Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 6
III
[483] Gesners Nachfolger im Rectorate der Thomasschule wurde Johann August Ernesti, der erst 1732 als Conrector angestellt worden war.1 Ernesti war 1707 geboren, kam also in sehr jugendlichem Alter an die Spitze der Schule. Eine in lebendiger Auffassung der antiken Schriftsteller wurzelnde Gelehrsamkeit und Bildung, eine hervorragende Begabung für methodische Lehre befähigten ihn dazu. Unter seiner Leitung nahm die Schule einen großen Aufschwung, er zeigte sich in dieser Hinsicht seines Vorgängers würdig, den er in eignen wissenschaftlichen Arbeiten durch Klarheit, Sicherheit und eine maßgebende Reinheit des lateinischen Stils noch übertraf. Dagegen fehlte ihm die anregende Genialität, die liebenswürdige Menschlichkeit und die Weite der Bildung, worauf Gesners segensreiches Wirken zumeist beruhte; es fehlte ihm auch dessen Weisheit und feiner Takt. Ernesti bekleidete das Rectorat bis 1759, dann erhielt er eine theologische Professur an der Universität.
Bach, den fünfzigen nahe, stand anfänglich mit seinem Vorgesetzten, dessen Vater er hätte sein können, in ganz guten Beziehungen. Indem seine Familie fortfuhr sich zu vergrößern, hatte er Ernesti schon 1733 zum Pathen eines Sohnes gebeten und that dies nach der im September 1735 erfolgten Geburt seines letzten Sohnes Johann Christian abermals. Das freundliche Verhältniß sollte indeß nicht lange dauern. In den von den Alumnen gebildeten Singchören bekleideten die Präfecten als Stellvertreter des Cantors, und unter ihnen namentlich der erste Präfect ein wichtiges Amt. Im Jahre 1736 hatte ein gewisser Gottfried Theodor Krause aus Herzberg diese Stelle inne. Er war von Bach mit Nachdruck angewiesen worden, über die ihm unterstellten kleineren Knaben strenge Aufsicht[483] zu führen, und wenn in Bachs Abwesenheit bei kirchlichen Veranlassungen sich Unordnung zeigte, mit angemessenen Strafen dagegen einzuschreiten. Als Krause der Ungezogenheiten der Knabenschaar durch Ermahnungen nicht mehr Herr werden konnte und gelegentlich einer Brautmesse das ungebührliche Betragen gar zu arg wurde, wollte er einige der schlimmsten züchtigen. Sie widersetzten sich und erhielten endlich eine derbere Tracht Schläge, als ihnen zugedacht gewesen war. Es wurde Klage beim Rector geführt; dieser gerieth über den Präfecten in heftigsten Zorn. Krauses Vergangenheit war tadellos, er stand im Begriff zur Universität zu gehen und war auf dem Schulactus am 20. April als Redner aufgetreten.2 Trotzdem dictirte ihm Ernesti die schimpflichste Strafe zu: körperliche Züchtigung in Gegenwart der gesammten Schule. Bach legte sich ins Mittel und er klärte Krauses Fehler auf sich nehmen zu wollen, konnte aber nichts erreichen. Als ein zweimaliges Gesuch um Entlassung vom Rector zornig abgeschlagen war, verließ Krause um der ihm zugedachten Schande zu entgehen eigenmächtigerweise die Schule. Seine Habseligkeiten und allmählig bis zu 30 Thalem aufgesammelten Singgelder, die der Rector in Verwahrung hatte, wurden von diesem eingezogen, mußten jedoch nachdem Krause beim Rath bittstellig geworden war, durch Verfügung desselben vom 31. Juli wieder herausgegeben werden.3
Bach fühlte sich in der Person seines Präfecten selbst beleidigt, und diese Vorgänge pflanzten eine Abneigung gegen Ernesti in seine Seele, die von üblen Folgen werden sollte. Die 1723 erlassene Schulordnung bestimmte als Amt und Recht des Cantors, daß derselbe die vier Singchöre mit den geeigneten Schülern besetzen und die Chorpräfecten zu erwählen habe. Für letzteres sollte er die Genehmigung des Schulvorstehers einholen, zu der Zusammensetzung [484] der Chöre hatte der Rector seine Einwilligung zu geben, derselbe besaß jedoch zu keiner Initiative das Recht. Die althergebrachte Gewohnheit räumte dem Cantor noch weitergehende Befugnisse ein und machte ihn in allen Angelegenheiten des Chors so ziemlich zum unumschränkten Herrn; wie in vielen andern Dingen so war die Praxis auch hier trotz der neuen Schulordnung die alte geblieben. Als nun der Präfect Gottfried Krause sich geweigert hatte, die über ihn verhängte entehrende Strafe zu empfangen, hatte ihn der Rector vom Amte suspendirt, zugleich aber eigenmächtiger Weise dem zweiten Präfecten, Johann Gottlob Krause aus Groß-Deuben4, die Stelle des ersten einstweilig übertragen. Dem Cantor war diese Persönlichkeit schon lange nicht nach dem Sinne gewesen und er hatte das nicht verschwiegen. Am 22. Trinitatis-Sonntag (6. November) des vorhergehenden Jahres hatte der Tertius der Thomasschule,M. Abraham Krügel in Collmen bei Colditz mit der Tochter des dortigen Pastors Wendt Hochzeit gemacht. Ernesti und Bach waren eingeladen gewesen; als sie des Abends mit einander nach Hause fuhren, kam das Gespräch auf die Neubesetzung der Präfecturen, welche jedesmal vor den Weihnachtsumgängen stattfand. Seinem Alter und Range nach hatte Johann Krause Anwartschaft auf eine solche; Bach aber war bedenklich und sagte, er sei »sonst ein liederlicher Hund gewesen«. Ernesti gab das