner Vocal-Musik unerträglichen harmonischen Fortschreitungen, die aber unter dem Rauschen der Orgel und des Orchesters überhört werden, und manche rasche Harmonienwechsel, z.B. freier Eintritt eines achtstimmigen Chores in A dur, nachdem C moll unmittelbar vorhergegangen war, sind ohne feste Stützpunkte unmöglich auszuführen. Häufig genug ist auch die Begleitung der Orgel durch Notirung eines Continuo, oder das Mitgehen andrer Instrumente angedeutet. Wo aber der Charakter einer Motette den lautern Klang menschlicher Stimmen allein zu fordern scheint, merkt man es doch deutlich, daß die Phantasie des Componisten auch mit Tongestalten erfüllt war, auf welche die innere Natur der Vocal-Musik nicht führen konnte. Die dramatisirten biblischen Darstellungen, welche Schütz und Hammerschmidt eingeführt hatten, und die von letzterem mit so großer Vorliebe gepflegte contrastirende [54] Verbindung von Choral und Bibelworten im geistlichen Concerte oder Madrigal werden von der Motette ebenfalls wiedergespiegelt. Ein vierstimmiger Chor ohne Sopran beginnt mit den Worten der Offenbarung Johannis, die man sich von Christus gesagt denken muß: »Siehe ich stehe vor der Thür und klopfe an; so jemand meine Stimme hören wird und die Thür aufthun, zu dem werde ich eingehen« u.s.w. Nachdem er neun Takte gesungen hat, stimmt als Erwiederung darauf der Sopran die Melodie des Weihnachts-Liedes »Vom Himmel hoch« an mit den Worten: »Bis willkommen, du edler Gast, den Sünder nicht verschmähet hast« u.s.w., während dessen der Chor seine Aufforderung fortsetzt. Es hat auch die Contrapunctirung einer Choral-Melodie auf der Orgel unverkennbaren Einfluß auf diese Form geübt, ja sie ist es, durch welche dieselbe allmählig erst zu künstlerischer Vollendung gedeiht, so daß hier die Instrumental-Musik das polyphone Gewebe, was um ihretwillen bei Seite gesetzt war, hundert Jahre später aus eignen Mitteln wieder herbeibringt. Aber noch complicirteren Dramatisirungen fügt sich die Motette. Eine doppelchörige Composition, die etwa um die Wende des 17. Jahrhunderts entstanden sein muß, liegt mir handschriftlich vor ohne Nennung des Componisten. Zu Anfang fragen sich die Chöre wechselsweise mit den Worten der Sulamith: »Habt ihr nicht gesehen, den meine Seele liebet?«, dann geht der zweite Chor in den Choral über: »Hast du denn Jesu dein Angesicht gänzlich verborgen«, der erste aber führt seine Fragen daneben und zwischen den Zeilenpausen fort, in welche nach Beendigung der Choralstrophe auch der zweite wieder einstimmt. »Da ich ein wenig vorüberkam«, erzählt nun der zweite Chor, und der erste, ohne Sopran, wiederholt dies,


 

4.


 

setzt mit jauchzenden Intervallenschritten der Sopran ein, »den meine Seele liebet!« beide Chöre bemächtigen sich rasch zufassend dieses Ausrufs, führen ihn in freudig erregter Cadenz zu Ende, und wie erfüllt von seliger Gewißheit tritt der zweite Chor wieder mit der Choralstrophe auf: »Fahr hin, o Erde, du schönes, doch schnödes [55] Gebäude, fahr hin, o Wollust, du süße, doch zeitliche Freude«; der erste Chor dazu: »ich halt ihn, ich halt ihn und will ihn nicht lassen!« und so zuletzt in breiter Harmonieentfaltung beide vereint. Eine andere Motette stimmt an poetischem Gegenstand und theilweiser Anlage mit einem dramatisirten Kirchenstücke Hammerschmidts überein, und könnte wohl durch dieses angeregt sein. Es ist der Dialog zwischen dem Engel und den Hirten in der Christnacht (Hammerschmidt, musikalische Gespräche, 1. Theil, Nr. 5). Der genannte Meister läßt den Engel in Begleitung von Orgel und zwei kleinen Zinken das freudige Ereigniß von Christi Geburt verkündigen, was der Hirtenchor mit seinen Freudenausrufen unterbricht, dann erhalten die Hirten den Auftrag nach Bethlehem zu gehen, wo angekommen sie mit den Worten des Lutherliedes »Merk auf, mein Herz, und sieh dort hin« das Jesuskind bewundern, immer unterbrochen durch den ermunternden Zuruf des Engels, und mit dem Gesange »Ehre sei Gott in der Höhe« schließen. Der Motetten-Componist läßt den staunenden Hirtenchor beginnen: »Ach Gott, was für ein heller Glanz er schreckt uns arme Hirten ganz«, dazwischen tritt die helle Sopranstimme des Engels: »fürchtet euch nicht«, und fährt fort mit anschließendem, nun lebhaft an Hammerschmidt erinnerndem Jubelrufe des Chors:


 

4.


 

Engel und Chor alterniren noch eine Weile mit einander, und vereinigen sich dann in einem lebhaften Fugato: »die allem Volk widerfahren wird«, bis mit einem arienhaften 3/4 Takt: »Denn euch ist heute der Heiland geboren« abgeschlossen wird. Daß dem Chor im Verlauf ganz unbekümmert und unverändert die Worte des Engels in den Mund gelegt werden, ist oratorisch stilgemäß, da es nur darauf ankommt, die Begebenheit in den äußersten Umrissen anzudeuten,[56] dann tritt sofort die Musik in ihr uneingeschränktes Recht7. – Endlich bemächtigt sich die Motette auch des Chorals in der Weise, daß sie die Melodie der einzelnen Zeilen auseinanderdehnt, zwischen verschiedenen Chören und Stimmen vertheilt oder wiederholt, einzelne Glieder variationenhaft umspielt oder zu kleinen Imitationen benutzt und so Schritt vor Schritt das Ganze durchnimmt. Hammerschmidt hat im »Vierten Theil musikalischer Andachten geistlicher Motetten und Concerte« (Freiberg, Georg Beuther, 1646) unter Nr. XXII die letzte Strophe des Liedes »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« in dieser Weise doppelchörig und zwar vortrefflich behandelt; durch Beigabe eines bezifferten Continuo, welcher sich streng der tiefsten Stimme anschließt, ist das Mitgehen der Orgel ausdrücklich gestattet. Die ersten beiden Zeilen trägt zunächst der erste, höhere Chor vor (3/1 Takt), die zweite schon imitatorisch um einen Takt verlängert, der andere, aus tiefern Stimmen bestehende, nimmt sie auf, reckt aber die zweite Zeile aus den ursprünglichen vier Takten durch Imitationen zu achten aus einander; dann werfen die Chöre die erste Zeile mehre Male einander zu, indem sie in andre Tonarten ausweichen, wiederholen die zweite und vereinigen sich achtstimmig und abschließend auf der dritten. Der ganze Abschnitt wird, genau wie im Kirchenliede, repetirt. Dann hebt der zweite Abschnitt mit den Worten an: »Amen, Amen! Komm, du schöne Freudenkrone« u.s.w., noch reicher und lebendiger gestaltet, und mit breiter Pracht über der letzten Zeile einherfluthend in kunstreicher und wirkungsvoller achtstimmiger Führung, wie sie von der Mitte des Jahrhunderts an bei den deutschen Componisten immer seltener wird8. Fügen wir nun noch an, daß die Componisten zuweilen [57] auch eine mehrstimmige geistliche Arie der Motette als Schlußsatz anhängten, ja daß selbst Hammerschmidt einmal eine Sammlung von ein- und zweistimmigen Gesängen mit Begleitung Motetten nannte, so wird unser Ausspruch von einem Tummelplatze der verschiedenartigsten Richtungen begründet erscheinen. Dadurch war aber die Form der Motette eine sehr unsichere geworden, und als im Anfange des 18. Jahrhunderts sich die Begriffe von Oper, Oratorium, Kirchen-Cantate feststellten und die Orgelkunst zur vollen Entwicklung gekommen war, verloren sich ihre Gattungsmerkmale fast ganz. Sie fristete ein phrasenhaftes Scheinleben, aufgeputzt durch weitere Anleihen bei der Instrumentalmusik und Kirchen-Cantate, floß auch zuweilen ganz mit der geistlichen Arie zusammen. Hätten die Componisten noch etwas mit dieser Form zu machen verstanden, so war dazu grade in Thüringen Gelegenheit, wo die Chöre der Currente-Sänger eine Lebensfähigkeit bis in unser Jahrhundert bewiesen haben und wo man die eigentliche Pflegstätte der Motette auch dann noch zu finden glaubte, als der musikalische Vorwitz sie schon als einen überwundenen Standpunkt verspotten zu dürfen wähnte9. Hier wurde auch der selbständige zwei- und dreistimmige Sologesang in die Motette eingeführt. Aber ihre Zeit war gewesen. Nur Sebastian Bach brachte noch etwas ganz eignes und gewaltiges in dieser Gattung hervor, jedoch kann man die volle Großartigkeit seiner Motetten nur mit Instrumental- besonders Orgel-Begleitung würdigen; ohne eine solche erscheinen sie nur bei einer ganz virtuosenhaften Ausführung nicht stilwidrig.

Von den Motetten Michael Bachs waren zwölf zusammen zu bringen. Vieles, was sein Großneffe Philipp Emanuel noch an mehr- und einstimmigen geistlichen Arien besaß, ist bis jetzt nicht wieder ans Licht gekommen, dagegen ließen sich fünf Stücke finden, die Philipp Emanuel fremd waren10. Von ihnen sind nur zwei ohne [58] Choral. Die eine: »Sei nun wieder zufrieden, meine Seele« (A moll 4.) ist doppelchörig mit Orgelbegleitung11, und gehört zu den weniger gelungenen Werken des Tonsetzers. Eine Anzahl geistvoller Einzelheiten kann nicht täuschen über die musikalische Planlosigkeit und Unruhe des Ganzen, und nicht entschädigen für die Eintönigkeit einer consequent festgehaltenen Homophonie. Bach ist seinem Texte Satz für Satz nachgegangen. Dies Verfahren war bei der polyphonen Compositionsweise früherer Jahrhunderte erträglich, wo die kunstvolle Verschlingung selbständiger oder einander nachahmender Stimmen die Kunstforderung der Einheit in der Mannigfaltigkeit mehr im Nebeneinander, als im Nacheinander befriedigte. Je homophoner aber eine Composition wird, desto mehr muß sie durch Ebenmaß in Ausdehnung der Tongruppen und Bedachtsein auf den innern Zusammenhang der Tonarten dem nach Verbindung und Harmonie der Perioden verlangenden Gefühle entgegenkommen, zumal bei einem rein lyrischen Inhalte wie der vorliegende. Die Zerfahrenheit des Baues verdirbt natürlich auch die edle, ergebne Grundstimmung, welche der Componist dem Ganzen offenbar hat geben wollen. Ueber dieselben Worte hat Hammerschmidt (vierter Theil musikalischer Andachten Nr. IV) ein viel kunstgerechteres Gebilde zu schaffen gewußt, an dessen Schluß Bach einmal erinnert, und das ihm sicherlich auch bekannt war. – Eine zweite, sechsstimmige Motette in D dur 4. ist zum Neujahrsfeste bestimmt. Die Handschrift, welche sie uns aufbewahrt hat, trägt die Notiz, daß die Stimmen dazu in [59] Es dur geschrieben seien12. Daraus geht hervor, was auch der Charakter des Stücks an sich wahrscheinlich macht, daß sowohl Orgel als begleitende Instrumente, vermuthlich Geigen, mitspielten. Die Orgel differirte um einen halben Ton mit der Stimmung der Instrumente, so daß ihr D dur hier Es dur war. Für den Chor war es natürlich gleichgültig, wie die Stimmen aufgezeichnet waren, da ihm die Tonhöhe, nach welcher er seinen Einsatz bemaß, doch von außen her gegeben wurde, nicht aber für die Instrumente, welche nach damaliger Sitte zugleich mit aus den Stimmblättern der Sänger spielten. Die Construction dieser, von hellem Festglanz durchleuchteten Motette ist einheitlicher. Sie zählt 74 Takte und zerfällt in zwei Hauptabschnitte, deren letzter wiederholt wird und schon dadurch ein Gefühl der Abrundung hervorruft. Contrapunctische Combinationen werden auch hier nicht entfaltet, dagegen sind mit Vorliebe einige hübsche Klangwirkungen angewendet, zunächst der Contrast der hellen nur von einem Tenor unterstützten Sopranstimmen gegen die gesättigte Farbe eines tiefen vierstimmigen Klangkörpers, dann eine wie Harfenaccorde anmuthende und wohl erst durch Mitwirkung der Streichinstrumente zur ganzen Geltung gebrachte Bewegung der obern Stimmen, zu denen tiefere in jubelnden Sechzehntelgängen sich ergehen:


 

4.


 

[60] Der am Schluß auftretende echomäßige Wechsel von forte und piano, ein in den damaligen Motetten übrigens sehr häufiger Effect, verräth die Einwirkung des Orgelstils; durch die Natur der menschlichen Stimme, welche der größten Mannigfaltigkeit von Schattirungen fähig ist, wird er nicht begründet.

Entwickelter sind die zehn mit Chorälen verflochtenen Motetten. Da begegnet uns zunächst ein fünfstimmiges Stück mit Orgel über die Worte aus Hiob: »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt«, wozu nachher im Sopran der Choral tritt: »Christus der ist mein Leben«13. Für diese Gedanken hat Bach ergreifende Töne zu finden gewußt. Die vier tieferen Stimmen haben die ersten 16 Takte des nur 41 Takte im ganzen zählenden Satzes (G dur 4.) allein das Wort, der melodieführende Alt überrascht durch schwärmerisch-innigen Ausdruck, dessen freie Subjectivität dadurch erhöht wird, daß statt zwei Perioden von je zwei Takten, wie sie eine natürlich-einfache Declamation ergeben haben würde, hier drei und drei Takte einander gegenübergestellt sind. Der zu den Worten »und er wird mich hernach aus der Erden wieder auferwecken« so tief empfunden aufsteigende und sich wieder absenkende Gang erinnert an das Schönste, was aus Johann Christophs, des ältern Bruders, Phantasie geflossen ist. Mit dem 17. Takte tritt fast unvermerkt der Choral ein und bewegt sich in halben Noten ruhig über den bewegteren Unterstimmen hin, welche sich besonders in den Pausen mit den Worten »denselben werde ich mir sehen« mehre Male sehnsüchtig erheben. Eine von Michael Bach sehr geliebte harmonische Combination, der Terzquartsext-Accord mit vorgehaltener und sich zögernd auflösender Quarte, kommt hier einige Male zu eindringlicher Verwendung. Von allseitiger Vollendung ist freilich auch dieses Stück noch ziemlich weit entfernt. Den Mittelstimmen fehlt die auch für die homophone Schreibweise unerläßliche melodische Führung, die Tenöre erinnern an die beiden Bratschen in dem damals beliebten fünfstimmigen Geigensatze, welche nur da sind, um die Accorde zu vervollständigen. Unbeholfen [61] ist es, wenn eine Stimme, um einer falschen Fortschreitung auszuweichen, plötzlich einen Vierteltakt pausirt (s. Takt 23): die bemerkte Absicht verstimmt hier um so mehr. Dabei fehlt es doch nicht an Unreinheiten des Satzes; die Quintenfolge Takt 37 zwischen Bass und Tenor II. kann freilich leicht geändert werden, allein derartiges kommt zu oft vor auch bei andern und zwar den angesehensten Componisten der Zeit, z.B. Pachelbel und Erlebach14, als daß zu vermuthen wäre, sie rühre nicht vom Künstler selbst her. Einen Hauptgrund für solche Licenzen haben wir oben angegeben; die nachfolgende Generation befliß sich freilich wieder größerer Strenge, allein bei Entfaltung großer vocaler und instrumentaler Massen waren selbst Händel und Bach mitunter gegen sich nachsichtig. Ein andrer wesentlicher Mangel besteht darin, daß der musikalische Contrast zwischen dem vierstimmigen über die Bibelworte gesetzten Gesange und der Choral-Melodie zu wenig gewahrt ist. Sowie beide Factoren zusammentreten, bleibt ein Gegensatz fast nur in den verschiedenartigen Wortverbindungen erkennbar, die natürlich verschiedene Rhythmisirung fordern, übrigens bilden die Unterstimmen eigentlich nichts als die dürftige accordliche Grundlage für den Choral. Man könnte meinen, es habe dem Künstler vorzugsweise an der poetischen Zweiheit gelegen, die ja allerdings auch schon durch die einfachste Zusammenführung die Stimmung sehr vertiefen kann, indem das am Bibelwort entzündete individuelle Gefühl mit dem kirchlichen Gemeingefühl zusammenströmt. Allein ganz sicher ist diese Annahme nicht; denn wenn auch grade poetische Contraste zur Zeit sehr beliebt waren, so konnte doch die damalige musikalische Technik solche Aufgaben kaum besser lösen. Die contrapunctische Geschicklichkeit war bei den Deutschen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchschnittlich eine geringe, und es ist ein merkwürdiger Irrthum, wenn man die Componisten vor Bach und Händel in gelehrte Künsteleien versunken sich vorstellt, welchen jene beiden Meister erst das wirkliche Leben eingeblasen hätten. In dieser Hinsicht war wenig von ihnen zu lernen. Anders verhielt [62] sich die Sache in Italien, wo die Traditionen der großen Vocal-Meister des 16. Jahrhunderts niemals abrissen, der Uebergang ins neue Tonsystem sehr allmählig erfolgte, und die Bedürfnisse des Cultus wie die Neigung der Nation die unausgesetzte Beschäftigung mit breiten, kunstreichen Vocal-Formen nicht erschlaffen ließ bis über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus. Händel legte den Grund zu seiner contrapunctischen Meisterschaft vor allem hier, Bach gewann sie durch die schon bemerklich aufblühende, aber von ihm zur höchsten Reife gezeitigte Orgelkunst, deren Resultate er dann auf die mit Instrumenten verschmolzene Vocal-Musik übertrug. Wenn schon Johann Christoph Bach in der Choral-Motette etwas ganz vortreffliches leistete, wie wir bald sehen werden, so bezeugt dies eben nur sein alle überragendes Talent. Unter einer sehr reichen Auswahl gleichzeitiger derartiger Compositionen, welche mir vorliegen, ist nicht eine einzige, die es in contrapunctischer Behandlung Michael Bach zuvorthäte, wie denn auch all die übrigen zu rügenden Mängel nicht etwa ihm allein anhaften. Aber der ergreifende Ausdruck, der auch jetzt noch der letztgenannten Motette eine volle Wirkung sichert, gehört ihm eigen. Er war noch kein ganzer Meister, aber ein tief empfindendes, erhabner Ahnungen volles Künstler-Gemüth15.

Reichlicheres Lob noch verdient die Motette: »Das Blut Jesu Christi, des Sohnes Gottes, machet uns rein von allen Sünden« mit Choralvers: »Dein Blut der edle Saft« aus Johann Heermanns Lied: »Wo soll ich fliehen hin«, fünfstimmig (F dur 4., 83 Takte) in gleicher Anlage, wie die vorige16. Der Chor der vier tiefern Stimmen ist weniger syllabirend, contrapunctisch reicher, in den einzelnen Stimmen melodisch fließender; gegen das Ende gesteigerte Erregtheit, [63] und Wiederholen der beiden letzten Choralzeilen, wodurch das Ganze befriedigend gekrönt und abgerundet wird. Motivische Entwicklung, welche dem Chor eine Einheit in sich gäbe, ist freilich auch hier spärlich: der Organismus des Ganzen ist noch nicht zu vollem Leben erwacht. Aber die tiefe Innigkeit der Composition bezwingt doch mit unwiderstehlicher Kraft, über der hindurchleuchtenden schönen Seele vergißt man leicht die Gebrechen des Körpers.

Ein Zeugniß von sinniger künstlerischer Ueberlegung bietet ein über die viel componirten, auch von Wolfgang Briegel zu einer sehr schönen Motette verwendeten, Worte gesetztes fünfstimmiges Tonstück: »Herr, wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde« (B dur 3/4, 125 Takte)17. Zu diesem und dem nachfolgenden Psalmenverse hat Bach fünf Strophen des Kirchenliedes »Ach Gott, wie manches Herzeleid« in der Weise der vorigen Motetten gefügt, und zwar in solcher Auswahl, daß im Verlaufe des Stückes mehr und mehr der poetische wie musikalische Gegensatz zwischen der Ober- und den unteren Stimmen verschwindet, und am Schluß alle sich endlich in die letzte Choralstrophe vereinigen: »Erhalt mein Herz im Glauben rein«. Die vorhergehenden Strophen sind in dieser Reihenfolge geordnet: 13, 5, 6, 15. Der vierstimmige Chor ist zuerst nach Kräften selbständig, energisch declamirend, mit verschiedenen melodischen Wendungen geziert, in einigen höchst ausdrucksvollen Verschlingungen der Mittelstimmen schon jenen ekstatischen Zug andeutend, der in den Choralgesängen Sebastian Bachs oft so überwältigend hervorbricht; auch einige motivische Ausführungen werden versucht. Mit Takt 56 ändert sich die Sache. Es treten die Psalmenworte auf: »wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Theil«; dazu kommt die einfache Paraphrase des Kirchenlieds: »Ob mir gleich Leib und Seel verschmacht, so weißt du, Herr, daß ichs nicht acht« u.s.w. Schon sechs Takte vor dem Einsatz des Chorals beginnen [64] die andern Stimmen den ersten Takt desselben thematisch und wie praeludirend durchzuarbeiten,


 

4.


 

und fahren auch nachher noch mit Imitationen fort. Ein gleiches findet vor dem Eintritt der nun folgenden 15. Strophe statt, dann verschmilzt der Alt in seiner Bewegung sich schon ganz mit dem Choral18, die rhythmische Einheit wird immer größer, bis endlich das Bibelwort ganz verstummt, alles die letzte Gesangstrophe in freudig-beschleunigtem Zeitmaße anstimmt, und so die subjective Empfindung in das allgemeinere Gefühl des Kirchenliedes vollständig einmündet. Hier erfassen wir einen ganz deutlichen Keim Sebastian Bachschen Geistes, ein Vorzeichen von dessen unerschöpflicher Kunst im poetischen Verwenden des Chorals. Die vorbereitenden Imitationen aber des ersten Takts der Melodie sind genau so, wie in Michael Bachs Choral-Bearbeitungen für die Orgel; er hat die dort geübte Praxis bei einem passenden poetischen Anlasse auf die Vocal-Musik übertragen.

Vier doppelchörige Motetten entwickeln sich aus dem mit gleichvertheilten Kräften dargestellten Gegensatze von Choral und Schriftwort. Zwei von ihnen stimmen bis ins Einzelste der Anlage, die dritte mit diesen in allem wesentlichen überein (alle drei E moll 4.). Der tiefere vierstimmige Chor hebt homophon mit dem Bibelspruche an, dann tritt der Choral ein, in dessen Zeilenzwischenräume der zweite Chor immer wieder hineinfällt. So geht es durch zwei Strophen [65] weiter, und zur dritten vereinigen sich beide Chöre in fünf- bis siebenstimmiger Harmonie, aber in der Weise, daß der tiefere die letzten Töne der Zeile nachhallend wiederholt. Die poetische Combination besteht das eine Mal aus Hörnigks Liede: »Mein Wallfahrt ich vollendet hab«, Strophe 1, 3, 6, und den neutestamentlichen Worten: »Dem Menschen ist gesetzt einmal zu sterben, darnach aber das Gericht. Der Tod ist der Sünden Sold, aber die Gabe Gottes ist das ewige Leben in Christo Jesu, unserm Herrn«; das andre Mal aus Strophe 1, 4, 5 von Johann Francks »Jesu meine Freude« und den Sprüchen: »Halte, was du hast, daß Niemand deine Krone nehme, und sei getreu bis in den Tod, so wirst du empfahen ein herrliches Reich und eine schöne Krone von der Hand des Herren«; das dritte Mal endlich aus der 1., 6., 5. Strophe des Flitnerschen Liedes »Ach was soll ich Sünder machen« und den Schriftstellen: »Herr, du lässest mich erfahren viel und große Angst und machest mich wieder lebendig. Der Herr verstößt nicht ewiglich, sondern er betrübet wohl und erbarmet sich wieder nach seiner großen Güte.« Etwas anders ist die vierte beschaffen (C dur 4., 115 Takte). Auch sie hat den erwähnten Gegensatz zum Motiv, aber es wird nur eine Strophe verwendet und späterhin der erste Chor zur Theilnahme an den freierfundenen Gängen des zweiten herbeigezogen, so daß hier, als seltene Ausnahme, die Empfindung vom Kirchlichen in das allgemein Religiöse, vom Objectiven ins Subjective hinübergeführt wird. Und darauf hin ist auch die Stimmung vom Beginne her angelegt. Der rührend schöne Sterbechoral: »Ach wie sehnlich wart ich der Zeit, wenn du, Herr, kommen wirst«, hat es vielleicht nur seines ganz subjectiven Gepräges wegen zu keiner weiteren Verbreitung im Gemeindegesange gebracht. Michael Bach harmonisirt ihn in schlichter, kindlicher, aber unbeschreiblich ergreifender Weise. In der letzten Strophe bricht das persönliche Gefühl in dem todessehnsüchtig wiederholten Seufzer »O komm! o komm! o komm und hole mich!« siegreich durch. Und nun steigern und überbieten sich beide Chöre in den Ausrufen »Herr, ich warte auf dein Heil« und kehren endlich zu der letzten Liedzeile zurück, um in seligem Frieden hinzusterben. Unter allen Motetten Michael Bachs möchte diese die vollendetste sein19.

[66] Ungefähr den umgekehrten Entwicklungsgang nimmt eine andre doppelchörige Motette, weihnachtlichen Inhalts (G dur 4., 73 Takte). Die Chöre concertiren mit den Worten des Engels »Fürchtet euch nicht; siehe, ich verkündige euch große Freude« u.s.w. Nachher vereinigen sich alle Alte, Tenöre und Bässe zu einem geheimnißvoller klingenden vier- oder fünfstimmigen Satze: »Denn euch ist heute der Heiland geboren«, in den endlich, wie hellen Lichtglanz, die Soprane den Choral »Gelobet seist du, Jesu Christ« hineinsenken. Um ihn schaaren sich nun in frischer, wenngleich nicht weitsichtiger Contrapunctirung die andern Stimmen20.

Durch Zerdehnung und Umspielung einer ganzen Choralstrophe mittelst der vollen Chormasse ist die doppelchörige Motette gebildet: »Nun hab ich überwunden« (G dur 4., 92 Takte)21. Daß der Componist Hammerschmidts oben erwähnte Arbeit über »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« gekannt, und sich wohl auch als Vorbild gesetzt habe, ist aus äußern und innern Gründen wahrscheinlich. Hammerschmidts Werke waren sehr verbreitet und, wie schon gesagt, auch in der Chorbibliothek der arnstädtischen Oberkirche vorhanden. Grade dieses Stück trägt außer andern in die Continuo-Stimme mit rother Farbe sorgfältig eingemalten Directions-Bemerkungen auch daran noch die Spuren genauen Studiums, daß die Takte gezählt sind und ihre Summe am Schlusse verzeichnet ist. Im Bau zeigt Bachs Motette besonders durch die wechselseitige Aufnahme der immer in andre Tonarten hinübergeführten Choralverse zwischen den beiden Chören Verwandtschaft mit dem Werke des älteren Meisters; dagegen ist der Schluß ganz abweichend. Wieder ist es die schöne Melodie des Melchior Vulpius zu dem nicht minder innigen Liede: »Christus der ist mein Leben«, welche sich hier Bach mit der dritten [67] Strophe dieses Liedes zur Bearbeitung gewählt hat; das Stück gehört im ganzen und einzelnen zu dem Besten, was von dem talentvollen Tonsetzer erhalten blieb. An der Declamation des Anfangs: Chor I »Nun!« Chor II »Nun«, Chor I »Nun, nun, nun, nun!« Chor II desgleichen, möchte allerdings wohl mancher Anstoß nehmen; diese einzelnen Ausrufe sollen mehr das musikalische Interesse spannen, als den Wortsinn hervorheben, und die damaligen Componisten liebten es sehr, ihre Motetten in dieser Weise zu beginnen22. Eine selige Zuversicht spricht aus den Tönen, die sich zeitweilig zum freudigsten Kampfesmuth steigert, besonders in den energisch abgebrochenen Rufen: »Kreuz! Kreuz, Leiden! Kreuz, Leiden, Angst und Noth!«; man wird an die kühnen Herausforderungen erinnert im fünften Satze von Sebastian Bachs Motette: »Jesu meine Freude!« Wenn die ganze Strophe durchgenommen ist, zieht sich der Doppelchor zum einfachen zusammen, und bringt nun die Melodie als Cantus firmus im Sopran mit ganzen Noten; die andern Stimmen contrapunctiren in künstlicherer Weise, als man es sonst bei Michael Bach gewohnt ist, der Contrapunct zur ersten Zeile ist sogar durch vierfache Verkleinerung der Melodie selbst entwickelt, auch im weiteren wird die Bildung wirklicher Motive versucht, die einander nachahmen.

Es bleibt noch eine letzte, höchst merkwürdige Arbeit zu erwähnen, von allen die äußerlich längste und innerlich mannigfaltigste23. Auch sie ist doppelchörig, aber es sind sechs Stimmen (2 Soprane, Alt, 2 Tenöre, Bass) und drei Stimmen (Alt, Tenor, Bass) einander gegenübergestellt. Der sechsstimmige Chor hebt in C moll 4. von dem Ausspruche: »Unser Leben ist ein Schatten auf Erden« ernst und schwer die ersten beiden Worte an. Nach sechs Takten aber beginnt plötzlich eine unheimliche Hast der Stimmen sich zu bemächtigen: mit einer flüchtigen Figur gleitet der erste Sopran aufwärts:


 

4.


 

 

[68] – Pause, nur gezogene Klagetöne im Alt – dann wieder das unstete Tonbild; nun huscht es gespenstig in einer Mittelstimme dahin – man glaubt wesenlose Wolkenschatten über eine Bergeshalde eilen zu sehen. Da beginnt der ganze Stimmenchor einen irren Wirbeltanz, erst Achtel, dann Sechzehntel und Achtel gemischt, wie wenn der Herbstwind die dürren Blätter emporwirbelt: jetzt tanzen sie ganz in der Höhe, nun tiefer am Boden, dann wieder hoch; dann stockt alles und Grabesklänge tönen dazwischen, wieder gleitet jene geisterhafte Figur vorbei, und wiederum die düstern Traueraccorde.


 

4.


 

4.


 

[69] Wer ahnt in diesem phantastischen Bilde nicht Sebastian Bachs romantischen Geist? – Nun tritt zum ersten Male der andere Chor ein mit der vierten und fünften Strophe des Chorals: »Ach was soll ich Sünder machen«, dessen ruhiger Fluß zweimal von der Zustimmung des ersten Chores unterbrochen wird und dessen psychologisches Resultat in den Worten gipfelt: »und weiß, daß im finstern Grabe Jesus ist mein helles Licht, meinen Jesum laß ich nicht.« Wie zur Bekräftigung dieses Vertrauens ertönen dann im ersten Chore dreistimmig Christi Worte selbst: »Ich bin die Auferstehung und das Leben« in 27 Takten durchgeführt, und ihm entgegnend antwortet der zweite Chor zuversichtlich: »Weil du vom Tod erstanden bist, werd ich im Grab nicht bleiben«, mit Bestätigung unterbrochen vom sechsstimmigen ersten. Wer aber glauben wollte, daß mit dieser befriedigenden Entwicklung die Motette schlösse, würde irren. Zu tief lebte in dem Tonsetzer das düstre Bild allgemeiner menschlicher Hinfälligkeit. So stimmt er denn von neuem in vollen Harmonien den ergreifenden Choral an: »Ach wie nichtig, ach wie flüchtig ist der Menschen Leben!« Und nun kommt ein wunderbarer Schluß:


 

Ach Herr, lehr uns bedenken wohl,

Daß wir sind sterblich allzumal,

Auch wir allhier keins Bleibens han,

Müssen alle davon,

Gelehrt, reich, jung, alt oder schön.


 

Die schwermüthige Melodie führen zwei hochliegende Soprane in Terzen, denen die tiefern Stimmen nachfolgen, und bleiben in dieser schrillen, Mark und Bein durchdringenden Weise drei Zeilen hindurch; mit der vierten fährt schaurige Hast in die Massen, sie drängen [70] sich ängstlich zusammen, wie die Schaaren am Ufer des Acheron – »davon! davon!« murmelt es durch die Reihen, »davon!« klingt es aus der Tiefe, »davon!« hallen im Dunkel verschwindend die beiden Soprane nach. –

Wie fast immer, bleibt auch in dieser Motette Michael Bach in der Ausführung hinter seinen Intentionen nicht selten zurück. Ein andrer seines Geschlechts sollte nach ihm vollenden, was er oft nur undeutlich schaute; doch würde ihm selbst vielleicht noch eine höhere Meisterschaft beschieden sein, wenn er nicht in der Blüthe seines Lebens dem allgemeinen Verhängniß anheim gefallen wäre, dessen Tragik er so tief künstlerisch empfand. Noch aber ist das an dieser Composition sehr merkenswerth, daß sie schon fast ganz auf dem Boden der Kirchen-Cantate steht, sowie umgekehrt desselben Künstlers einzig erhaltene Kirchen-Cantate das Wesen der Motette an sich trägt. Die Kirchen-Cantate entwickelte sich in der That aus einer Zusammensetzung verschiedener Bibelsprüche mit Strophen von kirchlichen oder geistlichen Liedern. Bis zum Jahre 1700 war diese Form die allein herrschende, und es wird später ausführlich erörtert werden, was darin geleistet wurde, bis Sebastian Bach sie zur größten Vollkommenheit entwickelte. Erst nach dem genannten Zeitpunkte fing man an, das Recitativ und die italiänische Arie hineinzuziehen, und wie auch die so bereicherte Cantate Sebastian Bach ihre großartigste Ausbildung verdankt, ist bekannt. Sehr deutlich erkennen wir grade bei Michael Bach, wie die verschiedenartigsten Keime in der Musik der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts neben einander lagen, die bald nach ihren selbständigen Richtungen hin emportreiben sollten. Er war eine von den Erscheinungen, die als Vorboten neuer Kunststadien aufzutreten pflegen, um die etwas schwebt wie Lenzesluft, und die, was sie noch nicht bieten, ersetzen durch das, was sie ahnen lassen.

Dagegen hat der ältere Bruder, Johann Christoph Bach, dem wir schon in der concertirenden Chor- Musik die volle Meisterschaft zuerkennen mußten, auch in der Motette eine Reihe von Grattungsmustern hinterlassen. So wahr eine bedingungslose Vollendung menschenunmöglich ist, so sicher läßt sich die bedingte Meisterschaft daran messen, ob jemand die Summe von Kunst-Ideen und -Werkzeugen, welche das Bedürfniß seiner Zeit geschaffen hat, seinen eignen [71] Kunstideen vollständig zu assimiliren und mit den ewig gültigen Kunstforderungen zu vereinigen vermag. Bei der Motette kam es darauf an, eine Menge gegensätzlicher Momente zur höhern Einheit aufzulösen. Es galt, die instrumentalen Errungenschaften zu verwerthen, aber so zurückhaltend, daß nur ein temperirender Schimmer von ihnen auf die reine Fläche des Vocalkörpers fiel, es galt, sich zum harmonischen Tonsystem zu bekennen, aber mit stetem Bedacht, daß die Form der Motette eigentlich im polyphonen System vergangener Jahrhunderte wurzle, es galt, die Bewegung der Accord-Massen auf den Leitstern der darüber schwebenden Melodie in jedem Augenblicke zu beziehen und doch nicht zu vergessen, daß Stimmen Individuen sind mit der Berechtigung eines selbständigen Ganges. Den musikalischen Plan galt es aufzustellen, welcher mit einer nur vom Gefühl zu prüfenden Logik die einander ablösenden Theile zum vernunftgemäßen Ganzen verwebt, dabei aber dennoch den gedankenmäßigen Forderungen der mitwirkenden Poesie nicht ins Gesicht zu schlagen. Und vor allem war es die Aufgabe, jener subjectiven Wärme und Innigkeit, welche die künstlerische Signatur der Zeit bildet und in der geistlichen Dichtung rührend, wenngleich wenig kräftig hervortrat, auf ihrem eigensten Gebiete den gebührenden Platz zu erobern, ohne doch jene feine und nach den Verhältnissen so flüssige Linie zu überschreiten, welche das individuell Empfundene von dem allgemein Verständlichen absperrt. Alles dies sind Forderungen, die für eine kirchliche Vocal-Composition noch heute in gleichem Umfange gültig sind, damals aber neu waren, und wenn ihre Erfüllung heutzutage theilweise noch schwerer erscheint, da das musikalische Material gewaltig angewachsen ist, und sehr wenigen es gelingt, sich auf so beschränktem Gebiete künstlerisch frei zu bewegen, so ist sie leichter doch wieder nach den Seiten hin, wo sich eine Fülle von Erfahrungen hat sammeln lassen. Daß aber Johann Christoph Bach seine Aufgabe ganz gelöst hat, daran dürfte wohl kein Einsichtiger zweifeln: scheint es uns doch, als könnten seine Motetten gestern componirt worden sein. Er verhält sich hier zu seinem Vorgänger Hammerschmidt ebenso wie in der oratorischen Compositionsgattung, und wie dieser seinerseits sich zu Schütz verhält. Keiner von ihnen wäre ohne seinen Vordermann geworden was er ist, und jeder hat über die Leistungen des andern einen Schritt hinaus gethan, so nämlich, [72] daß in der Motette Johann Christoph Bach den natürlichen Gipfelpunkt erreicht zu haben scheint, den auch Sebastian nur durch einen künstlichen Thurmbau noch zu überragen vermochte, während das Oratorium, die Passion und die Kirchen-Cantate erst eine Generation später ihre Vollendung fanden, dennoch aber Erscheinungen, wie diesen Eisenacher Meister, in ihrer Art zur Voraussetzung haben. Wenn man den großen Künstler nur wenig beachtete und rasch vergaß, so erklärt sich dies daraus, daß die Form der Motette nicht das höchste Kunstziel war, dem der Zeitgeist rasch und mit glücklichem Gelingen nachstrebte. Sie konnte es nicht sein, da sie auf so vielfältigen Compromissen beruhte. Das darf aber die geschichtliche Forschung nicht hindern, ihm den gebührenden Platz in der Kunstentwicklung anzuweisen, den Untergang des größten Theils seiner Compositionen zu beklagen und das wenige Erhaltene als ein echtes Denkmal vaterländischer Kunst in das rechte Licht zu stellen.