zu, meinte jedoch, da er sich durch Begabung auszeichne und auch sittlich zu bessern scheine, könne man ihn wohl nicht übergehen, falls er übrigens genügende musikalische Tüchtigkeit besässe. Mit den Präfecturen waren besondere Geldeinnahmen verbunden, Krause konnte sich auf diesem Wege von seinen Schulden befreien und der Schule wurde dadurch eine üble Nachrede erspart. Musikalisch hielt ihn Bach für brauchbar genug, wenigstens zu den untern Präfecturen; so wurde er denn vierter, dritter und endlich zweiter Präfect. Auch seine vorläufige Beförderung zur ersten Stelle hatte sich Bach gefallen lassen, obschon ihn des Rectors Eigenmächtigkeit erboste. Nach einigen Wochen indessen überzeugte er sich, daß Krause für dieses besonders verantwortliche und schwierige Amt nicht genüge; [485] er setzte ihn also an die zweite Präfectur zurück, nahm den tüchtigem Samuel Küttler aus Belgern5 an die erste Stelle, und zeigte beides vorschriftsmäßig dem Rector an. Ernesti machte ein saures Gesicht, fügte sich aber; nicht so Krause selbst. Er beschwerte sich beim Rector und wurde von diesem an den Cantor gewiesen. Nun brach Bachs Verstimmung und Gereiztheit hervor. Er ließ sich Krause gegenüber zu der Antwort hinreißen: der Rector habe ihn seiner Zeit eigenmächtiger Weise in die erste Präfectur geschoben, er der Cantor setzte ihn jetzt wieder ab, weil er dem Rector zeigen wolle, wer hier Herr im Hause sei. Dasselbe sagte er auch dem Rector auf seiner Stube ins Gesicht. Ernesti glaubte sich ein solches Auftreten nicht bieten lassen zu dürfen, ließ sich vom Schulvorsteher ermächtigen und forderte Bach brieflich auf, Krause wieder einzusetzen. Bach mußte einsehen, daß er zu weit gegangen war; er zeigte sich einer gütlichen Vergleichung geneigt und versprach sogar, Ernestis Aufforderung nachzukommen. Allein in der nächsten Singstunde bewährte sich Krause so schlecht, daß ihm dies unmöglich schien. Um den 20. Juli verreiste er und kehrte erst gegen den 1. August zurück. Ernesti, der Krauses Wiedereinsetzung erwartete – es scheint, daß Bachs Benehmen ihn hierzu berechtigte – wurde ungeduldig, und als dieser sich immer noch nicht regte, schrieb er ihm Sonnabend den 11. August einen kategorischen Brief: wenn Bach nicht sofort das Verlangte thue, werde er Sonntags früh die Stellenbesetzung selbst vornehmen. Bach schwieg auch jetzt, Ernesti führte seine Drohung aus und ließ Bach durch Krause selber davon benachrichtigen.
Es war vor dem Frühgottesdienst. Bach begab sich sofort zu dem Superintendenten Deyling, stellte ihm die Sache vor, und Deyling versprach nach eingezogenen Erkundigungen auf eine Entscheidung des Streites hinzuwirken. Inzwischen hatte der Gottesdienst begonnen. Bach holte Küttler, der auf des Rectors Befehl als zweiter Präfect in die Nikolaikirche gegangen war, von dort weg in die Thomaskirche und jagte hier den Krause mitten unter dem Gesänge davon, indem er sich unbefugter Weise auf einen Befehl des Superintendenten berief. Ernesti sah dies, sprach nach der Kirche [486] beim Superintendenten vor und wußte ihn auf seine Seite zu bringen. Er ließ Bach hiervon unterrichten, der ihm in immer wachsendem Grimme entgegnete, daß er sich daran durchaus nicht kehre, es möchte kosten, was es wolle, übrigens habe er dem Rathe eine Beschwerdeschrift übergeben. Vor Beginn des Vespergottesdienstes erschien der Rector auf dem Orgelchor und untersagte den Schülern öffentlich unter Androhung der härtesten Strafen, Bachs Anordnung wegen der Präfecten Folge zu leisten. Als Bach kam und Krause wieder an der Stelle des ersten Präfecten fand, trieb er ihn mit Ungestüm abermals vom Chor. Da aber die Alumnen durch den Rector eingeschüchtert waren, fand sich nun keiner, der die Motette dirigiren wollte; Bachs Schüler Krebs, welcher seit 1735 auf der Universität studirte und zufällig anwesend war, übernahm auf seines Lehrers Bitte die Direction. Eine zweite Beschwerde des in seiner Autorität und seinem Selbstgefühl empfindlichst gekränkten Künstlers war die Folge. Als am Abend der Präfect Küttler bei Tische erschien, wies ihn Bach zornig hinaus, weil er dem Rector, und nicht ihm gehorcht habe.6
Am folgenden Sonntage (19. Aug.) wiederholten sich dieselben ärgerlichen Auftritte. Den vom Rector bestimmten Präfecten wollte Bach nicht dirigiren und vorsingen lassen, unter den übrigen Schülern wagte keiner es zu thun. Bach mußte sich entschließen, gegen das Herkommen die Motette selbst zu dirigiren, als Vorsänger trat wieder ein Student ein. Noch an demselben Tage richtete Bach an den Rath eine dritte Beschwerdeschrift. Er stellte vor, daß auf diese Weise das öffentliche Ärgerniß und die Unordnung immer größer werden würden, und daß, wenn der Rath nicht unverzüglich ein Einsehen thue, er ferner kaum im Stande sei, seine Autorität den Schülern gegenüber zu behaupten. Inzwischen war auch Ernesti zum Bericht aufgefordert worden, der sich in gewandter Weise zu rechtfertigen und dem Cantor alle Schuld zuzuschieben suchte. Das dringend nothwendige Eingreifen des Raths aber erfolgte nicht.
Bach versuchte es nun mit andern Mitteln. Sein unter dem 27. Juli 1733 in Dresden eingereichtes Gesuch um Verleihung eines [487] Hoftitels war unbeantwortet geblieben, die politischen Wirren am Anfang der Regierung Augusts III. und dessen fast zweijährige Abwesenheit von Sachsen (3. Nov. 1734 – 7. Aug. 1736) mögen der Grund davon gewesen sein. Seitdem hatte Bach sich durch mehre Festmusiken dem Hofe angenehm zu machen versucht, die Zeiten waren ruhiger geworden, eine Erneuerung seines Antrags hatte Aussicht auf besseren Erfolg. Seine Künstlerschaft hatte nicht vermocht, ihn vor einer unwürdigen, ja verächtlichen Lage zu sichern. Eine vom Hofe ihm beigelegte Wichtigkeit sollte jetzt dazu dienen, ihn aus dieser Lage befreien. Am 27. September 1736 setzte er ein neues Gesuch auf;7 da vom 29. Sept. ab der König einige Tage in Leipzig weilte, wird es ihm hier überreicht worden sein. Einen unmittelbaren Erfolg erlebte Bach freilich auch jetzt nicht. Durch die Unerträglichkeit der Lage gepeinigt hatte er im November schon eine vierte Beschwerde verfaßt, welche diesesmal ans Consistorium zu Leipzig gehen sollte, als die ersehnte Bestallung eintraf:
»Decret | Vor Johann Sebastian Bach, als | Compositeur bey der Königlichen Hof Capelle.
Demnach Ihro Königliche Majestät in Pohlen, und Churfürstliche Durchlaucht zu Sachßen p.t. Johann Sebastian Bachen, auf dessen beschehenes allerunterthänigstes Ansuchen, und umb seiner guten Geschickligkeit willen, das Praedicat als Compositeur bey der Hof Capelle, allergnädigst ertheilet; Als ist demselben darüber gegenwärtiges Decret, unter Ihro Königlichen Majestät höchsteigenhändigen Unterschrifft und vorgedruckten Königlichen Insiegel ausgefertiget worden. So geschehen und geben zu Dreßden, den 19. Nov. 1736.«8 Die Übermittlung hatte der russische Gesandte am königlich – churfürstlichen Hofe besorgt, dem das Decret am 28. November zugestellt worden war. Er hieß Baron von Kayserling und wird uns bei einer andern Gelegenheit wieder begegnen.
[488] Das Vertrauen indessen, welches Bach auf die Wirkung des Hoftitels gesetzt hatte, sollte ihn täuschen. Der Conflict mit Ernesti dauerte fort und der Rath machte noch immer keine Miene einzugreifen. So mußte die im November aufgesetzte aber noch zurückgehaltene Eingabe an das Consistorium am 12. Februar 1737 dennoch abgehen. Sechs Tage zuvor hatte man sich auf dem Rathhause zum Erlaß einer Verfügung allerdings aufgerafft, sie blieb aber zwei Monate liegen: am 6. April wurde sie Ernesti, am 10. Bach, am 20. Deyling zugestellt. Große Mühe, in den Kern der Streitfrage einzudringen, hatte sich der Rath nicht genommen. Er wählte das bequemste Auskunftsmittel und gab beiden Unrecht; im übrigen blieb Johann Krause erster Präfect, »dessen Aufenthalt auf der Schule zu Ostern zu Ende gehe«. Ostern fiel auf den 21. April, der Entscheid hatte also für Bach keine erhebliche praktische Bedeutung mehr. Aber Ernesti hatte, soweit es sich um Krause handelte, doch gesiegt, denn Bach war thatsächlich nicht im Stande gewesen, den untauglichen Präfecten von seinem Platze zu entfernen.
Er war denn auch nicht gesonnen, sich bei der Verordnung des Rathes zu beruhigen. Das Consistorium hatte sofort nach Bachs Eingabe vom 12. Februar dem Rath und dem Superintendenten die Weisung zu gehen lassen, die Sache zu untersuchen und dieselbe ohne Weiterung beizulegen, auch zu verfügen, daß beim Gottesdienste kein Hinderniß und Aufsehen verursacht werde. Deyling stand aber auf Ernestis Seite und hat gewiß nichts gethan, der Rathsverordnung einen andern Charakter zu geben, als sie ihn schließlich zeigte. Bachs Verhältniß zu Deyling war damals natürlich ein gespanntes. Man kann dies aus folgendem Vorfalle erkennen. Am 10. April, einem Mittwoch, hatte nach der üblichen Wochenpredigt des Superintendenten in der Nikolaikirche der zum Vorsingen abgeordnete Thomasschüler das Communionlied zu tief angestimmt, so daß die Gemeinde nicht mitsingen konnte. Anstatt deshalb mit Bach private Rücksprache zu nehmen, wie es der Geringfügigkeit der Sache angemessen gewesen wäre, beschwerte sich Deyling durch den Küster beim Rathe. Dieser ließ den Cantor auch sogleich vorladen, trug ihm auf den Fall zu untersuchen, dem Vorsinger einen Verweis zu ertheilen, und künftig tüchtige Personen [489] zu diesem Geschäfte abzusenden.9 Bach erhielt auf solchem Wege wieder einmal eine Nase.
Dem Consistorium aber stellte Bach unter dem 21. August folgendes vor. Der Rector habe öffentlich in der Kirche und in Gegenwart sämmtlicher Primaner diejenigen Schüler mit Relegation und Verlust der zukömmlichen aufgesammelten Singgelder bedroht, welche Bachs Anordnung Folge leisten würden. Dies betrachte er als eine Verletzung seines Ansehens und persönliche Verunglimpfung, für die er eine ebenso persönliche Genugthuung zu fordern berechtigt sei. Ferner bestritt er die Maßgeblichkeit der Schulordnung von 1723, auf welche die Verfügung des Rathes sich gestützt hatte. Dieselbe ermangle der nothwendigen Bestätigung des Consistoriums, weshalb sie auch schon von dem alten Ernesti, dem Vorgänger Gesners, nicht als gültig anerkannt sei, und thatsächlich sei auch, was die Rechte des Cantors betreffe, bisher nicht nach ihr, sondern dem alten Herkommen gemäß gehandelt worden. Namentlich wendete er sich gegen die Bestimmung, daß der Cantor einen oder den andern Schüler von der einmal aufgetragenen Verrichtung zu suspendiren oder auszuschließen nicht vermögend sein solle, »gestalt Fälle vorkommen, da in continenti eine Änderung vorgenommen werden muß, und nicht erstlich eine weitläufige Untersuchung in solchen geringfügigen Disciplinar- und Schulsachen vorgenommen werden kann, dergleichen Änderung auch auf allen Trivialschulen dem Cantori in Sachen die Musik betreffend zustehet, indem sonsten die Jugend, wenn sie weiß, daß man ihr gar nichts thun kann, zu gouverniren und seinem Amt ein Genügen zu leisten unmöglich fallen will«. In dem Schreiben vom 12. Februar hatte Bach die »Concurrenz« des Rectors bei Besetzung der Präfecturen sogar unter Berufung auf die neue Schulordnung bestritten. Dieser Versuch läßt sich insofern begreifen, als dem Rector an der Besetzung keine positive Betheiligung, sondern nur das Recht der Verhinderung zustand. Indessen mußte Bach inzwischen doch wohl eingesehen haben, daß er auf Grund der neuen Schulordnung dasjenige was er wollte: völlige Unabhängigkeit des Cantors in allen musikalischen Angelegenheiten, nicht erreichen konnte.