In der häufig erwähnten musikalischen Hinterlassenschaft von Sebastian Bachs zweitem Sohne waren sieben Werke von Joh. Christoph Bach vorhanden, oder, da man ein unbekanntes mit ziemlicher Sicherheit ihm ebenfalls zuschreiben kann, acht24. Von ihnen sind vier bis jetzt verloren, hoffentlich nicht für immer25; fünf andre sind auf andrem Wege erhalten und bekannt geworden. Nach Abzug der schon besprochenen oratorischen Composition bleiben acht Motetten übrig, ein noch geringerer Gesammt-Bestand, als bei Johann Michael. Freilich das innere Gewicht ist ein ganz anderes.

Zuerst sind zwei kleinere und einfache Motetten zu betrachten, beide fünfstimmig und aus einem mäßig langen Chor mit einer nachfolgenden mehrstrophigen Arie bestehend26. Der einen liegt als [73] Bibeltext zu Grunde: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt eine kurze Zeit, und ist voller Unruhe« (Hiob 14, 1 und 2), sie gehört in denselben Vorstellungskreis wie Michael Bachs: »Unser Leben ist ein Schatten«, ist weniger phantastisch freilich, aber doch tief stimmungsvoll. Ein müder, trauriger Zug geht durch den 22 Takte langen ersten Abschnitt. Dies der Anfang:


 

4.


 

4.


 

Auf den eigentlichen Motettensatz folgt eine fünfstimmige Arie desselben Charakters, aber von ausdrucksvoller Melodik, deren erste Strophe lautet:


 

Ach wie nichtig,

Ach wie flüchtig

Ist das Leben,

So dem Menschen wird gegeben.

Kaum wenn er zur Welt geboren,

Ist er schon zum Tod erkoren.


 

Die beiden letzten Zeilen werden kehrreimartig am Schlusse jeder der fünf Strophen wiederholt. Indem sich zu Anfang dreimal je zwei Hebungen und Senkungen ablösen, denen der Componist sich eng anschließt, [74] entsteht eine Periode von drei und zwei Takten, sinnreich wird hierdurch der Charakter der Mattigkeit dem Tonstücke aufgeprägt. Den Dichter dieses Liedes, welches natürlich von dem Michael Franckschen »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« ganz verschieden ist, konnte ich nicht ausfindig machen.

Die Worte der Offenbarung Johannis (2, 10): »Sei getreu bis in den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben« bilden für die andere Motette die Grundlage. Sie beginnt breit und zuversichtlich:


 

4.


 

Zu den verheißenden Worten wird die Bewegung lebhafter, am Schluß wiederholt sich der Anfang; der Satz zählt nur 20 Takte. Die nachfolgende Aria: »Halte fest und sei getreu« ist vierstrophig; ihr Anfang klingt absichtlich an den Beginn des ersten Satzes an.

[75] Beide Motetten sind sicherlich frühe Arbeiten Johann Christophs, sie entbehren der großen Züge und des mächtigen Baues, welche den übrigen sechs insgesammt eigen sind, auch zeigt die Stimmführung noch nicht die Gewandtheit und den Fluß, welche der Meister sich später zu erwerben gewußt hat. Aber man fühlt in ihnen die Regungen einer eigenthümlichen, tief schauenden Phantasie, und dieses Geschenk seiner Nationalität hat er nicht nur auf Anregung seines Vaters, sondern ebenso sehr aus eigner Neigung bei den besten Meistern in die Schule geschickt, denn er war, wie wir sahen, schon sehr früh im Amte, und somit auf eigne Füße gestellt. Nicht nur von den beiden hauptsächlichsten deutschen Meistern suchte er zu lernen, sondern er griff weiter auf deren eigne Vorbilder, die Italiäner, zurück. Dies beweist seine neben den Zeitgenossen unvergleichlich größere contrapunctische Gewandtheit, sangbarere Führung der Mittelstimmen, das schöne Ebenmaß seiner melodischen Gedanken, und harmonische Eigenheiten, die direct auf die kirchliche Kunst um 1600 zurückweisen, z.B. die Verbindung stufenweise sich folgender Dreiklänge meistens zu besonders charakteristischen Zwecken, ein Ausdrucksmittel, was Hammerschmidt nicht geliebt zu haben scheint. Wie der Meister selbst uns überliefert hat, ist die eine der sechs großen Motetten: »Lieber Herr Gott, wecke uns auf«, von ihm im Alter von dreißig Jahren componirt27. Sie zeigt schon den Künstler in seiner vollen Reife. Diesen Anfang,


 

4.


 

[76] der mit seiner schön gezeichneten Melodie, seiner vortrefflichen Declamation so ganz den Ausdruck inniger, kindlicher Bitte trifft, konnte kaum ein andrer erfinden. Mit Schütz's Composition der gleichen Worte (Musicalia ad chorum sacrum Nr. XIII) hat Bachs Motette gar keine Aehnlichkeit; gekannt wird er sie freilich haben und auch den Text wohl geradeswegs dorther entnommen, denn dieser ist nicht biblisch, sondern stammt aus irgend einem Kirchengebete, aber die Vermuthung einer Anlehnung ist hier durchaus abzuweisen28. Trotzdem ist es interessant zu sehen, wie der Motettenstil sich innerhalb 25 Jahren entwickelt hat, wie viel geschmeidiger, anmuthvoller alles geworden ist, wie viel bestimmter der Ausdruck, übersichtlicher die Periodisirung und flüssiger der Verlauf des Ganzen. Schütz hält seiner historischen Stellung gemäß noch zum Theil an den Traditionen der vergangenen Zeit fest, besonders auch in der ununterbrochenen Verknüpfung der sich ablösenden Motetten-Gedanken, während Bach, im vollen Besitz des neuen harmonischen Tonsystems, dieses Mittel zur Herstellung der Einheit entbehren kann, und mit festgebildeten Perioden auftritt. Eine solche Anlage muß freilich in einer doppelchörigen Composition um so mehr hervortreten, als diese ja wesentlich auf Responsion der Glieder gestellt ist, und nur an den Höhepunkten sich zur vollen Vielstimmigkeit erweitern soll. Nachdem der zweite Chor die angeführten drei Takte wiederholt hat, tritt ungerades Zeitmaß (3/2) ein, in dem das Tonstück durch vier Gruppen verläuft zu den Worten: »wecke uns auf, | daß wir bereit sein, wenn dein Sohn kommt, | ihn mit Freuden zu empfahen | und dir mit reinem Herzen zu dienen.« | Von ihnen ist die dritte am breitesten ausgeführt, indem durch 35 Takte die Tonmassen zwischen beiden Chören Takt um Takt auf und nieder fluthen, voller Schwung und in prächtiger strömender Bewegung, besonders der Bässe, wo wieder recht der Einfluß der Italiäner zu Tage tritt. Auch die zum geraden Zeitmaß zurückkehrende Schlußfuge durchzieht ein warmer Hauch südlicher Schönheit, die Kühnheit eines hervorragend künstlichen Aufbaus mildernd und vergoldend. Dazu ist sie ein interessantes [77] Beispiel für die aus dem alten System in das neue sich umbildende Fugenform. Das Thema:


 

4.


 

steht, wenn man das Ganze überblickt, offenbar im modernen G dur, die Beantwortung findet aber nicht nach dem Gesetze statt, wonach auf das G im dritten Viertel des ersten Taktes ein D im Gefährten antworten müßte, sondern der Componist läßt in der Weise der alten Schule nachahmen, welche das entscheidende Gewicht auf genaue Correspondenz der einzelnen Intervallenschritte legte, und dafür die Beziehungen zwischen Tonika und Dominante hervorzuheben oft nicht für nöthig hielt. Bach beantwortet sein Thema also nicht:


 

4.


 

sondern:


 

4.


 

also mixolydisch gefärbt; alte und neue Tonart vermischen sich hier zu einer merkwürdigen Tonalität, welche mit ihrem Hang zur Unter-Dominante die ganze Fuge beherrscht. Alt ist ferner die gleich am Anfang eintretende Engführung zwischen den Oberstimmen, die aber hier mit einer Art von Absichtlichkeit bei jedem neuen Einsatze wiederkehrt, wie denn überhaupt das Princip der Engführung in der Fuge erfinderisch ausgebeutet ist. Bloße Unentwickeltheit deuten die mehrfachen vollständigen oder halben Schlüsse an, nach denen die Durcharbeitung von neuem einsetzt; auch die Instrumentalfugen derselben Zeit sind noch mit dieser Unfertigkeit behaftet, und grade in der Entfesselung eines ununterbrochenen Tonstromes in der Fuge durch stets neue unerwartete Einführungen des Themas und motivisch angesponnene Zwischensätze sollte sich erst Sebastian Bachs [78] Genie glorreich bewähren und die denkbar höchsten Forderungen erfüllen. Den kunstvollen Bau unserer Fuge anlangend, so ist das Thema nicht nur auf eine dreifache Engführung, sondern bei der ersten dieser Engführungen (auf dem dritten Viertel des ersten Takts) auch für einen doppelten Contrapunct in der Octave und der Decime angelegt. Um die ganze Fülle der Engführungen zu ermöglichen, hat der Componist jedoch im Verlauf das Thema etwas abgeändert und die melodische Phrase des zweiten Takts um eine Terz herabgesetzt; durch diese beachtenswerthe Spur motivischer Umbildung wird die Erkennbarkeit des Themas nicht beeinträchtigt, und einem großen Reichthum von Combinationen das Thor geöffnet. Dieser beginnt von Takt 12 der Fuge an in immer dichter werdenden Engführungen sich auszubreiten, leuchtet auf in den überraschenden Eintritten des Themas im Contrapunct der Decime, gründet sich fest durch die majestätischen Decimen-Verdopplungen desselben zwischen Bass und Tenor des zweiten Chors und strömt in immer reicheren Harmonien des vollen achtstimmigen Satzes mit dem zwanzigsten Takte einem Halbschlusse auf der Dominante von E moll zu. Sodann wiederholen sich die Stimmeintritte des Anfangs, aber nur scheinbar, weil das motivisch umgebildete Thema hierzu benutzt wird, dies gestattet einen andern Modulationsgang, und so münden die Töne bald wieder in das eben beschriebene große innerliche Crescendo zurück und wiederholen es noch reicher und schließen in breiter Pracht mit dem 34. Takte ab.

Noch von einer zweiten Motette wird uns das Entstehungsjahr angegeben. Es ist die über die Worte der Weisheit Salomonis 4, 7. 10. 11. 13 und 14 componirte: »Der Gerechte, ob er gleich zu zeitig stirbt, ist er doch in der Ruhe« (fünfstimmig, F dur); diese soll nach Philipp Emanuel Bachs Zeugniß aus dem Jahre 1676 stammen und wäre also nur um vier Jahre jünger als die vorige29. Die Beziehungen [79] zur Kunst der Italiäner sind hier noch enger, und das deutliche Anklingen an eine schöne Motette Johann Gabrielis: »Sancta Maria, succurre miseris« dürfte schwerlich ganz zufällig sein. Besonders weist das tonleiterartig aufsteigende Motiv im letzten Satze bei Bach – bei Gabrieli vom 62. Takte an (vergl. auch Takt 37–39) – auf eine wirkliche Verwandtschaft hin, daneben auch Gestaltungen wie Takt 8–20 bei Bach, 24–27 bei Gabrieli, zudem die übereinstimmende Tonart und ähnliche Gesammtstimmung der ganzen Stücke, endlich mit freilich nur geringer selbständiger Beweiskraft, aber doch getragen durch die andern Aehnlichkeiten, der Eintritt der proportio tripla nach dem diminuirten tempus imperfectum bei Gabrieli wie bei Bach30. Daß trotzdem das Werk des deutschen Meisters von hoher Originalität sein kann, bedarf nicht erwähnt zu werden; daß es dies ist, lehrt jede Vergleichung. Ein Geist, der in großen Umrissen zu gestalten versteht, zeigt sich besonders darin, wie Bach die Fülle des Textes zu gliedern gewußt hat; das rundet sich so vollständig ab, und enthält doch einen solchen Reichthum contrastirender Einzelheiten, daß der Gesammteindruck ebenso beruhigend wie belebend ist. Unsäglich schön ist die Stimmung des ersten Abschnitts getroffen, der Glücklichpreisung des Edlen, welcher durch einen frühen Tod allen Kränkungen und Gefahren des »bösen« Lebens entrückt ist und zur ewigen Ruhe gekommen; die abwärts sinkenden Gänge versinnlichen mit der dem Meister eignen Plastik das Hinscheiden »des Gerechten«, aber es ist kein müdes Abfallen, wie das der welken Blume, voll und schwer sinken die Töne herunter, wie Regentropfen im Abendglanz funkelnd sich langsam von den Blättern lösen. Zu dem seligen Frieden dieses ersten Satzes steht der zweite im wirksamen Contrast, der in freudig belebtem Gange anhebt: »er gefällt Gott wohl und ist ihm lieb«, und durch eine Reihe verschiedenartiger Gedanken und Tonbilder unbeirrt hindurchwandelt. Auch [80] hier ist wieder die »ausdrückende« Kraft des Componisten zu bewundern, die den durch die Worte bezeichneten sinnlichen Vorgang so sicher im Tongebild wieder zu spiegeln weiß, wie es hernach nur Händel, und in erhöhtem Maße, gekonnt hat. Man beachte nur den Tonsatz der Worte: »und wird hingerücket« – wie sich das fortschwingt geradeswegs in den Himmel hinein! Und wie sodann die Bosheit und Verkehrtheit der Welt in energischen Harmoniefolgen, Vorhalten und Accentrückungen sich ausprägt, und nach diesem beängstigenden und trüb ausklingenden Harmonienknäuel die hellen Dreiklänge aufblitzen: »Er ist bald vollkommen worden, und hat viel Jahr erfüllet!« Und nun folgt die vollständige Beruhigung des bunten, leidenschaftlichen Drängens im letzten Abschnitt, der breit und gesättigt, ein wahrhaft goldner Strom, dahin zieht. Das ihn ganz beherrschende, kunstreich verarbeitete und mit immer größerer Innigkeit hervorquellende Motiv strebt aus dem Dunkel der Erde in lichte Regionen auf:


 

4.


 

[81] Es ist das dem Gabrieli entlehnte; aber was dort nur musikalische Bedeutung hatte, gewinnt hier – und das ist Bachs Originalität – musikalische und poetische zugleich.

Nimmt man einmal den so dehnbaren Begriff des »Romantischen« in seiner ursprünglichsten Bedeutung und versteht darunter die Mischung von Elementen einer in sich vollendeten Culturperiode mit neuen über ihre Gränzen hinaus nach dunkel geahnten Zielen strebenden Tendenzen, so paßt kein Wort auf Joh. Christoph Bachs Motetten besser, als dieses, ganz besonders auch hinsichtlich der Tonalität. Die alten Kirchentöne vereinigen sich in ihnen zuweilen mit dem modernen Dur- und Moll-System in einer ganz undefinirbaren Weise, und es entsteht eine gebrochene Beleuchtung, ein merkwürdiges Helldunkel, das diese Motetten manchmal als unleugbare Stammverwandte der Schubertschen und Schumannschen Productionen erscheinen läßt. Schon die Schlußfuge der eben besprochenen E moll-Motette mußte in dieser Hinsicht auffallen. Viel mehr aber noch tritt der romantische Zug in zwei andern doppelchörigen Motetten hervor. Die eine derselben hat die Worte des alten Simeon zur Grundlage: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren«31. Als Hauptton ließe sich, mit Rücksicht auf die hervortretendsten Periodenschlüsse, allenfalls der aeolische aufstellen mit plagalischem Anfang und Schluß. Daneben aber ist das Stück so durchaus modern-harmonisch ausgeführt, und rundet sich, cyklisch in den Anfang zurücklaufend, so ganz nach unserm jetzigen Formprincip ab, daß man eben so wohl sagen kann, es weise gar keine Grundtonart auf. Neben den aeolischen Hauptwendungen berühren wiederum sowohl dorische wie mixolydische Klänge das Ohr. Vor allem aber zeigt sich das Schwanken zwischen altem und neuem Tonsystem in der allgemeinen Weise, wie Bach harmonisch fortschreitet. Man muß diesen Ausdruck gebrauchen, da der Componist durch das ganze Stück hindurch mit concertirenden Accordfolgen operirt. Die Erhöhungen und Erniedrigungen einzelner Töne galten den Alten als Accidentia – Zutälligkeiten, welche das Wesen der Tonart nicht weiter beeinträchtigten, während sie bei uns den Charakter derselben theils schwankend machen, theils geradezu verändern, [82] und immer die verwandtschaftlichen Beziehungen eines Accords auf das wesentlichste beeinflussen. Für die alte Anschauungsweise ist es unter Umständen gleichgültig, ob G moll und E dur unmittelbar auf einander folgen, oder G dur und E moll, für uns sind letztere beide Tonarten auf das nächste verwandt, dagegen erstere durch eine Kluft getrennt, die nur große Kühnheit überspringt. Bach erhöht und erniedrigt nun häufig nach alter, construirt aber Accordfolgen nach neuer Manier; hierdurch entstehen manchmal Reihen von Dreiklängen, welche geeignet sind, jedes Gefühl für eine Grundtonart in unserm Sinne aufzuheben. Die Tonwellen heben sich und sinken ab in wunderbar zitternder Beweglichkeit, sie schimmern und glitzern im seltsamsten Farbenspiele der Harmonien; sie gehorchen auch jedem Hauche, und illustriren oft den Wortausdruck durch modulatorische Wendungen von unerhörter Kühnheit, wie man sie bei Componisten der folgenden Generation, selbst bei Sebastian Bach, vergeblich sucht. Nach einem Abschlusse auf dem E dur-Dreiklange befindet sich z.B. Johann Christoph mit zwei Schritten in F dur: E moll-C dur-A moll-F dur, und gleich darauf vermittelst des C dur-Dreiklangs in G dur, ein andermal läßt er achtstimmig auf einander folgen: A dur-B dur-A moll-G dur (Terz-Quart-Sext)-C dur, und sofort weiter: A dur-B dur-F dur-C dur-F dur, womit die Periode abschließt. Ganz erstaunlich ist es, wie man trotzdem nicht das beklemmende Gefühl ziel- und planlosen Umhermodulirens erhält, sondern sich voller Ruhe dem sichern Führer anvertraut. Der Künstler schaut seine Idee im Ganzen mit solcher Klarheit, und gestaltet sie mit solcher Logik, daß man wohl ein träumerisches, duftumflossenes Bild erblickt, aber auch sogleich weiß, es sei eben dies das vom Schöpfer beabsichtigte. Man kann in der That, wenn man andre Stücke Joh. Christophs betrachtet, die eine bestimmt ausgeprägte Dur- oder Moll-Tonart aufweisen, keinen Augenblick zweifeln, daß ihm die Mischung zweier verschiedener Tonsysteme ein Mittel war, dessen er sich zur Erreichung bestimmter Zwecke mit bewußter Ueberlegung bediente. Dies stempelt ihn unbedingt zum Meister, trotzdem daß kein Dutzend seiner Vocal-Compositionen uns mehr erhalten ist. So wußte auch Sebastian Bach, wenngleich schon unter ganz veränderten Verhältnissen, die alten Kirchentöne als ein mächtiges Ausdrucksmittel frei zu handhaben: man denke [83] an die überwältigend großartige Benutzung der mixolydischen Tonart in der Cantate: »Jesu, nun sei gepreiset«32. Wie sehr aber dieses Mittel hier passend ist, wo es gilt, die Stimmung eines Greises, der endlich die sichere Gewähr einer so lange ersehnten rettenden Zeit gefunden hat, und dessen brechendes Auge in das strahlende Morgenroth des neuen Tages blickt, zu erfassen und künstlerisch allgemeingültig zu gestalten, fühlt ein jeder. Mit den Anfangstakten:


 

4.


 

 

lösen sich die Chöre zuerst einander ab, und imitiren darauf einander im Abstand von einem Takte. Sodann folgt eine außerordentlich schöne, zum Theil oben schon erwähnte Stelle:

(das hierher gehörige Notenbeispiel auf der folgenden

Seite.)

aus der sich übrigens auch zu ergeben scheint, daß die Motette mit Instrumentalbegleitung gedacht ist (vielleicht nur einem unterstützenden tiefern Tonwerkzeuge), denn an jenen sich so überschwänglich ausdehnenden F dur-Stellen, wo der Bass des ersten Chors unter das liegende c des zweiten hinunter tritt, dürfte die volle Wirkung schwerlich ohne einen sechzehnfüßigen Instrumentalbass zu erreichen sein. [84] Der weitere Verlauf ist bei der abnormen Beschaffenheit des Tonstücks schwer ohne fortlaufende Beispiele zu schildern, und eine lebensvollere Totalvorstellung, als der Leser sie vielleicht nach dem Gesagten schon gewinnen mag, würde damit doch kaum erreicht. Von überaus milder Majestät ist die langathmige Steigerung: »und


 

4.


 

4.


 

4.


 

[85] zum Preis deines Volks Israel«, die endlich im authentischen aeolischen Ton, wenn man so sagen soll, voll abschließt. Nun aber zeigt sich erst recht die formbildende Kraft des Künstlers. Er bringt zuerst die vollen 34 Takte des Anfangs noch einmal, gelangt so nach C dur, und hebt nun, tief Athem schöpfend, mit dem Anfangsmotiv wieder vom schattigen F dur-Dreiklange an, läßt noch einmal in Imitationen der beiden Chöre den Tonstrom voll hervorquellen, hebt sich zweimal zu dem herbsüßen Nonen-Accorde von D moll, oder wie man ihn damals noch genannt haben würde, da er auf der Terz ruht, Septimenaccorde, einer harmonischen Combination, die damals unter den deutschen Componisten beliebt zu werden anfing, und sinkt leise herab nach A moll, wie das Haupt eines Sterbenden auf die Kissen. Es ist nur wie das brechende Auge, dem beim letzten Blick in die Welt die Bilder verschwimmen und sich vermischen, und wie der letzte in den unendlichen Raum hinausgleitende Seufzer, wenn hiernach die Chöre hinüberschwanken auf den Dur-Dreiklang der Ober-Quinte und so die letzten Rufe: »Herr! Herr!« verschweben, halt- und stofflos, in denselben Tönen, mit denen der Meister das Stück begonnen.

Die andre, an Stimmung und Gestaltung verwandte Motette ist unter allen erhaltenen vielleicht die gewaltigste. Ueber den Worten [86] der Klagelieder Jeremiae 5, 15 und 16: »Unsers Herzens Freude hat ein Ende, unser Reigen ist in Wehklagen verkehret. Die Krone unsers Haupts ist abgefallen. O wehe, daß wir so gesündiget haben!« erhebt sich ein düster-großartiges Tonbild von nicht weniger als 225 Takten langsamer Bewegung. Als Tonart mag man die transponirt-dorische auffassen, welche, ähnlich der vorigen Motette, plagalisch beginnt und schließt. Sebastian Bach hat seine Bewunderung dieses Stücks dadurch an den Tag gelegt, daß er es zum Theil eigenhändig abschrieb33. Der Ausdruck sucht an Mannigfaltigkeit, Energie und ergreifender Innerlichkeit, die Bildung der Tonreihen an kühner Plastik, das Ganze an hoher Formvollendung unter den besten Gattungsbeispielen sicher seines gleichen. Welch eine tiefe Klage tönt aus diesem Anfange!:


 

4.


 

Und weiterhin unter den schmerzlichsten Accenten welch edler Zug der Melodie!:


 

4.


 

[87] Kein anderer Componist jener Zeit hätte im Austönen des Gedankens: »die Krone unsers Haupts ist abgefallen« – wie stolz und königlich hebt sich dies Motiv! –:


 

4.


 

kein andrer hätte einen so langen Athem zu verwenden gehabt, denn 39 Takte werden dadurch ausgefüllt, kein andrer auch so plastisch das stolze Aufstreben und das zerknickte Niedersinken zu zeichnen vermocht. Als Forkel, der begeisterte Verehrer Sebastian Bachs, einst dessen Sohn Philipp Emanuel in Hamburg besuchte, welcher sehr viel auf seines Großoheims Werke hielt, ließ ihn dieser einige derselben hören. »Ich erinnere mich noch sehr lebhaft«, erzählt Forkel, »wie freundlich der damals schon alte Mann bei den merkwürdigsten und gewagtesten Stellen mich anlächelte.« Harmoniefolgen, wie diese:


 

4.


 

[88] waren allerdings auch 100 Jahre nachdem sie gesetzt waren, noch geeignet, Staunen zu erregen; am Ausgange des 17. Jahrhunderts waren sie ganz unerhört. Philipp Emanuel besaß eine um das Jahr 1680 geschriebene und jetzt verlorene Motette, worin Johann Christoph die übermäßige Sexte angewendet hatte, was Forkel mit Recht ein Wagestück nennt34. An sich war der Gebrauch des Intervalls wohl nichts ganz neues mehr, es findet sich schon in Carissimis Oratorium Jephta und in desselben Meisters »Turbabuntur impii«35, aber doch beide Male im Sologesange, während Bach selbst im Chorsatze nicht davor zurückgeschreckt sein soll. Der Grundriß unserer Motette nähert sich viel weniger der damals in Ausbildung begriffenen Form der Dacapo-Arie, als vielmehr der modernen Sonatenform und darf deshalb wohl als das Ergebniß von Johann Christophs selbständigem künstlerischen Nachsinnen bezeichnet werden. Zwei klar von einander geschiedene große Theile zerfallen wieder je in einen Haupt- und Neben-Abschnitt. Der erste Haupt-Abschnitt setzt sich aus vier ausgedehnten Perioden zusammen (zu dreien derselben sind[89] oben die Motive angeführt), und endigt in G moll. Der erste Neben-Abschnitt beginnt mit der gleichfalls citirten Stelle: »O weh! daß wir so gesündiget haben!«, bildet in seinem ganzen Charakter den entschiedensten Contrast, und endigt im Halbschluß auf dem Dur-Dreiklang von D. Jetzt nimmt der zweite Theil seinen Anfang, wiederholt den Haupt-Abschnitt des ersten, läßt aber die Weherufe des ersten Neben-Abschnitts in den mannigfaltigsten Combinationen bald nebenher gehen, bald zwischenhinein dringen und beschließt in dieser von außerordentlichem Kunstverstand zeugenden Anlage gleichsam die Durchführung des Sonatensatzes und die Wiederholung des Hauptthemas zugleich. Nachdem wie im ersten Theile auf G moll geschlossen ist, tritt ganz regelrecht auch der Neben-Abschnitt (das Seiten-Motiv) wieder auf, und zwar dieses Mal mit wunderbar schöner Wirkung in B dur, und gestaltet sich erst vom fünften Takte wieder wie beim ersten Auftreten. Eine Coda von sechs Takten macht ein Ende.

Es sind noch zwei Motetten übrig, die wegen der in ihnen verwendeten Choral-Melodien eine abgesonderte Stellung einnehmen. Beide sind aber auch wieder unter einander verschieden. Oben wurde an einem Beispiele gezeigt, wie die von Hammerschmidt mit Vorliebe in seinen geistlichen Concerten angebaute Dialogen-Form auch auf die Motetten-Gattung übertragen worden war. Von dieser Art ist Joh. Chr. Bachs fünfstimmiges, in A moll stehendes Vocalstück: »Fürchte dich nicht«36. Der Alt, beide Tenöre und der Bass singen, gleichsam die Stimme Christi repräsentirend, die Bibelworte: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein.« Dagegen intonirt später der Sopran den letzten Vers des Ristschen Liedes: »O Traurigkeit, o Herzeleid«, nämlich:


 

O Jesu du,

Mein Hülf und Ruh,

Ich bitte dich mit Thränen,

Hilf, daß ich mich bis ins Grab

Nach dir möge sehnen.


 

[90] Wenn er mit der vorletzten Zeile einsetzt, ertönen von der Stimme Christi die Worte: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein.« Man sieht, es sind zwei verschiedene Individuen, welche dramatisch mit einander verkehren. Der Componist mußte also die vier untern Stimmen wie eine compacte Masse zusammenhalten, um sie dem Sopran mit der nöthigen Bestimmtheit gegenüber treten zu lassen, und wenn wir früher an Michael Bachs Choral-Motetten zu tadeln hatten, daß die übrigen Stimmen nicht immer mit gehöriger Freiheit gegen die Choral-Melodie contrapunctirten, so ist eine solche Forderung hier bis zu einem gewissen Grade durch die Anlage der Composition selbst abgewiesen. Im übrigen hat es Bach verstanden, den vierstimmigen Tonkörper auch in seinem Contraste zum Choral zu einem von innerlichem Leben ganz erfüllten Organismus durchzubilden, und somit auch in dieser Gattung ein wahres Meisterstück hingestellt. Die rein musikalische Disposition ist, wie wir es schon gewohnt sind, auch unter den hier vorwaltenden erschwerenden Umständen sicher, klar und meisterlich, sie bietet drei Theile. Zuerst führt der vierstimmige Chor durch 39 Takte seinen Bibelspruch allein durch; beginnend mit kraftvollen und ermuthigenden Ausrufen bringt er sodann über dieses Thema:


 

4.


 

ein Fugato durch alle vier Stimmen, und läßt darauf bald zwei, bald drei, bald eine derselben auf dem Worte »gerufen« mit lang ausgehaltenen Accorden und Tönen mächtig hinausschallen, während unten das angeführte Thema mit einer kleinen zweckmäßigen Abänderung immer von neuem auftritt – eine in ihrer einfachen Größe an Händel erinnernde und seiner würdige Stelle. Hiermit schließt er auf C dur, der Ober-Mediante, ab und leitet mit einem über die Worte »du bist mein« gebauten Satze, der besonders durch Nachahmungen zwischen Alt und 2. Tenor interessant wird, nach A moll zurück. Dies der erste Theil, der zweite erstreckt sich bis zum Eintritt der vierten Choralzeile und enthält 24 Takte. Hier ist es[91] nun bewunderungswürdig, wie die beiden poetischen Individualitäten auseinandergehalten sind, z.B. gleich dadurch, daß der Sopran, in den Schlußaccord des Chors einsetzend, die erste Zeile der Melodie ganz allein vorträgt, der Chor dann erst nur in kurzen Sätzchen und Ausrufen sich hineinschiebt, hernach zu seinen, dem Hörer schon bekannten Anfangs-Motiven und Gängen zurückkehrt, mit denen die Choral-Melodie so stark wie möglich contrastirt und sich doch in sie hineinschmiegt, als ob sie eigens dazu erfunden wäre. Dem dritten Theile, 30 Takte lang, ist mit feiner Ueberlegung die größte dramatische Bewegtheit aufgespart; auf die wiederholten Hülferufe des Soprans antworten ebenso eindringlich die untern Stimmen: »Wahrlich, wahrlich, ich sage dir« u.s.w. und verleihen dieser Erregung durch mannigfache Imitation unter einander auch die dem Gegenstande angemessene Innerlichkeit. Weitere Einzelheiten anzuführen müssen wir uns versagen; genug, daß des Meisters volle Eigenthümlichkeit auch in diesem Stücke niedergelegt ist. Vergleicht man es mit Sebastian Bachs Motette »Fürchte dich nicht!«, die großentheils über die gleichen Bibelworte gesetzt ist, und ebenfalls in ihrer zweiten Hälfte eine Choral-Melodie mit poetischem Gegensatze einführt, so wird klar, daß diesem Kunst-Ideale Sebastian auf einem ganz andern Wege beizukommen suchte, als Johann Christoph und seine geringeren Zeitgenossen, und daß der Zusammenhang jenes mit seinen Vorgängern in diesem Punkte nur ein ganz allgemeiner ist. Der ältere Bach faßte die beiden dramatisch contrastirenden Charaktere als zwei gleichberechtigte Mächte auf, und suchte dies Verhältniß allein durch die Mittel der Musik herzustellen; der jüngere hielt die Stimmen, welche Träger des Bibelspruchs sind, dem Choral gegenüber nicht nur in gleichem Maße, sondern allzu selbständig, indem sie unter sich eine vollständige, keiner Ergänzung bedürftige Fuge ausführen, deren ruhig ziehender Strom die aufschwimmenden Stückchen der Choral-Melodie ganz zufällig erscheinen lassen würde, wenn derselben nicht eine erhöhte, symbolische Bedeutung beigelegt wäre, welche mit ihrem rein musikalischen Werthe zunächst nichts zu schaffen hat. Dies aber ist, wie wir im folgenden Abschnitte sehen werden, die Anschauung, die für die selbständige Behandlung des Chorals auf der Orgel maßgebend wurde, und dieser durch das Mittel der Instrumental-Musik führende[92] Weg war es, auf dem Sebastian sich einer Kunstform näherte, welche Johann Christoph von ihren natürlichen poetischen Gesichtspunkten aus begriff.

Hatte es sich hier also um einen dramatischen Gegensatz der Persönlichkeiten gehandelt, so gilt es in der andern Choral-Motette nur einen lyrischen Gegensatz der Stimmungen, wie wir ihm ja schon in mehren Werken Michael Bachs begegneten. Diese Motette (zwei-, hernach einchörig, F moll) ist wohl von allen Compositionen des Meisters jetzt die bekannteste. Ihr Bibelwort ist: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«; in den zweiten Theil ist der Choral »Warum betrübst du dich, mein Herz« mit der dritten Strophe dieses Hans Sachs'schen Liedes eingewoben, und es ist mit solcher Vollendung geschehen, daß man die Composition für eine Seb. Bachsche hat halten dürfen37. Es kam darauf an, mit selbständigen Motiven die Choralmelodie durchgehend zu contrapunctiren, und wie wenig geübt der unbeholfene Stil unserer damaligen Tonmeister im ganzen noch im Lösen solcher Aufgaben war, ist bei Michael Bachs ähnlichen Arbeiten schon bemerkt worden. Johann Pachelbel bearbeitete die fünfte Strophe des Chorals: »Was Gott thut, das ist wohlgethan«, welchen er einer ausgeführteren concertmäßigen Composition zu Grunde legte, allerdings glatt und fließend, aber schon deshalb doch ganz anders, weil dort kein Gegensatz von Bibelwort und Kirchenlied vorhanden ist, wodurch die Grundstimmung erst in ihrer vollen Tiefe hergestellt und andrerseits auch die ausgedehnteste Beherrschung der contrapunctischen Technik erforderlich wird. Von Sebastian Bachs ebengenannter Motette aber unterscheidet sich auch dieses Werk, abgesehen von dem dort vorhandenen dramatischen [93] Gegensatze, durch jene tiefgehende Differenz in der Richtung beider Meister: Sebastian gestaltet rein musikalisch, Joh. Christoph plastisch-oratorisch. Auch hier ist eine Vergleichung beider sonst ziemlich übereinstimmend angelegten Werke äußerst belehrend; dasjenige Sebastians ist freilich reicher und blühender, stützt sich aber wesentlich auf die Orgel, Joh. Christoph dagegen befindet sich noch auf dem Heimathsboden der Motette, dem Vocalstil, und läßt die Menschenstimmen mit ihrer größern Ausdrucksfähigkeit und ihrer ganzen poetischen Mitgift zu Recht kommen. Es giebt vielleicht kein zweites Werk dieser Zeit, in dem Richtungen, welche hernach diametral aus einander gingen, so friedlich bei einander beschlossen liegen, und was trotzdem auf der ganzen Höhe der Kunst steht. Die Behandlung des Chorals mit all ihren technischen und ästhetischen Consequenzen deutet auf den Weg Sebastian Bachs, die sprechende Tonbildlichkeit der musikalischen Hauptgedanken entschieden auf Händel. So versinnlicht gleich das erste Hauptmotiv der Choral-Contrapunctirung, das im Verlauf auch in umgekehrter Gestalt dienen muß:


 

4.


 

einen dringend und inständig Bittenden, das zweite dagegen, zuerst im Alt, mit eng anschließenden Imitationen so auftretend:


 

4.


 

nachher in reicher Weise motivisch umgebildet, wie z.B. Takt 18 im Bass:


 

4.


 

zeichnet in seiner breiten Fülle mit gar nicht zu verkennendem Ausdruck die Gebärde jemandes, der feierlich und segnend die Hände [94] ausbreitet. Dabei sind doch alle rein musikalischen Anforderungen in bewundernswerther Weise gewahrt. Wie meisterhaft gegensätzlich sind die beiden Motive gestaltet, und wie beherrschen sie, und nur sie, den ganzen Tonsatz! Wie musikalisch angemessen neben der poetischen Schönheit ist nach den kunstvollen Verschlingungen jener dreitaktige Ruheplatz in der Mitte, wo die contrapunctirenden Stimmen fast nur declamatorisch leise bewegt stille und schwärmerisch im Klangmeer ausruhen! Im übrigen gehört sicherlich diese Motette unter des Meisters späte Compositionen. Die Harmonien-Verknüpfungen, besonders auch im ersten, tief ausdrucksvollen Theile derselben, sind wenn nicht kühner, so doch noch freier, geschmeidiger; die Melodie-Zeichnung ist noch individueller, so ist z.B. die Septime 4. im 19. und 23. Takte des ersten Abschnitts, welche der Sopran im freien Abwärtsspringen erreicht, ein für Chorcompositionen jener Zeit sehr neues Wagniß. Auch die Tonart F moll ist in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ungewöhnlich. Endlich trägt das Ganze mehr das Gepräge milder und dem Alter eigenthümlicher Beschaulichkeit, als jugendlicher Lebhaftigkeit oder männlichen Nachdrucks, wenngleich ja nicht zu leugnen, daß dem Johann Christoph wie seinem Bruder Michael ein Hang zum Sinnigen, Träumerischen besonders eigen war. Wenn man die nunmehr insgesammt vorgeführten Vocal-Compositionen beider überblickt, wird man diese überwiegende Neigung an der Wahl der Worte, wie in der musikalischen Gestaltung leicht erkennen.

 

Fußnoten

 

V.