[490] Nun theilte zwar das Consistorium unter dem 28. August Deyling und dem Rathe mit, daß Bach sich mit neuen Vorstellungen und Gesuchen an dasselbe gewendet habe, und forderte binnen vierzehn Tagen über die Angelegenheit Bericht ein. Als aber der Bericht nicht erfolgte, beruhigte es sich auch dabei. So sah denn Bach nur noch einen Weg übrig, um zu seinem Rechte zu gelangen. Er ging unter dem 18. October direct an den König. Dieser ließ durch ein Schreiben vom 17. December das Consistorium auffordern, es solle auf die Beschwerde Bachs »nach Befinden die Gebühr verfügen«. Am 1. Februar 1738 wurde das Schreiben dem Consistorium eingehändigt, unter dem 5. Februar verlangte dasselbe von Deyling und dem Rathe nochmals energischerweise Bericht binnen vierzehn Tagen. Zur Ostermesse kam der König selbst nach Leipzig. Wir erzählten schon, daß Bach ihm bei dieser Gelegenheit eine Abendmusik brachte, die mit allgemeinem Beifalle aufgenommen wurde. Nunmehr fand seine Sache ihre endliche Erledigung, und wie wir aus den Umständen schließen dürfen in einem ihm günstigen Sinne. Das plötzliche Versiegen der archivalischen Quellen deutet darauf hin, daß sie durch persönliches Eingreifen des Königs herbeigeführt wurde.
Fast zwei Jahre hatte der Streit gedauert, beinahe so lange als vor mehr denn 60 Jahren seines Oheims in Arnstadt Ehehandel.10 Beide Männer hatten sich als echteste Sprossen ihres Geschlechts gezeigt und mit äußerster Hartnäckigkeit um ihr Recht gekämpft.11
Aber nicht um deswillen allein sind diese unerfreulichen Vorgänge hier ausführlicher erzählt worden. Sie wurden für Bachs ganze übrige Lebensperiode bestimmend. Ich betrachte es als einen besonders glücklichen Zufall, dies noch nachweisen und damit für das Bild der letzten zwölf Jahre den festen Hintergrund herstellen zu können. Johann Friedrich Köhler, ein Pastor zu Taucha bei Leipzig, legte 1776 eine Geschichte der Leipziger Schulen an, in welcher er auch Bach gebührendermaßen berücksichtigte. Seine Kenntniß jener Zeit schöpfte er großentheils aus mündlichen Mittheilungen ehemaliger Thomaner. Er erzählt wörtlich12: »Mit Ernesti [491] zerfiel er [Bach] ganz. Die Veranlassung war diese. Ernesti entsetzte den Generalpräfecten Krausen, der einen unteren Schüler zu nachdrücklich gezüchtigt hatte, verwies ihn, da er entwichen war, von der Schule, und wählte an dessen Stelle einen andern Schüler zum Generalpräfecten – ein Recht, das eigentlich dem Cantor zukommt, dessen Stelle der Generalpräfect vertreten muß. Weil das gewählte Subject zur Aufführung der Kirchenmusik untauglich war, traf Bach eine andre Wahl. Darüber kam es zwischen ihm und Ernesti zur Klage und beide wurden seit der Zeit Feinde. Bach fing nun an die Schüler zu hassen, die sich ganz aufHumaniora legten und die Musik nur als Nebenwerk trieben, und Ernesti ward Feind der Musik. Traf er einen Schüler, der sich auf einem Instrumente übte, so hieß es: Wollt ihr auch ein Bierfiedler werden? – Er brachte es durch sein Ansehen bey dem Bürgermeister Stieglitz dahin, daß ihm, wie seinem Vorgänger Gesner, die besondere Schulinspection erlassen und dem vierten Collegen übertragen wurde. Traf nun die Reihe der Inspection den Cantor Bach, so berief sich dieser auf Ernesti, kam weder zu Tische noch zu Gebet, und diese Vernachlässigung hatte den widrigsten Einfluß auf die sittliche Bildung der Schüler. Seit der Zeit hat man, auch bey wiederholter Besetzung beyder Stellen, wenig Harmonie zwischen Rector und Cantor bemerkt.«
Diese Erzählung giebt uns zugleich einen deutlichen Wink, auf wessen Seite sich in dem Conflict zwischen Rector und Cantor die öffentliche Meinung allmählig gestellt hatte. Bach war durch seine Leidenschaftlichkeit zu mehren Ungehörigkeiten fortgerissen worden, aber in der Hauptsache hatte er Ernesti gegenüber Recht. Er hätte es gehabt, auch wenn er sich mit weniger Grund auf das alte, bisher stets unbeanstandet gebliebene Herkommen hätte berufen können. Seines Amtes walten, wie er selbst es wünschte und alle von ihm verlangten, konnte er nur, wenn er die Angelegenheiten des Thomanerchors ganz nach eignem Ermessen leitete. Dies mußte Ernesti einsehen, auch wenn er von der Größe seines Gegners und der Lächerlichkeit einem Bach ins Handwerk schulmeistern zu [492] wollen keine Ahnung hatte. Aber obgleich er sich den Anschein giebt, den Streitfall nur vom disciplinarischen Standpunkte aus zu behandeln, so maßt er sich doch an beweisen zu wollen, was eben nur der Musiker beurtheilen konnte, daß Krause nicht untüchtig zur ersten Präfectur sei, und wenn Bach behauptet, er könne nicht dirigiren, beruft er sich auf die entgegenstehende Ansicht der Schüler. Vollends zu Ungunsten Ernestis muß das Urtheil ausfallen, wenn man Ton und Haltung in den Schriftstücken beider vergleicht. Bachs Sprache ist rücksichtslos und scharf, aber streng sachlich. Man wird in seinen zahlreichen Auslassungen nicht ein Wort finden, das auf die Person des Gegners zielte. Ernesti verfährt anders. Nicht nur daß er die Gelegenheit wahr nimmt, Bach überhaupt als einen nachlässigen Beamten, der an dem Unglück des »armen« Gottfried Krause eigentlich allein schuld sei, und als einen hochmüthigen Künstler, dem es »unanständig« erscheine einen einfachen Choral zu dirigiren, dem Rathe denuncirt. Er giebt ihm Schuld, eine Dirigirprobe mit dem Präfecten nur vorgenommen zu haben, um ihn in die Falle zu locken; er bezichtigt ihn der »Lüge«, weil Bach nur die Beförderung Johann Krauses zum Präfecten in der Neuen Kirche, und nicht auch seine frühere Anstellung als vierter Präfect bei den Neujahrsumgängen erwähnt. Er scheut sich sogar nicht, Bach als bestechlich hinzustellen, und meint, »er könne schon andre Proben anführen, daß man sich auf Bachs testimonia nicht allezeit verlassen könne, und wohl eher ein alter Species-Thaler einen Discantisten gemacht habe, der so wenig einer gewesen, als er selbst sei«. Solche Beschuldigungen soll niemand aussprechen, ohne sie sofort durch Thatsachen zu belegen. Wer dies unterläßt, ist ein Verleumder.
Die schlimmen Folgen des Streites entfallen demnach größtentheils auf Ernestis Rechnung. Seine Verdienste um die Thomasschule als wissenschaftliche Bildungsanstalt bleiben in Ehren, aber das harmonische Zusammenwirken der Lehrkräfte, Gesners segensreiches Werk, hat er zerstört. Nicht mehr als edles Bildungsmittel, sondern als Störenfried wurde die deutscheste aller Künste jetzt angesehen. Und zwar keineswegs von ihm allein. Da die übrigen Lehrer, die zum Theil selbst Ernestis Schüler gewesen waren, ganz ihres Rectors Wegen folgten, so gerieth Bach mehr und mehr in [493] eine einsame, mißachtete Stellung. Wie er diese mehren seiner unmittelbaren Nachfolger zum Erbe hinterließ, so Ernesti den seinigen einen musikfeindlichen Gelehrtendünkel, und beide den ihrigen das Vermächtniß innerer Abgeneigtheit. Bach, aus der Schule gewissermaßen herausgedrängt, verlegte nun entschiedener noch als zuvor seinen Schwerpunkt in die freie musikalische Thätigkeit. Schon früher hatte er es vermieden, vor der Öffentlichkeit als Cantor zu erscheinen, sicherlich nicht aus kleinlicher Eitelkeit.13 Jetzt fühlte er sich überwiegend als königlicher Hofcomponist, als Capellmeister der Fürstenhöfe Weißenfels und Cöthen – Ämter, welche ihn von fern als Musiker beschäftigten, ohne ihm das gewünschte Maß von Freiheit zu beeinträchtigen. Seine Leipziger Behörden mußten dies deutlich empfinden; daß sie nicht davon erbaut waren ist begreiflich. Eine gewisse Verstimmung gegen ihn dauerte bei ihnen selbst über seinen Tod hinaus. In einer Rathssitzung vom 7. August 1750 wurde mit ironischer Anspielung vorgetragen, »der Cantor an der Thomasschule, oder vielmehr der Capelldirector, Bach sei verstorben.« Wegen der Neubesetzung der Stelle meinte einer der Räthe, »die Schule brauche einen Cantor und keinen Capellmeister, obgleich er auch die Musik verstehen müsse.«14
Indessen ist gerechterweise anzuerkennen, daß bei dem Zerwürfniß zwischen dem gelehrten Schulmann und dem Künstler noch tieferliegende Mächte mitwirkten. Die Musik war anfangs des 18. Jahrhunderts auf eine Höhe der Entwicklung gekommen, daß ihre engere Verbindung mit der Schule unhaltbar wurde. Der frische Lebensdrang, in welchem auch die protestantischen Schulen jener Zeit anfingen sich zu recken und dehnen, konnte das Mißverhältniß nicht ausgleichen. Er stand zu der Potenz, welche in der Musik sich ans Licht rang, im wesentlichen Gegensatze. Wie die Musik in der Geschichte überhaupt die jüngste unter den Künsten ist, so hat sie sich auch im Verlauf der einzelnen Culturperioden immer gleichsam als Nachzüglerin eingestellt. Die Tonkunst des 18. Jahrhunderts wurzelt im 16., im Zeitalter der Renaissance. Aber sie gedieh erst als alle andern großen und glänzenden Erscheinungen [494] dieser Zeit verblühten, gleichsam das letzte, ätherisch verklärte Spiegelbild derselben. Nur so erscheint es möglich, auch bei vollster Berücksichtigung der günstigen Eigenart der Deutschen, daß die Musik aus der Zerstörung des dreißigjährigen Krieges unversehrt hervorgehen konnte. Sie war in einer langsam aufsteigenden, nicht zu hemmenden Entwicklung gewesen, die erst im folgenden Jahrhundert ihre Siege feiern sollte. Wissenschaft aber und die naheverwandte Poesie begannen in eben dem Jahrhundert einen Lauf zu neuen, andersartigen Zielen. Man wollte verschiedenes, man verstand sich weniger und weniger, und endlich haben grade unsere größesten Dichter und Gelehrten der Musik mit Gleichgiltigkeit oder offener Geringschätzung gegenüber gestanden. Es sind die Anfänge dieser Divergenz, was in dem Streit zwischen Bach und Ernesti sich zeigt. Aber auch abgesehen hiervon war an ein dauerndes Hand-in-Hand-Gehen zwischen gelehrter Ausbildung und Musik nicht mehr zu denken. Die Musik wuchs so mächtig in die Höhe und Breite, daß sie die enge Umfriedung der Schule sprengen mußte, wenn man sie nicht aus derselben verpflanzte. Bach war keineswegs der einzige, welcher hart an diese Schranken anrannte. Schon über dreißig Jahre früher war das Verhältniß zwischen Rector und Cantor Gegenstand heftigen Streites und weitläufiger Erörterungen gewesen. Gegen das Jahr 1703 hatte der Schulrector zu Halberstadt gelegentlich der Beerdigung eines vornehmen preußischen Beamten sämmtlichen Chorschülern auf öffentlicher Straße unter Androhung der Verweisung aus dem Chor und der Schule verboten dem Cantor Folge zu leisten, obgleich von diesem ihm wie üblich die Mitwirkung des Chors vorher angezeigt war. Hieraus nahm Johann Philipp Bendeler, Cantor zu Quedlinburg, Veranlassung, die Gränzen der Befugnisse zwischen Cantor und Rector in eingehender Untersuchung festzustellen.15 Die musikalische [495] Superiorität stehe dem Cantor zu. Der Rector sei freilich das Haupt der Schule, aber was habe die Kirchenmusik mit der Schule zu thun? was gehe es einen Musikdirector an, wem seine Adjuvanten außer der Musik unterworfen seien? Über die Einsetzung des Präfecten müßten sieh Cantor und Rector verständigen, doch dürfe dieser wider den Willen des ersteren keinen Präfecten einsetzen können. »Wenn ich zu einem musikalischen Actu verlanget werde, so melde ich es dem Rector und bestelle meine Classe, gebe daneben den Schülern auf, daß ein jeder bei seinen Herren Lehrern seine Abwesenheit gebührend entschuldige.