 

Es wurde schon erwähnt, daß von den Instrumentalcompositionen Johann Christophs und Johann Michaels noch weniger gerettet ist als von den Vocal-Werken. In der That sind nur noch einige Trümmer als Zeugen einer unzweifelhaft großen Thätigkeit geblieben. Der Kunstzweig ist aber an sich so wichtig und gewinnt eine doppelte Bedeutung in Hinsicht auf Sebastian Bach, daß wir mit allen möglichen Mitteln suchen müssen, auch diese Seite der kunsterfahrenen Brüder zu beleuchten.

Beide waren ihrem Berufe nach Organisten, und die Orgelkunst bildete bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts den unbestreitbaren Mittelpunkt [95] aller Instrumentalmusik. Wenn dieselbe in Thüringen und Sachsen vorzugsweise blühte und sich endlich auch vollendete, so geschah dies, weil sie in dem protestantischen Choral ein Motiv fand, wie es für ihre Entwicklung nicht geeigneter gedacht werden konnte. Choralbearbeitungen sind es denn auch, mit denen zuerst ein mitteldeutscher Meister bahnbrechend auftrat, und, ob Zufall oder nicht, was uns von den Orgelcompositionen des Bachschen Brüderpaars erhalten blieb, sind ebenfalls Choralbearbeitungen. Die Orgelkunst, früher auf ausgeschmückte Uebertragung von Gesangscompositionen beschränkt, hatte am Ausgange des 16. Jahrhunderts mit Anfängen zur Bildung eines eignen Stils die ersten Knospen einer eigenthümlichen Blüthe angesetzt. In Italien hatte Claudio Merulo in der sogenannten Toccata, einem Tonstücke, was durch abwechselnde Verknüpfung glänzenden Laufwerks mit getragenen Harmonienfolgen den Klangreichthum der Orgel zu entfesseln suchte, eine wenn auch noch regellose und phantastische, so doch sehr entwicklungsfähige Form gefunden. In den Canzonen Joh. Gabrielis waren die ersten Schritte zur Entwicklung der Orgelfuge gethan, und der Niederländer Sweelinck hatte, wie es scheint, vorzugsweise durch Weiterbildung der Technik und ein großes Lehrtalent sich Ruhm erworben, durch gewandte und anmuthige Behandlung das Schwerfällige des Orgelstils leicht und geschmeidig zu machen gesucht. Ein Schüler des letzteren war der hallesche Organist Samuel Scheidt. Er hat in seiner Tabulatura nova (3 Theile, Hamburg, 1624) mit bedeutender Erfindungskraft den Choral in mannigfaltiger und orgelgemäßer Weise zuerst zu bearbeiten gewußt. Diesen frühesten Leistungen auf einem so weiten und neuen Gebiete fehlen natürlich nicht die Merkmale eines ersten Versuchs. Ein neuer Weg ist eröffnet und eine Fülle von Mitteln wird herbeigeschafft, um ihn zu ebnen, aber es mangelt noch die praktische Umsicht und Ordnung, welche ein jedes an seiner Stelle zu verwerthen weiß. Im Laufe des Jahrhunderts bildete sich für die Choralbearbeitung eine Reihe von bestimmten, in sich consequenten Formen heraus. Nur wenige und zwar die nächstliegenden finden sich bei Scheidt einigermaßen rein vor, hierhin ist das Verfahren zu rechnen, wenn Zeile für Zeile des Chorals motettenartig durchgearbeitet wird, und die nahe damit zusammenhängende Choral-Fuge, wobei sich Scheidt aber noch merklich an [96] den Vocalstil anlehnt1. Für die meisten übrigen Formen hat er wohl die Motive aufzuweisen, aber er verwendet sie in bunter Willkür an ein und demselben Gegenstande. So beginnt die Bearbeitung des ersten Verses der Melodie: »Da Jesus an dem Kreuze stund«, aus dem ersten Theile der Tabulatura nova, mit einem Fugato über die Anfangszeile, dann tritt diese selbst in der Oberstimme ein, während Bass und Alt sie canonisch führen; nach der zweiten Zeile findet sich ein freies Zwischenspiel, nach der dritten ein motivisches, nach der vierten wieder ein freies. Pachelbel, Walther oder gar Sebastian Bach würden aus dieser Fülle von Formkeimen vier, mindestens drei verschiedene Bearbeitungen entwickelt haben. Ein anderes Mal behandelt Scheidt den Choral »Vater unser im Himmelreich« (Th. I, erster Vers) so, daß er die erste Zeile praeludirend in motu contrario einführt, aber schon zur fünften Note gesellt sie sich in einer Unterstimme in motu recto, dann abermals nach vier Tönen wiederin motu contrario, weiter nach demselben Zwischenraume in der Oberstimme in motu recto, und endlich noch einmal in gleichem Abstande im Tenor in motu contrario. Hiernach wird der Choral ohne Unterbrechung im Sopran durchgeführt, aber zu jeder Zeile mit neuen Contrapuncten. Es braucht kaum bemerkt zu werden, daß bei einem solchen Allzuviel des Guten an Klarheit und einheitliche Durchbildung nicht zu denken ist. Alles dies soll selbstverständlich nicht das Verdienst des epochemachenden Meisters schmälern, der geleistet hat, was zu leisten war, sondern nur seine geschichtliche Stellung andeuten.

Ein ins Einzelne gehender Nachweis, wie sich nach Scheidt bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts die choralbehandelnde Kunst weiter bildete, wird hier nicht verlangt werden, und wäre auch von mir jetzt nicht zu führen. Die Fortschritte scheinen aber zuerst langsam gewesen zu sein, und dies ist bei der Ungunst der damaligen Zeiten leicht begreiflich. In Scheidts Wegen wandelte weiter der wackere braunschweigische Organist und gesuchte Lehrer seiner Kunst Delphin Strunck (1601–1694), ohne jedoch, nach den wenigen [97] vorliegenden Compositionen zu urtheilen, in der fortlaufenden Behandlung des Chorals schon zu einem festen Kunstprincip durchzudringen. Vermuthlich ist jene motettenhafte Durcharbeitung der einzelnen Choralzeilen fleißig weiter cultivirt; von Johann Theile (1646–1724), einem ungefähren Zeitgenossen Michael Bachs, den man seiner großen Geschicklichkeit wegen den Vater der Contrapunctisten nannte2, wurde z.B. der Choral: »In dich hab ich gehoffet, Herr« in dieser Weise gesetzt, vierstimmig und sehr gelehrt, da alle vier Stimmen selbständige Contrapuncte bilden, aber noch unerträglich steif3. Daneben muß sich frühzeitig der Typus der Choral-Fuge festgestellt haben, wenn wir einmal einen aus der ersten Choral-Zeile gebildeten Fugensatz, in dem am Ende häufig noch die zweite Zeile leise anklingt, so nennen dürfen. Hierher gehört Heinrich Bachs schon erwähnte treffliche Arbeit über »Christ lag in Todesbanden«. Ein Altersgenosse Johann Christoph Bachs, Johann Friedrich Alberti (1642–1710), Organist zu Merseburg, benutzte die Melodie zu: »Der du bist drei in Einigkeit« (O lux beata trinitas) für drei einander folgende Gebilde der Art4. Hier zeigt sich diese Form schon recht entwickelt, man rechnete ihn freilich auch zu den besten Meistern jener ganzen Zeit. Der erste Satz benutzt als Fugenthema nur die sechs Anfangsnoten im punktirten Rhythmus, der im Verlaufe noch einige Veränderungen erleidet. Die Stimmen werden, wie in allen Theilen, sauber und gewandt geführt, der Contrapunct steht allerdings meist Note gegen Note, aber nicht aus Ungeschick, sondern um für die folgenden Abschnitte ein Steigerungsmittel zu sparen; alterthümlich dagegen ist die auch im dritten Abschnitt wiederkehrende Engführung gleich am Anfang. Die Eintritte des Themas heben sich durch vorhergehende Pausen jedesmal deutlich heraus, außerdem bereiten kurze Zwischensätze noch besonders auf sie vor. In Semibreven bringt nun der zweite Vers als Thema die volle Anfangszeile, dazu kommt ein kurzes Contrasubject in Viertelnoten, was auch im doppelten Contrapunct auftritt. Das Thema erscheint nur viermal im ganzen, durch das bewegte Stimmgewebe [98] langgezogen und majestätisch hindurchklingend, zu längeren Zwischensätzen dient das Contrasubject, wie es auch stets das Thema in kunstvollen Nachahmungen begleitet. Endlich die dritte Strophe erhält ihre Steigerung dadurch, daß die Anfangszeile im 3/4 Takt fugirt wird. Eine der zweiten Strophe ähnlich gehaltene Choralfuge über »Gelobet seist du, Jesu Christ«5 ist von nicht geringerer Vortrefflichkeit; das Contrasubject wird zuerst allein durchgeführt, ehe es sich mit der Choralzeile verbindet, und besteht in einem abgerundeten Gedanken, so daß eine vollentfaltete Doppelfuge vorliegt.

Johann Christoph Bach ist nach seiner ursprünglichen Natur auch auf diesem Gebiete einen eignen Weg gegangen und hat denselben, so weit man jetzt noch urtheilen kann, nie verlassen. Die Folge war eine gleiche, wie bei den Vocalcompositionen: schon die nächste Generation verstand ihn nicht mehr und ignorirte ihn darum. Umfassende handschriftliche Sammlungen von Choralvorspielen, durch den Lexicographen Walther, den Amtsgenossen Sebastian Bachs in Weimar, eigenhändig angelegt, weisen auch nicht ein einziges Stück Johann Christophs mehr auf. Acht Bearbeitungen, zum Theil mehrsätzige, enthielt der im Besitz Gerbers befindliche Sammelband6, welcher nach dessen Tode nebst der übrigen höchst werthvollen musikalischen Hinterlassenschaft durch die Nachlässigkeit der Erben spurlos zu Grunde ging. Ein glücklicher Zufall jedoch hat ein geschriebenes Heft mit 44 Choralbearbeitungen der Gegenwart gerettet. Sein Inhalt ist von dem Componisten zu einem bestimmten Zwecke angefertigt, und wenn der jetzige Titel der originale wäre, müßte das Werkchen auch durch Stich veröffentlicht worden sein7. Auf dieses werden wir unser Urtheil zu gründen haben. [99] Aber vorweg ist zu sagen, daß hier die Sache anders liegt, als bei seiner Thätigkeit als Gesangscomponist. Dort hatte er eine großartige Entwicklung hinter sich, auf deren breiter Fläche er sein eigenstes Wesen auseinanderfalten konnte, in der Orgelkunst bewegte er sich auf theilweise bebautem, halbdurchdrungenem Boden. Was er so in seiner Isolirtheit schuf, ist bei genauer Erwägung aller Verhältnisse weder seines großen Talentes unwürdig, noch steht es in Widerspruch mit dem Lobe, was ihm seine späteren Geschlechtsgenossen auch als Orgelmeister zu Theil werden ließen8. Aber einer allein kann nicht alles, und Johann Christoph ist ein schlagendes Beispiel, wie viel wir selbst in der deutschesten Kunstform, dem Orgelchoral, den Italiänern verdanken. Ideales Streben, Gedankenfülle, tiefsinnige Sorgfalt brauchten wir nicht von Fremden zu holen, aber der freie und in großen Formen wirkende Schönheitssinn mußte uns wenigstens gekräftigt und gestützt werden, um etwas meisterliches zu schaffen. Eine solche Hülfe kam auch bald vom Süden zugeströmt, aber Johann Christoph scheint sich ihr verschlossen zu haben, und so sind seine Leistungen nur ein Nebenschößling geblieben, dem Blüthe und Frucht versagt waren.

Ueber die Anforderungen, welche von Seiten der äußern Technik an eine Choralbearbeitung zu stellen seien, ist Bach nicht im Unklaren gewesen. Die Orgel mit ihren schallenden Massen von Zusammenklängen, die ein Einziger durch eigne Kraft erzeugt und nach eignem Willen fortbewegt, steht zu der alten Chor-Musik, diesem reich gewobenen Netze so und so vieler Stimm-Individualitäten, die niemals ganz Instrumente werden können, im denkbar größten Gegensatze. Sie auch vor allem hat die Umbildung aus dem ältern polyphonen in das neuere harmonische System herbeigeführt. Es erscheint vielleicht manchem befremdlich, ist demnach aber doch ganz naturgemäß, wenn auch die besten Meister zwischen 1650 und 1700 ein viel homophoneres Wesen, eine viel unbekümmertere Behandlung [100] der Stimmführung zeigen, als sich nach jetzigen Begriffen mit dem wahren Orgelstil verträgt. Gewiß verlangt der starre massige Ton zu seiner höchsten Idealisirung nicht nur äußerliche Beweglichkeit durch Laufwerk und Accord-Zertheilung, sondern innere Belebung durch Verdichtung zu musikalischen Individuen – was sind Melodien und Motive anderes? – und durch deren vernünftigen Verkehr unter einander. Aber dies ist immer erst ein Zweites, nicht, wie bei der polyphonen Vocalmusik, ein Erstes. Wir bewundern mit Recht den bis ins Kleinste belebten Organismus eines Seb. Bachschen Orgelstückes, aber seine die harmonischen Säulen umkleidende sogenannte Polyphonie ist nur ein schöner Schein. Es ist wie der gothische Dom mit seinen springquellartigen Pfeilergruppen, seinen blatt- und blumenumkränzten Capitälen: sie zaubern den Schein selbständigen Lebens vor die Phantasie, aber sie leben nicht, nur der Künstler in ihnen. Dieser principielle Unterschied kann nicht stark genug betont werden, ohne dessen Erkenntniß ist die ganze selbständige Orgelkunst und alles was mit ihr zusammenhängt, also Seb. Bachs gesammte Thätigkeit, nicht zu verstehen. Wenn daher Johann Christoph Bach die Kluft absichtlich weit aufriß, so zeigte er, daß er wußte, was zu thun war. Seine Stimmfortführungen sind oft ganz unkenntlich, rein nach harmonischem Bedürfniß treten bald drei- bald vierstimmige Accorde auf; in wenigen Fällen nur läßt sich erkennen, was für Pedal-oder Manual-Bass berechnet ist, und im Fugato trägt oft dieselbe Stimme, welche das Thema hatte, es gleich darauf eine Quinte tiefer noch einmal vor. Ueberall hat sich der Gedanke Geltung verschafft, daß die Ausführung eines solchen Stückes in der Hand eines einzigen Individuums beruhe. Aber nur äusserliche Concessionen machte Bach dem Instrumentalstil, dem innern Wesen der Choralbearbeitung für die Orgel blieb er fremd gegenüberstehen. Er hätte nun auch den Versuch wagen müssen, den Choral als selbständiges Motiv zum Kern eines freien Tonstückes zu erheben, er hätte sich von dem Gedanken losmachen müssen, seine Choralbearbeitungen in nothwendige Verbindung mit dem nachfolgenden Gemeindegesange zu setzen und sie im engsten Wortverstande als Vorspiele aufzufassen, die zur Hauptsache erst hinleiten sollten. Hieran aber dachte er nicht, und so konnten nur schwankende Gestalten ohne Mittel-und Schwerpunkt entstehen. [101] Sehen wir die Formen näher an, so wird in einundzwanzig Vorspielen die ganze Melodie durchgenommen, in zehnen nur ein Complex der ersten Zeilen, bei den übrigen dient die Anfangszeile in bereits bekannter Weise als Fugenthema, und die ergänzende zweite klingt gelegentlich an, oder tritt am Schlusse völlig auf, aber nicht fugirt. Bei Bearbeitung der ganzen Melodie hebt jedesmal auch ein Fugato der ersten oder der ersten beiden Zeilen an, die Eintritte werden wohl durch ganz kurze Zwischenspiele vorbereitet, die folgenden Zeilen dann gewöhnlich in engen canonischen Führungen durchgenommen, wobei gern ein Orgelpunkt zu Grunde liegt; oft aber findet sich auch Zerdehnung, motivbildende Zerlegung oder bald mehr bald minder charakteristische Umspielung der Haupt-Melodiezüge, dazwischen wieder bewegtere ganz frei erfundene Sätzchen. Von einer breiten motettenartigen Ausführung, die jeden Melodie-Abschnitt ruhig entwickelt, sind diese Stücke weit entfernt, es ist immer mehr das Totalbild des Chorals, was dem Componisten als Bearbeitungs-Gegenstand vorschwebt, die einzelnen Theile werden kurz und hastig abgethan, am Schlusse hat der, welcher die Melodie kannte, was hier immer vorausgesetzt wird, das Gefühl, als sei sie in Nebel gehüllt an ihm vorübergezogen. Die Contrapunctik ist meistens eine sehr einfache, Note gegen Note richtende, viel in Terzen und Sexten einherschreitende; das harmonische und orgelgemäße Princip wird oft wie mit Absicht betont, wenn er oben einen Accord aus halten, und im Bass dazu ein Fugenthema erklingen läßt. Man sieht recht wohl, der Componist ringt nach einer Form, und einige der durchweg nur mäßig langen Sätze, wie die Bearbeitung von: »Ich dank dir schon durch deinen Sohne«, die im 3/8 Takt ohne Stocken dahin fließt, und doch den ganzen Choral in ihrem Spiegel auffängt, sind auch gelungen zu nennen. Auch darin, wie er oft die Melodiezeilen verschlingt, beim Erscheinen der einen contrapunctisch schon die andre erklingen, oder in der Schlußcadenz sofort einsetzen läßt, endlich die Harmoniewechsel durch Orgelpunkte zusammenhält, zeigt sich sein Formensinn. Aber er ließ sich durch einen außerkünstlerischen Umstand das Recht nehmen, ein Musikwerk nach den ihm innewohnenden Forderungen zu gestalten. Nun ist es das äußere Belieben, nicht ein inneres Gesetz, welches heischt, daß hier plötzlich eine Zeile in verdoppelten Notenwerthen auftritt, dort wenigstens [102] in einigen ihrer Töne ausgedehnt wird, daß hier ein Melodie-Abschnitt umspielt erscheint, dort in seiner ursprünglichen Gestalt, daß grade in dieser Bearbeitung der Schluß in Passagenwerk verläuft, grade an jener Stelle ein längerer Zwischensatz eingeschoben wird9. Auch wenn wir ganz die großartige Consequenz eines Seb. Bach in solchen Dingen vergessen wollen, läßt es sich begreifen, warum schon Johann Christophs Mitlebende auf diesem Wege nicht weiter gehen mochten. Noch weniger Entwicklungsfähigkeit enthält die Bearbeitungs-Methode, nach der nur einige Zeilen des Chorals durchgenommen werden, obwohl hier der Componist zuweilen mehr Reichthum zeigt. Denn es ist weder die poetische Einheit des gesammten Choralgebildes vorhanden, noch die rein musikalische des Aufbaues aus einem Thema, und dies sind doch die beiden Säulen, an welchen sich die ganze Kunst des Orgelchorals emporrankte. In der dritten Gattung endlich, welche wir Choralfuge nannten, betritt er ein schon mehr angebautes Gebiet, und so sind denn auch seine Leistungen hier relativ die besten. Die Behandlung ist so leicht und ungezwungen, wie nur jemand schreiben kann, dem der Charakter seines Instruments völlig klar ist. Dabei erfüllen sie ganz den Zweck des »Praeambulirens«, und sind grade hinreichend leichten Inhalts, um den musikalischen Werth des nachfolgenden Gemeindegesanges nicht in die zweite Linie zu drängen. Die Mehrheit von ihnen bleibt nicht unter der Höhe, welche in der Lösung grade solcher Aufgaben das Jahrhundert erklimmen konnte, und in dieser Gattung hat nachweislich Joh. Christoph auch Nachfolger gehabt. Wären sie nicht zuweilen noch ungelenk in der Harmonie und von zu steifer Bewegung, so könnte man sie Muster nennen, natürlich nur für ihre Zeit. Nicht leicht läßt sich Bach nach dem gesammten Inhalte des Heftes unbefangen und richtig würdigen, und er selbst ist es, der durch die hohe Vollendung seiner Gesangs-Compositionen uns das Urtheil erschwert. Wer von diesen herkommend auf jene Choral-Vorspiele geräth, wird sich zuerst immer enttäuscht sehen. Der ganze Abstand einer hochentwickelten und einer erst unsicher [103] aufsteigenden Kunst tritt eben hier heraus, und ist dem modernen Gefühl um so befremdender, weil wir uns längst gewöhnt haben, die herrlichsten Früchte beider Richtungen, der vocalen wie instrumentalen, neben und in einander zu genießen. Auch die Vermuthung, es seien Jugendarbeiten des Meisters, weist schon genügend der eine Umstand zurück, daß der Choral: »Liebster Jesu, wir sind hier« sich unter den Bearbeitungen befindet. Dieses Lied wurde aber erst im Jahre 1671 bekannt10, vor der Mitte desselben Jahrzehnts wird also die Sammlung schwerlich angefertigt sein, und hier hatte Bach schon einige seiner herrlichsten Motetten geschrieben. Die Dürftigkeit und Leere, welche zuweilen diesen vorzugsweise dreistimmigen Harmonien eigen ist, darf nicht zu der Annahme verleiten, der Meister habe vielleicht für Anfänger, etwa seine eignen musikalischen Söhne, absichtlich leicht geschrieben. Man wird wohl glauben dürfen, daß er in ihnen nicht seine Virtuosität entfaltet hat, aber zuverlässig nicht aus pädagogischen Rücksichten, sondern weil der Charakter der Tonstücke, so wie er sie auszuarbeiten gedachte, es nicht zuzulassen schien. Außerdem werden dieselben ja ganz allgemein zur Verwendung während des Gottesdienstes empfohlen, und dreistimmiger Satz war für solche Aufgaben auch noch später gebräuchlich. Nichts anderes bleibt übrig, als zu sagen, daß er nicht anders konnte, als wir es finden. Und wenn man bei einem so reichen, lebendigen Vocalcomponisten oft über harmonische Armuth und rhythmische Lahmheit sich wundern wollte, so bedächte man nicht den gewaltigen Abstand zwischen einer Chormasse, die selbst bei geringer harmonischer Bewegtheit unendlicher Schattirungen und Färbungen fähig ist, die auch Worte und Sätze durch musikalische Declamation zu bewältigen hat – grade eine Hauptstärke Johann Christophs! –, und der Orgel, die innerhalb eines Tones melodisch nie, und rhythmisch nur ausnahmsweise lebendig werden kann, sondern beides durch Anreihung verschiedener Töne erzielt. Bach erkannte, es sei noch einmal gesagt, diesen Abstand in seiner vollen Weite, und er, der für Menschenstimmen den Choral: »Warum betrübst du dich, mein Herz« so ergreifend schön zu contrapunctiren wußte, konnte ihn für die Orgelpfeifen aus voller Ueberzeugung nur [104] so behandeln, wie er am Schlusse der besprochenen Sammlung sich findet, und man wird, besonders bei dem fleißig durchgeführten schmerzlich-chromatischen Motiv erkennen, wie er auch hier ganz bei der Sache war11. Daß er in dieser Kunstgattung nicht bahnbrechend wurde, daran ist seine in sich gewendete, den Einflüssen der Mitwelt abgekehrte Natur schuld. Wäre er anders gewesen, so hätten wir seine Motetten nicht. Was er aber sonst noch für die Orgel geleistet haben mag, ist, wenn nicht noch Proben davon wieder ans Licht treten, vermuthungsweise nicht zu bestimmen.

Von Johann Michael Bach liegen mir fünf Choralbearbeitungen handschriftlich vor, eine sehr geringe Zahl, aber doch genügend, um das Verhältniß zu seinem Bruder und zu seinen Zeitgenossen einigermaßen zu erhellen. Michael war neuern Einflüssen zugänglicher, wie er sich denn auch mit der gesammten Instrumentalkunst mehr beschäftigt zu haben scheint als Johann Christoph. Walther rühmt von ihm12, daß er auch »starke [d.i. treffliche] Sonaten und Clavier-Sachen gesetzet«. Daher haben seine Sachen eine viel längere Lebensfähigkeit bewiesen, und noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts kannte man seine Choral-Vorspiele, wenngleich sie damals nicht mehr viel bedeuten sollten13. In dem erwähnten Gerberschen Sammelbande befanden sich nicht weniger als 72 fugirte und figurirte Choräle, deren manchem noch sechs, acht, zehn Variationen folgten. »Es herrscht nach dem damaligen Zeitalter eine große Mannigfaltigkeit und Abwechselung in diesen Vorspielen, und keins ist des Namens Bach ganz unwürdig.« Dieses im Anfange unseres Jahrhunderts geschriebene Urtheil Gerbers ist das Einzige, was von der Existenz derselben übrig geblieben ist; die mir vorliegenden vier Waltherschen Handschriften mögen um 1730 geschrieben sein. Um aber den Unterschied zwischen den Brüdern zu begreifen, müssen wir vor allem dem Manne einige Aufmerksamkeit schenken, der in den letzten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts einen so bedeutenden Fortschritt in der Orgelkunst vor allen andern hervorbringen half, und mit dem Thüringerlande wie mit dem Bachschen Geschlechte eng verknüpft war.

[105] Johann Pachelbel, geboren am 1. Sept. 1653 zu Nürnberg, bildete seine vortrefflichen musikalischen und nicht weniger hervorragenden allgemeinen Anlagen zuerst in Nürnberg, Altorf und Regensburg, war dann drei Jahre lang in Wien Organisten-Gehülfe an der Stephans-Kirche, und kam am 4. Mai 1677 als Hoforganist nach Eisenach. Hier blieb er bis zum 18. Mai 1678 und wurde darauf Organist an der Prediger-Kirche in Erfurt, wo nach Johann Bachs Tode (1673), wie wir sahen, einige Jahre Johann Effler fungirt hatte, der Vorgänger Michael Bachs in Gehren, den wir später unter den weimarischen Organisten noch einmal zu erwähnen haben werden. In Erfurt blieb er länger als an irgend einem andern Orte seines wechselreichen Lebens, erst 1690 zog er davon als Hoforganist nach Stuttgart, war 1692–1695 wieder im thüringischen Gotha und verbrachte den Rest seines Lebens (gest. 3. März 1706) als Organist an der Sebaldus-Kirche seiner Vaterstadt14. An zwei der Hauptsammelstellen der Bachschen Familie nach einander ansässig, hatte er volle Gelegenheit, mit dieser Künstlergenossenschaft in Berührung zu kommen. Sebastians Vater stand mit ihm auf so vertrautem Fuße, daß er ihn zum Pathen einer seiner Töchter und zum Lehrer seines ältesten Sohnes wählte, und die von Bernhard, dem Sohne des Aegidius Bach, noch erhaltenen Choralbearbeitungen sind durch und durch von Pachelbelscher Factur. Andere Beweise inniger Verbindung werden uns weiterhin entgegentreten.

Der wiederholt zwischen Süd- und Mittel-Deutschland wechselnde Aufenthalt ist auch auf die Kunst Pachelbels von wesentlichem Einfluß gewesen, indem er ihn verschiedene Richtungen in sich verschmelzen ließ. Die in Thüringen und Sachsen vorwiegend gepflegte Choral-Figurirung fand zwar in dem Gerüst der Kirchen-Melodie einen Plan vor, der für sie eine wenn auch oft mehr poetische, als rein musikalische Einheit herstellte, aber sie lief Gefahr, in derselben [106] zu sehr ins Kleine und Unzusammenhängende sich zu zersetzen. Italien und der von ihm direct beeinflußte Süden Deutschlands hatten mit dem jenem ersteren Lande eignen Sinne für einfache, große Formen, auf welche grade das Wesen der Orgel so sehr hinwies, und unter viel glücklicheren äußern Verhältnissen Mittel- und Nord-Deutschland in der Orgelkunst um ein bedeutendes überflügelt. Schon Frescobaldi, in der ersten Hälfte des Jahrhunderts Organist an der Peterskirche zu Rom, zeigt eine Höhe der Meisterschaft, die in gewissen Punkten, z.B. in der kunstvollen Contrapunctirung eines Cantus firmus von den katholischen Orgel-Meistern kaum später noch überboten sein dürfte. In der Toccate hatte man sich durch sorgfältige Pflege endlich eine Form herausgebildet, die so ziemlich alle Errungenschaften der Kunst in sich beschloß: Fugen, freiere Imitationen, glanzvolles Laufwerk und mächtig strömende Accordfolgen. Auf diesem Gipfelpunkte, den Georg Muffats großes und ausgezeichnetes Werk: »Apparatus Musico-Organisticus« (1690), sowie die von Joh. Speth veröffentlichte Toccaten-Sammlung15 repräsentiren mag, war man am Ende des Jahrhunderts angelangt. Was noch weiter zu leisten war, das zu erreichen genügten die Kräfte der katholischen Orgelkünstler nicht. Denn ihnen hatte das Motiv des protestantischen Chorals gefehlt. Der gregorianische Gesang, den Frescobaldi mit hoher Trefflichkeit orgelgemäß behandelte, widerstrebte seinem ganzen auf den einstimmigen Vocalvortrag und die Kirchentöne gegründeten Wesen nach einer reicheren Entfaltung im neuen Tonsystem, durch welches doch eine volle Blüthe der Instrumentalmusik erst möglich wurde. Am protestantischen Choral dagegen, an diesen aus dem Herzen des Volkes herausgedrungenen Urweisen, sollte die Orgelkunst jenes Naturelement finden, was die romanischen Völker ihr nicht geben konnten, jenen lautern, unverfälschten Inhalt, der sie stärkend nach allen Richtungen durchdrang. Und nicht nur eine Fülle neuer melodischer Erfindung sollte aus ihm zuströmen, sondern an ihm und durch ihn bildeten sich ganz neue Kunstformen, entwickelte sich ein ungeahnter Reichthum [107] harmonischer Combinationen, eine ungekannte Geschmeidigkeit der Instrumental-Polyphonie. Pachelbel trug die Errungenschaften des Südens in das Herz Deutschlands hinüber, und bemächtigte sich der dort zubereiteten Elemente, um aus beiden ein Neues, Höheres zu schaffen. Nirgends auch mehr als in Thüringen konnte sein Genie so die geeigneten Männer finden, die ihm mit offenem Sinne und bedeutender Leistungsfähigkeit entgegen kamen, um seinen Bahnen sich anzuschließen. Von dieser Zeit ab ist der Schwerpunkt der deutschen Orgelkunst ganz entschieden nach Mitteldeutschland verlegt, der Süden fiel mehr und mehr ab, der Norden mit Dietrich Buxtehude an der Spitze bewahrte sich länger noch eine eigne Haltung und hatte auch eine eigene Art der Choralbehandlung ausgebildet, die aber an Mannigfaltigkeit und Tiefe weit hinter der mitteldeutschen zurückstand. Eine Pachelbel entgegengesetzte, ältere Erscheinung kennt die Geschichte schon in dem Hallenser J.J. Froberger, der freilich dem südlichen Geiste sich überwiegend assimilirte, auch, so weit sich jetzt sehen läßt, mit dem Choral nicht befaßte, aber dennoch bei den mitteldeutschen Orgelspielern, und auch noch von Sebastian Bach hoch in Ehren gehalten wurde. Wie sehr nun Pachelbel als südlicher Orgelmeister auf der Höhe seiner Zeit stand, beweisen am besten seine Toccaten; zugleich zeigen auch diese schon, wie in ihm ein kräftigerer, noch höher hinausstrebender Geist wohnte. Denn während er im allgemeinen ihren auf Glanz und Bravour und Entfaltung breiter Harmonie-Massen gerichteten Charakter unangetastet ließ, hat er sich doch von dem bunten Vielerlei an langsamen und bewegten, fugirten und nicht fugirten, einfachen und passagenreichen Sätzen, was sonst ihren Inhalt zu bilden pflegte, abgewendet. In stetiger Bewegung meist an einer oder einigen Figuren motivisch sich fortspinnend, rauschen die besten und größten seiner Toccaten dahin, gewöhnlich über wenigen langgehaltenen Pedal-Orgelpunkten. So ruht eine derselben nur auf C – 15 Takte, G – 14 Takte, wieder C – 17 Takte und baut sich in groß gedachter Weise aus diesem Motive auf:


 

5.


 

Eine andre noch reicher strömende hat zuerst einen Orgelpunkt auf [108] C – 16 Takte, geht dann durch den 5. Accord über Fis nach G, ruht auf demselben durch 10 Takte, macht dann die Wendung 5., hat hier einen Orgelpunkt von 6 Takten, und schließt mit einem solchen über C – 6 Takte; die Bewegung der obern Stimmen ist zuerst in Sechzehnteln, steigert sich dann zu Sechzehntel-Triolen, endlich zu Zweiunddreißigsteln. Zwei weitere prächtige Stücke der Art sind eine Toccate in G moll und eine in F dur; erstere steht nur über einem 17 taktigen G und einem 20 taktigen D, worauf im Schlußtakt G wiederkehrt: zuerst fluthen die Oberstimmen in Terzen- und Sexten-Gängen brausend auf und ab, nachher tritt in gebrochenen Accorden und langsamer wallenden Harmonien die Beruhigung ein. Die letztere ist durch majestätische Anlage und stolz sich gipfelnde Thematik wohl die schönste von allen, in ihr haben wir den Vorläufer jener riesigen F dur-Toccate Sebastian Bachs16. – Auch eine Ciacona in D moll, deren Bass:


 

5.


 

35 Mal wiederkehrt, hat dies breite stilvolle Wesen, wenn sie gleich an Geist und harmonischem Reichthum sich mit ähnlichen Arbeiten Buxtehudes nicht messen kann. – Auf dem Felde der Choralbearbeitung aber gebührt Pachelbel das Verdienst, unter die reichlich aber regellos aufschießenden Sprößlinge mitteldeutscher Orgelkunst Zucht, Ordnung und Veredlung gebracht und den Strom südlicher Schönheit in die Tiefe des deutschen Kunstempfindens geleitet zu haben. Der Fortschritt seit seinem Auftreten ist ein ganz auffälliger und auf den ersten Blick zu erkennender. Die Richtung, welche diese Kunstgattung zu nehmen hatte, war die aller ästhetischen [109] Formgebilde: sie sollte sich von dem zufälligen äußern Anlasse, der ihr das Dasein geschenkt, zu selbständigem Leben mehr und mehr entwickeln. Ursprünglich nur zur Einleitung in die Stimmung des kirchlichen Gemeindegesanges bestimmt, hatte sie auch nur im Zusammenhange mit diesem ihren Werth. Dem Hörer tönten einzelne Anklänge und Bruchstücke einer ihm bekannten Melodie entgegen, diese, für ihn mit der zugehörigen Poesie untrennlich verbunden, zogen seine Stimmung in einer bestimmteren Richtung fort, und ließen beim Anheben des Gesanges dieselbe zum vollen, klaren Gefühle erblühen. Auf zweierlei Weise zunächst konnte die Kunst hier ihre Rechte geltend machen. Entweder sie nahm einen hervortretenden Zug der Melodie, etwa ihre Anfangszeile, als Thema und baute darüber nach rein musikalischen Gesetzen ein Tonstück auf, dann bedeutete der Choral an sich nur den Stimmungs-Grund, in welchen das Kunstbild eingezeichnet wurde. Diese Weise lag am nächsten, schon der praktische Gebrauch führte darauf. Der Unterschied zwischen einer als Vorspiel gedachten Fuge, und einem aus dem Choral-Motiv gebildeten Kunstwerke ist nur der, daß jene nur im Zusammenhange mit dem nachfolgenden Kirchengesange ihre Bedeutung hat, dieses einen selbständigen Organismus darstellt, und deshalb auf Erschöpfung des thematischen Gehalts ausgeht, während jene nur andeuten soll. Oder aber man übertrug die volle Melodie auf die Orgel, faßte sie aber mit all den Eigenschaften, welche ihr im kirchlichen Leben als Trägerin einer religiösen Dichtung, als Mittel gemeinsamer Erbauung und als Bestandtheil des Cultus zukommen, und führte nun auf rein instrumentalem Gebiet eine Art von idealem Gottesdienst auf, dessen Mittelpunkt die Melodie bildete. Es ist klar, daß dies Verfahren an Allgemeinverständlichkeit sehr hinter dem andern zurücksteht, da man an die Melodie zu vielerlei appercipiren muß, was außerhalb ihres natürlichen Wesens liegt, und nur auf einer ganz bestimmten poetischen Grundlage hier die tondichterischen Intentionen hell hervortreten können. Aber für eine reiche und tief eindringende Entfaltung war ein unausmeßlicher Raum gegeben, und die subjective Religiosität jener Zeit fand in dieser Form eine unendlich viel reichere Gelegenheit, ihre geheimsten Regungen hineinzuweben und bis in die feinsten Spitzen zu verfolgen, als in der einfachen Klarheit des Gemeindegesanges. Die [110] Entwicklung dieses mit der Kirche so eng zusammenhängenden Kunstzweiges geht ganz parallel der Umbildung des kirchlichen Sinnes überhaupt, und je weniger man sich zu einem starken Gemeingefühl in kernhaften Kirchenliedern vereinigen mochte, desto mehr mußten die Orgelchoräle sagen, was das Innere des Einzelnen erfüllte. Daß dieselben praktisch auch als Vorspiele im Gottesdienst verwendet wurden, ändert an dem innern Verhältnisse nichts. Wenn nun die Choralmelodie den Kern einer solchen Tonandacht bilden sollte, so mußte sie auch musikalisch als solche hervortreten; sie mußte über allem schweben, alles an sich heranziehen, von sich alle bewegenden Keime aussenden. Diese wiederum hatten die Aufgabe, der Melodie Wesen in ihren verschiedensten Seiten zur Entfaltung zu bringen, sich unter einander zu stets neuen, ahnungsvollen Farbentönen zu gruppiren, und, um alles zu vollenden, auch von dem Inhalt der Dichtung durch ausdrucksvolle musikalische Gestalten ein Bewußtsein aufdämmern zu lassen. Um dies alles zu leisten, mußten sie sich mit größtmöglicher Selbständigkeit bewegen nach dem Gesetze, daß, je freier der Dienende ist, um so geehrter der Herrscher. Pachelbel gab zur Zeit seiner höchsten Reife (wahrscheinlich 1693 bei Johann Christoph Weigel in Nürnberg) acht Choralbearbeitungen heraus, welche die Höhe seiner Leistungen in diesem Fache bezeichnen können17. Die Mehrzahl derselben ist so beschaffen, daß die Melodie in ihren getrennten Zeilenabschnitten langsam und bedeutungsvoll in der Ober- oder Unterstimme hinzieht; der Satz ist streng drei- oder vierstimmig, so daß jedesmal erst durch den Zutritt der Melodie die reichste Harmonie entsteht, und dieselbe hierdurch schon sich heraushebt. Eingeleitet wird jede Zeile durch kurze imitatorische Sätze, welche ihren Stoff aus den Anfangsnoten der Zeile nehmen, und so auf diese vorbereiten, aber in doppelter oder vierfacher Verkleinerung, damit der Choral nicht vorher abgeschwächt werde, sondern sich auch rhythmisch bedeutungsvoll abhebe. Das eigentlich contrapunctische Material wird aber nicht daher genommen, sondern frei erfunden, doch werden eine oder einige Figuren festgehalten, die durch gegenseitige Nachahmung einander bedingen und forttreiben. Diese Stelle:


 

5.