« Der Cantor solle die Macht haben, einen Chorschüler wenn er musikalisch unbrauchbar sei von der Kirchenmusik, vom Chor und von den Beneficien auszuschließen; er solle nicht gehalten sein, deshalb zuvor bei der Obrigkeit oder dem Rector anzufragen. »Wer einem Cantor die obgedachte Macht nimmt, der wird eine Ursache vieler Sünden und handelt am Cantor nicht viel besser, als wenn er ihn mit gebundenen Händen einem Schwarm Bienen, Hummeln und Hornissen freistellt.« »Wenn die Schüler kommen sollen bleiben sie aus, wenn sie bleiben sollen laufen sie davon u.s.w. Und damit sie dießfalls desto mehr außer Gefahr sein mögen, insinuiren sie sich auf allerhand Art und Weise bei dem Rector, verleumden den Cantor u.s.w. Wodurch denn der Rector ihnen desto eifriger beizustehen, der Cantor aber desto mehr auf seine Conservation zu gedenken bewogen wird.« Den Schluß der Abhandlung bilden drei über den Gegenstand eingeholte Gutachten, welche sämmtlich im Sinne Bendelers abgegeben sind. Sie rühren her von den Universitäten Halle und Helmstädt und – von dem churfürstlich sächsischen Schöppenstuhl zu Leipzig. Überhaupt, wenn man diese Schrift liest, kann man sich einbilden, es handle sich garnicht um Halberstadt oder Quedlinburg, und derjenige der schreibt, sei nicht Bendeler sondern Bach.
Es waren eben derartige Conflicte in den Verhältnissen nur zu tief begründet, noch zu Bachs Lebzeiten ereignete sich in Freyberg Ähnliches. Die Musik drängte sich hinaus in die Freiheit des Concertwesens. Ihr diese Freiheit zuzuerkennen, dazu war in Deutschland die Zeit noch nicht gekommen. Bach steht noch auf dem alten Boden, aber ein Hauch aus dem neuen Lande streift über sein Künstlerthum. Wie derselbe sich in Bachs Compositionen offenbart, [496] ist schon mehrfach gezeigt worden. Nun haben wir ihn auch mittelst seiner äußern Lebensstellung entdecken können.
Man wolle das Gesagte nicht so verstehen, als habe der Bachschen Kunst etwas gefehlt, um sich völlig ausleben zu können, als sei besonders in der späteren Zeit ihr weiteres Gedeihen durch die Unzulänglichkeit der Verhältnisse gehemmt worden. Wir wiederholen es: sein Lebensweg hat ihn im ganzen günstig geführt, der Beschwerlichkeiten waren nicht mehr, als sein Genius ungeschädigt überwinden konnte. Als die Wendung in Bachs Schicksalen eintrat, welche sein Zerwürfniß mit der Schule bezeichnet, hatte er das Höchste erreicht. Man empfängt beim Überblick über sein gesammtes Wirken nicht den Eindruck, als sei irgend etwas unvollendet geblieben. In Verhältnissen, wie sie Händel in London umgaben und seinen Schöpfungen zur Voraussetzung dienten, läßt sich Bach garnicht denken. Er hatte sich früh und rasch entwickelt, naturgemäß kam er auch früher zum Stillstande. Zu der Zeit, da Bach seine Passionen, Weihnachtsoratorium, die ersten beiden Theile der H moll-Messe schrieb, war Händel seinem Ziele noch ziemlich fern, und als Händel recht begann, fing Bach an aufzuhören. Vorzugsweise hieraus muß es doch erklärt werden, daß Bach an dem Umschwunge, welcher im Leipziger Leben während der vierziger Jahre des Jahrhunderts sich allmählig anbahnte, nicht mehr Theil nahm, obgleich dieser Umschwung grade das herbeiführen sollte, worauf auch in Bachs Werken schon manches hinweist: das Zurückweichen der Kirche als Hauptpflegestätte für die Musik, und das Hervortreten des freien öffentlichen Concerts. Der gegebene natürliche Anknüpfungspunkt für dieses waren die beliebten Collegia musica. In älteren Zeiten bestanden sie nur aus wöchentlichen Zusammenkünften berufsmäßiger Musiker, und waren als solche wenigstens in Sachsen ziemlich allgemein. Der Zweck war, wie Kuhnau einmal sagt, »sich immer weiter in ihrer herrlichen Profession zu üben, und auch aus der angenehmen Harmonie eine gleichmäßige wohlklingende Übereinstimmung der Gemüther, welche bei dergleichen Leuten bisweilen am allermeisten vermißt wird, unter einander herzustellen.«16 Kuhnau selbst war 1688 Mitglied eines [497] solchen Collegium musicum in Leipzig.17 Dann begannen am Anfang des 18. Jahrhunderts die studentischen Musikvereine, unter welchen der 1704 gegründete Telemannsche, den später auch Bach dirigirte, die größte Bedeutung gewann. Das Streben, der gemeinsamen Musikübung eine weitere, freiere Form zu geben, ist bei ihnen unverkennbar, um so mehr als es hier nicht nur Ausübende, sondern auch Zuhörer gab. Jedoch beschränkten sie sich im allgemeinen auf die Kreise der akademischen Jugend. Erst in den vierziger Jahren erfaßte der Zug auch die Bürgerschaft. Ein Mitglied des angesehenen Kaufherrengeschlechtes Zehmisch nahm 1741 die Bildung einer neuen Concertgesellschaft in Angriff.18 In Folge des ersten schlesischen Krieges mögen die Vorbereitungen einen langsamen Fortgang gehabt haben. Erst zwei Jahre später fand die förmliche Gründung statt. »Den 11. März [1743] wurde von 16 Personen, sowohl Adel als bürgerlichen Standes das große Concert angeleget, wobey jede Person jährlich zur Erhaltung desselben 20 Thaler, und zwar vierteljährig 1 Louisd'or erlegen mußten, die Anzahl der Musicirenden waren gleichfalls 16 auserlesene Personen, und wurde solches erstlich in der Grimmischen Gasse bey dem Herrn Bergrath Schwaben, nachgehends in 4 Wochen darauf, weil bey ersterm der Platz zu enge, bey Herr Gleditzschen dem Buchführer aufgeführet und gehalten.«19 Das Unternehmen nahm gleich einen so glänzenden Aufschwung, daß man sich veranlaßt sah am 9. März 1744 den Jahrestag seines Bestehens durch eine solenne Festcantate zu feiern.20 In den Leipziger Adressbüchern von 1746 und [498] 1747 wird seiner unter den ständigen musikalischen Instituten folgendermaßen gedacht: »3) wird auch Donnerstag eines [nämlich ein Collegium musicum] von 5 bis 8 Uhr unter Direction der Herren Kaufleute und anderer Personen in den drey Schwanen im Brühle gehalten, allwo sich die größten Maîtres, wenn sie hierher kommen, hören lassen, deren Frequenz ansehnlich, auch mit großer Attention bewundert wird.«21 Die Übersiedlung aus Privaträumen in ein öffentliches Local zeigt wiederum das rasche Anwachsen der neuen Concertgesellschaft. Es ist dieselbe, welche noch heute als Gewandhausconcert besteht, auch der Tag der wöchentlichen Aufführungen und ungefähr die Stundenzeit sind dieselben geblieben. Während des siebenjährigen Krieges wurden die Concerte unterbrochen, 1763 aber unter Johann Adam Hillers Direction wiederaufgenommen.22 Das Local war wieder in den »drey Schwanen«, Zehmisch stand noch immer an der Spitze des Ganzen und jemand schrieb 1768 über ihn: »Wer wird nicht auch in Zukunft den Eifer für die Aufnahme der Tonkunst rühmen, die wir unserm Freunde dem Herrn Zehmisch seit sieben und zwanzig Jahren zu verdanken haben? Dessen unermüdete Bemühung dem Leipziger Concerte eine Gestalt gab, die ihm nicht nur ungeschmeichelte Lobsprüche so vieler ausländischer Virtuosen und Kenner erwarb, sondern selbst, schon viermal, die Begnadigung der höchsten Gegenwart errang, und eines Beifalls gewürdiget ward, an dessen Ehre alle Mitglieder der Gesellschaft Antheil haben.«23 Der plötzlich erwachte Musiksinn der Leipziger Bürger äußerte sich auch noch in andrer Weise. Als Beneficium für die Thomasschüler waren seit langem aus der Casse der Nikolaikirche 50 Gülden (43 Thlr. 18 gr.) jährlich gezahlt worden. Von 1746 an ließ der Rath dieselbe Summe aus dem Aerar der Thomas-, und 25 Thaler aus dem der Neuen-Kirche ebenfalls zahlen, zur Unterhaltung der Thomasschule »und wegen Bestellung der Kirchenmusik.«24 Die Quelle der öffentlichen Unterstützung, [499] welche bisher der Musikübung nur Tropfen gespendet hatte, fing jetzt mit einem Male an reichlicher zu fließen. Auch konnte es Bach wagen, 1745 seinen Schüler Altnikol als Bassisten beim Kirchenchor auf eigne Faust anzustellen. Als derselbe am 19. Mai 1747 sich dafür seine Remuneration erbat, meinte einer der Räthe zwar, Bach solle dergleichen künftig vorher anzeigen; aber man zahlte doch.25
Neben diesen neuen Erscheinungen verloren die Musikvereine der Studenten ihre frühere Bedeutung. Görner zwar hielt sein Collegium musicum mit der ihm eignen Zähigkeit zusammen. Der Telemannsche Verein aber gerieth sichtlich ins Schwanken. Bach gab die Direction auf; 1746 leitete ihn Gerlach, 1747 Johann Trier, ein Student der Theologie; letzterer wird den Verein wohl bis zu Bachs Tode behalten haben, da er ein tüchtiger Musiker war und erst 1754 Leipzig verließ. Die Leitung ging also, nachdem sie lange Zeit in den Händen bewährter Künstler gelegen hatte, unter die Studentenschaft zurück, wo sie anfänglich gewesen war. Solche rückläufige Bewegungen sind allemal das Zeichen eines Niederganges. Warum Bach von der Direction zurücktrat, ist nicht überliefert, wir wissen auch nur im allgemeinen, daß es zwischen 1736 und 1746 geschah. Vermuthen läßt sich wohl, daß er keine Lust verspürte, an der Spitze einer Musikgesellschaft zu bleiben, welche durch die Verhältnisse in die zweite Linie gedrängt wurde. Aber von einer Theilnahme an dem neugegründeten Concertinstitut der Bürgerschaft findet sich auch nirgends eine Spur. Bei seiner überragenden Bedeutung und großen Berühmtheit konnte man ihn, wenn er überhaupt berücksichtigt werden sollte, nur zum Leiter desselben machen. Da dieses nicht geschah, ist es von vornherein anzunehmen, daß er einen Einfluß auf dasselbe nicht gewann, oder gewinnen wollte. Man meldet, daß die größten »auswärtigen« Meister sich in den Concerten der neuen Gesellschaft hören ließen, der einheimische allergrößte Meister wird nicht erwähnt. 1744 zur Jahresfeier [500] des Bestehens wurde eine Festcantate aufgeführt, aber nicht Bach componirte sie, sondern ein 28jähriger Student, Johann Friedrich Doles, der seit 1738 in Leipzig weilte, Bach zwar nicht ganz fern stand, aber eine völlig andere, modern gefällige Richtung nahm. Doles kam fünf Jahre nach Bachs Tode an dessen Stelle und bekleidete sie bis 1789. Er und neben ihm Johann Adam Hiller führten in Leipzig eine Zeit herbei, die sich von Bach abwandte. Insofern ist es bezeichnend, daß sein Name gleich mit den Anfängen des »großen Concerts« verknüpft ist. Was dieses anstrebte, waren Ziele die in Bachs Leben und Werken zwar hier und da schon angedeutet werden, die aber mit dem Grundwesen des Meisters doch nichts gemein hatten.