 

[111] aus dem Choral: »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«, welche die letzte Verszeile darstellt, wird die Sache verdeutlichen. Im ersten Takte werden die drei ersten Noten der Melodie, fed, vorbereitend angedeutet, dann tritt diese selbst im Pedale ein und die Oberstimmen spielen imitatorisch darüber hin mit einer bei Pachelbel viel vorkommenden Manier; auch die parallel gehende Bewegung derselben hat er häufig – die höchste Stufe contrapunctischer Freiheit ist eben noch nicht erreicht. Daß die Zwischenspiele mit dem Contrapunct nicht desselben Stoffes sind, ist ebenfalls ein Mangel. Aber sonst ist der Fluß der Stimmen doch schon ein sehr zwangloser und geschmeidiger, dabei natürlich durch und durch orgelgemäßer, und wir wissen, daß er selbst von seinen Schülern eine »cantable« Setzart forderte, was eben nichts andres bedeuten soll18. Auf den Inhalt des Melodietextes geht der Componist bei Bildung der contrapunctirenden Themen gewöhnlich nicht ein, die pastorale, heitere [112] Haltung derselben bei dem Choral: »Vom Himmel hoch« ist etwas vereinzeltes, und hier blieb dem Tiefsinn eines Sebastian Bach noch ein wenig bebautes Feld. – Diese Weise nun herrscht in den Pachelbelschen Chorälen so sehr vor, und wo sie sich bei seinen Zeitgenossen findet, da ist der Einfluß seiner Musik auch an so manchen andern Merkmalen erkennbar, daß man unbedenklich sagen kann, sie seien ihm darin gefolgt, und die ganze Weise als die seinige zu bezeichnen ein Recht hat. Denn wenn auch Ansätze dazu schon früher vorkommen, so ist er es doch gewesen, der mit überlegnem Talent und Formgefühl die zerstreuten Elemente zu einem wirklichen Kunstgebilde zusammengeschlossen hat. Weniger häufig, aber auch mit Meisterschaft, contrapunctirt er die Choralmelodie in fortlaufendem Zuge und ohne Zwischenspiele, wenn man nämlich, wie billig, diesen Namen nur in sich selbständigen, wenn auch noch so kurzen Gebilden giebt, nicht aber einer nur weiter gehenden und vielleicht einen Takt ausfüllenden Figur. Hierzu mag, um bei dem schon angeführten Choralwerke zu bleiben, die Bearbeitung von »Nun lob mein Seel den Herren« ein Beispiel sein19, welche auch deshalb merkenswerth ist, weil die Melodie in der Mittelstimme liegt, eine Aufgabe, an die man sich damals noch nicht gern wagte. Selten nimmt er den Choral so durch, daß die Oberstimme die Melodie colorirend umspielt, und zwischen den Zeilen motivische Zwischensätze ertönen; hierin steht er auch an Feinheit und Geschmack hinter Buxtehude und dessen Schülern zurück. Aber gesteigert hat er den Kunstwerth »seiner« Manier noch dadurch, daß er in einer Anzahl von trefflichen Arbeiten dem Chorale eine Fuge über die erste Melodiezeile voraufschickt. Man erkennt daraus, wie fest der Meister sein Ideal anschaute, den Choral mit all seinen kirchlichen Beziehungen zum Gegenstand rein künstlerischer Verklärung zu machen, und gleichsam als ein Naturschönes für seine Kunstthätigkeit anzusehen. Die vorangehende Fuge ist gewissermaßen das Praeludium, nur daß alles ungehinderter und reicher ausgeführt ist, und sie sich zu einer Choralfuge Johann Christoph Bachs verhält, wie das Ideal zur bloßen Wirklichkeit; ja man braucht nur Pachelbels eigne ausschließlich zum praktischen Kirchengebrauch bestimmten [113] Choralfughetten zu vergleichen, um des ganzen Unterschieds inne zu werden. Die der Fuge nachfolgende Choralbearbeitung stellt sich dagegen mit allen dem Meister zu Gebote stehenden Mitteln als die Hauptsache dar. Die Melodie erklingt in verdoppelten Notenwerthen, oft im Bass mit majestätischen Octavenverdopplungen, und glänzende, ausdrucksvolle Figurationen ranken sich blühend an ihr hinauf. Einige der schönsten sind die Arbeiten über »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, »Vom Himmel hoch«, »Nun komm der Heiden Heiland«20, und »Christ lag in Todesbanden«21, andre sind einfacher, aber nicht weniger trefflich. Ueber die alleinstehenden Choral-Kunstfugen braucht nun nicht mehr gesprochen zu werden, da sie ihrem Wesen nach gleich sind und nur selbständig abschließen22. Aber über die Fugenform an sich seien bei dieser Gelegenheit noch einige Worte erlaubt. Man nennt Frescobaldi ihren eigentlichen Erfinder, was wieder nur bedeuten soll, daß er zuerst die fugirte Spielweise nach festeren Kunstgrundsätzen verwendete. Die hohe Bedeutung dieses Meisters ist schon oben zugestanden, doch konnte sich die Form erst recht entfalten nach allgemeiner Durchdringung des harmonischen Systems, weil erst dieses den genetischen Zusammenhang zwischen Führer und Gefährten deutlich fühlbar und überhaupt einen aus rein tonlichen Mitteln hergestellten Plan und organischen Zusammenhang eines Instrumentalwerkes möglich machte. Erst dann bildete sich auch die Quinten-Fuge als unbedingt vollkommenste derartige Form aus allen den Canzonen, Capriccios und Fantasien heraus, mit welchen Namen man früher ohne erkennbaren Wesensunterschied alles fugirte zu benennen pflegte. Das Beste, was die späteren katholischen Orgelmeister in der Fuge geleistet haben, ist in ihren Toccaten enthalten. Die siebente Toccate aus Georg Muffats obengenanntem Werke schließt mit einer Fuge, in der nicht weniger als vier höchst anmuthig erfundene Themen sehr gewandt verarbeitet werden, auch in der zweiten, vierten, sechsten Toccate finden sich treffliche Fugen-Partien, die überall verstreuten frei imitirenden Sätze nicht gerechnet. Aber [114] der Abstand von der spätern mitteldeutschen Fugenkunst ist auch sogleich erkennbar. Die harmonische Stütze der Themen ist eine viel einfachere, man kann sie oft nur als Accorde, nicht als Contrapuncte bezeichnen, sie tragen die Motive viel mehr, als daß sie selbständig mit ihnen verkehrten. Wie wir wiederholt sagten, war es zur Entwicklung der Orgelkunst nothwendig, daß man sich vorher ganz im neuen Tonsystem festsetzte, dann aber drängte das Wesen der Orgel zu einer Polyphonie hin, die, wenngleich grundverschieden von der Vocal-Polyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts, dieser doch ähnlich scheinen konnte. Alle Mittel nun, die zur Erreichung dieses Zieles die Orgelmeister aus der Behandlung des protestantischen Chorals gewannen, fehlen jenen südlichen Künstlern, nicht nur die Biegsamkeit der Harmonie, die Geschmeidigkeit und Freiheit der contrapunctirenden Stimmen, sondern auch das sichere, selbstbewußte Auftreten der Themen, die besonders bei Sebastian Bach sich immer vorstellen wie Individuen mit unvergeßlichen Gesichtszügen. Bei Muffat und andern haben sie in ihrem Auftreten etwas ängstliches, wagen sich nicht recht heraus, suchen an dem frühzeitig eintretenden Gefährten eine Stütze, und verlieren sich darum mit ihrem Ende gewöhnlich in die allgemeine Phrase. Auch hängt hiermit zusammen, daß eine bestimmte Stimmenanzahl nicht immer durchgeführt wird, oder die Stimmen oft nur nach harmonischem Bedürfniß einsetzen und pausiren. Pachelbel zeigt nach dieser Seite hin einen ganz bedeutenden Fortschritt, besonders in dem plastischen Heraustretenlassen der Themen wandelt er schon ganz in dem Wege Sebastian Bachs und Händels, die Contrapunctik ist manchmal schon recht belebt, oft freilich auch noch steif und wenigsagend. Folgendes Beispiel kann alles veranschaulichen23


 

5.


 

5.


 

[115] Pachelbel bildete in Thüringen eine Menge von Schülern, sowohl durch directe Unterweisung als durch indirecte Anregung. Zu ersteren gehörte J.H. Buttstedt (1666–1727), seines Lehrers Nachfolger an der Predigerkirche in Erfurt, und durch den Streit mit Mattheson wegen dessen »neueröffnetem Orchestre« weniger vortheilhaft bekannt, aber ein tüchtiger Meister seines Instruments und bemerkenswerther Componist von Orgelchorälen und auch Fugen24. Ferner Nikolaus Vetter (geb. 1666), der noch 1730 als Organist in Rudolstadt wirkte, und seinem Lehrer ebenfalls Ehre gemacht hat. Weiter standen in mehr oder minder nahem Verhältniß der jung verstorbene Andreas Armstroff (1670–1699), Organist in Erfurt, der magdeburgische Organist Johann Graff (gest. 1709), und von der nachfolgenden Generation wandelten in seinen Bahnen an hervorragenderen Persönlichkeiten Georg Fr. Kauffmann (1679–1735), ein Schüler Buttstedts, der geistvolle hallesche Organist Gottfried Kirchhoff (1685–1746), und vor allem Johann Gottfried Walther in Weimar (1684–1748). Sein Einfluß machte sich nach und nach durch ganz Thüringen und Sachsen fühlbar, und so auch dem Bachschen Geschlechte, das ihm in dem ältesten Bruder Sebastians einen Schüler gestellt hat, vielleicht auch in dem nachmaligen Eisenacher Organisten Bernhard [116] Bach. Im übrigen war es jedoch innerlich zu selbständig, um sich ganz und gar einer von außen gebrachten Richtung hinzugeben, dies war ja eben der Grund, weshalb es später noch ein Höheres und Umfassenderes leisten konnte. Ja bei Johann Christoph Bach, der doch eine Weile mit Pachelbel in Eisenach zusammenlebte, ist auch nicht einmal irgend welcher Einfluß erkennbar, eher dürfte es umgekehrt sein. Aber Michael Bach hat sich Pachelbels Weise zu Nutze gemacht, und es weisen auch einige Anzeichen auf ein persönliches Verhältniß beider Künstler hin.

Die fünf erhaltenen Orgelstücke Michael Bachs also behandeln die Choräle: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, »Wenn mein Stündlein vorhanden ist«, »Nun freut euch, lieben Christen g'mein«25, »In dich hab ich gehoffet, Herr«, und »Dies sind die heilgen zehn Gebot«. Die letzten beiden sind ganz in der oben beschriebenen, Pachelbelsch zu nennenden Weise. Da auch Johann Christoph, und Pachelbel selbst den Choral »In dich hab ich« bearbeitet haben, so kann man an der Vergleichung sehen, wie jener in biegsamer und melodischer Contrapunctirung hinter den beiden andern zurückbleibt. Nur die Anfänge der drei Bearbeitungen mögen hier neben einander stehen:


 

5.


 

5.


 

 

[117] Im dritten Stück contrapunctirt Michael Bach die fortlaufende Choralmelodie recht schön und fließend, bemüht sich auch, bestimmte Figuren fest zu halten, und schickt dem Ganzen eine kurze Fugirung der ersten Zeile voran. Die beiden erstgenannten Choräle zeigen keine ganz klar herausgearbeitete Form, sind unsicherer und unvollkommner. Der zweite von ihnen führt die Anfangszeile dreistimmig einmal durch, schließt nach einem kurzen Zwischenspiel die zweite unfugirt an, interludirt wieder zwei Takte und bringt nun den Cantus firmus beider Zeilen im Pedal, aber nicht in verdoppelten Notenwerthen. Darnach folgt die erste Zeile des Abgesanges einmal imitirt, dann die zweite, welcher das Pedal canonisch nachgeht, und ebenso abschließend die dritte. Die erste Zeile des Abgesanges tritt also im Pedal gar nicht auf, das Stück hat keinen Mittelpunkt und keine Ordnung. Wenn man Pachelbels Arbeit über die gleiche Melodie daneben hält, der, wie er es liebt, dem vollen, reich figurirten Chorale eine Choralfuge voran gehen läßt, so scheint es, als habe Michael Bach diese in nicht ganz glücklicher Weise nachgeahmt. Und wenn Pachelbel einmal den Cantus firmus nicht in vergrößerten Noten einführt, so weiß er ihn doch durch andere Mittel, z.B. reichere Figurirung, plastisch [118] hervorzuheben26; auch dies hat Michael Bach unterlassen. »Allein Gott in der Höh« endlich ist derart angelegt, daß immer eine Zeile fugirt auf dem Rückpositiv vorgetragen wird, und darauf diese Zeile, zuweilen mit der folgenden vereint, auf dem Oberwerk in ganz einfachen vierstimmigen Harmonien eintritt. Dies ist aber auch keine centrale Gestaltung, denn was durch kunstmäßige Mittel hervorgebracht werden müßte, soll hier nur durch Klangwechsel erreicht werden, oder wenn durch den einfachen Choralsatz der Gemeindegesang angedeutet werden soll, so ist die Bedeutung eines kirchlichen Vorgangs mißverständlich auf das ideale Kunstgebiet übertragen, wo ganz andre Wertschätzungen herrschen. Mit der bloßen Copirung der Wirklichkeit ist es nicht gethan. Noch bei dem um funfzehn Jahre jüngern Zachau, dem Lehrer Händels, findet sich ähnliches in Bearbeitungen von »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit«, »Erbarm dich mein, o Herre Gott«, »Vater unser im Himmelreich«. Michael Bach stand also mit solchen Mißgriffen nicht vereinzelt da.

Wenn soeben die Vermuthung geäußert wurde, als ob Joh. Christoph Bachs eigenthümliche Größe nicht ohne Eindruck auf Pachelbel geblieben wäre, obgleich dieser als Orgelkünstler ja den ältern Meister weit übertraf, so gründet sich dieselbe zunächst auf eine Behandlung des Chorals »Warum betrübst du dich, mein Herz«27, wo Pachelbel mit der erwähnten Arbeit gleichen Gegenstandes, die Joh. Christophs Choralsammlung beschließt, eine kaum zufällige Uebereinstimmung zeigt. Bach umspielt bei der ersten Einführung die sechste und siebente Note der Melodie durch eine punktirte Achtelfigur, an deren Stelle er aber im Verlauf eine chromatische Figur setzt, um das »betrübte« Herz anzudeuten. Eine solche Umspielung findet sich auch sonst bei ihm, wogegen Pachelbel bei fugirten Sätzen die Melodiezeile unverändert zu lassen pflegt. In der genannten Bearbeitung hat er die Umspielung aber ebenfalls, führt sie consequent durch die ganze Choralfuge und verleiht ihr dadurch größere Berechtigung. Noch mehr, auch das chromatische Motiv ist von ihm [119] angewendet, doch nicht im Thema, sondern als Contrasubject; derartige Andeutungen des Liedinhalts in der Choralfuge sind sonst ebenfalls seine Gewohnheit nicht. So nimmt die ganze Arbeit, wie sie zu des Meisters schönsten gehört, auch eine besondere Stellung unter ihren Gattungsverwandten ein28. Gestützt auf dieses Resultat ist nun vielleicht noch eine weitere Vermuthung erlaubt, daß nämlich Pachelbel durch Joh. Christophs Sammlung von Choralpraeludien zu einem ähnlichen Unternehmen angeregt sei. Er hatte, wohl zunächst zum häuslichen Gebrauche, eine Reihe von 160 Choralmelodien mit beziffertem Basse in ein »Tabulaturbuch« zusammengetragen und der Hälfte derselben kurze Choralfugen als Vorspiele beigefügt29. Diese sind nun ganz desselben Charakters, wie die Bachschen Arbeiten: kurz, leicht die Oberfläche streifend und so für den Gesang der Gemeinde passend vorbereitend; nur zeigt sich, wie zu erwarten, ein freieres und flüssigeres Wesen als bei Bach. Und was besonders merkenswerth ist, auch zu dem Liede: »Warum betrübst du dich, mein Herz« findet sich eine Choralfuge, und zwar ebenfalls mit der punktirten Umspielung. Sollte diese Ansicht das Richtige treffen, so ist klar, mit wie wenig Recht man von andrer Seite behaupten konnte, Bach habe selbst in der vocalen Chormusik von Pachelbel gelernt30. Daß dies bei dem 12 Jahre ältern, in sich abgeschlossenen Bach gegenüber dem bildungsempfänglichen, viel gewanderten Pachelbel schon an sich sehr [120] unwahrscheinlich, leuchtet ein. Man braucht aber auch nur eine Motette des letztern durchzusehen, um die factische Unrichtigkeit dieser Behauptung bewiesen zu finden. Zwischen den freundlichen, wohlklingenden Weisen Pachelbels und den gedankenschweren, kühnen Gestaltungen Bachs ist so gut wie gar keine Verwandtschaft. Wenn aber die Ueberlieferung besteht, daß Pachelbel »die Kirchenmusik vollkommener gemacht«31, so bezieht sich das zuverlässig auf seine concerthaften (d.h. mit obligaten Instrumenten gesetzten Vocalstücke, und besonders auf die Verwendung des Chorals darin. Hier konnte ihm die durch seine Orgelcompositionen erworbene Technik treffliche Dienste leisten, und er hat sie in geschickter Weise für den Vocalstil zu benutzen gewußt, auch in dieser Hinsicht der directe Vorgänger Seb. Bachs. Seine Cantate über das Rodigastsche Lied: »Was Gott thut, das ist wohlgethan«, wovon die Melodie wahrscheinlich ihm ebenfalls angehört, ist ein sehr merkenswerthes Beispiel für den Stand der Kirchenmusik um die Wende des 17. Jahrhunderts32. Man irrt sich jedoch, wenn man ihn für alleinstehend hält mit solchen Arbeiten. Wir werden im Verlaufe Cantaten von Buxtehude kennen lernen, die Pachelbel wenigstens an Innigkeit und Geist noch übertreffen. – Uebrigens liefert zu seiner Thätigkeit als kirchlicher Vocal-Componist vielleicht noch die Dur-Melodie zu »Wo soll ich fliehen hin«:


 

5.


 

einen Beitrag. In jener Zeit muß sie entstanden sein, sie findet sich in Pachelbels Tabulatur-Buche, ist hier mit einer Choralfuge versehen, und späterhin auch von Joh. Gottfr. Walther mit besonderer Hingebung bearbeitet, was bei dessen großer Verehrung für Pachelbel sehr ins Gewicht fällt. Wäre dieser ihr Schöpfer33, so besäßen wir daran eine Handhabe, um auf ein vertrauteres Verhältniß zwischen ihm und Michael Bach zu schließen, denn Bach [121] hat die damals noch wenig bekannte Weise seiner Motette: »Das Blut Jesu Christi« eingewoben. Es ist gleich noch ein anderer Umstand zu erwähnen, der ein solches Verhältniß ziemlich sicher bezeugt; durch ihn bestärkt sich die Vermuthung, daß die Verwendung in der Motette eine freundschaftliche Aufmerksamkeit sei, und wird zu einem weitern Wahrscheinlichkeitsbeweise für Pachelbels Urheberschaft der Melodie.

Pachelbel hatte bei seiner Vielseitigkeit nicht nur der Orgel und dem Clavier (er soll zuerst die Form der französischen Ouverture auf dieses übertragen haben), sondern auch andern Instrumentalgattungen seine Thätigkeit zugewandt, unter anderm der Sonate. Man muß zwei Arten derselben unterscheiden, die weltliche, bei Tafelmusiken gebräuchliche, und die Kirchen-Sonate. Letztere ging in der Regel einem kirchlichen Vocalstücke voran, ihr eigentlicher Begründer ist Joh. Gabrieli. Natürlich hat die Form mit unserer modernen Sonate nichts gemein. Es war ein vielstimmiges Instrumentalstück, bei dem es hauptsächlich auf Entfaltung voller und schöner Harmonien ankam, weniger auf Durchführung eines bestimmten Themas; gern wurden die damals in der Kirche gebräuchlichen Tonwerkzeuge: Geigen, Zinken, Posaunen, einander chorweise gegenüber gestellt. Abgesehen von dem immer klareren Heraustreten der neuen Tonarten hat sich das Wesen der Kirchen-Sonate durch das ganze 17. Jahrhundert nicht durchgreifend geändert. Allerdings gewann in den letzten Jahrzehnten die Lullysche Ouverturen-Form, welche auf einen breiten, oft mit glänzenden Passagen verzierten Einleitungssatz langsamen Zeitmaßes ein feurig bewegtes Fugato folgen läßt, einigen Einfluß. Denn wenngleich schon Hammerschmidt einen ähnlichen Gegensatz anwendete, lange ehe Lully seine epochemachenden Ouverturen geschrieben hatte34, so ist doch bei späteren Componisten die contrastirende Zweitheilung oft zu absichtsvoll und scharf, als daß man hier die Anwendung eines bewußten Formprincips verkennen könnte35. Aber vielfach [122] begnügt man sich auch jetzt noch mit einem ruhigen, harmonie- und bindungsreichen Satze, und wenn ein lebhafteres Tempo (oft im ungeraden Takte) folgt, so ist es doch keineswegs immer fugirt, sondern zeigt eben so oft nur einige freie Imitationen. In dieser Weise ist die Sonate gestaltet zu Joh. Christoph Bachs Kirchenstück: »Es erhub sich ein Streit im Himmel«, in jener, freilich ohne ein Muster geworden zu sein, die Einleitung zu Michael Bachs oben besprochener Cantate. Und ebenso ist auch jetzt noch die Gegenüberstellung verschiedener Instrumentenchöre beliebt. Nachzuweisen, wie Sebastian Bach sich zur Kirchen-Sonate stellte, wird am passenden Orte unsere interessante Aufgabe sein. Wenn wir lesen, daß Pachelbel zweichörige Sonaten geschrieben habe, so dürfen wir dies seiner Lebensstellung nach wohl von Kirchensonaten verstehen und wissen also, was darunter zu denken ist. Aber auch mit der weltlichen Instrumentalcomposition, nämlich der Serenata, hat er sich befaßt. Abendmusiken jener Zeit wurden entweder mit vocalen und instrumentalen, oder nur mit instrumentalen Mitteln veranstaltet. Daß für letztern Fall eine besondere Kunstform existirte, ist höchst unwahrscheinlich: man spielte eine Reihe von Tänzen und Märschen auf. Von Pachelbel wird aber berichtet, daß er »eine Serenate« componirt habe, und da sie zugleich mit seinen Sonaten erwähnt wird, so mag sie ähnlich angelegt gewesen sein, nur heiterer und belebter. Diese Serenate nun stand in einer sehr nahen Beziehung zu Michael Bach, und wurde ihm selbst vermuthlich bei irgend einer Feierlichkeit gebracht. Denn er revanchirte sich Pachelbel gegenüber bei passender Gelegenheit mit einem ähnlichen Stücke, und beider Meister Werke sollen von solcher Trefflichkeit gewesen sein, daß Buttstedt noch lange nach ihrem Tode darauf verweisen, und sie in ihrer Art über die Lullyschen Ouverturen stellen konnte36. Michael Bachs Thätigkeit [123] als Sonatencomponist ist oben schon berührt, hier kam es vor allem darauf an, das Bestehen eines intimeren Verhältnisses zwischen ihm und Pachelbel möglichst wahrscheinlich zu machen. Da Sebastian Bach durch seine erste Heirath aufs engste mit Michaels Hause verknüpft wurde, in welchem auch nach seinem Tode die Erinnerung an den Freund fortleben mußte, und dessen Compositionen gewiß besonders hochgeschätzt und vielleicht in reichlicherer Fülle bewahrt wurden, so ist es von weitertragender Bedeutung.

Weder von den gerühmten Sonaten noch den Clavier-Compositionen Michael Bachs ist mir irgend etwas zu Gesicht gekommen. Von Joh. Christoph Bach liegen drei Variationenwerke für Clavier vor, und zu dem Eisenacher Meister, von dem wir ausgingen, zurückkehrend, wollen wir die Darstellung der musikalischen Thätigkeit des Brüderpaars beschließen. Das Clavier spielte lange Zeit der Orgel gegenüber eine untergeordnete Rolle, mit der es, besonders als Clavicembalo, in der Biegungsunfähigkeit des Tones und der Anwendung verschiedener Tastaturen ziemlich verwandt war. Aber der schnell verhallende Klang brachte doch auch das Cembalo wieder in Gegensatz zu der Orgel, und beim Clavichord war ein solcher in der Nuancirungsfähigkeit des wenngleich schwachen Tones noch stärker gegeben. Während nun in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts Orgel- und Claviermäßiges nicht geschieden wurde, und – ich denke an Scheidts Tabulatura nova – man der Orgel oft Dinge zumuthete, die sie nicht zu leisten brauchte, so bildete sich in der zweiten Hälfte desselben ein besonderer, vorzüglich auf die Eigenschaften des Cembalo gegründeter Clavierstil aus. Sein Wesen beruht auf einer gesteigerten Beweglichkeit der Tonreihen, wodurch die mangelnde Tonausdauer verhüllt und, so gut es ging, ersetzt werden mußte. Für einen solchen Stil war die figurirende, von Scheidt schon angebaute Variation eine sehr geeignete Form. Ein Tonsatz von einfacher Construction mit klar hervortretender, behältlicher Melodie, eine Arie, Sarabande, ein Choral wurde als Thema aufgestellt und durch Figurationen der rechten Hand so umspielt, daß die Spitzen der Melodie gestreift wurden, oder melodisch leicht umgebildet, [124] daß die wesentlichen Züge immer erkennbar blieben. Abwechslungsweise trat dann auch eine laufende Figur in der linken Hand ein, und oben wurde das einfache Thema vorgetragen. Dabei verließ man die rhythmischen Grundverhältnisse des Themas nicht; war es zweitheilig, so mußten dies auch die Variationen sein, und enthielt jeder Theil acht Takte, so fanden sich diese auch in den Veränderungen wieder. Choräle wurden besonders gern hierzu benutzt, und so mußten die damals Lebenden wohl noch manchmal das leichtfertige Figurenwerk auch auf der Orgel hören. Buxtehude machte sogar aus dem schön-ernsten Choral: »Auf meinen lieben Gott« durch Variationen eine ganze Suite zurecht, mit Sarabande, Courante und Gigue, wo die Melodie sehr geschickt fest gehalten ist trotz der verschiedenen Taktarten und des wechselnden Charakters der Tanztypen37. Solche Arbeiten wurden sicher ohne alle Frivolität nur aus Freude am Tonspiel unternommen. Eine reiche Erfindungskraft in dieser Gattung bewies vor allen Georg Böhm an der Johanniskirche in Lüneburg, ein jüngerer Zeitgenosse Joh. Christoph Bachs, und gleichfalls Thüringer, der auch, wie wir sehen werden, Sebastian Bach in diese Kunst einführte. Auch von Buttstedt, selbst von Pachelbel liegen derartige Arbeiten vor38, ab und an stahl sich aus dem benachbarten Orgelgebiete eine künstlichere und tiefsinnigere Combination hinüber. Die Benennungen waren Veränderung, Variation, Partie, Partita, bei Chorälen auch wohl nur Vers, indem man es liebte, soviel Variationen zu machen, als das Lied Verse hatte, aber ohne erkennbare Rücksicht auf den jedesmaligen Text. Diese leichtbeschwingten, oft höchst anmuthigen Gebilde hatten für die Kunstentwicklung den höheren Zweck, daß sie einmal der Ausbildung der Fingergeläufigkeit dienten, und dann in einer Fülle von Figurationen und geschmeidigen Wendungen ein Material beschafften, dessen sich eine spätere Generation zur Erreichung der höchsten Ziele der Claviermusik bedienen konnte. Einer erheblichen Vertiefung war diese Variationenform nicht fähig, deshalb ging Seb. [125] Bach in seinen Goldbergschen Variationen auch davon ab zu einer frei-motivischen Behandlung des Themas, und Beethoven, Schumann, Brahms wurden darin seine Nachfolger; die bloße Figural-Variation hat daneben freilich üppig fortgewuchert bis in die neuere und neuste Zeit.

Joh. Christoph Bachs zwölf Variationen über eine Sarabande aus G dur39 sind Bildchen voll von Geist und Grazie. Die Sarabande besteht aus drei sämmtlich zu repetirenden Theilen, der erste zählt acht Takte, die beiden letzten zählen je vier; diese echoartige Wiederholung zwei so kurzer Perioden führt auf die Vermuthung, daß der Componist für ein Cembalo von zwei Clavieren geschrieben hat, auf denen die Theilchen abwechselnd gespielt wurden. Es fehlt nicht an feinem harmonischen Gewürz, gleich daß das Thema mit dem Sextaccorde anfängt (nur so kann man die Harmonie verstehen, obgleich das kennzeichnende E nachschlägt), ist eine Chr. Bachsche Kühnheit. In der Schluß-Variation kommt gar diese Accordfolge vor:


 

5.


 

 

Die erste Variation hat eine umspielende Achtelfigur in der rechten Hand, die zweite einen schön fließen den Achtel-Bass, die dritte giebt durch eine anmuthige kleine Umbildung der Melodie einen neuen Charakter, in der vierten wechselt die Achtelbewegung Takt um Takt in beiden Händen ab, von der fünften an treten Sechzehntel auf, dazwischen sind aber als Contrast auch wieder ruhige Variationen gestreut, so z.B. die sechste, welche in ihrer überschwänglichen chromatischen Harmonik einen Buxtehude verwandten Zug hat, die elfte Variation hat wieder Achtel, die letzte schließt ganz ruhig im breiten 3/2 Takt. Sebastian Bach scheint das Werkchen gekannt und geliebt zu haben, in seinen A moll-Variationen [126] findet sich manches ähnlich gedachte, und der Anfang der dritten Goldbergschen Variation40 scheint eine Weiterbildung von J. Chr. Bachs vierter zu sein:


 

5.


 

Da nun in ziemlich erkennbarer Weise die herrliche vierte Variation in Beethovens Claviersonate Op. 109 in Sebastian Bachs Composition ihre Wurzel hat, so ließe sich damit der indirecte Einfluß Joh. Christophs bis auf die moderne Zeit darthun. Beethoven verehrte sehr Sebastian Bachs Clavierwerke, und eine solche Weiterbildung hat nichts ungewöhnliches. Reminiscenzen an ihn stoßen besonders in den früheren Claviersonaten häufiger auf.

Ueber eine Arie des damaligen Capellmeisters zu Eisenach, Daniel Eberlin, die etwas wie ein Schlummerlied zu sein scheint und in Es dur steht, sind funfzehn Variationen vorhanden. Manche derselben, welche die Melodie wie einen Cantus firmus bald ruhiger bald bewegter contrapunctiren, haben etwas orgelmäßiges; sehr hübsch macht sich die Melodie in der elften Variation als Tenor, und die neunte bildet ein Seitenstück zur sechsten der vorigen Reihe, aber die Anwendung der Chromatik ist noch verwegener und giebt der Harmonie einen seltsam berauschenden, an modernste Erzeugnisse von Schubert und Schumann erinnernden Ausdruck. [127] Es wäre darauf zu wetten: Niemand würde bei sonstiger Unbekanntschaft mit der Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts heutzutage ahnen, daß diese Variationen im Jahre 1690 componirt sind; eher könnte wegen ihrer weichen Süßigkeit auf Mozart gerathen werden, der ja auch mit wunderbarer Ausdruckskraft chromatische Wendungen und Motive zu gebrauchen wußte. Was die Figuration betrifft, so zeigt sie sich nicht sehr mannigfaltig, wenngleich durchweg anmuthig, auch die Gruppirung der Variationen ist ziemlich dieselbe, wie die des ersten Cyklus. Daß nach dieser Seite hin Joh. Chr. Bachs Talent nicht gravitirte, bestätigt ebenso das dritte Werkchen: funfzehn Variationen über eine zweimal viertaktige Arie in A moll, welches alle liebenswürdigen Eigenschaften der andern beiden theilt, ohne uns jedoch etwas wesentlich neues zu lehren. In einigen Variationen überwiegt wieder der Orgelcharakter: in der siebenten, wo zwischen den ruhigen Viertelgang der übrigen Stimmen in den Tenor ein schöner Sechzehntelstrom gegossen ist, in der achten, wo dasselbe für den Alt geschieht, in der zwölften, welche den Cantus firmus in den Bass verweist. Die Contrapunctirung ist meisterlich und läßt den Verlust wirklicher bedeutender Orgelcompositionen desto mehr beklagen. Uebrigens sind hier die Anklänge an Sebastian Bachs A moll-Variationen noch viel auffälliger und werden schwerlich vom Ungefähr herstammen41.

Daß Joh. Chr. Bach die Gattung noch weiter gepflegt hat, ist anzunehmen, kann aber auch bewiesen werden. Gerber besaß ein Heftchen, enthaltend eine Arie in B dur mit Variationen, in der vierten war der Abschreiber stecken geblieben, das Heft aber wohl auf zwanzig berechnet42. Das ist nun alles verloren gegangen, aber die Arie läßt sich aus andrer Quelle wieder beibringen. Sie ist in dem »Geistreichen Gesangbuche«, das 1698 zu Darmstadt erschien, dem Liede Neanders »Komm; o komm, du Geist des Lebens« beigefügt und von dort in das Freylinghausensche Gesangbuch übergegangen. [128] Später gebrauchte man sie auch zu dem Liede der Gräfin Ludämilia Elisabeth »Jesus, Jesus, nichts als Jesus«. Da unbekannt ist, zu welchem, vermuthlich weltlichen Liede sie ursprünglich gehörte, läßt sich über den Werth dieser einfachen Tonreihen kein abschließendes Urtheil fällen. Als Choral-Melodie ist sie nicht besser und schlechter, als die meisten jener Zeit. Daß sie aber Joh. Christophs eigne Erfindung sei, dürfte kaum bezweifelt werden, da doch sonst, wie bei der Es dur-Arie, etwas über ihren Ursprung bemerkt sein würde.

Hiermit ist alles gesagt, was über die beiden reich begabten Söhne Heinrich Bachs zu melden war. Die Fülle ihrer Werke, dieser Spiegel, welcher hell und treu ihre volle Persönlichkeit zurückwerfen könnte, ist zersplittert, aus vereinzelten Scherben mußten die Hauptzüge hervorgelesen und, so gut es angehen wollte, zu einem Bilde zusammengedacht werden. Sollte dies nicht geglückt sein, so ist doch wenigstens das wohl klar geworden, daß sie verdienen, als künstlerische Persönlichkeiten bei der Nachwelt fortzuleben; sollte es aber, dann wäre dies ein erheblicher Gewinn für das Verständniß ihrer Zeit, wie auch der Kunst Sebastian Bachs, ihres jüngern und größeren Geschlechtsgenossen. Es ist noch übrig, sich nach ihren Nachkommen umzuschauen.

Fußnoten

 

 

VI.

 

Joh. Michaels einziger Sohn starb bald nach seiner Geburt, aus Joh. Christophs Ehe gingen vier männliche Sprößlinge hervor, von denen der älteste die größte Bedeutung erlangte. Dieser, Johann Nikolaus, wurde 1695 Stadt- und Universitäts-Organist in Jena und starb dort am 4. Nov. 1753, nachdem er 84 Jahre alt geworden war und 58 Jahre seinem Berufe obgelegen hatte, der kraftvolle letzte Zweig der reichbegabten Linie, und lange Zeit hindurch Senior des ganzen Geschlechts1. Er vermählte sich 1697 mit der Tochter eines Jenenser Goldschmidts: Anna Amalia Baurath; diese starb am 14. April 1713, und schon am 13. Oct. desselben Jahres schloß [129] er eine zweite Ehe mit Anna Sibylla Lange, der Tochter eines einstmaligen Pastors zu Isserstedt. Von den zehn Kindern, welche ihm mit der Zeit geboren wurden, starb die Hälfte ganz früh, von den Söhnen brachte es nur Johann Christian zu erwachsenen Jahren (1717–1738)2; den Vater überlebte keiner. Nikolaus Bach war seinen Zeitgenossen als fleißiger Suitencomponist bekannt, und wir müssen uns mit Reproduction dieser Aussage begnügen3. Es liegt aber noch eine Messe von ihm vor, die ihn auch nach andrer Richtung hin als ein beträchtliches Compositionstalent erscheinen läßt und als einen Künstler, dessen Gediegenheit ihn seines großen Vaters würdig machte4. Sie ist eine kurze Messe, umfaßt also nur Kyrie und Gloria; ersteres in E moll, letzteres in G dur; Besetzung: 2 Violinen, 2 Violen, Canto, Alto, Tenore, Basso, Orgel und Bässe; im Gloria tritt noch eine neue Vocal- oder Instrumental-Stimme hinzu. Das Werk ist sowohl nach Inhalt wie wegen seiner technischen Vollendung von großem Interesse. Es lehnt sich im Stil, melodisch, harmonisch wie rhythmisch, an die damaligen italiänischen Meister an, vor allem an Antonio Lotti, auch in der sang- und dankbaren Behandlung der Singstimme und in der Instrumentirung (2, einmal sogar 4 Violen); trägt demnach auch vorwiegend den Charakter allgemeiner Fest- und Feierlichkeit, nicht den subjectiv-religiöser Andacht. In das gesammte Gloria ist nun aber der Choral eingewebt, welcher im protestantischen Cultus dasselbe vertreten sollte: »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, und zwar je eine Strophe zu den vier Sätzen:Gloria in excelsis deo; Laudamus te, benedicimus te; Domine fili, unigenite; Quoniam tu solus sanctus. Die Schlußfuge: Cum sancto [130] spiritu ist ohne Choral. Hier ist also ein ausschließlich deutschprotestantisches Element eingemischt, dessen Behandlung auch nur nach der von den protestantischen Componisten ausgebildeten Weise geschehen konnte. Es sind somit zwei ganz verschiedene Stilgattungen zu einem Ganzen verschmolzen. Der Charakter des betreffenden Chorals erleichterte hier die Aufgabe, von der man sagen muß, daß sie von Nikolaus Bach vollständig und mit meisterlicher Beherrschung der Technik gelöst ist. Die Choralmelodie steht in der Sopranhöhe, sie möchte jedoch wohl nicht ursprünglich für eine Singstimme, sondern für ein Instrument, etwa Trompete oder Horn gesetzt sein, denn ein Sopran würde unter dem fast immer darüber hinausgehenden Sopran und Alt des vierstimmigen Chors unhörbar werden. Erst später wird man einen solchen den wirklichen Choral haben singen lassen, wie es in der mir vorliegenden Partitur steht, in welcher auch, da die Vermischung von deutschem und lateinischem Text anstößig erscheinen mußte, eine lateinische, sich reimende Uebersetzung des Kirchenliedes beigegeben ist. Es ist also dasselbe Verfahren, was Sebastian Bach imKyrie der F dur-Messe angewendet hat, wo zu dem Chor in den Hörnern der Choral: »Christe, du Lamm Gottes« ertönt, hier allerdings so viel kunstvoller und complicirter, als der deutsche Stil den italiänischen an Tiefsinn und Innigkeit überragt5. Es ist merkwürdig genug, die beiden Vettern hier an ein und derselben Aufgabe so ganz verschiedene Kunstrichtungen vertreten zu sehen. Nikolaus Bach hatte nach dem Vorbilde seines Vaters die italiänischen Meister eines eingehenden Studiums gewürdigt und durch Verbindung ihrer Errungenschaften mit der heimischen Musik auch in dieser Messe etwas eigenthümliches zu schaffen gewußt. Im allgemeinen muß man jedoch sagen, daß das Wesen des protestantischen Chorals sich nicht mit dem italiänischen Kirchenstile verträgt, und daß das Experiment vielleicht eben nur mit dieser Melodie, ihrem Charakter nach glücken konnte. Wollte Nik. Bach in dieser Weise zur höchsten Kunsthöhe gelangen, so mußte er den Weg einschlagen, welchen Händel nahm, er mußte [131] den protestantisch-kirchlichen Standpunkt und dessen ganz nach Innen gekehrtes Wesen verlassen, und den freien Ausblick allgemein menschlicher Betrachtung zu gewinnen suchen. Dies versagte ihm seine Lebensstellung, vielleicht auch schon seine ursprüngliche Anlage. Im andern Falle nützte der italiänische Stil nichts, und der einzige Pfad, welcher zum Ideale hinanführte, war der, welchen sein großer Vetter Sebastian verfolgte, indem er an der deutschen Orgelkunst einen eignen Vocalstil sich heranbildete. Aber, wie gesagt, die Meisterschaft, mit der diese Messe componirt ist, ist eine vollendete; sowohl in dem nicht sehr ausgedehnten Kyrie, dessen letztes, vortreffliches Fugato ohne weiteres Lotti gemacht haben könnte, als auch in dem vielsätzigenGloria. Hier verdient es besonders Bewunderung, mit welcher Selbständigkeit der vierstimmige Chor die Choralmelodie umrankt, wie reich die Erfindung ist, wie bestimmt und mannigfaltig der Ausdruck der so verschiedenen und doch durch die stete Wiederkehr des Chorals gebundenen Gedanken. Eine glänzende Fuge krönt das Werk, von dem schon des besondern historischen Interesses wegen zu wünschen wäre, daß es wieder allgemeiner bekannt würde, und das zuverlässig auch heute noch seiner vollen Wirkung sicher ist.

Der Zufall hat es gefügt, daß wir dieser Composition, die uns in eine Welt heiliger Ideale führen soll, ein andres Werk desselben Meisters gegenüberstellen können, welches gänzlich auf den derbsten Realismus gegründet ist: ein komisches Singspiel. Und dieser Zufall darf ein besonders glücklicher genannt werden, denn er fügt in das Bild vom Wesen und Treiben des Bachschen Geschlechtes, das wir hier zu entrollen versuchen, mit kräftiger Hand einen Zug, der zur wahrheitsgetreuen Vollendung nicht fehlen darf. Wie sehr auch der Sinn dieser Leute den hehrsten und ernstesten Dingen zugewendet war, sie standen doch mit ihren gesunden Füßen fest auf der Erde, sie bewahrten sich die Fähigkeit, in der menschlichen Beschränktheit sich zeitweilig behaglich zu fühlen, und für die heitern und komischen Seiten des sie umgebenden gewöhnlichen Lebens Auge und Verständniß zu haben. Daß, je transcendenter der Flug des Geistes und der Phantasie war, desto dringender hernach für jeden normal geschaffenen Menschen das Bedürfniß hervortritt, sich auch einmal recht ausgelassen in der irdischen Atmosphäre herum [132] zu tummeln, dies ist ein Erfahrungssatz, den das Leben all unserer großen Künstler bestätigt. Dem ganzen Bachschen Geschlechte ist die zeitweilige herzliche Freude an derben, muthwilligen Possen eigen gewesen. Wüßten wir dies nicht auch sonst aus guter Quelle, so wäre schon der Umstand, daß neben den im Dienst der Kirche und Schule stehenden Bachs so viele von ihnen sich dem leichtlebigen Kunstpfeiferthum zuwandten, Beweis genug dafür. Bei diesen Kunstgenossen setzt man einen solchen Zug schon von selbst voraus; daß er aber auch den andern nicht fehlte, zeigt uns, ehe wir es aus Sebastian Bachs eignen Werken erfahren, die mit Behagen geschriebene Burleske seines Vetters Nikolaus. Sie führt den Titel: »Der jenaische Wein-und Bierrufer«6, und ist eine lustige Scene aus dem Studentenleben, den Kunstformen der damals blühenden und besonders in Hamburg gepflegten deutschen Oper angepaßt. Die Aufführung hat natürlich auch bei irgend einer besondern Gelegenheit durch Studenten stattgefunden. Der einfache Inhalt ist folgender: Ein Preislied auf Jena, den Musensitz, singend, ziehen zwei junge Studenten, Peter und Clemon, zum Thore herein, von denen der zweite ein »crasser Fuchs« ist. Sie haben große Angst vor dem Prellen der jenensischen Burschen und beschließen, bei dem Wirthe Caspar einzukehren, der ein Landsmann beider und dem Peter von früher schon bekannt sei. Derselbe nimmt sie auf, setzt sich durch die Arie: »Ein Fuchs ist gar ein närrisch Thier, er kommt mir wie ein Affe für« den schüchternen Jünglingen gegenüber in Position, und beginnt ein herablassend-cordiales Gespräch mit ihnen. Der »grüne« Clemon ist eben dabei, die wichtigen Neuigkeiten aus der Heimath auszukramen: »Der Vater hat den Rock gewandt, die Mutter hat den Pelz verbrannt«, als man auf der Straße den Rufer »einen guten Fernewein« ausschreien hört. Dies erregt Aufmerksamkeit, und der Ausrufer verkündet in einer Arie mit komischer Würde seinen Stand und Charakter. Der Wirth fügt hinzu, es sei ein »ehrlicher Philister«, der aber viele Hänseleien erdulden müsse, und durch sein Schimpfen und Fauchen das allgemeine [133] Ergötzen sei. Der weitere Verlauf gestaltet sich nun so, daß der kecke Peter, zuletzt auch der furchtsame Clemon nebst dem Wirthe ans Fenster treten und durch Neckereien an dem wiederholt vorübergehenden Ausrufer ihr Müthchen kühlen; dieser versteht schlagfertig und zwar derb und cynisch zu antworten. Endlich artet die Sache aus, es kommt zu Thätlichkeiten und der Rufer droht die Füchse beim Rector zu verklagen. Sie bekommen Angst und entfernen sich; eine lustige vierstimmige Arie macht den Schluß, die das Treiben der Studenten in Jena besingt. Der Schwank mag an seinem poetischen Theile von einem solchen herrühren, er ist offenbar mitten aus dem dortigen Burschenleben gegriffen, und besonders scheint der Ausrufer Johannes auf eine ähnliche Persönlichkeit des damaligen Jena hinzudeuten. Von demselben Realismus ist die Musik, zumal in den Recitativen, welche den Verlauf der Handlung begleiten; die Art, wie Bach den Johannes ausrufen läßt, ahmt in possirlicher Weise den wirklichen Tonfall solcher Leute nach, die kurz hineingeworfenen Neckereien der am Fenster lauernden Schelme sind eine sehr gelungene Sprechmusik, und ergötzlich ist es, wie der Alte im raschesten Sprachtone seinen Angreifern bei Seite zu dienen weiß und ohne nur Athem zu schöpfen in seiner öffentlichen Beschäftigung fortfährt. Das Vergnügen, mit der hier der Componist die komische Wirklichkeit copirt hat, ist unverkennbar, wie er denn überhaupt mit der Studentenschaft in sehr gutem Einvernehmen gelebt haben muß. Aber es bleibt doch alles maß- und formvoll; Bach hat keinen Augenblick vergessen, daß er Künstler war, ebenso wie auch Mozart in derartigen Späßen sich der Naturwahrheit bis aufs äußerste nähern konnte und doch immer Musik machte. Die eingestreuten Arien, in denen die Musik zu ihrem vollen Rechte kommen soll, sind in jenen kleinen Formen der damaligen deutschen Oper gehalten, welche zwischen dem deutschen Liede des 17. Jahrhunderts und der italiänischen entwickelten Arie in der Mitte stehen, sie zeigen viel Frische, oft eine barocke Possenhaftigkeit und sehr gute Mache.

Von N. Bachs Fertigkeit als Spieler haben wir keine Nachricht, und von seinen Orgelcompositionen war nur eine zweistimmige Behandlung des Chorals »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« im Pachelbelschen Stile aufzufinden, die zur Begründung [134] eines Urtheils zu klein und unbedeutend ist7. Was aber noch mehr als seine Compositionen ihm Ruf erworben hat, war eine hervorragende Tüchtigkeit und Erfindsamkeit im Instrumentenbau. Als Jakob Adlung, später Professor an der Erfurter Akademie und Organist an der Predigerkirche daselbst, in Jena studirte, gestattete Bach dem strebsamen, aber mittellosen Jünglinge, sich zuweilen auf seiner Orgel zu üben. Dadurch scheint eine nähere Bekanntschaft beider vermittelt zu sein, und Adlung hat durch eine häufige Erwähnung Bachs in seinen Schriften diesem seine Gefälligkeit vergolten und der Nachwelt manch bedeutsamen Zug aus dessen Wirksamkeit aufbewahrt. Die Jenenser Stadtkirche erhielt im Jahre 1706 eine neue Orgel mit drei Manualen und Pedal, im ganzen 44 Stimmen. Diese Orgel wurde nach Bachs detaillirter Disposition und unter seiner steten Oberaufsicht von einem Orgelbauer Sterzing gebaut8. Zu derselben Zeit studirte Johann Georg Neidhardt, der um die Herstellung einer gleichschwebenden Temperatur verdiente Musiker und nachmalige Capellmeister in Königsberg, in Jena Theologie. Schon damals beschäftigte er sich viel mit der zweckmäßigsten Vertheilung des ditonischen Kommas, worin er sich im wesentlichen an Andreas Werkmeister anschloß. Die gleichschwebende Temperatur der Orgel meinte er am sichersten zu erreichen durch Einstimmung nach dem Monochord, einem mit einer Saite bespannten schmalen Kasten, auf dessen Decke die Proportionen der Intervalle mit Rücksicht auf die Vertheilung des Kommas mathematisch genau eingezeichnet waren, so daß durch Unterschiebung eines Stegs an den betreffenden Stellen jedesmal der geforderte Ton mit Sicherheit erzeugt werden könnte. Er bat nun um Erlaubniß, diese Stimm-Methode an der neuen Orgel anwenden zu dürfen, und erhielt sie wenigstens zu einem Versuch. Bach ließ ihn nämlich das Gedackt eines Claviers nach dem Monochord stimmen, während er selber das eines andern Claviers nur nach dem Gehör stimmte. Als man darauf die Wirkung probirte, klang Bachs Gedackt gut und das Neidhardts schlecht; dieser wollte das Ungenügende seiner Methode [135] noch nicht zugeben, aber man holte einen festen Sänger herbei, ließ ihn einen Choral in dem entlegenen B moll anstimmen, und er traf mit der Bachschen Stimmung über ein. Neidhardt hatte nicht bedacht, daß der Ton der Saite beim Anschlag etwas höher erklingen mußte als nachher und dadurch unbestimmt wurde, auch nicht, wie leicht sich eine solche Saite verstimmt. Für Bach aber beweist der Vorgang, daß er, obgleich in mechanischen Dingen höchst erfahren, doch auch grade Künstler genug war, um sich mehr auf sein Gefühl, als auf die graue Theorie zu verlassen. Allerdings hatte das Temperiren nach dem bloßen Gehör für ungeübtere Ohren etwas sehr mühsames. Und so kam er auf den Gedanken, die aus dem Wesen der Saite erwachsenden Mängel des Monochords zu beseitigen, mit Beibehaltung des mathematischen Maßstabes. Hierzu sollte eine Pfeife von überall gleicher Weite dienen, die er sich über einem gut gearbeiteten, den Wind gleichmäßig ausströmenden Balge stehend dachte. Dann sollten auf einem genau in die Pfeife passenden Cylinder die Entfernungen der Intervalle eingezeichnet sein, und nun durfte der Cylinder nur jedesmal bis zu dem betreffenden Punkte in die Pfeife eingeschoben werden, damit der gewünschte Ton erklang9. Die praktische Brauchbarkeit dieses Gedankens scheint aber durch die Schwierigkeit verhindert zu sein, welche die größere oder geringere Dehnbarkeit alles Holzes mit sich bringt. – Bachs Ruf als Kenner des Orgelbaus war, wie gesagt, bedeutend, und andre Organisten holten sich Rath von ihm. Wenn man liest, wie viel in jener Zeit über unkundige und beschränkte Organisten geklagt wird, so werden diese Herren wohl oft der Anweisung bedürftig gewesen sein. Einer hatte von Bach einmal Billigung verlangt für die wunderliche Ansicht, daß, wenn man im Manual mit einem sechzehnfüßigen Principal spiele, im Pedal dazu immer ein zweiunddreißigfüßiges Principal gezogen werden müsse, nicht aber ein sechzehnfüßiges. Bach muß sein Ergötzen hierüber an Adlung mitgetheilt haben, der das Geschichtchen erzählt10. Dem klugen Organisten aber hat er sicher geantwortet, daß, wenn er das Manual 16 Fuß einem gleich tiefen Pedal gegenüber nicht zu behandeln wisse, ein[136] Subbass 32 Fuß ja die gleichen Dienste thue, wie ein derartiges Principal.

 

In der Fertigkeit des Clavierbaues hatte er ein Vorbild an seinem Oheim Michael haben können, und da die Bachs ja immer unter einander ihre Fähigkeiten bildeten, so ist er von ihm vielleicht nach dieser Richtung hin angeregt und zuerst unterwiesen. Wie sich alle seine Cembalos durch Eleganz, saubere Arbeit und leichte Spielart auszeichneten11, so war er auch eifrig bemüht, ihren Mechanismus zu verbessern. Für die mehrchörigen Claviere hatte er ein Verfahren erfunden, welches mit größerer Sicherheit, als die üblichen Registerzüge, das Erklingen bald eines, bald mehrer oder aller Saitenchöre bewirkte. An dem hinteren Theile der Palmulen nämlich, dort wo beim Niederdrücken der Taste die Docken von ihnen gehoben werden, jene dünnen Hölzchen, an deren oberem Ende die Rabenkiele zum Anreißen der Saiten befestigt waren, hatte er mehre Ausschnitte gemacht; wenn nun die Claviatur in verschiedenen Distanzen nach einwärts geschoben wurde, so kamen jedesmal die Docken des einen oder andern Saitenchors, oder auch zweier zusammen über die Ausschnitte zu liegen, und wurden beim Niederdruck der Taste von der Palmula nicht mit gehoben. Auf diese Weise konnte Bach an einem dreichörigen Cembalo eine siebenfache Klangveränderung bewirken, indem entweder der vordere, oder der mittlere, oder der hintere Saitenchor angeschlagen wurde, oder der vordere und hintere, oder ferner der vordere und mittlere, oder auch der mittlere und hintere, oder endlich alle drei Chöre zusammen12. Bei der gewöhnlichen Bauart der Claviere war die Einrichtung so, daß jedesmal die Docken zu allen Saitenchören sich hoben, sie konnten aber zum Theil in ihrer Lage etwas verändert werden, daß sie dann gewisse Saiten nicht trafen. – Adlung rühmt ferner Bachs vortreffliche Lautenclaviere13. Für den Erfinder dieses Instruments, was den weichen, schwebenden Lautenton mit der Technik des Claviers zu verbinden strebte, wird man ihn nicht zu halten haben; eher dürfte seinem Zeitgenossen J. Chr. Fleischer in Hamburg diese [137] Ehre gebühren. Das Project beschäftigte aber damals die erfinderischen Köpfe mehrfach, weil man das Spröde und Ausdruckslose des Claviertons lebhaft empfinden mußte. Auch Sebastian Bach ließ in Leipzig einmal nach seinem Plane ein solches ausführen. Der Vetter Nikolaus machte seine Sache so geschickt, daß man, ohne zu sehen, eine wirkliche Laute zu hören glaubte; er verfertigte diese Instrumente in verschiedenen Figuren, ging bis zu zwei und drei Clavieren fort, und wußte durch Anhängung einer fünften Octave auch den verwandten Charakter der tiefer stehenden Theorbe mit hineinzuziehen. Ein dreiclavieriges Lautenclavicymbel verkaufte er zu ungefähr 60 Reichsthalern.

Sein jüngster Bruder Johann Michael betrat theilweise ähnliche Pfade: er lernte die Orgelbaukunst. Darauf zog er nach Norden in die Fremde, vielleicht nach Stockholm, wo in dem zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts Jakob Bach, ein Bruder Sebastians, als Hofmusicus lebte. Seinen deutschen Verwandten gerieth er ganz aus den Augen14. Auch ist weder sein Geburts- noch Todesjahr anzugeben; ersteres wird wohl in die achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts zu setzen sein.

Auch Johann Christoph, der zweite Sohn, fiel von den alten Familientraditionen ab und kehrte Heimath und Vaterland den Rücken. Er war als Clavierlehrer zuerst in Erfurt und Hamburg, dann eine Weile in Rotterdam und gegen 1730 in England thätig15, eine feste Anstellung hat er aber, soweit die Nachrichten gehen, auch im Auslande nicht bekleidet16.

Der dritte endlich, Johann Friedrich, dessen Geburtsjahr wir zwischen 1674 und 1678 zu suchen haben werden17, studirte, vermuthlich Theologie, und erhielt 1708 die Organistenstelle an der Blasiuskirche in Mühlhausen, welche Sebastian Bach in diesem Jahre aufgab18. Er bekam als Besoldung aus der Kirchenkasse [138] 43 Thlr. 2 ggr. 8 Pf., zu Neujahr 10 ggr. 8 Pf., ferner für jede Brautmesse mit Figuralgesang 12 ggr., mit Choralgesang 6 ggr.19 Einkünfte, die an Interesse gewinnen, wenn man sie mit denen Seb. Bachs vergleicht. Auch wurde er zuerst nur versuchsweise genommen, doch wird die definitive Anstellung nicht lange haben auf sich warten lassen. Denn nach allen Zeugnissen war er ein höchst talentvoller und leistungsfähiger Künstler, auch mit der Construction der Orgel wohl vertraut, und noch in der letzten Zeit seines Lebens wurde nach seiner Angabe das Orgelwerk der Blasius-Kirche einer Reparatur unterworfen20. Heinrich Gerber, der, ehe er nach Leipzig zu Sebastian Bach ging, auf dem Mühlhäuser Gymnasium eine Zeit lang gewesen war, rühmte ihn sein Leben lang, und behauptete, alles was er auf der Orgel verstehe, von Friedrich Bach durch Hören gelernt zu haben. Unterricht gab er nicht, und – konnte es nicht. Denn leider schwächte und entehrte er seine herrlichen Gaben durch einen der Trunksucht ergebenen Lebenswandel, und soll späterhin selbst seine kirchlichen Functionen in berauschtem Zustande erfüllt haben, nüchtern aber keines künstlerischen Aufschwungs mehr fähig gewesen sein21. Seine Umgebung war auch nicht darnach, ihn emporzureißen. Denn die Zeit, wo Mühlhausen durch seine Musiker etwas bedeutete, war lange vorüber: dies hatte schon Sebastian Bach zu empfinden. Johann Friedrich war verheirathet, blieb aber kinderlos. Er starb im Jahre 173022, und bietet einen Beleg zu dem Erfahrungssatze, daß die von genial begabten Männern auf ihre Kinder überpflanzten Talente diesen so häufig gefährlich und verderblich werden.

Fußnoten

 

 

VII.

 

Wir kommen nun endlich zu dem mittleren Sohne Hans Bachs, dem Großvater Sebastians. Derselbe wurde am 19. April 1613 zu Wechmar geboren und Christoph genannt. Er erwählte ebenfalls [139] den Musikerberuf. Bei der Schilderung der Lebensverhältnisse seines ältesten Bruders wurde schon erwähnt, daß er sich zeitweilig am herzoglichen Hofe zu Weimar aufgehalten habe; er soll dort »fürstlicher Bedienter« gewesen sein1, was jedenfalls auch von musikalischen Verpflichtungen in der Hofcapelle zu verstehen ist, welche damals mit Lakaien-Diensten gern verbunden wurden. Von Weimar wird er sich gegen das Jahr 1640 nach Prettin2 in Sachsen begeben und dort seiner Kunst weiter gelebt haben. Denn er holte sich eine Tochter dieses Orts: Maria Magdalena Grable (geb. 18. Sept. 1614) zur Gattin, deren Vater vermuthlich Stadtpfeifer daselbst war3. 1642 finden wir ihn als Mitglied der Musikanten-Compagnie in Erfurt, von dort siedelte er 1653 oder 1654 nach Arnstadt über, dem Wohnort seines jüngern Bruders Heinrich4. Hier starb er nur 48 Jahre alt, am 14. Sept. 1661 als gräflicher Hof- und Stadtmusicus, seine Wittwe folgte ihm am 8. October desselben Jahres5.

Christoph Bach mit seinen Söhnen repräsentirt unter den drei Brüdern am ausschließlichsten das zünftige, weltliche sogenannte Kunstpfeiferthum, während Heinrich und dessen Söhne als Orgelspieler und Componisten die bevorzugtere Stellung im Dienste der Kirche einnahmen und Johann beiden Anforderungen gerecht zu werden wußte. Mehr noch als andere Classen des deutschen Volkes war das Musikantenwesen während der heillosen Zustände des dreißigjährigen Krieges in Rohheit und Verwilderung gesunken, und wurde deshalb mit ziemlich allgemeiner Mißachtung angesehen. Wir haben keine Nachricht darüber, daß Christoph Bach der moralischen Verkommenheit seines Standes als ein Muster sittlicher Gesundheit und gediegener Bürgertugend gegenüber gestanden habe. Aber angesichts der unverwüstlichen Tüchtigkeit des Geschlechts, [140] welches selbst in dieser Zeit so treffliche Männer wie Heinrich Bach hervorbringen konnte, in dessen Gemeinschaft der ältere Bruder seine späteren Lebensjahre verbrachte, welches nach zwei Generationen einen Genius ersten Ranges aus sich hervorgehen ließ, können wir an der innerlichen Unverdorbenheit von Sebastians Großvater unmöglich zweifeln. Es hieße den Geist des großen Enkels beleidigen, in dem sich dieses Mal der gute Geist des deutschen Volkes recht eigentlich offenbarte, wenn wir nicht auch glauben wollten, daß Christoph Bach die Gebrechen seines Standes recht wohl gefühlt, und einen höhern Begriff vom Werthe der Kunst gehabt und geltend gemacht habe, als er damals hinsichtlich der Instrumentenspieler allgemein, und meistens mit Recht, verbreitet war.

Es mag übertrieben erscheinen, bei einfachen Pfeifern und Geigern ein Bewußtsein höherer Kunstwürde zu suchen. Aber es ist thatsächlich, daß in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts bei den Bessern unter ihnen die Ueberzeugung durchbrach, es seien energische Anstrengungen nöthig, sich wieder zu Ehre und Ansehen zu verhelfen. Bei der hohen Bedeutung der Instrumentalmusik für das deutsche Culturleben ist dies ein nicht zu unterschätzendes Zeichen dafür, daß das Volk eine Ahnung von seiner innewohnenden Kraft auch jetzt nicht verloren hatte. Zunächst mußte es gelten, den Stand der Musikanten als solchen in der Achtung der Menschen zu heben. Zünftig war ihre Kunst freilich schon längst gewesen. Aber es lag im Wesen der Beschäftigung, welche die Leute oft unstet durch die Lande trieb und zugleich keine feste Gränze zwischen Liebhaberei und Profession steckte, daß hier Gesetzes Schutz sehr unzureichend war. In der That sind Klagen über Berufsbeeinträchtigung seitens der Musikanten ungemein häufig, und mehren sich, je mehr im Laufe des Jahrhunderts das Selbstgefühl und Standesbewußtsein derselben gegenüber den sogenannten »Bierfiedlern« zunahm. Wenn nun schon in Friedenszeiten eine Controle sich unausführbar zeigte, so mußte in den Jahren dreißigjähriger Verwirrung die allgemeinste Willkür einreißen. Eine in zunftmäßiger Weise gebildete freiwillige Association größerer Kreise, in welcher man sich zur gegenseitigen Wahrung bestimmter gemeinschaftlicher Interessen und zur Befolgung strengerer sittlicher Grundsätze verpflichtete, war sicherlich ein geeignetes Mittel zum Ziele zu gelangen. [141] Wurde hier dann auch die Kunst vorwiegend handwerksmäßig angesehen, so war doch eine Art von objectivem Gegengewicht vorhanden gegen jene gefährliche, sittlich zersetzende Macht, welche von allen Künsten der Musik am meisten innewohnt. Wirklich traten im Jahre 1653 die Kunstpfeifer der hauptsächlichsten Orte Nord- und Mitteldeutschlands zu einer solchen Vereinigung zusammen unter dem Namen des »Instrumental-Musikalischen Collegiums in dem ober- und niedersächsischen Kreise und anderer interessirter Oerter«. Sie setzten Statuten auf, ließen dieselben durch den Kaiser Ferdinand III. bestätigen und durch den Druck verbreiten. Diese geben nicht nur über die Zwecke des Collegiums klare Auskunft, sondern werfen auch ein so helles Licht auf die Sitten und Unsitten des damaligen Musikantenwesens, daß wir sie hier vollständig mittheilen müssen6.

»1. Es soll keiner von dem musikalischen Collegio sich aus freyen Stücken seiner Kunst zu gebrauchen in einer Stadt, Ambt oder Closter, woselbst allbereit unserer Societät einer gesessen, und in Bestallung genommen, niederlassen, noch demselben darin von Auffwartungen irgendwas entwenden, es wäre denn, daß er sich einer andern Handtierung gebrauchen, oder daß er von der Obrigkeit des Orts dahin vociret, der allbereit bestallte Musicus auch versichert würde, daß ihm an seinen Accidentien kein Eintrag geschehen, oder er zum wenigsten des Abgangs halben schadlos gehalten werden möchte.

2. Es soll sich ein jedweder sodalis dahin befleißigen, wann er in wirkliche Bestallung irgendwo genommen wird, daß das seinem Vorfahren hiebevor ex publico gereichte jährliche Lohn unverkürzet und ungeschmälert verbleibe, und weil bis daher die löbliche Kunst, und derselben Zugethane, dadurch nicht in geringe Verachtung gerathen, auch mancher ehrliche Mann von seinem Dienst darüber gar [142] verdränget worden, wann jemand um die bloßen Accidentia auffzuwarten sich offeriret, so soll sich ein jedweder Musikant für dergleichen ihm und der Kunst verkleinerlichen Contracten äußerst hüten.

3. Indem auch der allerhöchste Gott seine Gnade und Gaben wunderlich pfleget auszutheilen, und einem bald viel bald wenig giebet und verleihet, so soll um deßwillen niemand den andern, ob er gleich eine bessere Art der musikalischen Instrumente sich zu gebrauchen hätte, verachten, viel weniger aber deßhalben ruhmredig seyn, sondern sich der Christlichen Liebe und Sanftmuth befleißigen, und mit seiner Kunst also umgehen, daß dadurch zuvörderst Gottes des Allerhöchsten Ehre gesuchet, sein Nächster erbauet, und er selbst von jeder männiglichen seines ehrbaren Wandels halber ein gutes Gerücht jederzeit haben und behalten möge.

4. Damit auch jeder Ort mit einem tüchtigen genugsam qualificirten Musico versehen, nebst dem auch andere, insonderheit die Gesellen und Lehrknaben, zu mehrerem Fleiß und stetigem Exercitio angetrieben werden mögen, so soll jedesmal derjenige, so zu einem Dienst ordentlicher Weise berufen, und dannenhero seine Probe abzulegen erfordert wird, zweene der nächstgesessenen Lehrmeister nebst einem tüchtigen Gesellen darzu beschreiben, welche ihn absonderlich seiner Kunst halber examiniren, und seine Probe oder Meister-Recht in den Stücken, so hierzu angeleget und in den Innungs-Laden befindlich, anhören und vernehmen.

5. Es soll keiner, er sey gleich Lehrmeister, Geselle oder Lehrknabe, sich gelüsten lassen, grobe Zothen oder schandbare, unzüchtige Lieder und Gesänge zu singen oder zu musiciren, sintemal der Allerhöchste Gott dadurch nur höchlich erzürnet, ehrbare Gemüther, insonderheit die unschuldige Jugend, geärgert, auch diejenigen, so der löblichen Kunst der Musik zugethan, bey ansehnlichen Gesellschafften und Zusammenkünfften in die größte Verachtung darüber gesetzet werden.

6. Hingegen aber soll ein jedweder, der zur Auffwartung beruffen wird, nicht alleine für sich selbst, nebst den bey sich habenden Gehülffen, züchtig, ehrbar und bescheiden sich verhalten, sondern auch unverdrossen sein, die anwesenden Gesellschafften vermittelst der musicae instrumentalis und vocalis seinem besten Vermögen nach zu erlustigen und zu erfreuen.

[143] 7. Ein jedweder soll sich, soviel ihm möglich, mit besonderm Fleiß darnach umsehen, daß er fromme und getreue Gesellen, wie auch unberüchtigte Lehrknaben um und neben sich habe, damit auff öffentlichen Zusammenkünfften und Auffwartungen den eingeladenen Gästen nichts entfernet, oder dem gesammten musikalischen Collegio übel nachgeredet werde, noch auch unschuldige Leute in Verdacht und Gefahr gerathen.

8. Soll keiner sich unterfangen, unehrliche Instrumenta, als da seyn Sackspfeiffen, Schafsböcke, Leyern und Triangeln, welcher sich oftmals die Bettler zum Sammlen der Almosen für den Thüren gebrauchen, zu führen, dadurch dann die Kunst ebenfalls in Verachtung gebracht und verkleinert gehalten wird.

9. In specie soll sich ein jedweder aller gotteslästerlichen Reden, vermaledeyten Fluchens und Schwörens äußerst enthalten: würde aber jemand darwider handeln, so soll er darum von seinem Meister und Mitgesellen, nach ihrem Ermessen, auch atrocität und Vielheit seines Verbrechens, nach Belieben gestraffet, auch wohl gar aus dem musikalischen Collegio verstossen werden.

10. Soll keiner bey Gauklern, Diebhenkern, Butlern, Häschern, Taschenspielern, Spitzbuben, oder anderen dergleichen leichten Gesindlein, sich einiger Auffwartung unterfangen, sondern es soll viel mehr ein jedweder ihrer Gesellschafft, um Erhaltung guten Gerüchts und Leumunds willen, sich ganz und gar enthalten, und dieselbe fliehen und meiden.

11. Gleichergestalt soll auch kein Lehrmeister einen Lehrknaben von obgemeldten oder andern unrichtigen Personen annehmen, sondern diejenigen, so zu Begreiffung der musikalischen Kunst auffgedinget werden, sollen nicht allein von ehrlicher Geburt seyn, sondern auch für sich selbsten nichts verbrochen haben, wodurch sie infamiam juris contrahirt und auff sich gezogen, gestalt dann bey der Auffdingung ein jeder Lehrknabe seinen Geburtsbrief, so nach Verordnung der Rechte und eidlicher Aussage zweyer unbeleumdeter Zeugen verfasset, vorzeigen, und derselbe so lang in des musikalischen Collegii nächster Lade verwahrlich beygeleget werden soll, bis er seine Lehrjahre ehrlich und redlich ausgestanden, und deswegen mit einem guten Zeugniß und Lehrbrief versehen werden kann.

[144] 12. Und nachdem ein perfecter Musikant auff vielen Instrumenten, theils pneumaticis, theils pulsatilibus unterwiesen werden, und darauff auch geübet seyn muß, so soll kein Lehrknabe unter fünff Jahr frey gesprochen, und daß er seiner Kunst erfahren, für tüchtig erkennet werden. Hierum so sollen bey der Auffdingung jederzeit zweene der nächst angesessenen Kunst- und Lehrmeister, ingleichen ein tüchtiger Gesell gegenwärtig seyn, und in der Anwesenheit zwey Exemplar des Auffdingbriefs (davon das eine dem, wessen Disciplin und Information der Lehrknabe untergeben wird, verbleiben, das andere aber des Lehrknaben Eltern, Vormündern oder Verwandten auszuantworten) gefertiget, insonderheit aber hierbey der Lehrknabe zu fleißigem Gebet, getreulicher Auffdingung, fleißiger Übung, und daß er seinem Magistro und Lehrmeister allen gebührenden Respect und Gehorsam erweise, ernstlich und mit allem Fleiß erinnert und anermahnet werden.

13. Damit auch derjenige, so seine Lehrjahre ausgestanden, und deswegen nunmehr frey gesprochen, desto vollkommener werde, so soll er die nächsten drey Jahr, ehe er sich besetzet, bey andern berühmten Meistern als ein Gesell sich gebrauchen lassen. Dieweil aber bey den mechanicis artificiis oder schlechtern Handwerkern die Meisters-Söhne und Töchter hierunter durch langwierige Gewohnheit diesen Vortheil und Fürzug erlanget, daß sie etwa nicht so lang als andere der Wanderschafft in ihrem Gesellenstand obliegen dürffen, so sollen auch dieser löblichen Kunst zugethaner und verwandter Lehrmeisters ihre Söhne, item, diejenige, so sich an der Meister ihre Töchter verheyrathen, wann sie ein Jahr als Gesellen auffgewartet, in dem Übrigen verschonet, auch mit einigem Meister-Recht nicht beleget werden.

14. Sobald dann jemand seine Lehrjahre überstanden, und jetzo nunmehr für einen Gesellen auffwarten kann, so sollen ihm sodann etliche Artikel fürgelegt und bekannt gemacht werden, derer er sich, wann er an fremde Oerter kömmt, bei Ablegung seines Grußes gebrauchen, und hieraus auch der fremde Meister erkennen könne und möge, ob sich unsers musikalischen Collegii Verwandte und Zugethane den fürgeschriebenen Artikeln gemäß verhalten und darum genugsame Wissenschafft tragen.

[145] 15. Und nachdem dieses der Musikanten Collegium zu dem Ende auffgerichtet und mit besondern Artikeln und Regeln befestiget worden, damit den Störern und Pfuschern, so bey allen andern viel schlechtern corporibus, Gablen, Gilden und Zünfften durch aus nicht gelitten werden, gewehret, und wer Lust und Liebe zu dieser musikalischen hochwerthen Kunst trägt, dieselbe aus dem Grund zu lernen desto mehr angetrieben und anermahnet werde, so sollen alle und jede unsers Collegii Verwandte sich der Pfuscher und Störer gänzlich entschlagen, und bey erforderter Auffwartung mit ihnen überall keine Gemeinschaft haben, dargegen aber in ihren Lehr-Jahren der Zeit wohl wahrnehmen, damit sie in der Musik recht tüchtig und geschickt gemacht, und darum solchen Stümplern und Hümplern mit Recht praeferiret und vorgezogen werden können.

16. Daferne sich zwischen den Collegen oder deren Verwandten einiger Zwist und Streit zutragen sollte, worüber jemand an seinem ehrlichen Namen und guten Leumund verkleinerlich angegriffen oder sonsten unverschuldeter Weise in Schaden gesetzet, oder auch ihm seine Auffkünfte entzogen werden wollten, so soll der Beleidigte Macht haben, solches sechs in der Nähe gesessenen Lehrmeistern zu verkündigen, die dann zur gelegenen Zeit vor die Kreis-Lade beide Theile erfordern, ihre Mißhelligkeiten daselbst anhören und vernehmen, und mit Zuziehung dreyer Gesellen den befundenen schuldigen Theil, es sey Kläger oder Beklagter, zu gebührender Strafe ziehen, auch ihn zur Ersetzung aller verursachten Unkosten anhalten mögen.

17. Was den Lohn der Gesellen anbelanget, so soll einem jeden frey stehen, mit denselben jedes Orts und Gelegenheit nach zu handeln, wie er vermeinet, daß es verantwortlich, jedoch nach abgehandeltem Werke stracks die Handlung zu Papier bringen, und wie sie accordiret, ein jeder ein Theil in seine Verwahrung nehmen, damit einer dem andern zu bezahlen, und dieser wiederum willig und getreulich zu dienen angeleitet werde, und friedlich mit einander zu leben Ursach haben mögen.

18. Da auch einer sich wollte unterfangen, einem alten Meister unserer Kunst von seinem Dienste, auff was Maß und Weise, durch was gebrauchten Schein und praetext es auch immer geschehen möchte, zu bringen, sich aber in dessen Stelle einzuflechten, so soll [146] sowohl derjenige, so durch oberzählte unanständige Wege seine Beförderung suchet und einen andern aussticht, nebst seinen Gesellen, so bey ihm dienen würden, dieses unsers Collegii sich damit verlustig machen und darin weiter nicht geduldet werden, sintemal das liebe Alter, wenn die Unvermögenheit mit einfällt, ungeachtet der vorigen gehabten langwierigen großen Mühe, Dienst und Arbeit, leicht in Verachtung zu gerathen und demselben die Jugend vorgezogen zu werden pfleget, sollte aber die Unvermögenheit bey einem verlebten bestallten Musico so groß seyn, daß er entweder seine Dienste gar nicht oder mit großer Beschwerde verrichten könnte, und des Orts Gottesdienst und andere Auffwartungen gleichwohl nothwendig versehen werden müssen, alsdann soll einer Macht haben als ein Substitut des Verlebten Stelle zu bedienen, jedoch daß der Alte die Hälfte der Besoldung und seine Part von dem Verdienste bekomme, und die übrigen Tage seines Lebens von dem Substituto oder Adjuncto gebührend respectiret, in allen Sachen, wie nicht unbillig, ihm der Fürzug gelassen, der Segen Gottes erwartet, und von einem jedweden wohl erwogen und betrachtet werde, daß, was er dem Alter für Gut- und Wohlthaten erweise, Gott der Allerhöchste ihm solches dermaleinst wieder vergelten und belohnen lassen werde.

19. Und weil ein jeglicher Arbeiter seines Lohnes werth, niemand auch damit auffzuhalten, so soll ein jedweder, so sich in den Städten und sonst mit einer bestellten Musik gefaßt halten muß, von sich selbst beflissen seyn, seine Gesellen und Gehülfen richtig zu belohnen, niemanden auch vorher zu entlassen, er habe denn seinen rückständigen Verdienst völlig empfangen, widrigen Falls soll keinem anderen Gesellen in die erledigte Stelle und Dienst zu treten verstattet seyn.

20. Hingegen sollen auch die Gesellen desselben Dienstes, worzu sie sich einmal bestellen lassen, fleißig abwarten, den jungen Lehrknaben mit guten Exempeln und der ihnen anständigen Ehrbarkeit vorangehen, insonderheit aber ihren Principalen, bei welchen sie Dienst angenommen, allen gebührenden Respect erweisen, und deswegen gegen sie keinerlei Vermessenheit zeigen, ob sie gleich bedünkte, in der Kunst besser und gründlicher erfahren zu seyn, als der Principal selbsten.

[147] 21. Nachdem auch die Erfahrung bezeuget, daß mancher seinen angenommenen Dienst mit lauter Lehrjungen versehen wollen, dargegen aber einem jeglichen die gesunde Vernunfft selbst dictiret, daß die tirones und Lehrknaben, wie in allen andern Sachen, also auch in dieser musikalischen Kunst kein vollkommenes Stück zuwege bringen können, und da denn entweder bey dem öffentlichen Gottesdienst, oder einiger anderer Versammlung dergleichen Fehler und Mängel vorkommen, hierfür dem Director solcher Musik nicht nur alle Schuld beigemessen, sondern auch der meiste Schimpf auff ihn gewälzet, und die löbliche Kunst selbst dadurch nur verächtlich gemacht wird, so soll keinem Lehrmeister gestattet und nachgelassen seyn, mehr denn drey Knaben auff einmal in seine Information und Lehr auffzunehmen und darinnen zu behalten.

22. Ein jeglicher Lehrknabe soll bey seiner Auffdingung sich verschreiben, oder da er selbst nicht schreiben könnte, soll solche Verschreibung an statt seiner durch seine Eltern, Vormunde oder Verwandten schriftlich geschehen, daß der auffgedingte Lehrknabe die oben beym zwölfften Artikel benannten Lehrjahre treulich vollständig und endlich aushalten, und in währenden Lehrjahren von seinem Lehrmeister nicht entlaufen wolle, sollte aber einer so vergessen seyn und von seinem Lehrmeister in währenden Lehrjahren ausspringen, der soll von keinem andern Lehrmeister bei Straffe von zehen Thalern, wieder auffgenommen, noch in diesem unsern musikalischen Collegio jemals wieder geduldet, sondern als unrichtig gehalten werden. Würde sich aber befinden, daß der Lehrknabe ob nimiam saevitiam seines Lehrmeisters ausgewichen, und also dieser in culpa wäre, auff den Fall soll der Lehrmeister wegen der Versäumniß und andern zugestandenen Schadens, seinem Lehrknaben oder dessen Eltern und Befreundeten nach sechs der nächst angesessenen musikalischen Senioren billigem Ermessen dafür gerecht, auch darum schuldig erkannt werden.

23. Damit auch diesen unter uns verglichenen Artikeln desto genauer nachgesetzt und die diesem musikalischen Collegio angehörigen sodales mit weniger Kosten und Beschwerde zusammenkommen und bei solchem Convent nothwendige Sachen austragen können, so sollen drey Laden gefertiget, eine in Meißen, die andere im Braunschweigischen und die dritte in Pommern oder der Mark [148] Brandenburg, und zwar welcher Ort den Zugethanen unsers Collegii am bequemsten fallen wird, niedergesetzet, diese verglichenen Artikel wo nicht an allen Orten originaliter, dennoch deren auscultirte, vidimirte Copien darein gelegt und treulich verwahret werden, damit auff erheischenden Fall bey unserer Collegen Versammlung alle actus und Sachen, so etwa zwischen den Musikanten sich zutragen möchten, darnach regulirt und gerichtet werden können.

24. Und ob zwar derjenigen, so sich allbereit zu diesem musikalischen Collegio bekannt, nicht eine geringe Anzahl, jedennoch aber soll keinem andern der Zutritt denegirt und verweigert werden, wann er nur nach abgelegter Probe für ein tüchtiges und geschicktes Glied dieser unserer Societät und Gesellschaft wird können erkennet und gehalten werden.

25. Wie nun schließlich böse Sitten und Gebräuche zu guten heilsamen Satzungen Ursach und Anlaß gegeben, aber nicht möglich gewesen, gegenwärtige Artikel also zu extendiren, daß dadurch alle Zufälle specialiter und ausdrücklich wären berühret worden, als soll das übrige der ältesten, so die nächsten bey jedes Orts Laden seyn, und welche denselben krafft dieses Artikelbriefs adjungiret und zugeordnet, ihrem arbitrio dergestalt heimgestellet seyn und bleiben, daß sie in sich zutragenden Vorfällen auf das, was ehrbar und zulässig ist, auch zu Erhaltung dieses musikalischen Collegii gereichet, ihr Absehen richten, niemanden über die Gebühr und Billigkeit beschweren, jedoch auch grobe, unverantwortliche Excesse nicht ungeahndet hin passiren lassen sollen, damit diesem unsern Collegio, bevorab aber der allerhöchsten Römischen Kaiserlichen Majestät, unsers allergnädigsten Herrn darob ertheilten Confirmation gebührender allerunterthänigster Respect erhalten, und der gute, rühmliche Zweck erreichet werde, so von den Urhebern dieses nützlichen Werks von Anfang gesetzet und gestecket worden.«

Wenn man sich die »bösen Sitten und Gebräuche«, gegen welche hier Bestimmungen gegeben werden, zusammendenkt, so erhält man, auch abgesehen von den nicht »ausdrücklich berührten speciellen Zufällen«, schon eine hinreichende Vorstellung davon, wie es damals unter den deutschen Musikanten aussah. Niemand wird den achtungswerthen Ernst verkennen, mit dem man Zucht, Sitte und Ordnung wieder herzustellen suchte, und die Ueberzeugung, daß die [149] edle Kunst besseres werth sei, als allgemein verachtet und mißhandelt zu werden, spricht aus jenen Artikeln auf erfreuliche Weise. Die Anzahl von über hundert Namen aus den angesehensten Städten der betreffenden Kreise, welche den Artikeln folgen, beweist auch, daß das Verlangen nach bessern Zuständen ein recht allgemeines war; außerhalb liegende Ortschaften, wie Mühlhausen in Thüringen, schlossen sich dem musikalischen Collegium an. Wenn nun gleich in der Folgezeit die Werthschätzung der Kunstpfeifer und Stadtmusikanten im ganzen eine geringe blieb, wenn man ihnen vorwarf, daß ihre handwerksmäßige Kunstübung jede tiefere musikalische Kenntniß abweise, daß sie ungebildet, grob, stolz und störrisch seien7, wenn kleinliche Zänkereien unter ihnen nicht aufhörten, so wissen doch auch einzelne Stimmen hervorzuheben, »daß noch viel ehrliebende und geschickte Männer unter ihnen seien, die sich eines Gott und Menschen wohlgefälligen Wandels befleißigten«8. Den innerlich tüchtigen Kern und die Bedeutung dieser Leute für die deutsche Kunstgeschichte gering zu veranschlagen, darf man sich unter keinen Umständen verleiten lassen. In jedem Stande finden sich mehr geringe und mittelmäßige, als ausgezeichnete Individuen, zudem drückte alle ziemlich gleichmäßig Noth und Armuth, die es zu einer freudigen Kraftentfaltung nur bei ungewöhnlichen Talenten kommen ließ. Sie haben aber in ihrer Art die Kunst in Ehren gehalten und gegenüber den fremdländischen Einflüssen, welchen sich die Höfe und höhern Stände bald überwiegend hingaben, im Volke die Liebe und den Sinn für die vaterländische Kunst nach ihren Kräften geweckt und gepflegt. Und das Volk hat ihnen gedankt, indem es ihren Werth und das Ideale auch in ihrem Berufe begriff; jener Eichendorffsche Spielmann, der ins Land hinaus zieht und seine Weisen singend von Haus zu Haus geht, ist bis heute eine jedem deutschen Gemüthe tief sympathische Figur. Die zunftmäßigen Einrichtungen der 25 Artikel waren natürlich keine neuerfundenen, sondern stützen sich jedenfalls auf allgemeine Gebräuche, die nur hier aufs neue, und verschärft und erweitert in Erinnerung gebracht sein werden. Insofern dienen sie eben einer allgemeinern Erkenntniß des damaligen Kunstpfeiferwesens, und somit auch der Verhältnisse des Bachschen Geschlechtes.

[150] Christoph Bach ist allerdings, wie wir vermutheten, durch seine Heirath mit den Musikanten des obersächsischen Kreises in Verbindung gekommen, es fehlt aber jede Andeutung darüber, ob er ihrem musikalischen Collegium beigetreten sei. Wir dürfen es im Gegentheil als entschieden unwahrscheinlich bezeichnen, daß er oder irgend ein anderer der großen Bachschen Familie sich an demselben betheiligte. Vielmehr drängt sich nun die Vermuthung auf, daß eben sie in ihrem engen Zusammenhalten eine ähnliche Erscheinung für Thüringen bietet, mochten ihr auch Innungszeichen und Statuten fehlen. Es ist schon bemerkt, wie ungefähr zu der nämlichen Zeit sich die drei hauptsächlichen Sammelstellen der Bachschen Musiker herausbildeten: Erfurt, Arnstadt und Eisen ach, und nichts scheint mehr berechtigt, als die Annahme, daß sie mit mehr oder minder klarer Ueberlegung das Ziel erstrebten, in jener Zeit der sittlichen Verwilderung ihrer Berufsgenossen, welche ihnen besonders in dem Erfurt der fünfziger und sechziger Jahre entgegen treten mußte, innerhalb eines patriarchalisch geschlossenen Familienverbandes die Würde der Kunst und ihres Standes hoch zu halten. Waren es nun nur bis zu einem gewissen Grade Zunft-Interessen, die sie an einander ketteten, so ist es einleuchtend, daß in ihrer Betreibung der Musik auch das Handwerksmäßige weniger hervortreten mußte. Dies ist ein wohl zu beachtender Umstand, der sie auch über die Besseren ihrer außerhalb stehenden Berufsgenossen emporhebt und zu einem Kreise von Auserwählten macht. Da ferner ein großer Theil der Familienglieder als Cantoren und Organisten sich im Dienste der Kirche und Schule befand, und so in seiner Art ein Stück der damaligen höheren Cultur repräsentirte, so mußte der innige Zusammenhang aller auch eine verhältnißmäßig größere Bildung mit sich führen, als man sie sonst bei ihresgleichen anzutreffen gewohnt war, und das Wort eines Zeitgenossen, daß unter hundert Kunstpfeifer-Gesellen kaum einer gefunden werde, der zehn ordentliche Worte ohne Fehler zu Papier bringen könne9, kann unter allen Umständen und wie man es auch verstehen mag, auf die Bachs [151] keine Anwendung finden. Ein weiteres Zeichen des besondern unter ihnen waltenden Geistes sind die Familientage, welche eine lange Zeit hindurch alle männlichen Angehörigen des Geschlechts jährlich in Erfurt, Eisenach oder Arnstadt abhielten. Auch als sich durch Christoph Bachs ältesten Sohn die Familie nach Franken hinein verzweigte, also sicherlich noch in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, wurde diese Sitte aufrecht erhalten. Sie kamen dann also an einem der genannten Orte zusammen zu keinem andern Zweck, als um das Gefühl der Zusammengehörigkeit aufzufrischen, gegenseitige Erlebnisse und Gedanken auszutauschen und einige vergnügte Stunden mit einander zu verbringen. Noch im Gedächtniß von Sebastian Bachs Sohne Emanuel lebte es, wie sich seine Vorfahren dann auch musikalisch erbaut und belustigt hatten. Zuerst sangen sie einen Choral; dann folgten weltliche Volkslieder, welche im Gegensatz zu der anfänglichen religiösen Stimmung durch Possen und Scherze oftmals derber und cynischer Art die Lachlust bei Sängern und Hörern reichlich erweckten. Der Vortrag solcher Lieder gehörte, wie bemerkt ist, mit zum Kunstpfeiferberuf. Besonders beliebt soll der Gesang von Quodlibets gewesen sein, unter welchen man bis ins 16. Jahrhundert mehrstimmige Stücke verstand, die in den einzelnen Stimmen verschiedene bekannte; oft geistliche und zugleich weltliche Melodien mit ihren Texten zu einem harmonischen Ganzen zu vereinigen suchten10. Die Ausführung solcher harmonischer Kunststücke lag jedoch wohl den fröhlichen Musikanten fern; sie werden ihre Absicht besonders auf die Verschiedenartigkeit der Texte gerichtet haben, wo denn der Zufall in den tollsten Widersinnigkeiten sein Spiel treiben mußte11. –

Der älteste Sohn von Christoph Bach: Georg Christoph, wurde [152] am 6. Sept. 1642 in Erfurt geboren12. Er war zuerst Schuldiener in Heinrichs bei Suhl, eine Stelle, zu der er wahrscheinlich durch die Verbindungen gelangte, in welchen seine Vatersbrüder mit Suhl standen. Von dort rückte er 1668 zum Cantor in Themar auf, einem alten Städtchen in der Nähe von Meiningen, was damals zur gefürsteten Grafschaft Henneberg gehörte, seit 1672 gothaisch wurde, 1680 an Herzog Heinrich von Römhild kam; nach dessen Tode (1710) nahm es schon einmal Meiningen gewaltsam in zeitweiligen Besitz13 – so spielte man zu jener Zeit Fangball mit Städten und Menschen. Nach zwanzig Jahren ward Bach zu gleicher Function nach Schweinfurt berufen. Dort starb er am 24. April 1697, als Stammvater der fränkischen Bachs14. Daß er auch Componist gewesen ist, geht aus dem Umstande hervor, daß in Philipp Emanuel Bachs Musikaliensammlung sich eine kirchliche Composition für 2 Tenöre, 1 Bass, 1 Violine, 3 Violen da Gamba und Fundamentalbass von ihm befand über den Psalmentext: »Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtiglich bei einander wohnen.« Diese Composition, welche 1689 entstanden sein soll, ist einstweilen verloren gegangen, weshalb es unmöglich zu errathen ist, wie weit seine Fähigkeit als Tonsetzer gereicht habe. – Wir gelangen zu seinen Kindern. Der erstgeborne, Johann Valentin, kam den 6. Jan. 1669 zur Welt15, woraus zu schließen, daß der Vater sich mit Antritt des themarischen Cantorats verheirathet. Ihm folgten noch Johann Christian (15. März 1679 bis 16. Juni 1707), und Johann Georg (11. Nov. 1683 bis 13. März 1713), von denen nichts sicheres [153] weiter bekannt geworden ist. Valentin wurde am 1. Mai 1694 zum schweinfurtischen Stadtmusicus und – schon jetzt oder später – zum Oberthürmer bestellt. In dieser Position hielt er es für seine Pflicht, eine Ehe zu schließen, was denn auch am 25. Sept. 1694 mit Anna Margaretha Brandt geschah. Er starb am 12. Aug. 1720; drei diesem Bunde entsprossene Söhne sind zu nennen. Johann Lorenz, von dem die Ferrichsche Genealogie herstammt, geb. 10. Sept. 1695, war Organist zu Lahm in Franken und starb hochbetagt am 14. Dec. 1773. Von ihm kenne ich ein Praeludium nebst Fuge in D dur, woraus ein tüchtiger und selbständiger Musiker zu Tage tritt. Der zweite Sohn, Johann Elias, auf dessen Begegnung mit Sebastian Bach wir später zurückkommen werden, geb. 12. Febr. 1705, studirte Theologie, wurde hernach Cantor und Inspector des Alumneums zu Schweinfurt, wo er am 30. Nov. 1755 starb. Endlich der dritte, Johann Heinrich, wurde am 27. Jan. 1711 geboren, und kam nicht über die jungen Jahre hinaus. Man wird leicht bemerken, wie mit dem Hineinwachsen ins fränkische Gebiet auch andere Vornamen (Valentin, Lorenz, Elias) auftauchen, als sie bei den thüringischen Bachs gewöhnlich waren16.

Dem ersten Sohne folgte in der Ehe Christoph Bachs am 22. Febr. 1645 ein Zwillingspaar, welches er zwei Tage darauf durch die Pathen Ambrosius Marggraf und Christoph Bärwald aus der Taufe heben und Johann Ambrosius und Johann Christoph nennen ließ. Der erste derselben sollte unseres großen Sebastian Vater werden. Ihre frühste Kindheit verlebten sie in Erfurt; als sie acht oder neun Jahre alt waren, wurde Arnstadt der Aufenthalt der Familie, wo sie unter des Vaters Anleitung den Grund zu ihren musikalischen Fertigkeiten gelegt haben werden. Als Christoph Bach im besten Mannesalter starb, waren die Zwillinge kaum erwachsen. Die Natur hatte sie nicht nur mit den engsten Banden des Blutes an einander gekettet, sondern ihnen auch eine Gleichartigkeit des äußern und innern Wesens verliehen, welche Jedermann in Verwunderung setzte, und sie selbst in höheren Kreisen zum Gegenstande [154] neugieriger Betrachtung gemacht zu haben scheint. Sie hatten dieselbe Weise zu denken und sich auszudrücken, sie spielten dasselbe Instrument, die Geige, und bewiesen dieselbe Manier der Auffassung und des Vortrags. Ihre äußere Aehnlichkeit soll so groß gewesen sein, daß, wenn sie bei einander waren, die eignen Frauen ihre Gatten nicht erkennen konnten, und die Seelenübereinstimmung soll so weit gereicht haben, daß sie selbst Krankheiten mit einander theilten. In der That überlebte der ältere den Tod des jüngern nur um kurze Zeit. Die gegenseitige Anhänglichkeit, welche allen Bachs eigen war, zeigt sich in dem Verhältniß von Sebastians Vater zu seinem Zwillingsbruder gleichsam in ihrer größten Intensität. Und da über das eigne Leben desselben wenig zu berichten sein wird, werden wir uns erlauben dürfen, die Charaktereigenthümlichkeiten des jüngern Bruders, so weit sie zu erkennen sind, auf den ältern mit in Anwendung zu bringen.

Vermuthlich haben beide sich nach des Vaters Tode und vollendeten Lehrjahren eine Weile als Kunstpfeifer-Gesellen auf die Wanderschaft begeben. Hernach schieden sich aber ihre Wege: Ambrosius wurde 1667 in Erfurt angestellt, Johann Christoph erhielt am 17. Febr. 1671 eine Berufung als Hofmusicus von dem Grafen Ludwig Günther zu Schwarzburg-Arnstadt. Daß derselbe sich der hier, wie anderwärts, einigermaßen verfallenen Kirchenmusik mit Interesse annahm, ist schon an einem andern Orte bemerkt. Er hatte Jahrs vorher für den Kirchenchor und die begleitenden Instrumentisten sonntäglich eine besondere Uebungsstunde unter Direction des Cantors Heindorff einrichten lassen, auf deren Abhaltung er sorgfältig hielt. Wie nöthig dies war, ergiebt sich auch daraus, daß noch bei dem Oster-Schulexamen 1673 über den schlechten Stand des Singchors, der sich ja hauptsächlich aus Schülern ergänzte, Klage geführt wurde17. Späterhin forderte der Graf einmal bei Anstellung eines neuen Stadt-Cantors, daß dieser mindestens vier Personen für jede Stimme aufstellen solle, was für jene Zeiten, in denen man sich nicht selten mit einfacher Besetzung behalf, einen ziemlich starken Chor gab18. Wenn er einen musikalischen[155] Kammerdiener annahm, so wurde es in dessen Bestallung ausdrücklich bemerkt, daß er sich »allezeit in der Kirche und bei dem Exercitio musico einfinden solle«. Und eben dasselbe lesen wir in Joh. Christophs Anstellungsdecret; zugleich wurde ihm aufgegeben, nicht ohne Vorwissen des Cantors und der gräflichen Räthe zu verreisen, »in der Zierlichkeit im Geigen und Musiciren sich ferner wohl zu üben«, und »da zu Hofe er nebst andern oder allein begehret würde, sich willig finden zu lassen«. Hiermit wurde er an den obersten Dirigenten, den Cantor Heindorff, verwiesen, und dem damaligen Stadtmusikanten Gräser anbefohlen, bei allen bürgerlichen Gelegenheiten, wo es Musik zu machen gab, zuerst den Bach zuzuziehen, darnach erst den Thürmer, und dann wechselweise seine Kunstpfeifergesellen. Die Anweisung auf diesen Nebenverdienst war nothwendig, denn als Hofmusicus erhielt Bach nur 30 Gülden Gehalt und einige Naturallieferungen19. Da er nun im Trocknen saß, hätte er nach alt-Bachischer Weise sich einen Hausstand gründen müssen, worin ihm der Bruder Ambrosius schon vorangegangen war. Absichten dazu scheinen auch damals vorhanden gewesen zu sein; daß diese aber zunächst nicht ausgeführt wurden, und warum nicht, läßt uns einen tiefern Blick in die Natur dieses Mannes thun, als es bei seinen Geschlechtsgenossen bis jetzt möglich war. Das Arnstädter Consistorium hatte außer der Oberaufsicht in Kirchen- und Schulsachen auch gewisse geistlich-richterliche Befugnisse in Dingen, die mit der Religion und Sittlichkeit zusammen hingen. Am 19. Aug. 1673 erschienen vor ihm die verwittwete Anna Margarethe Wiener und ihre Tochter Anna Kunigunde, ihnen gegenüber Johann Christoph Bach, und das mit beiden Parteien vorgenommene Verhör offenbarte Dinge, die wir zunächst in der charakteristischen Weise wiedergeben, wie sie protokollirt wurden.

»Nachdem sich Bach bishero mit der Anna Cunigunda Wienerin geschleppet und der gemeinen Sage nach mit ihr verlobet haben soll, so sind beide Theile vors Consistorium beschieden, und gestehet Anna Cunigunda, daß sie Bach um die Ehe an- und dieselbe ihr versprochen. Die Mutter aber sagt, er habe sie durch Hansen Lampen lassen [156] ansprechen und ihren mütterlichen Consens desideriret, welchen sie auch darein gegeben, und hätten nicht weniger auf die Ehe beide Theile einander Ringe gegeben, welche sie auch noch hätten. Wäre [nämlich die Tochter] gesonnen, damit ihr Gewissen nicht beschweret würde, ihre Zusage zu halten, wiewohl sie sich zu keinem Manne zwinge, und stelle es in des Bachs Gewissen und Verantwortung, ob er von ihr bei dieser Bewandtniß ohne dessen Verletzung abzutreten vermeine.

Christoph Bach gestehet zwar, daß er Annen Cunigunden Wienerin um die Ehe angeredet, es wäre aber das Werk in lauter Tractaten bestanden20, und hätte er sich verbindlich nicht eingelassen. Negat pure, daß er die Mutter um ihren Consens durch Hans Lampen lassen ansprechen; dieser Hans Lampe sei der Wienerin gegen21 Schwäher und ihr mit der nächsten Schwägerschaft verwandt. Da er nun ihren, der Wienerin, Consens zur Perfection seines Werks desideriren wollen, werde er es ja vielmehr durch seine, Bachens, eigne nahe hier sich befindende Blutsfreunde, exempli gratia Heinrich Bachen, als durch ihre, der Wienerin, Freunde thun lassen. Er habe ihr einen Ring gegeben und sie ihm auch einen gegeben, aber nicht auf die Ehe. In specie sagt er, sie habe ihn vexiret mit Leuchtens22 Tochter und gemeinet, er hätte diesen Ring von derselben empfangen, darauf er repliciret, damit sie nun sähe, daß sich dergleichen [nicht] also befinde, so wollte er ihr solchen Ring geschenkt haben.

 

Anna Cunigunda bleibet bei Obigem, und sei in specie der Ring ihr auf die Ehe gegeben, damit sie nämlich seiner Treu versichert wäre.

Bach bleibet nicht weniger bei seinem Berichte und negiret die vom Gegentheil vorgeschützten Umstände; zudem so hätte die Anna Cunigunda ihm ihren Ring wieder abgefordert und gleichsam also den Korb ihm gegeben.

Wienerin: Nachdem sich Bach ihrer geäußert23, und seine Affection gegen sie verloschen, so habe sie ihren Ring wieder desideriret [157] mit solchem Anhang: sie gäbe es ihm in sein Gewissen, wenn sie ihm nicht gut genug wäre und er sie nur zu äffen gedächte, so möchte er ihr nur den Ring wieder geben und in seinem Gewissen es gegen Gott verantworten; sie wollte es demselben heimgestellt sein lassen und mit ihm dergestalt nichts ferner zu schaffen haben. Jener habe darauf in Antwort vermelden lassen, er befürchte hierunter Gottes Strafe nicht.

Zu gedenken: Weil Bach dabei verharret, daß er der Wienerin nichts verbindliches zugesaget, gleichwohl aber unterschiedene Vermuthungen wider ihn fürhanden, so ist ihm beweglich zu Gemüthe geführet, daß es leicht die Wege erreichen könnte, daß er sich jurato purgiren müsse, derowegen er sich wohl prüfen möchte, wie ihm denn bis heut über acht Tage Bedenkzeit verstattet sein sollte, da er sich denn ohne ferneres Erfordern wiederum stellen und erklären sollte. Welches auch der Wienerin also eröffnet worden.«

Der kleine Roman zwischen den beiden jungen Leuten war demnach schon zu Ende gespielt gewesen. Auch hatte keins das andere nachträglich verklagt, sondern das Consistorium, dem die Sache zu Ohren gekommen war, hatte seinerseits geglaubt, sich über jenes Verhältniß näher unterrichten zu müssen. Obgleich aus dem aufgezeichneten Verhör sich keine bestimmte Schuld Bachs ergiebt, so wird doch das Consistorium, das bei seinem Urtheil den persönlichen Eindruck beider mit berücksichtigen konnte, im Rechte gewesen sein, wenn es der Vertheidigung Johann Christophs nicht gleich zugänglich war. Der junge, kunstfertige Mann mochte seinen Eindruck auf die Arnstädter Bürgertöchter nicht verfehlt haben. In der Absicht, sich eine Lebensgefährtin zu suchen, hatte er sich auch der Anna Wiener genähert und in der zwangloseren Weise jener Stände mit ihr verkehrt und gesprochen, wobei auch die Möglichkeit eines ehelichen Bündnisses berührt worden war. Halb aus eigner Neigung, halb aus unbedachtsamem Benehmen wird es gekommen sein, daß er eine nachhaltige Liebe des Mädchens zu sich erweckte. Das Gefühl einer nicht gleich starken Erwiederung seinerseits trieb sie zur eifersüchtigen Neckerei wegen eines Ringes; er, um derselben zu begegnen, schenkte ihr denselben. Diesen Leichtsinn zu entschuldigen, sind wir weit entfernt, möchten ihn jedoch nicht mit zu strengem Maßstab gemessen sehen. Nun ward Bach der halbernsten Tändelei [158] überdrüssig und ließ dem Mädchen die Qual einer unerwiederten Liebe. Ihre Aussagen vor dem Consistorium bezeugen aber nicht nur diese, sondern auch wirkliche Weiblichkeit und Zartgefühl. Zu stolz, um mit sich spielen zu lassen, hatte sie ihm das ihrerseits ernst gemeinte Versprechen zurückgegeben und ihm den Umgang aufgekündigt; aber einmal um die Sache befragt, verräth sie doch wieder das eigentliche Gefühl in der wiederholten Berufung auf sein Gewissen und auf Gott, vor dem er sein Benehmen zu verantworten habe und in dessen Willen sie ihre Wünsche befehle. – Die geistliche Behörde, deren Absicht es war, einen Ausgleich herbeizuführen, scheint dieses Mal Oel ins Feuer gegossen zu haben. Bach fühlte sich der Anna Wiener gegenüber nicht verpflichtet, wie schon die trotzige ihr gegebene Antwort beweist, daß er Gottes Strafe wegen eines Treubruchs nicht befürchte, und dadurch, daß die Sache jetzt an die Oeffentlichkeit gedrungen und vermuthlich auch Stadtgespräch geworden war, wurde seine Widerspenstigkeit nur gesteigert und seine Gleichgültigkeit gegen das Mädchen in Abneigung verkehrt. Was zunächst weiter in der Angelegenheit vor dem Consistorium verhandelt worden ist, darüber fehlen die Nachrichten, man sieht jedoch so viel, daß es der Ansicht war, Bach müsse die Wienerin heirathen. Wenn derselbe endlich Folge geleistet hätte, so würden wir dies aus dem Ansehen des Consistoriums und nach den damaligen Sitten erklärlich finden, indem gegenseitige Zuneigung bei Eheschließungen keineswegs immer das entscheidende Motiv war, und man viel häufiger noch, als heutzutage, äußern Gründen nachgab und der Zeit die Ausgleichung selbst von starken Differenzen anheim stellte. Daß sich aber der arme, in seiner äußern Lebenslage vom gräflichen Hofe und dessen Räthen gänzlich abhängige Musicus mit der größten Entschiedenheit, ja Erbitterung gegen dieses Ansinnen wehrte, ist ein merkwürdiger Beweis von berechtigtem Selbstgefühl, das eine Einmischung in die Angelegenheiten des Gemüthes und Herzens unter allen Umständen Niemandem gestattete. Die schwarzburgischen Grafen jener Zeit standen in einem Abhängig keits-Verhältniß vom Herzogthum Sachsen, und da Johann Christoph in Arnstadt nicht Recht erhielt, wandte er sich mit einer Appellation an das Consistorium in Weimar. Dies geschah im November 1674, nachdem die Angelegenheit sich nun schon weit über ein Jahr hinausgezogen [159] hatte. Er trat hier mit solcher Leidenschaftlichkeit auf, daß er sich später vorwerfen lassen mußte, gesagt zu haben, »er sei der Wienerin so feind, daß er sie nicht vor Augen sehen könne«. Und in Weimar erkannte man ihm sein Recht zu. Hiernach blieb der Arnstädter Behörde nichts zu thun übrig, als Versöhnung zu stiften, wozu sich Bach nunmehr bereit finden ließ, und dadurch seinen in Weimar gethanen Ausspruch thatsächlich widerrief. Darüber war das Ende des Jahres 1675 herangekommen, fast drittehalb Jahre hatte der aufreibende Kampf um seine innere Freiheit ihm hingenommen. Er ging siegreich daraus hervor, aber der Gedanke an Liebe und Ehe war ihm für Jahre verleidet. Während im übrigen die männlichen Personen des Bachischen Stammes sich früh, oft im Anfang der zwanziger Jahre verheiratheten, blieb er bis in sein fünfunddreißigstes Lebensjahr unvermählt. Dann nahm er sich (um Ostern 1679) Martha Elisabeth Eisentraut zur Gattin, die Tochter des Kirchners zu Ohrdruf.

Noch ist ein Verdacht zu zerstreuen, der vielleicht beim Lesen der eben geschilderten Ereignisse sich einstellen könnte, als ob es die Folgen unerlaubten Umganges gewesen wären, nach denen Bach zur Ehe mit Anna Wiener hätte veranlaßt werden sollen. Daß ihr Verhältniß zu einander ein sittlich ganz reines gewesen ist, steht außer allem Zweifel, und ergiebt sich schon allein aus dem aufmerksamen Lesen des oben mitgetheilten Verhöres. Dinge, wie sie etwa hier vorausgesetzt werden könnten, werden in den Consistorialverhandlungen, welche unsre Quelle waren, immer mit größter Offenheit besprochen, auch würde in einem solchen Falle die weimarische Behörde sich sicherlich nicht zu Gunsten Bachs erklärt haben. Ueberhaupt muß hier mit Genugthuung constatirt werden, daß in Hinsicht des Verkehrs der Geschlechter unter einander in der Bachschen Familie sehr strenge Grundsätze geherrscht haben, und daß sie sicherlich auch hierin sich vor andern ihrer Zeit merklich auszeichnete. Wenn man eine so große Anzahl von Eheschließungen und Geburten aufzusuchen und zu verfolgen hat, wie das von uns geschehen mußte, und darunter keinem einzigen Falle begegnet, der auf ein illegales oder vorzeitiges Sichzusammenfinden schließen läßt, so ist dies in jener sittlich verwilderten und schlaffen Zeit und unter jener Menschenclasse ein wahrlich nicht leicht wiegendes Ehrenzeugniß.

[160] Der Stadtmusicus Gräser, dem Johann Christoph zur besondern Berücksichtigung beim Musikmachen anempfohlen war, machte diesem Leben und Tagewerk sauer, beeinträchtigte ihn nicht nur in seinem Erwerb, sondern suchte ihn auch in boshafter und zanksüchtiger Weise zu kränken und zu reizen. Einst war er so weit gegangen, nicht nur Johann Christoph, sondern auch die ganze Bachische Musikanten-Familie gröblich zu beschimpfen. Hierauf erfolgte eine Collectiv-Beschwerde der Arnstädter und Erfurter Bachs, über deren Erfolg zwar nichts bestimmtes zu melden ist, doch scheint man gegen Gräser eingeschritten zu sein. Die Differenzen hörten übrigens nicht auf; noch einmal nahm die Regierung sich Bachs an, endlich jedoch riß dem alten Grafen die Geduld, er sah ein, daß bei den ewigen Zänkereien die Musik nicht gedeihen könne, und am 7. Jan. 1681 ließ er sämmtlichen Musikanten ihre Bestallungen aufkündigen »wegen ihres Unfleißes und ihrer Uneinigkeit«24. Das Unglück wollte es, daß der Graf bald darauf starb, und in Folge allgemeiner Trauer alle öffentliche Musik verboten wurde. So sah sich Joh. Christoph mit seiner Gattin und seinem erstgebornen Töchterchen aller Einkünfte beraubt und in die äußerste Nothlage versetzt. Nicht ohne Bewegung kann man es lesen, wie dieser Mann trotzdem an der Seite des greisen Heinrich Bach, seines Oheims, sonntäglich die Musik in der Kirche bestellen half ohne die geringste Vergütung, wie er bei den nunmehr regierenden jungen Grafen nach Verlauf einiger Trauer-Monate um die Erlaubniß nachsuchte, zuweilen in Arnstadt, oder wenn das beanstandet würde, in dem entfernteren Gehren, »mit einer stillen Musik etwas zu verdienen, und dadurch sich und die Seinigen nothdürftiglich zu erhalten«, oder wenn er bittet, zur Neujahrszeit trotz der Trauer »vor den Thüren abblasen« zu dürfen. Die Zeit des Elends ging vorüber, und er wurde in den [161] ersten Monaten des Jahres 1682 von der jungen Herrschaft aufs neue zum Hofmusicus und zum Stadtpfeifer ernannt. Wir wenden uns von der unerfreulichen Seite seines Lebens, den auch fernerhin nicht aufhörenden Beschwerden über Berufsbeeinträchtigung und andern Conflicten mit seinen Standesgenossen hinweg zur Betrachtung der am gräflichen Hofe getriebenen Musik. Dies wird um so größeres Interesse haben, als späterhin auch Sebastian Bach diesem Hofe seine Dienste zu leisten hatte.

Nach dem Tode Ludwig Günthers fiel die Grafschaft an dessen beide Neffen, von denen der jüngere, Anton Günther, die Oberherrschaft mit der Residenz Arnstadt erhielt, wo er 1683 seinen Wohnsitz nahm und bis zu seinem Tode 1716 verblieb. Zum Capellmeister seines Hofes berief er Adam Drese, einen damals schon mehr als sechzigjährigen Mann. Er war um die Mitte des December 1620, wahrscheinlich in Weimar geboren, und vom Herzog Wilhelm IV., in dessen Hofcapelle er zuerst wirkte, dem königl. polnischen Capellmeister Marco Sacchi in Warschau zur weitern Ausbildung übergeben, sodann selbst zum Capellmeister am weimarischen Hofe ernannt. Hier stand er im Jahre 1658 einer Capelle von 16 Musikern vor und bekam 275 Gülden Gehalt, nebst Naturallieferungen25. Nach dem Tode des Herzogs (1662) und der Theilung seines Landes nahm ihn dessen vierter Sohn Bernhard, dem die Herrschaft Jena zufiel, mit sich dorthin und übertrug ihm nicht nur die Capellmeisterstelle, sondern, bei Dreses vielseitiger Bildung, auch das Amt eines Kammersecretärs, sowie das des Stadt- und Amts-Schulzen. Im Jahre 1667 ließ der Fürst eine Veränderung in seiner Hofhaltung eintreten, und Drese wurde aus unbekannten Gründen entlassen. Ein Bittgesuch an den Herzog Moritz zu Sachsen-Zeitz verschaffte ihm eine lobende Empfehlung an Landgraf Ludwig von Hessen-Darmstadt26. Ob er es hier zu einer Anstellung brachte, ist dunkel; einige Jahre darauf war er wieder am Hofe zu Jena. Als Bernhard 1678 gestorben war, blieb Drese vermuthlich unter der vormundschaftlichen Regierung der Herzogin noch an seinem Posten, nach dem Tode derselben (1682) wird er nach kurzer Unterbrechung[162] 1683 in den Dienst des Schwarzburger Hofes getreten sein. Verbessert hatte sich seine Lage im Laufe der Ereignisse nicht: im Jahre 1696 erhielt er eine Besoldung von 106 Gülden jährlich27. Er starb im hohen Alter von 80 Jahren und zwei Monaten am 15. Febr. 1701. – Dreses musikalische Thätigkeit muß eine ausgedehnte gewesen sein. Sein Hauptinstrument war die Viola da gamba, gleich wie bei seinem Freunde und Kunstgenossen Georg Neumark, mit dem er in Weimar zusammen lebte und wirkte. Als Componist trat er 1672 mit einer Sammlung Allemanden, Couranten, Sarabanden u. drgl. hervor, und soll im übrigen viele Instrumental-Sonaten, Kirchenstücke und theatralische Compositionen verfaßt und zumal in der Behandlung des Recitativs sich ausgezeichnet haben28. Bekannt ist von diesen gedruckten und ungedruckten Sachen bis jetzt nichts wieder geworden; doch haben sich 14 Liedercompositionen von ihm in Neumarks »fortgepflanztem musikalisch-poetischen Lustwalde« (Jena, 1657) erhalten. Auch eine Anleitung zur Composition existirte um das Jahr 1680 von ihm und war im Gebrauch29. Von seinen geistlichen Melodien, die er theils zu den religiösen Liedern des Consistorialraths Büttner in Arnstadt, theils zu eignen Dichtungen erfand, hat sich der Gesang: »Seelenbräutigam, Jesu, Gottes Lamm« mit seiner ansprechenden, aber sinnlich spielenden Tonweise im Gebrauche erhalten. Diese dichterische und compositorische Thätigkeit hing mit der Sinnesänderung zusammen, welche sich bei Drese in seinem Alter einstellte. Vorher war er ein leichtgesinnter, lebenslustiger Künstler gewesen, der bei theatralischen Aufführungen, an denen er sich betheiligte, mit Vorliebe die lustige Person vorgestellt haben soll. Nach dem Tode des Herzogs Bernhard von Jena lernte er zuerst Speners Schriften kennen, und wurde vorzugsweise durch sie ein eifriger Anhänger des Pietismus. In Arnstadt veranstaltete er neben der Erfüllung seiner Amtspflichten nach Speners Vorbilde religiöse Versammlungen Gleichgesinnter in seinem Hause, und ließ auch 1690 in Jena eine Schrift erscheinen: [163] »Unbetrügliche Prüfung des wahren, lebendigen und seligmachenden Glaubens«. Zu dieser schrieb Spener selbst eine Vorrede, in welcher er an Drese dessen ernste Gesinnung und tiefes Gemüth rühmend hervorhebt30. Der Pietismus fand aber in Arnstadt keinen günstigen Boden; wenigstens waren die beiden Olearius, Vater und Sohn, welche dort als Geistliche neben und nach einander in sehr hohem Ansehen standen, demselben durchaus feindlich gesinnt. Sicherlich geschah es durch ihren Einfluß, daß 1694 am Cantate-Sonntage und am Himmelfahrts-Feste eine öffentliche Warnung gegen die »Irrlehren« der Pietisten von allen Kanzeln verlesen wurde, und nicht ohne Genugthuung äußert sich der jüngere Johann Christoph Olearius, »obwohl unter andern einige quäckerisch gesinnte Pietisten solche Religionsruhe zu verunruhigen heimlich und öffentlich sich seithero bemühet, so habe doch Gott durch christliche Obrigkeit solches gehindert«31. Derselbe charakterisirte später einmal Drese als einen arglistigen, unruhigen, mit fanatischen Grillen behafteten Mann, dessen Haus »die Herberge aller subtilen und plumpen Pietisten« gewesen, nimmt Anstand, ihn zu den reinen evangelischen Liederdichtern zu rechnen, und giebt seiner Freude darüber Ausdruck, daß er und sein Geschlecht in Arnstadt ganz ausgestorben und seine Händel mit ihm verloschen. Uns fehlen die Mittel, festzustellen, wessen Urtheil über Drese das Richtigere trifft, im allgemeinen aber ist man jener hochmüthigen und verknöcherten Orthodoxie gegenüber immer geneigt, sich auf Seite der Pietisten zu stellen. Daß unter solchen Umständen Dreses Stellung in Arnstadt nicht zu den unbekümmerten gehörte, leuchtet ein, dazu kam er ohne sein Verschulden häufig auch in äußere Noth. Wie wenig gewissenhaft man in Zahlung des Gehaltes war, ergiebt sich unter anderm aus einem Schreiben Dreses an den arnstädtischen Kammerrath vom 19. April 1691: »übrigens erinnere kürzlich, daß vorm Jahre Michaelis ich vertröstet worden, gegen das Quartal Luciae zwei Quartale [der Besoldung] einzuheben, damit der Rest nicht zu hoch aufwachsen könnte; an besagtem Luciae wurde ich bis nach den heiligen Feiertagen vertröstet, [164] nach diesen ich gar bis aufs Quartal Reminiscere verwiesen; ich erwartete solches auch mit Geduld; als ich mich nun an demselben wieder angemeldet, wurde ich weiter bis in die Marterwoche vertröstet, indem ich mich nun in derselben auch gebührend angegeben, bekam ich zur Resolution: es wäre kein Geld da; wo ich nun nach so vielen Vertröstungen ferner hingewiesen werde, weiß ich nicht!« Nicht unbemerkt darf hier die gewandte Ausdrucksweise bleiben, und etwas von individueller Färbung, was hier wie in andern Eingaben Dreses32 unter dem todten Formelkram derzeitiger Actenstücke wohlthuend berührt, und selbst in diesen untergeordneten Geistesäußerungen von dem frischen Leben zeugt, was trotz vieler Verirrungen in dem Pietismus sich regte. Ein Sohn des alten Capellmeisters, Wilhelm Friedrich Drese, hatte von seines Vaters Anstellung an vier Jahre unentgeltlich in der gräflichen Capelle mitgewirkt33, dann irgend einen musikalischen Posten bei einem Baron von Meußbach in Triptis im Weimarischen bekleidet, und bemühte sich später, wieder in schwarzburgische Dienste zu kommen. Lange wird er nicht darin geblieben sein. Am Ende des Jahrhunderts war die Capelle zeitweilig aufgelöst34, und Adam Drese hoffentlich in angemessener Weise in Ruhestand versetzt. Nach seinem Tode – seine Frau war schon 1698 gestorben – werden auch die pietistischen Bestrebungen rasch wieder verschwunden sein, und Sebastian Bach, als er wenige Jahre darauf in Arnstadt Organist wurde, hätte wohl kaum noch Spuren davon vorfinden können. Jedenfalls war ein persönlicher Einfluß Dreses auf ihn nicht mehr möglich, wie man annehmen zu müssen geglaubt hat35, da derselbe nicht mehr am Leben war; daß aber auch Sebastian Bachs Stellung zum Pietismus eine ganz andre gewesen ist, als man gemeiniglich vermuthet, wird später ausführlich entwickelt werden.

[165] Graf Anton Günther that mancherlei für die Musik, wohl nicht zum kleinsten Theile auf Anregung seiner Gemahlin Augusta Dorothea, welche vom Hofe ihres Vaters, des Herzogs Anton Ulrich von Braunschweig-Wolfenbüttel, ein reges Kunstleben gewohnt war. Außerdem daß er einen renommirten Meister an die Spitze berief, besonders begabte junge Leute auf seine Kosten ausbilden und reisen ließ, brachte er auch den Capellbestand auf eine für die kleinen Verhältnisse beträchtliche Höhe. Freilich hatten die meisten Musicirenden auch noch andere Aemter oder Dienste, aber es mußte dann bei Besoldung derselben doch immer auf die musikalische Leistungsfähigkeit Bedacht genommen werden. Eins der Verzeichnisse der Hof-Musik führt auch den Organisten und Cantor zu Gehren, den Cantor zu Breitenbach und einen Fagottisten aus Sondershausen auf. Es geschah also zu besondern Gelegenheiten, daß die musikalischen Kräfte des ganzen Ländchens zusammengetrommelt wurden, und nicht selten mag der stille Michael Bach zu Fuß den Weg von Gehren auf das Schloß in Arnstadt gemacht haben, um bei einem besonders glänzenden Hofconcerte mit zu wirken36. Aber auch ohne das sieht eine Liste der Capellmitglieder bunt genug aus. Folgendes ist eine Zusammenstellung der Instrumentisten um das Jahr 1690: Herr Drese senior – Viola da gamba. Kammerdiener Wentzing – Violine. Kammerdiener Gleitsmann – Laute, Violine und Viola da gamba. Actuar Heindorff – Violine. Der Kornschreiber – Clavier und Violine. Der Küchschreiber – Clavier. Herr Drese junior – Viola da gamba. Stadt-Cantor Heindorff – Violine. Ein Fagottist. Fünf Trompeter. Trompeter Jäger – Violine. Zwei Hautboisten, auch für die Violine zu gebrauchen. Bach mit seinen Leuten (4 Personen). Dies sind zusammen 21 Spieler, mit welchen jede Instrumentalsonate auf das vollständigste ausgeführt werden konnte. Noch stattlicher macht sich eine andere Liste, welche auch den vocalen [166] Bestand angiebt und die wir ganz in ihrer ursprünglichen Fassung mittheilen wollen. Aus einem nicht erkennbaren Grunde ist der Capellmeister Drese nicht mit genannt.


 

Vocalisten.


 

 

Discant: Hans Dietrich Sturm.

Altist: Hans Erhardt Braun.

Tenorist: 1. der Kammerschreiber.

Tenorist: 2. der Kornschreiber.

Tenorist: 3. Hans Heinrich Longolius.

Bassist: 1. Der Bauschreiber.

Bassist: 2. Der Cantor.


 

Instrumentisten.


 

Violine: [Johann] Christoph Bach.

Violine: Christoph Jäger.

Violine: Actuarius.

Violine: Wentzing.

Alt-Viole: Bachens Gesellen und Lehrjungen.

Tenor-Viole: Bachens Gesellen und Lehrjungen.

Bass-Viole: Bachens Gesellen und Lehrjungen.

Violon: Küchschreiber.

Organo: Heinrich Bach.


 

außer den Trompetern sind auch auf gnädigen Special-Befehl zu dieser Musik bishero mit gezogen worden:


 

Zur Capella oder zum Complimento37 aus der Schule allhier:


 

Jägers Sohn: Discantista.

Sauerbrey: Altista.

Müller: Tenorista.

Schmidt: Bassista.


 

Von diesen Personen können gebraucht werden zur Instrumental-Musik besonders:


 

Jäger, Violinist

Bach, Violinist

Actuarius, Violinist

Wentzing, Violinist

Kammerschreiber, Violinist

Kornschreiber, Violinist

Trompeter Förster, Violinist

Trompeter Herthum, Violinist

der Cantor, Violinist

Hans Erhardt Braun, Violinist

Hans Heinrich Longolius, Violinist

Bachens Geselle, Violinist

Trompeter-Lehrjunge, Alt-Bratsche

Hans Dietrich Sturm, Alt-Bratsche

Müller aus der Schule, Alt-Bratsche

[167] Schmidt aus der Schule, Tenor-Bratsche

Sauerbrey aus der Schule, Tenor-Bratsche

Bachens Lehrjunge, Tenor-Bratsche

der Küchschreiber, Violon und zwei Bass-Viole

Bachens Geselle, Violon und zwei Bass-Viole

Bachens Lehrjunge, Violon und zwei Bass-Viole


 

Eine genauere Vergleichung der beiden Verzeichnisse zeigt, daß das zweite das frühere ist, weil hier noch Heinrich Bach genannt wird, der um das Jahr 1690 nicht mehr dienstfähig war. In diese Zeit aber die erste Liste zu setzen, veranlaßte uns die Nennung des Kammerdieners Gleitsmann, welcher etwa damals in gräfliche Dienste trat38. Die zweite wiederum kann doch nicht vor 1683 aufgestellt sein, denn sonst müßte Günther Bach, Heinrichs jüngster Sohn mit darauf gefunden werden. Unter diesen Gesichtspunkten ergiebt nun eine Vergleichung weiter, daß der Instrumentalkörper unter Dreses Leitung mannigfaltiger und reicher geworden war: es sind zu den Streichinstrumenten die Gamben hinzugekommen, außerdem die Laute, die Oboen, das Fagott. Auch dürfte der Umstand, daß bei dem reinen Instrumental-Corps des zweiten Verzeichnisses der Cembalist fehlt, zu dem Schlusse berechtigen, daß die Instrumental-Musik bei Hofe sich damals noch auf einfache Klingstücke und Tänze beschränkte, wie sie vor und während der Tafel am Platze waren, durch Drese aber auch das Instrumental-Concert eingeführt wurde, was ohne Cembalo-Accompagnement nicht sein konnte. Der Küchschreiber, welcher als Clavierspieler aufgeführt wird, ist kein anderer, als Christoph Herthum, Heinrich Bachs Schwiegersohn, derselbe, dem in der älteren Liste der Violonbass zuertheilt ist. Johann Christoph Bach endlich erscheint im älteren Verzeichniss selbst fünfen, im späteren nur selbst vieren; dürfte man hieraus etwas folgern, so wäre es ihm anfänglich in seiner neuen Stellung unter dem Grafen Anton Günther besser ergangen als später. Aber wir wissen aus einer andern Quelle, daß seit jenen schweren Zeiten beim Beginn der Regierung des Grafen dauernde Noth ihn nicht mehr bedrückt hat. Vielmehr konnte er bei seinem Tode seiner Familie ein kleines Vermögen hinterlassen.

[168] Genau wie sein Vater, erreichte auch Johann Christoph nur ein Alter von 48 Jahren, sein Todestag wurde der 25. August 1693. Ihn überlebten seine Wittwe und fünf Kinder. Erstere bekam die Erlaubniß, den Dienst des verstorbenen Mannes durch die Gesellen fernerhin versehen zu lassen, zeigte sich aber jenen widerspenstigen und rohen Menschen gegenüber ihrer Aufgabe nicht gewachsen, und bat nach drei Jahren selbst um Aenderung dieses Verhältnisses. Der älteste Sohn, Johann Ernst (geb. 8. Aug. 1683), besaß jedenfalls ein nicht unbedeutendes musikalisches Talent, und nahm zur weitern Ausbildung desselben aus eignen Mitteln einen halbjährigen Aufenthalt in Hamburg, hernach auch noch eine Weile in Frankfurt. Zuverlässig kehrte er sodann nach Arnstadt zurück, um Mutter und Geschwister durch Verwerthung seiner Fähigkeiten zu unterstützen. Leider aber wollte dies zu Anfang nicht gelingen, und da mittlerweile auch das väterliche Vermögen von den Hinterbliebenen allmählig aufgezehrt war, endlich sogar langwierige Krankheit im Hause einkehrte, so wurde die Lage der Familie Johann Christoph Bachs bald eine recht bedrängte. Eine andre Bachische Familie, welche hätte helfen können, lebte damals nicht am Orte; nur der jugendliche Sebastian Bach bekleidete dort von 1703–1707 seine erste Organistenstelle. Aber selbst dieser that, wie wir sehen werden, was in seinen Kräften stand, um dem nothleidenden Vetter beizustehen. Als er nach Mühlhausen berufen wurde, glückte es Johann Ernst nach einigen Bemühungen, Sebastians Nachfolger zu werden. Freilich geschah dies nicht ohne eine vor dem damaligen Capellmeister Paul Gleitsmann abgelegte Probe, in welcher Bach durch den Vortrag eines Praeludiums mit vollem Werke, einer extemporirten Choral-Durchführung, und der geschickten und correcten Ausführung der Generalbass-Stimme zu einem vorgelegten Kirchenmusik-Stücke seinem Mitbewerber den Rang ablief. Daß man jedoch seine, des Vierundzwanzigjährigen, Fertigkeit der von Sebastian Bach schon mit 18 Jahren erreichten nicht gleichstellte, geht aus der bedeutend geringeren Besoldung hervor: er erhielt den sehr bescheidenen Gehalt von 40 Gülden und anderthalb Maß Korn, auch sah man sich gemüßigt, noch ein halbes Jahr verstreichen zu lassen, ehe die definitive Anstellung erfolgte. Da er zwanzig Jahre lang an diesem Posten verblieb, der ihn doch nur sehr kümmerlich ernähren konnte, [169] so nimmt es nicht Wunder, daß er den Hoffnungen nicht entsprochen zu haben scheint, welche Gleitsmann glaubte auf ihn setzen zu dürfen. Wenigstens mußte er sich 1728, wo er endlich die mit 77 Gülden ausgestattete Stelle an der Ober-und Liebfrauen-Kirche erhielt, vom Consistorium ermahnen lassen, »sich in seiner Kunst immer besser zu üben, solche möglichst durch gutes Nachsinnen zu excoliren, nicht immer auf einer Leyer zu bleiben, sondern durch gepflogene Correspondenz mit ein und andern berühmten Kunsterfahrenen sich habil zu machen«. Uebrigens erschwerte ihm ein Augenleiden seine Studien. Vermählt war er zum ersten Male (seit dem 22. Oct. 1720) mit einer Tochter des Pfarrers Wirth zu Wandersleben; seine zweite Gattin, mit der er sich 1725 verband, hieß Magdalene Christiane Schober, und war Tochter eines Kanzleisecretärs zu Gotha. Sie überlebte nebst drei unerwachsenen Kindern seit 1739 ihren Mann, dem die Sonne des Lebensglücks wenig geschienen hat39. – Von den drei Brüdern Johann Ernsts starb der jüngste, Johann Andreas, im Jahre nach des Vaters Tode, kaum drei Jahre alt; von einem andern, Johann Heinrich, ist nur überliefert, daß er am 3. Dec. 1686 geboren wurde. Häufiger erwähnt findet sich dagegen Johann Christoph, geb. 13. Sept. 1689, über dessen Lebenslauf aber die Nachrichten nicht weniger unsicher sind, als über sein Todesjahr. Nach der Genealogie war er Krämer zu Blankenhain; dagegen bewirbt sich im Jahre 1726 ein Johann Christoph Bach, geborner Arnstädter, der schon vordem 12 Jahre bei dem Oberamtmann Struve im schwarz-burgischen Dorfe Keula im Dienste gestanden und auch zuweilen auf der Orgel fungirt hatte, um die Stelle an der dortigen Mädchenschule40. Da diese Person kaum jemand anders sein kann, als der Sohn von Sebastians Oheim, so müssen wir entweder die Angabe der Genealogie für irrig halten, oder annehmen, daß er späterhin Krämer geworden sei; unmöglich wäre ja auch dies nicht. Gestorben soll er sein 173641. Und hiermit verliert sich die Linie des arnstädtischen [170] Kunstpfeifers Johann Christoph Bach schon ins Unbekannte, ganz im Gegensatze zu der Nachkommenschaft seines Bruders Ambrosius. Während wir von den Enkeln jenes nicht einmal die Namen wissen, erblühte das Geschlecht des letzteren grade in seinen Kindeskindern zur größten Fülle, und wenn auch keins derselben nur entfernt an Talent dem Einen und Einzigen sich vergleichen durfte, so waltete doch in ihnen allen der Geist der Kunst. Der Genius des Geschlechts, nachdem er mehr oder minder durch die volle Breite einiger Generationen gewaltet hatte, wollte sich nun im Hause des Ambrosius Bach in jeder Hinsicht vollenden und erschöpfen.

Wir hatten Ambrosius Bach verlassen, als er im Jahre 1667 (am 12. April) in die Erfurter Rathscompagnie eintrat. Es ist ebenfalls schon früher erwähnt, daß er hier der Nachfolger seines Vetters Johann Christian wurde, des ältesten Sohnes von Johann Bach, der damals von Erfurt nach Eisenach verzog. Er spielte, wie man bei dieser Gelegenheit erfährt, die Alt-Geige, was man wohl auf die Geige überhaupt wird erweitern dürfen, und es ist für Sebastian Bachs musikalische Entwicklung beachtenswerth, daß Violinspiel es vor allem war, was er im elterlichen Hause hörte. Ein Jahr nach seiner Anstellung verheirathete sich Ambrosius schon (8. April 1668); es war dasselbe Jahr, in dem der ins Maßlose ausgeartete Aufwand bei Hochzeiten in Erfurt durch eine besondere Hochzeits-Ordnung des Kurfürsten von Mainz gebührend eingeschränkt wurde42. Seine Braut hieß Elisabeth Lämmerhirt, war geboren am 24. Febr. 1644, und Tochter des Kürschners Valentin Lämmerhirt, wohnhaft im Hause »zu den drey Rosen« auf dem Junkersande (jetzt Nr. 1285)43. Das Geschlecht der Lämmerhirts war den Bachs nicht fremd, schon Johann Bachs zweite Gattin Hedwig stammte daher, natürlich eine bedeutend ältere Verwandte Elisabeths. Aus dieser Ehe nun gingen sechs Söhne und zwei Töchter hervor44; ein erstes Kind muß zwischen den Jahren 1668 und 1671 geboren und bald wieder gestorben sein, darnach folgte als ältester der die Eltern überlebenden Söhne am 16. Juni 1671 Johann Christoph45. Im October desselben Jahres [171] siedelte Ambrosius nach Eisenach über, seinen Platz unter den Erfurter Stadtmusikanten, wie erwähnt, seinem Vetter Aegidius Bach überlassend. Neben der Ernährung seiner Familie übernahm er nun auch die Pflege und Sorge für eine unglückliche schwachsinnige Schwester, die jedoch im Jahre 1679 der Tod von ihrer bedauernswerthen Existenz erlöste. Es ist ein echt Bachischer Zug, daß die Brüder die bei dieser Gelegenheit gehaltene Leichenpredigt als Erinnerungszeichen gedruckt zu sehen wünschten, wie aus der an die drei Brüder und den Vetter Johann Christoph, den Sohn Heinrichs, gerichteten Dedication zu sehen ist. Der Redner wies mit Anknüpfung an den Spruch Luc. 12, 48: »Welchem viel gegeben ist, bei dem wird man viel suchen«, auf die wunderbare Vertheilung der menschlichen Güter und Gaben hin, indem er sagte: »unsere im Herrn verstorbene Mit-Schwester war ein einfältiges Geschöpf, die nicht wußte, was rechts oder links; sie war, wie ein Kind. Sehen wir hingegen ihre Brüder an, so finden wir, daß sie eines guten Verstandes, mit Kunst und Geschicklichkeit begabt sind, die bei Kirchen, Schulen und gemeinem Stadtwesen sich wohl hören und sehen lassen, so gar, daß bei ihnen recht das Werk den Meister lobet.« Dieser Ausspruch verdient besonders darum Beachtung, weil er das einzige erhaltene Urtheil über Ambrosius Bachs Leistungen enthält46. Derselbe hat Eisenach bis an seinen Tod nicht wieder verlassen; dagegen war er wohl Grund, daß nicht nur Glieder seines eignen Geschlechtes, sondern auch des seiner Frau sich ebenfalls dort ansässig machten. Die Kinder, welche ihm weiterhin geboren wurden, folgten sich so: Johann Balthasar (geb. 4. März 1673, gest. Anfang April 1691); Johann Jonas (geb. 3. Jan. 1675); Maria Salome (geb. 27. Mai 1677); Johanna Juditha (geb. 26. Jan. 1680), welche ihren ersten Namen von Johann Pachelbel erhielt, damals schon Organisten an der Predigerkirche in Erfurt; Johann Jakob (geb. 9. Febr. 1682). Von allen diesen erreichten das erwachsene Alter nur Johann Jakob, und Maria Salome, welche sich an einen gewissen Wiegand, vermuthlich nach Erfurt verheirathete, und schon 1707 von den beiden[172] Schwestern nur allein noch übrig war. Der Mann, dessen Andenken dieses Buch gewidmet ist, beschloß als jüngster die Reihe von Ambrosius' Kindern; mit seinem Geburtsdatum werden wir einen neuen Abschnitt zu beginnen haben.

Ein zusammenfassender Rückblick aber auf die hiermit beendigte Geschichte seiner Vorfahren macht es einleuchtend, daß wir bei keinem andern Künstler ein größeres Recht haben, von ihm auf der Schwelle seines Lebens den echtesten Ausdruck deutschen Wesens zu erwarten, als bei Sebastian Bach. Vor Jahrhunderten schon hatten seine Ahnen auf dem Gebiete Deutschlands, das ihm zur Wiege wurde, gelebt und gearbeitet, sie waren, wie es die Thätigkeit des Bauern mehr als jede andre mit sich bringt, mit ihrer heimathlichen Scholle wie mit ihrem eignen Selbst verwachsen. Aus dieser seine Nahrung ziehend hatte sich das Geschlecht ausgebreitet, wie ein mächtiger Eichbaum seine Zweige nach allen Seiten treibt, aber niemals war die Gemeinsamkeit des starken Stamms vergessen worden. Durch Generationen hindurch hatten sie diejenige Musik gepflegt und vertreten, welche dem auf das Uebersinnliche gerichteten Geiste des Deutschen am meisten entspricht, und daher auch von ihm zur höchsten Vollendung geführt werden sollte: die instrumentale Musik und die an ihr sich vorzugsweise entwickelnde protestantisch-kirchliche Tonkunst. Von Geschlecht zu Geschlecht hatte sich die stets vergrößerte Summe musikalischer Erfahrungen und Gewöhnungen fortgepflanzt, war allmählig zu einem Theil des Bachischen Wesens geworden und konnte so den fruchtbaren Boden bilden für die glückliche Entfaltung eines Genies von unübertroffener Größe. Und was von jeher wir Deutsche als vaterländische Tugenden besonders uns beilegen durften, obgleich im Grunde jede wahre Kraftentwicklung sie zur Bedingung hat, schlichte Frömmigkeit und Ehrbarkeit der Sitte, wir finden sie in dem Geschlechte der Bachs vom Ursprung an treu gewahrt, ja es erschien diese Gesinnung als ein Hauptgrund ihres Zusammenhaltens, welches grade in den Zeiten großer sittlicher Verwilderung am engsten war. Während ihnen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts an den zahlreichen, rasch emporblühenden Capellen der deutschen Höfe glänzendere, reichere Loose in Anzahl winken konnten, traten sie nach wie vor als einfache Organisten und Cantoren in den Dienst der Kirche, oder pflegten das deutsche Kunstpfeiferthum [173] im Volke und kamen mit den Höfen nur in flüchtige Berührung. Frömmigkeit war damals ein wahrer Schatz, und Kirche und Geistlichkeit ein Hort höherer Bildung. So konnte nun auch leichter der wiederum dem deutschen Wesen vorzüglich eigne Zug sich entwickeln, welcher in der Zeit nach dem Kriege besonders bedeutungsvoll ward: eine ideale Auffassung von Leben und Lebensberuf, und damit eine erhöhete Meinung von dem Wesen und der idealen Bedeutung der Kunst. Es giebt keinen stärkeren Gegensatz, als den zwischen italiänischen und deutschen Künstlern von damals! Dort bei großen, aber mehr glänzenden, als tief gegründeten Eigenschaften wie viel Uebermuth, Eitelkeit, Habsucht und Sittenlosigkeit! Hier ein bescheidenes, selbstloses Schaffen im engsten Kreise, oftmals ein mit Noth ringendes, aber in fester Pflichttreue hingebrachtes Dasein, ein einfacher, vor den Wogen des großen Lebens sich zurückziehender Familiensinn! Dabei aber im tiefen Innern ein Wachsen und Weben erhabener Kunstgestalten, manchmal nur erst träumerisch und wie im Nebel von der künstlerischen Phantasie geschaut und mit tastender Hand geformt, dann aber auch wieder mit Klarheit in der Tiefe erfaßt und mit einer Wärme und Innigkeit zu Tage gebildet, die noch heute nichts von ihrer Wirkung eingebüßt hat. Gewiß! ein Johann Christoph Bach hätte mit seinen köstlichen Motetten ein volles Recht gehabt, neben die blendenden Productionen italiänischer Meister hinzutreten, wenn es ihm hätte einfallen können, seine Person zur Geltung zu bringen; aber ihm galt nur die Kunst, und dieser zu dienen war sein einziger Stolz. Viel erkennbaren Einfluß auf die Richtung Bachschen Wesens übte auch das Thüringerland, an dem sie mit so großer Zähigkeit hingen. Diese Einsamkeit der Wälder und Thäler, die auch in unsrer alles überfluthenden Zeit noch hier und da das beglückende Gefühl zu erwecken vermag, als sei die bunte Welt hinter den Bergen versunken, deren eigner Zauber selbst Goethes reichen Geist mehr als fünfzig Jahre seines Lebens fesseln konnte, schwebte über dem Lande mit weit mächtiger ausgespanntem Fittiche noch hundert Jahre zuvor. Sie machte den Blick nach außen umschränkt, und vertiefte das innere Leben, aus dessen geheimnißvollem Schacht vor allem die Kunst der Musik ihre Nahrung zieht. Sie ganz besonders färbte auch den eigenthümlich religiösen Geist, der aus den Werken eines Christoph und Sebastian Bach zu uns redet. [174] Beethovens Pastoralsymphonie, in der die Natur zum großen Tempel wird, und Sebastian Bachs der Kirche geweihte Orgel-Praeludien und -Fugen, durch welche es hindurchzieht, wie das Rauschen durch die Kronen gewaltiger Eichen, sie entströmen denselben Quellen des Gefühls.

Kaum einen zweiten Künstler möchte es geben, von dessen eigenstem Wesen sich die Wurzeln nachweislich durch zwei Jahrhunderte hinabsenken. Das ausgeprägt Nationale einer Natur schließt freilich auch nothwendig eine gewisse Einseitigkeit in sich, und es ist ja eine in Kunstsachen nicht allzu häufig überwundene Schwäche aller Deutschen gewesen, das ideale Moment vor dem formalen zu bevorzugen, während doch nur vollständiges Gleichgewicht beider das vollendete Kunstwerk ergiebt. Aber gegen die Gefahr, welche allen der Instrumentalmusik ergebenen Componisten droht, sich in einen bodenlosen Subjectivismus zu verlieren, der zuletzt in künstlerische und ethische Entsittlichung hineinführt, mußte wiederum, wie kein andres Mittel, jene Jahrhunderte alte, auf den edelsten Grundlagen ruhende, alt-Bachische Tradition, die alles überkommene heilig hielt, einen Mann schützen, dessen gigantisch wogendes und brandendes Gefühlsleben wohl die Kraft besaß, alle bestehenden Formen zu überfluthen, und dort ein Chaos erscheinen zu lassen, wo sich jetzt Kunstwerke von märchenhafter Pracht erheben. So hob ihn nicht nur der gute Genius seines Geschlechts, sondern er beschützte ihn auch.

Wer die Tiefe des Wesens unseres Volkes erkennen, und wer die Zeit am Beginn des 18. Jahrhunderts culturhistorisch würdigen will, muß auf die Erscheinung Sebastian Bachs sein Auge richten, die, als noch alles ringsum todt und öde war, wie ungeahnt und durch einen Zauber hervorgerufen kam, der Wasserlilie gleich, die aus geheimnißvoller Tiefe über die graue und einförmige Fläche des Sees heraufgesendet wird, ein prangendes Zeugniß des nie ersterbenden Lebens im Schooße der Natur und der Zeiten. Nach einer Periode tiefster Gesunkenheit des deutschen Volkes ist Sebastian Bach die erste beseligende und volle Bürgschaft eines neu beginnenden geistigen Frühlings.

 

 

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).

 

 

 

 

 

Fußnoten

 

II

 

1 Pfarr-Register zu Wechmar.


 

2 Falckenstein, Civitatis Erfurtensis Historia Critica Et Diplomatica. Erfurt, 1740. II, S. 703 ff.


 

3 Tit. II. A. 2. der Magistrats-Bibliothek zu Erfurt.


 

4 Vergl. Hartung, Häuser-Chronik der Stadt Erfurt, 1861. S. 162.


 

5 Falckenstein, a.a.O. S. 716.


 

6 Hundorph, Encomium Erffurtinum. 1651.


 

7 Falckenstein, a.a.O. S. 911 und 915.


 

8 Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. Erfurt, 1758. S. 689, Anm. f.


 

9 M. J.L. Winter, Leichenpredigt auf Joh. Christoph Hoffmann, gehalten am 21. Nov. 1686. Schleusingen, Seb. Göbel. – Hoffmann betrieb später in seiner Vaterstadt neben der Musik den Waffenhandel, wie auch sein Vater gethan.


 

10 Diese Sitte wird ausdrücklich bezeugt in dem »lustigen Cotala« (»Der wohlgeplagte, doch nicht verzagte, sondern jederzeit lustige Cotala, oder Musicus instrumentalis, in einer anmuthigen Geschicht vorgestellet.« Freyberg, 1690. Neugedruckt 1713), dessen Verfasser kein geringerer als Joh. Kuhnau sein soll (Adlung, Anleitung u.s.w. S. 196). Es heißt dort S. 118: »den ersten Tag des Beylagers gieng es noch ziemlich reputirlich zu, und erwarb ich nicht ein schlechtes Lob mit meinem Singen. Denn ich hatte bey mir die allerverliebtesten, benebenst auch die allerpossirlichsten Lieder und Arien, welche die vornehmsten Herren und das löbliche Frauenzimmer mit sonderbarer Belustigung und Vergnügung anhöreten.«


 

11 Protokolle des Raths zu Erfurt vom 14. Juni 1669.


 

12 Pfarr-Register der Kaufmanns-Kirche zu Erfurt.


 

13 Pfarr-Register der Kaufmanns-Kirche. Sie sind eine Hauptquelle für Daten, welche die Erfurter Bachs betreffen, und alle, bei denen im Folgenden nichts weiter bemerkt ist, sind daher genommen. Sie geben übrigens nicht den Geburts- sondern immer nur den Tauftag an; der Regel nach erfolgte hier die Taufe zwei Tage nach der Geburt und diese Berechnung liegt allen meinen Angaben zu Grunde.


 

14 Eisenacher Pfarr-Register.


 

15 Raths-Protokolle vom 12. April d.J.


 

16 Nach der Genealogie.


 

17 Eisenacher Pfarr-Register.


 

18 Fürstl. Archiv zu Sondershausen: Gehrener Bestallungen fol. 38, und Nr. 6. Den Cantor zum Gehren anbetr. fol. 8.


 

19 Zwei Söhne von ihm lebten in Sondershausen, die auch hier den Zusammenhang mit der großen Familie festhielten, und sich bei etwaigen Geburten ihre Vettern aus Erfurt und Mühlhausen zu Pathen nahmen (s. Tauf-Register der Trinitatis-Kirche unter dem 15. März 1719). Der ältere Johann Samuel (geb. 1694) wurde 1720 Schulmeister in Gundersleben und starb noch in demselben Jahre (s. Schulacten von Gundersleben im fürstl. Archiv). Der zweite Johann Christian (geb. 1696) starb nach der Genealogie ebenfalls jung. Ein dritter Sohn Johann Günther (geb. 1703) war ein guter Tenorist und 1735 Lehrer in der Kaufmannsgemeinde zu Erfurt. Die Geburtsjahre sind nach dem Stammbaum des Fräulein Emmert in Schweinfurt.


 

20 Angabe der Genealogie.


 

21 Raths-Protokolle vom 27. Oct. d.J.


 

22 Im Eisenacher Pfarr-Register heißt der Vater Christoph, im Arnstädter Christian Schmidt. An der Identität ist gleichwohl nicht zu zweifeln.


 

23 Dies Datum nach der Genealogie.


 

24 Die andern waren Johann Christoph (2. April 1675), der als Kind gestorben sein muß, Johann Caspar (7. Juni 1678), Johann Georg (6. Jan. 1680).


 

25 Nach Walther, der die Angaben von Bernhard Bach selbst erhalten haben wird.


 

26 Ausdrücklich wird dies z.B. vom Hof-Organisten Vogler in Weimar, Sebastian Bachs einstigem Schüler, b zeugt in einem Pro Memoria Ernst Bachs vom 21. Nov. 1755 (Haupt-Archiv zu Weimar).


 

27 Nach Acten des Haupt-Archivs in Weimar; das Todesjahr nach Adlung, a.a.O. S. 689.


 

28 Ich kenne deren acht; sie stehen in den Sammlungen zerstreut, die der fleißige weimarische Organist und Lexicograph Johann Gottfried Walther eigenhändig angefertigt hat. Drei Bände solcher gesammelter Choralbearbeitungen bewahrt die königl. Bibliothek in Berlin, eine vierte die königl. Bibliothek in Königsberg i. Pr. (15839; s. den Katalog von J. Müller Nr. 499, S. 71), die fünfte und umfangreichste endlich, 365 Seiten in Querfolio enthaltend, ist im Besitze des Herrn Musik-Director Frankenberger in Sondershausen, der sie mir zu uneingeschränkter Benutzung freundlichst überlassen hat. Die Orchestersuiten sind sämmtlich auf der königl. Bibliothek in Berlin.


 

29 Adlung, a.a.O.


 

30 E.L. Gerber, Neues historisch-biographisches Lexicon der Tonkünstler Leipzig, 1812. 1. Th. Spalte 202. – Adlung, a.a.O. S. 687.


 

31 B.-G. IX. S. 3. – P. Ser. III, Cah. 6, Son. I.


 

32 S. Anhang B. II.


 

33 Die Genealogie führt drei Söhne von ihm an: Joh. Friedrich, Joh. Aegidius (beide wurden Schullehrer), Wilhelm Hieronymus. Der älteste ist nach der Kittelschen und Korabinsky'schen Stammtafel 1703 geboren (?).


 

34 Nach der Genealogie.


 

35 Der Sohn hieß auch Johann Nikolaus, wurde Chirurg und lebte in Ostpreußen. In eben jene Gegend – nach Insterburg und Marienwerder – zogen sich theilweise die Nachkommen von Johann Ernst Bach aus Eisenach.


 

36 Genealogie

 

III

 

1 Joh. Gottfr. Olearius, Leichenrede auf Heinrich Bach mit üblicherweise angehängter Lebensbeschreibung. Arnstadt, 1692; die vollständigste Quelle für sein Leben.


 

 

2 Brückner, Kirchen- und Schulenstaat im Herzogthum Gotha, Theil III, St. 9, S. 8.


 

3 Die gegebene Darstellung sucht vielfach sich widersprechende Nachrichten zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen. Daß beide Brüder längere Zeit in Suhl waren, geht schon aus den von ihnen geschlossenen Ehen hervor.


 

4 Pfarr-Register zu Arnstadt.


 

5 d.h. meißensche Gülden = 21 guten Groschen. Damit man dies nicht für allzu wenig halte, sei beispielsweise bemerkt, daß der Conrector der arnstädtischen Schule noch im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts nur 81 Gülden und 10 Maß Roggen erhielt.


 

6 Vergl. die charakteristischen Schilderungen bei Th. Irmisch, Der thüringische Chronikenschreiber M. Paulus Jovius und seine Schriften. Sondershausen, 1870. S. 30 und 31.


 

7 Fürstl. Archiv zu Sondershausen. Acta, die Bestallungen der Schuldiener am Arnstädter Lyceo 1616–1680. fol. 167 ff.


 

8 Dieser Klemsee hatte sich in Italien gebildet und veröffentlichte im Jahre 1613 bei Weidner in Jena ein Buch fünfstimmiger italienischer Madrigale, wie ich aus dem Verzeichniß der Musikalien Georg Beckers in Lancy ersehe (mitgetheilt in den Monatsheften für Musikgeschichte IV, S. 55 und 56).


 

9 Arnstädter Consistorial-Protokolle vom 17. Juni 1672; auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


 

10 Olearius, a.a.O. S. 45.


 

11 Archiv zu Sondershausen, Acten betr. die Bestallung des Schuldienstes in Rockhausen, 1681. fol. 2.


 

12 Zusatz zur Genealogie.


 

13 Acten auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


 

14 Daß er hier wohnte, sagt eine auf dem Rathhause zu Arnstadt befindliche Liste jener Zeit; wahrscheinlich war es das Haus Nr. 308, wo lange Zeit hindurch die Organistenwohnung war.


 

15 Auch dieses Schriftstück, sowie die beiden vorher erwähnten befinden sich auf dem Archiv zu Sondershausen.


 

16 Zuerst mitgetheilt von A.G. Ritter, Orgelfreund, Bd. VI, Nr. 14. Derselbe hat es einer Handschrift aus Suhl entnommen. Ist es, wie ich vermuthe, dieselbe, welche später in meinen Besitz kam, so trägt das Stück allerdings nur die Namens-Chiffre H.B. Dies könnte aber außerdem nur noch »Heinrich Buttstedt« bedeuten, von dessen Stil der Satz himmelweit entfernt ist.


 

17 In einer später noch zu erwähnenden Leichenpredigt auf Dorothea Maria Bach vom Jahr 1679 wird er »wohlverordneter Organist bey denen Kirchen alhier in Eisenach« genannt.


 

18 Adlung, Musica mechanica organoedi. Berlin, 1768. 1. Bd. S. 214 u. 215.


 

19 Von diesen in der Genealogie aufgeführten Söhnen war in den Eisenacher Kirchenregistern nur der zweite zu finden; das Geburts-Datum des ältesten ist nach Walther, ebenso der Todestag des Vaters. Die Töchter hießen: Marie Sophie, geb. 24. März 1674 (soll wohl 1671 sein!); Christine Dorothea, 20. Septbr. 1678; Anna Elisabeth, 4. Juni 1689.


 

20 Der hierauf bezügliche, von Bach selbst unterschriebene, untersiegelte und vom 27. April 1696 datirte Revers, zugleich das einzige Actenmäßige, was über ihn aufzufinden war, ist im Staatsarchiv zu Weimar. Das achteckige Siegel zeigt die verschlungenen Buchstaben J.C.B. Ein gemeinsames Siegel besaß die Bachsche Familie nicht. Sebastian gebrauchte von seiner weimarischen Zeit an einen Stempel mit Rosette und Krone darüber; Stephan Bach in Braunschweig hatte einen nach links schreitenden Storch oder Kranich, Johann Elias Bach in Schweinfurt einen Schild, auf dem oben eine Taube sitzt, während in der Schildfläche sich ein Posthorn befindet.


 

21 Walther erwähnt in den handschriftlichen Zusätzen zum Lexicon, daß ihm eine Parentation gehalten sei über die Verse Paul Gerhardts: Das Haupt die Füß und Hände sind froh daß nun zum Ende die Arbeit kommen sei. Gerber, der sich im Besitz von Walthers Handexemplar befand, hat die Angabe reproducirt.


 

22 In der Mitte des vorigen Jahrhunderts zerstörte ein Brand einen großen Theil Gehrens. Alle städtischen Gebäude, welche bei dieser Gelegenheit vernichtet wurden, werden urkundlich aufgezählt; die »Stadtschreiberei« befindet sich nicht darunter.


 

23 Die hierher gehörigen Acten sind auf dem fürstl. Archiv zu Sondershausen.


 

24 Dies nach mündlicher, aber ganz zuverlässiger Tradition. Was aus der Geige später und nach Methfessels Tode (1869) geworden, weiß ich nicht.

 

 

IV

 

1 In ausgedehntem Maße benutzte er für »Israel in Aegypten« ein Magnificat von Dionigi Erba; s. Chrysander, Händel I, S. 168–177.


 

2 »Es erhub sich ein Streit«, B.-G. II, Nr. 19.


 

3 B.-G. X, Nr. 50.


 

4 Zusatz zur Genealogie.


 

5 In einem Briefe an Forkel, vom 20. Sept. 1775 aus Hamburg, den Bitter in seinem Werk über Bachs Söhne I, S. 343 mitgetheilt hat. Ph. Emanuel bewahrte das Stück in seinem »Alt-Bachischen Archive« auf, einer Sammlung von Compositionen tonsetzender Bachs vor und neben Sebastian; aus dem Nachlasse G. Pölchaus kam es an die königl. Bibliothek in Berlin.


 

6 In Stimmen, welche aus dem Bachischen Archive herstammen, auf der königl. Bibliothek in Berlin.


 

7 Die drei beispielsweise angeführten Motetten sind einem Sammelbande alter derartiger Compositionen entnommen, den ich vor Jahren von einem thüringischen Dorfcantor erwarb. Er enthält eine große Anzahl in ihrer Art tüchtiger Stücke aus dem Ende des 17. und Anfange des 18. Jahrhunderts, dann auch manches neuere. Leider sind fast nie die Namen der Componisten genannt, möglicherweise gehört einiges daraus noch Michael Bach an.


 

8 Auf die schöne doppelchörige und in derselben Weise gestaltete Motette der gleichen Sammlung (Nr. XXI) über den Choral »Ich hab mein Sach Gott heimgestellt« sei wenigstens anmerkungsweise aufmerksam gemacht. Michael Bach hat die letzte Strophe desselben ebenfalls behandelt am Schluß seiner Motette: »Unser Leben ist ein Schatten«.


 

9 F.E. Niedt, Musikalische Handleitung, Th. 3, herausgegeben von Mattheson (Hamburg, 1717), S. 34: »Die Explication über die Moteten überlasse ich denen Thüringischen Bauren, als welche solche von dem Hammerschmid Zeit ihres Lebens (gleichwie die Altenburgische Bauren-Mägde ihre Stiefeln, und die Spanier ihre kurtze Mäntel von ihren Vorfahren angeerbet) behalten werden.«


 

10 Die bis jetzt verschollenen Compositionen sind nach dem Katalog des musikalischen Nachlasses von Ph. Emanuel Bach, der sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindet, folgende: »Auf laßt uns den Herrn loben«, für den Alt und 4 Instrumente. »Nun ist alles überwunden«, Arie für 4 Singstimmen, Arnstadt, 1686. »Weint nicht um meinen Tod«, Arie für 4 Singstimmen, 1699. »Die Furcht des Herrn« u.s.w., für 9 Singstimmen und 5 Instrumente. Bei den drei letzten ist freilich der Verfasser nicht genannt, aber nach der Anordnung des Katalogs spricht die Wahrscheinlichkeit für Michael Bach. Noch zwei andre namenlose Compositionen finden sogleich und weiter unten Erwähnung.


 

11 So ist sie wenigstens herausgegeben von F. Naue (Neun Motetten für Singchöre von Johann Christoph Bach und Johann Michael Bach [3 Hefte]; Leipzig, Friedr. Hofmeister. Heft I, 3), nach einer mir unbekannten Vorlage. Im Bach-Archiv war sie mit vier begleitenden Instrumenten versehen, vorausgesetzt, daß eine dorther ohne Namen des Componisten angeführte Motette gleichen Textes dieselbe ist.


 

12 Sammelband von 93 Motetten in Partitur aus dem Anfang des vorigen Jahrhunderts auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Preußen (sign. 13661), Nr. 37. Die Notiz lautet wörtlich: »In Stimmen ex Dis«, wie man ja noch bis in den Anfang unseres Jahrhunderts Dis dur für Es dur sagte. Auch bei andern Stücken finden sich ähnliche Notizen mit gleicher Beweiskräftigkeit.


 

13 Naue, Heft I, 2.


 

14 Auch Heinr. Schütz scheute sich im vielstimmigen Vocalsatze zu Zeiten nicht vor Octavenverdoppelungen, z.B. Takt 4 der sechsstimmigen Motette: »Selig sind die Todten« zwischen 2. Sopran und 2. Tenor.


 

15 C. von Winterfeld will (Evangelischer Kirchengesang III, 430) zwischen Michael Bachs Motette: »Ich weiß daß mein Erlöser lebt« und der gleichen von Melchior Frank eine Verwandtschaft finden, von der ich aber keine Spur entdecken kann.


 

16 Naue, Heft II, 5. Derselbe hat einen bezifferten Bass beigefügt, welcher im Katalog über den musikalischen Nachlaß Philipp Emanuel Bachs nicht verzeichnet ist. Hier findet sich dagegen die Jahreszahl 1699 angemerkt, die, wenn sie nicht auf Schreib- oder Druckfehler beruht, nur das Jahr der Copie-Anfertigung anzeigen kann, denn der Componist war damals schon todt. Dieser Umstand entwerthet auch die Bedeutung der übrigen Jahreszahlen, welche der Katalog bei andern Compositionen bietet, um ein beträchtliches.


 

17 Naue, Heft II, 6; hier mit Generalbass; im Verzeichniß des Bachschen Archivs ohne einen solchen. Die ganz anders geartete Briegelsche Motette ist neu herausgegeben von Fr. Commer, Geistliche und weltliche Lieder aus dem XVI.-XVII. Jahrhundert (Berlin, Trautwein), S. 80–85.


 

18 Dasselbe geschieht schon einmal Takt 13, hier wohl nur aus Mangel an Geschick. Auch die lahme Harmonisirung von Takt 11 und 12 (und entsprechend Takt 36 und 37) verräth einen noch nicht fein durchgebildeten Geschmack.


 

19 Amalien-Bibliothek auf dem Joachimsthal zu Berlin, Bd. Nr. 116, letztes Stück; Bd. Nr. 326, letztes Stück; Bd. Nr. 116, drittletztes Stück; ebendaselbst, vorletztes Stück. Die erste und vierte Motette sind mit Continuo. Der Katalog des Bach-Archivs führt an: »Ach wie sehnlich wart ich u.s.w. Für den Discant, 5 Instrumente und Fundament von Johann Michael Bach.« Ich glaube, daß unter dieser Notiz des ohnehin wenig sorgfältig abgefaßten Verzeichnisses unsere vierte Motette verborgen ist Der Ausdruck »5 Instrumente und Fundament« ist befremdlich und verdächtig.


 

20 Amalien-Bibliothek, Bd. Nr. 90, erstes Stück. Ohne Continuo.


 

21 Naue, Heft III, 8. Ein Continuo ist beigefügt, von dem aber das Bach-Archiv nichts sagt. Nach diesem soll die Motette 1679 componirt sein, wo Michael Bach 31 Jahr alt und in Gehren Organist war.


 

22 Z.B. »Ich! ich! ich! ich will den Namen Gottes loben«, oder: »Uns! uns! uns! uns ist ein Kind geboren«, u.a. Sebastian Bach, als er, an seinen heimathlichen Traditionen festhaltend, einst eine seiner frühern Cantaten begann: »Ich! ich! ich! ich hatte viel Bekümmerniß«, zog deshalb den Spott Matthesons auf sich.


 

23 Naue, Th. III, 7. Im Katalog von Philipp Emanuels Nachlaß ist die Jahreszahl 1696 angemerkt. Da Michael Bach schon 1694 starb, kann dieselbe natürlich nicht die Entstehungszeit angeben.


 

24 Dies ist die vierstimmige Motette mit Fundamental-Bass: »Ich lasse dich nicht«, was wohl nichts anderes sein wird, als der Ausgang der anfänglich doppelchörigen Composition Joh. Christophs: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn«; es wird später über sie gesprochen werden.


 

25 Nämlich nach dem Katalog: »Meine Freundin, du bist schön«, ein Hochzeitstück mit 12 Stimmen. »Mit Weinen hebt sichs« u.s.w., für 4 Singstimmen und Fundament, 1691. »Ach, daß ich Wassers genug« u.s.w., für den Alt, 1 Violine, 3 Violdigamben und Bass. »Es ist nun aus« u.s.w., Sterb-Arie für 4 Singstimmen.


 

26 Erhalten in einer ältern Handschrift, welche sich zu Mühlhausen in Thüringen im Besitz des Herrn Organist Steinhäuser befindet.


 

27 Das aus dem Bachischen Archiv in die königl. Bibliothek zu Berlin gelangte Autograph trägt die Ueberschrift: »Motetta. â. 8 Voc:« am Schlusse steht die Bemerkung: »121 tact«, unter dem System rechts in der Ecke: »Eisenach 4. 1672 X bris. Joh, Christo Bach org.« Unter den Singstimmen der Generalbass; die Handschrift sehr fein und zierlich, Taktstriche mit Lineal gezogen. Die Motette ist ebenfalls von Naue herausgegeben (Heft II, Nr. 4).


 

28 Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, 429 scheint so etwas im Sinn zu haben. Das Stück von Schütz ist neu herausgegeben von Neithardt, Musica sacra Bd. VII, Nr. 8 (Berlin, Bote und Bock).


 

29 Das von Ph. Em. Bach herrührende Manuscript ist auf der Bibliothek in Berlin; derselbe Künstler hat die Singstimmen mit Streichinstrumenten und Orgel begleiten lassen, wie die eigenhändig von ihm angefertigten Instrumentalstimmen beweisen. Herausgegeben ist die Composition von Naue (Heft I, 1), hier mit Orgelbegleitung, ferner von Neithardt, Musica sacra, Bd. VII, Nr. 14. Es wird dieselbe sein, welche Reichardt besaß, und deren Kraft und Kühnheit er rühmte (s. Gerber,. N.L. I, Sp. 207).


 

30 Das Verdienst, hierauf zuerst hingewiesen zu haben, gebührt Winterfeld, s. dessen Evangel. Kircheng. a.a.O. Die betreffende Motette des Venetianers Gabrieli steht in desselben Forschers Werke: Johannes Gabrieli und sein Zeitalter (Berlin, Schlesinger, 1834), III, 24–28. Man muß im Hervorsuchen von Aehnlichkeiten über so weite Zeitstrecken hinaus allerdings sehr behutsam verfahren, allein hier scheint mir in der That eine richtige Beobachtung gemacht zu sein.


 

31 S. Anhang A. Nr. 6.


 

32 B.-G. X, Nr. 41. Besonders im Eingangschor sind die Stellen auf S. 6 und 7 und S. 18 von ganz unbeschreiblicher Erhabenheit.


 

33 Die Partitur ist auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Daselbst befindet sich auch noch eine andre Abschrift von Pölchaus Hand. R.v. Hertzberg hat im 16. Bande der Musica sacra (Berlin, Bote und Bock) unter Nr. 18 das Werk herausgegeben.


 

34 S. den Nekrolog Seb. Bachs in Mizlers Musikalischer Bibliothek, Leipzig, 1754. Bd. IV, Th. 1, S. 159. Diese Nachrichten hat Gerber N.L. I, Sp. 206 und 207 etwas ausgeschmückt.


 

35 Zu dem ersten Falle s. Chrysanders Ausgabe der Oratorien von Carissimi, in den »Denkmälern der Tonkunst« II, 19 im vorletzten Takt (f-4., denn so ist die Harmonie zu denken); das zweite Beispiel bei R. Schlecht, Geschichte der Kirchenmusik, S. 452, Takt 4 und 6, wofern die Angabe hier verläßlich ist.


 

36 Befindlich in einer Handschrift aus dem vorigen Jahrhundert auf der Amalien-Bibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums in Berlin, Bd. 116, erstes Stück. Die Handschrift, welche auch einen bezifferten Bass aufweist, ist leider keine sehr correcte.


 

37 Die königl. Bibliothek in Berlin bewahrt ein sehr altes Manuscript derselben, welches vielleicht Autograph ist. Veröffentlicht wurde sie als Werk Johann Christophs zuerst durch Naue (Heft III, 9) mit hinzugefügtem Bass; später bei Bote und Bock in Berlin, Breitkopf und Härtel in Leipzig und anderweitig. Der Irrthum wegen der Autorschaft stammt, so weit ich sehe, von J.G. Schicht her. Dieser gab die Motette als eine Composition Sebastians bei Breitkopf und Härtel heraus und hängte ihr auch in seiner eigenhändigen Abschrift (jetzt auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Pr. Nr. 13583) noch Strophe 7 und 8 desselben Sachs'schen Liedes an in einer von Sebastian Bach stammenden Harmonisirung, die auch, aber in Viertelnoten-Bewegung, von Erk mitgetheilt ist: J.S. Bachs Choralgesänge, I, 121.

 

V

 

1 Beispiele sind die Fantasia über: »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« (Th. I, fol. 239), der erste Vers von: Veni redemptor gentium (Th. III, fol. 119), der erste Vers von: Veni creator spiritus (Th. III, fol. 179). Das letzte Stück ist auch mitgetheilt von Winterfeld, Evang. K. II, Notenbeil. Nr. 214.


 

2 Adlung, Anl. zur mus. Gel., S. 184, Anm. m.


 

3 Veröffentlicht von G.W. Körner im »Orgel-Virtuos« Nr. 45.


 

4 Liegen mir in Walthers Handschrift vor. Vergl. Körners »Orgel-Virtuos« Nr. 65.


 

5 Auch dieses Stück existirt in Walthers Handschrift.


 

6 Er spricht über ihn N.L. I, Sp. 208 und 209.


 

7 Ein etwa um 1700 gefertigtes Manuscript in klein Querquart, in meinem Besitz befindlich. Titel: »CHORAELE | welche | bey wärenden Gottes Dienst zum Praeambuliren | gebrauchet werden können | gesetzet | und | herausgegeben | von | Johann Christoph Bachen | Organ: in Eisenach. |« Unten rechts steht der jetzt unleserliche Name des Schreibers und Besitzers. Bachs Choräle bilden nur den Anfang des Buches, dann folgt von derselben Hand geschrieben noch eine Reihe andrer Choralstücke. Später hat das Buch öfter seinen Herrn gewechselt, deren jeder die Menge der noch leer gebliebenen Seiten zu füllen sich nach Kräften befliß. – Walthers Behauptung, es wäre nichts von Joh. Chr. Bach gedruckt worden (Lexic., S. 64), ist also, nach jenem Titel zu schließen, unrichtig.


 

8 Die Bemerkung in der »Musikalischen Bibliothek« IV, 1, S. 159, daß er nie mit weniger als fünf realen Stimmen gespielt haben soll, ist aber eine jener mythischen Vergrößerungen. Von sämmtlichen 44 Choralstücken, die er doch auch selbst gespielt haben wird, ist nicht ein einziges fünfstimmig.


 

9 Eins dieser Stücke, was aber nicht zu den charakteristischsten gehört, ist veröffentlicht in G.W. Körners Praeludien-Buch, Bd. II, Nr. 2; eine Choralfuge über »Wir glauben all an einen Gott« bei Ritter, Kunst des Orgelspiels, Th. III, S. 3.


 

10 Koch, Geschichte des Kirchenlieds I, 3, S. 355 (3. Aufl.).


 

11 S. Beilage 1.


 

12 Lexicon, S. 64.


 

13 Adlung, Anleit. zur mus. Gel., S. 690.


 

14 Mattheson hat sich (Ehrenpforte, S. 244–249) um die Feststellung der Lebensumstände Pachelbels, die durch Walthers Lexicon in arge Verwirrung gerathen waren, ein bedeutendes Verdienst erworben. Der Aufenthalt in Eisenach wird aber auch hier fälschlich auf 3 Jahre angegeben, während er genau 1 Jahr und 14 Tage währte, wie die Jahres-Rechnungen der fürstlichen Rent-Kammer zu Eisenach (jetzt im weimarischen Archiv) darthun. Pachelbel war zuerst mit einem Jahresgehalt von 40 Thlr., vom 1. Jan. 1678 mit 60 Thlr. jährlich angestellt.


 

15 »Organisch-Instrumentalischer Kunst-, Zier- und Lustgarten.« Augsburg, 1693. Theilweise wieder herausgegeben durch Fr. Commer: Compositionen für die Orgel aus dem 16., 17., 18. Jahrhundert, Heft V und VI. Leipzig, Geissler.


 

16 B.-G. XV, S. 154. Die beiden letzten Pachelbelschen Werke sind herausgegeben von Franz Commer, Musica sacra Bd. I, Nr. 136 und 128 (Berlin, Bote und Bock, früher M. Westphal). Die Nr. 48–144 dieser Sammlung sind sämmtlich von Pachelbel, die von Commer benutzten Vorlagen sind theils gestochen, theils geschrieben auf der Bibliothek des königl. Instituts für Kirchen-Musik in Berlin. Einiges andre ist noch von G.W. Körner in Erfurt herausgegeben im 340. Hefte des »Orgel-Virtuosen«, und im 1. Heft der Gesammtausgabe von Pachelbels Orgelcompositionen (nicht mehr erschienen). Mir liegt außerdem noch ein sehr reiches handschriftliches Material vor.


 

17 Fr. Commer, a.a.O. Nr. 48–55.


 

18 Dies berichtet J.H. Buttstedt in seiner Schrift: »Ut, Re, Mi etc. tota musica et harmonia aeterna« u.s.w. Erfurt (1716), S. 58.


 

19 Commer, Nr. 50.


 

20 Commer, Nr. 122, 143, 144.


 

21 Körner, Pachelbels Orgel-Compositionen, Heft I, Nr. 1.


 

22 Eine solche bei Commer, Nr. 53, bei Körner, a.a.O. Nr. 5.


 

23 Die ganze Fuge findet man bei Commer Nr. 124. Daselbst auch noch eine Anzahl anderer.


 

24 Seine veröffentlichten Vocalcompositionen, welche Walther anführt, habe ich in Erfurt vergeblich gesucht. Es wäre der Mühe werth, wenn sie wieder ans Licht kämen.


 

25 Die Bekanntschaft mit diesem verdanke ich Herrn Musikdirector Ritter in Magdeburg; es steht im Mannheimer Orgel-Journal I, Heft 7, und stammt von Ch. H. Rinck, dem Schüler Kittels, her.


 

26 Man vergleiche z.B. Nr. 134 bei Commer.


 

27 Herausgegeben von Körner, Orgel-Virtuos, Nr. 340. Es giebt noch eine andre, ebenfalls sehr schöne Bearbeitung von ihm mit C. f. im Bass, die aber, soviel ich weiß, noch nicht veröffentlicht ist.


 

28 Auf Pachelbel fußend hat dann Walther die Melodie behandelt mit reichlicher Chromatik in rechter und Gegen-Bewegung und mit colorirtem C.f.


 

29 »TabulaturBuch | Geistlicher Gesänge | D. Martini Lutheri | und anderer Gottseliger Männer | Sambt beygefügten Choral Fugen | durchs gantze Jahr | Allen Liebhabern des Claviers componiret | von | Johann Pachelbeln, Organisten zu | S. Sebald in Nürnberg | 1704. |« Manuscript in Querquart auf der großherzogl. Bibliothek zu Weimar, aber nicht Pachelbels Autograph. Für das Werk interessirte sich Goethe und schickte es am 27. März 1824 an Zelter, der es nach acht Tagen mit einer für ihn selbst wie für das Buch charakteristischen Beurtheilung zurücksandte (Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, III, 423 bis 426). Erschöpfend hat es Winterfeld beschrieben (Ev. K. II, 636–642), der auch fünf Choralfugen daraus mittheilt. Die zu den Melodien: »In dich hab ich gehoffet, Herr« (fol. 84 b) und »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« (fol. 130 b) gesetzten sind aber nur abgekürzte größere Choralarbeiten.


 

30 Winterfeld, Ev. Kircheng. III, 429.


 

31 Walther, Lexicon, S. 458. Mattheson, Ehrenpforte, S. 247.


 

32 Theilweise mitgetheilt von Winterfeld, a.a.O. II, Musikbeilage, S. 196–200.


 

33 Was auch Winterfeld a.a.O. II, S. 639 schon vermuthet hat.


 

34 S. die Instrumentaleinleitung zu dem Dialogus: »Wer wälzet uns den Stein von des Grabes Thür« im 4. Thl. musikalischer Andachten Nr. 7.


 

35 Ich nenne hier außer Buxtehude, von dem später die Rede sein wird, Philipp Heinrich Erlebach (1657–1714), Capellmeister in Rudolstadt, und dessen: »Gott geheiligte Singstunde« (Rudolstadt, 1704), enthaltend zwölf Kirchenmusikstücke mit einleitenden Sinfonien. Ihm wurde auch ausdrücklich eine bedeutende Meisterschaft in Behandlung der französischen Ouverture nachgerühmt, s. Buttstedt an der Stelle der folg. Anm.


 

36 J.H. Buttstedt in der angeführten Schrift, S. 87 und 88, sagt: » – – zu meines seel. Lehrmeisters Herr Pachelbels, 2. Chörichten Sonaten, in specie dessen Serenate, Johann Michel Bachs Revange und dergleichen, wird vielmehr Kunst erfordert« (nämlich als zu den Ouverturen). Es scheint also, daß Bach sein Stück »Revange« (Revanche) genannt habe, worin zugleich äußere Veranlassung und Zweck desselben angedeutet ist. Ueber Thüringen hinaus ist es schwerlich bekannt geworden, zu unserm Schaden, denn sonst hätte es sich vielleicht eher erhalten. Mattheson, der doch eine ziemliche Literaturkenntniß besaß, wußte nichts davon, s. dessen »beschütztes Orchestre«, S. 221.


 

37 Mattheson ist also im Unrecht, wenn er (Vollkommener Capellmeister, S. 161) sich die Erfindung zuschreibt, durch rhythmische Veränderung aus Choralmelodien allerhand Tänze zu machen.


 

38 Pachelbel gab 1699 in Nürnberg ein Werk heraus,Hexachordum Apollinis genannt, welches sechs Arien mit Variationen enthält.


 

39 Handschriftlich auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


 

40 B.-G. III, 266.


 

41 Von dem zweiten und dritten Variationenwerke besitze ich die Autographe. Vor dem Thema des zweiten steht: »Aria Eberliniana | pro dormente Ca- |millo, | Variata â Joh Christoph Bach, org: | Mens. Mart. 5.. 1690. |« Das dritte trägt nur rechts oben den Namenszug: » J : C : B.« Beide Autographe sind in Kleinquart und sehr sauber geschrieben.


 

42 Gerber, N.L. I, Sp. 209.

 

VI

 

1 Die Daten nach den Pfarr-Registern zu Jena. Sein Todesjahr ist bis jetzt überall irrthümlich als 1740 angegeben, merkwürdiger Weise sogar von seinen eignen Verwandten, nämlich auf der Emmertschen Stammtafel.


 

2 Der Emmertsche Stammbaum führt zwei Söhne auf, er hätte dann eben so gut viere, die volle Zahl, nennen können.


 

3 Adlung, Anl. zur mus. Gelahrtheit, S. 706.


 

4 Die Messe befindet sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin und auf der königl. Bibliothek zu Königsberg in Pr. (Nr. 13866). Letzteres Exemplar, was mir vorliegt, ist eine Abschrift Schichts, gefertigt im September 1815 und trägt den Titel: Messa a 9 voci da Giov. Nicolò Bach, figlio di Giov. Cristofforo Bach, e Zio di Giov. Sebastiano Bach. Außerdem existirt noch eine Abschrift, vermuthlich von der Hand Johann Ludwig Bachs, im Besitze der Herren Breitkopf und Härtel in Leipzig. Diese trägt das Datum: 16. Sept. 1716, so daß die Jahreszahl 1734 der Berliner Handschrift nicht die Entstehungszeit bezeichnen kann.


 

5 Auch in dem Seb. Bachschen Stücke hat man zeitweilig den Choral durch eine Sopranstimme singen lassen, wie ein Manuscript auf der königl. Bibliothek zu Berlin beweist. S.B.-G. VIII, S. XIV.


 

6 Der | Jenaische Wein- und | Bierrufer. | a | 2 Violini, | Alto, Monsieur Peter. | Tenore 1, Monsieur Clemon. | Tenore 2, Herr Johannes. | Basso, Monsieur Caspar. | ed | Fondamento | von Joh. Nicol. Bach. | In Stimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin.


 

7 Im Besitze des Herrn Musikdirector Ritter in Magdeburg.


 

8 Adlung, Musica mechanica organoedi. Berlin, 1768. Bd. I, S. 174 und 244–245, s. auch Bd. II, S. 37.


 

9 Adlung, a.a.O. Bd. II, S. 54 und 56; Anleit. zur mus. Gel., S. 311.


 

10 Musica mechanica Bd I, S. 187.


 

11 Adlung, a.a.O. Bd. II, S. 138.


 

12 Adlung beschreibt diesen Mechanismus mit Abbildung a.a.O. II, 108 und 109; vergl. Anl. zur mus. Gel., S. 555.


 

13 Und beschreibt sie weitläufig Mus. mech. II, S. 135–138.


 

14 Nach der Genealogie.


 

15 Walthers Lexicon, S. 63.


 

16 Der Kittelsche Stammbaum giebt an, daß er einen einzigen Sohn gehabt habe, der aber unverehelicht gestorben sei.


 

17 S. die oben über die Geburten der Kinder Joh. Christoph Bachs gemachten Mittheilungen.


 

18 Actenfascikel auf dem Rathsarchiv zu Mühlhausen, die Organisten der Blasius-Kirche betreffend, pag. 35.


 

19 Kirchen-Rechnungen der Kirche D. Blasii in Mühlhausen.


 

20 Protokoll des Kirchenvorstandes vom 8. Dec. 1730.


 

21 Gerber, N.L. I, Sp. 208 und 210. L. I, Sp. 490 und 491. S. Anhang A. Nr. 7.


 

22 Wie es aus dem angeführten Protokolle hervorgeht, und mit der Angabe in Walthers Lexicon, S. 64, übereinstimmt.

 

VII

 

1 Nach der Genealogie.


 

2 Nicht »Wettin«, wie die Ferrichsche Genealogie schreibt und auch gedruckt worden ist.


 

3 Meine Versuche, dies noch amtlich festgestellt zu sehen, waren vergeblich.


 

4 Im fürstl. Archiv zu Sondershausen findet sich ein kleines ihn betreffendes Actenstück vom 13. Nov. 1654; dagegen kommt am 16. April 1653 sein Name noch in den erfurtischen Pfarr-Registern vor.


 

5 Diese von der Genealogie abweichenden Daten nach den arnstädtischen Pfarr-Registern.


 

6 Ein Exemplar dieser vermuthlich jetzt sehr seltenen Druckschrift bewahrt das Rathsarchiv zu Mühlhausen i. Th. (O. 5 Nr. 5). Vollständiger Titel: »KayserlicheCONFIRMATION der Artickel deß Instrumental-Musicalischen Collegii in dem Ober- und Nieder-Sächsischen Crais, und anderer interessirten Oerter«. Fol. In den folgenden Mittheilungen habe ich mir hinsichtlich der Interpunction und Orthographie, auch einiger ungewöhnlicher Ausdrücke und Provinzialismen manche Freiheit im Aendern gestattet.


 

7 S. Mattheson, Critica musica II, 217 und 262.


 

8 J. Fr. Mente in Matthesons »Ehrenpforte«, S. 414 und 415.


 

9 Der wohlgeplagte etc. Cotala, S. 3. Mehr auf die Schilderungen dieser Schrift, als auf eigne Beobachtungen gründen sich augenscheinlich Matthesons Betrachtungen über die Ausbildung eines Kunstpfeifer-Lehrlings im »Neu-Eröffneten Orchestre«, S. 14 und 15.


 

10 Vergl. Praetorius, Syntagma musicum III, 18. Die dort angedeuteten Proben sind in Auflösung mitgetheilt bei Hilgenfeldt, Joh. Sebast. Bachs Leben, Wirken und Werke. Leipzig, Fr. Hofmeister. 1850. Beilage 1 und 2. – Eine hübsche Schilderung solcher Scherze bei Winterfeld. Zur Geschichte heiliger Tonkunst II, 281 und 282.


 

11 »Quodlibet ist ein von allerhand lustigen Texten zusammengesetztes Stücke, wanns sich gleich nicht ordentlich auf einander schicket.« F.E. Niedts musikalische Handleitung, Th. 2, 2. Aufl., herausg. von Mattheson (Hamburg, 1721), S. 103. – Forkel, Ueber Joh. Seb. Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Leipzig, Hoffmeister und Kühnel. 1802. S. 3 und 4.


 

12 Nach der Angabe der Genealogie und dem übereinstimmenden Register der Kaufmannskirche. Ferrich, dessen abweichende Angaben in Sachen seiner directen Verwandten sonst Glauben verdienen, nennt hier merkwürdiger Weise das Jahr 1641.


 

13 Themarische Kirchen- und Schulacten auf dem herzogl. Archiv zu Meiningen. – Brückner, Landeskunde des Herzogthums Meiningen II, S. 239.


 

14 Datum nach der Ferrichschen Genealogie. – In den Erfurter Rathsprotokollen vom 28. April 1675 werden die sehr ärmlichen Verhältnisse eines Georg Christoph Bach erwähnt, der damals sich in Erfurt befunden haben muß. Identisch mit dem obengenannten kann er also nicht wohl sein; ich weiß ihn aber auch sonst nicht unterzubringen.


 

15 Nachmittags um 3 Uhr, lautet der genaueste Bericht der Ferrichschen Genealogie. Daß er späterhin in Schweinfurt Cantor geworden sei, ist ein Irrthum Philipp Emanuels.


 

16 Das hier gegebene beruht auf Reproduction dessen, was die Ferrichsche Genealogie, die im Besitz von Fräulein Emmert in Schweinfurt befindliche fragmentarische Genealogie nebst dem Stammbaume, und die Pfarrbücher zu Schweinfurt bieten. S. Anhang B. III.


 

17 Consistorial-Protokolle vom 2. Mai 1673.


 

18 Consistorial-Protokolle vom 8. März 1681.


 

19 Fürstl. Archiv zu Sondershausen. Fach für Hof-Diener und Handwerker, fol. 13 und ff.


 

20 D.h. sie hätten die Sache nur in vorläufige Ueberlegung gezogen.


 

21 D.h. in Bezug auf die W.


 

22 Der Name eines Arnstädter Bürgers.


 

23 D.h. sich von ihr zurückgezogen.


 

24 Consistorial-Protokolle vom 23. März 1680 und 7. Jan. 1681. Im übrigen beruhen diese und die folgenden Mittheilungen auf Acten des Sondershäuser Archivs: »Von Johann Christoph Bachen, dem Hoff-Musico in Arnstadt, 1671–1696«, und des Arnstädter Raths-Archivs. Einiges hiervon, sowie auch andere, verschiedene Glieder der Bachschen Familie betreffende Documente aus diesen archivalischen Quellen hat vor Jahren Fr. Beisker in ziemlich fehlerhafter und dilettantischer Weise veröffentlicht in G.W. Körners Urania. Erfurt und Leipzig, 1861.


 

25 Acten des Haupt-Archivs zu Weimar, die Bestallung der Hof-Musikanten und Kammermusik betreffend.


 

26 Die betreffenden Acten sind im Gesammt-Archiv zu Dresden.


 

27 Nach einer Besoldungsliste auf dem Archiv zu Sondershausen.


 

28 Walther im Lexicon, S. 217. Dieser ist nach Casp. Wetzels Analecta hymnica I, 4. Stück, S. 28 ff. die hauptsächlichste gedruckte Quelle über Drese.


 

29 Mattheson, Ehrenpforte, S. 341. Dies zur Ergänzung von Gerbers Citat: N.L. I, Sp. 936.


 

30 Winterfeld, Evang. Kirchenges. II, 603.


 

31 Joh. Christoph: Olearii Historia Arnstadiensis. Jena (Arnstadt), 1701. S. 43 ff.


 

32 Die sich alle auf dem Sondershäuser Archiv befinden.


 

33 Vorher muß er kurze Zeit Hofmusicus in Weimar gewesen sein, nach einer Andeutung im dortigen Archiv.


 

34 Am 12. Juli 1698 bittet Peter Wenigk aus Gotha um Anstellung, wenn vielleicht der Graf bei Einweihung der neuen Schloß-Capelle (1700) »eine kleineCapell-Music gnädigst zu stabiliren gesonnen sein« möchte.


 

35 Winterfeld, Ev. Kircheng. III, 276, dem es dann von andern nachgeschrieben worden ist.


 

36 Was überhaupt damals den deutschen Musikern zugemuthet ward, während die italiänischen Sänger und Sängerinnen an den Fürstenhöfen in Sänften zu jeder Vorstellung abgeholt wurden, davon macht man sich jetzt kaum einen Begriff. Ein Mitglied der herzoglichen Capelle in Weimar zu Seb. Bachs Zeit, Joh. Philipp Weichardt, studirte während dem in Jena die Rechte, und mußte jeden Sonntag von dort den Weg zur Kirchenmusik nach Weimar machen, und zurück.


 

37 D.h. zur Kirchen- oder zur Tafel-Musik.


 

38 Walther, Lexicon, S. 284.


 

39 Nach dem auf dem Archiv zu Sondershausen befindlichen Materiale.


 

40 Acten, die Mädchenlehrer- und Organisten-Stelle in Keula betr., 1726 bis 1751 (Archiv zu Sondershausen).


 

41 Nach der Stammtafel bei Korabinsky. Hilgenfeldt giebt 1730 an, wohl durch ein bei Benutzung Korabinskys entstandenes Versehen. Die einmal erwähnte Tochter von Ambrosius Bachs Zwillingsbruder hieß Barbara Katharina, geb. 14. Mai 1680.


 

42 Vergl. Hartung, Häuser-Chronik der Stadt Erfurt, S. 303 ff.


 

43 S. Anhang A. Nr. 8.


 

44 Nach der Genealogie.


 

45 Nach Brückners Kirchen- und Schulen-Staat, Th. III, Stück 10. S. 95.


 

46 Die Leichenpredigt des M. Valentin Schrön auf Dorothea Maria Bach (geb. 10. April 1653), gedruckt zu Eisenach 1679, befindet sich auf der herzogl. Bibliothek zu Gotha. Von Töchtern Christoph Bachs wird außerdem noch eine Barbara Maria erwähnt, geb. 30. April 1651.

 

 

 

 

 

 

 

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