Sein hohes Ansehen war unter der Bevölkerung festgegründet und wurde auch jetzt nicht erschüttert. Er bildete eine Berühmtheit der Stadt. Kein Musiker von Belang berührte sie, der Bach nicht seinen Respect erwiesen hätte. Schüler strömten zu und ab, Empfehlungen von ihm waren vielbegehrt. Nach wie vor rechnete man ihn unter die ersten Autoritäten des Orgelbaus. Er mußte 1744 die von Johann Scheibe erbaute Orgel der Johanniskirche prüfen; obgleich dessen Sohn, der Verfasser des »kritischen Musicus«, sich Bachs Unwillen zugezogen hatte, hielt man ihn für unparteiisch genug, und Bach erklärte die Orgel für untadelhaft.26 Johann Scheibe vollendete zwei Jahre später ein auf 500 Thaler veranschlagtes Orgelwerk zu Zschortau bei Delitzsch, auch hierhin wurde Bach zur Prüfung berufen, welche er Anfang August 1746 vornahm.27 Einiges seiner weltlichen Musik scheint ins Volk gedrungen zu sein und sich dort lange gehalten zu haben. In einer Schilderung der Kirmeß zu Eutritzsch bei Leipzig aus dem Jahre 1783 heißt es: »Das Chor Musikanten streicht wacker zu; debütirt mit Sonaten von Bach und schließt mit Gassenhauern«.28 Hiermit können nur [501] Stücke aus Orchesterpartieen gemeint sein, in der Sprache der Stadt-und Thurmmusikanten behielt das Wort »Sonate« noch bis ins 19. Jahrhundert die ursprüngliche Bedeutung eines einzelnen mehrstimmigen Instrumentalstücks.29 Jedenfalls beweist jene Bemerkung, wie Bachs Name im Volke weiterlebte. Als 1781 der Concertsaal im Gewandhause vollendet war, sah man auf dem Oeserschen Deckengemälde die alte Musik, welche verjagt, und die neue, welche eingeführt wird. Unter der letzteren Darstellung hielt ein Genius ein fliegendes Blatt mit der Inschrift: Bach. Forkel bemerkt, dieses Denkmal sei für Bach eine der größten Lobreden.30 Wenigstens war es als solche gemeint; selbst diese Generation, die den Meister weniger verstanden hatte, als irgend eine andre, hat ihm den höchsten Ruhm nicht vorenthalten wollen. Noch immer klang über eine Kluft von mehr als dreißig Jahren der Name des Gewaltigen ehrfurchtgebietend und stolzerweckend herüber.
Aber in seiner letzten Lebensperiode hörte er auf, der Mittelpunkt der Musik in Leipzig zu sein. Erwägt man alles, so drängt sich die Überzeugung auf, daß er wohl bewundert, aber wenig mehr verstanden und geliebt worden ist. Sein Schicksal hat eine gewisse Ähnlichkeit mit demjenigen Beethovens, den in späteren Jahren Rossini dem Wiener Publikum trotz alles bleibenden Respects mehr und mehr entfremdete. Bach sah auch ziemlich theilnahmlos herab auf das, was die junge Welt zu seinen Füßen trieb. Eine 1738 zu Leipzig gegründete »Societät der musikalischen Wissenschaften« machte von sich reden. Ihr Urheber und Mittelpunkt war Lorenz Christoph Mizler, am 25. Juli 1711 zu Heidenheim31 in Würtemberg [502] geboren, auf dem Gymnasium zu Anspach gebildet und vom 30. April 1731 mit einer Unterbrechung bis zum Jahre 1734 Student der Leipziger Universität. Schon seit seinen Knabenjahren hatte er Musik eifrig getrieben, und wurde in Leipzig, vermuthlich durch Gesners Vermittlung, Bachs Schüler im Clavierspiel und in der Composition. 1734 erwarb er die Magisterwürde und disputirte am 30. Juni öffentlich über eine Dissertation »quod musica ars sit pars eruditionis philosophicae«. Er widmete seine Schrift vier Tonkünstlern, nämlich Mattheson, Bach, Bümler und Ehrmann; letzter, ein anspachischer Musiker, hatte ihn die musikalischen Anfangsgründe gelehrt. In der vom 28. Juni datirten Anrede sagt er: »Großen Gewinn habe ich, berühmter Bach, aus deiner Unterweisung in der praktischen Musik gezogen und bedaure, daß ich sie nicht auch ferner genießen kann«.32 Er verließ nämlich Leipzig und wandte sich bald darauf zu weiteren Studien nach Wittenberg. Seine Dissertation war von denen, an welche sie zunächst sich gerichtet hatte, freundlich aufgenommen worden.33 Es mußte dies ein Grund für ihn sein, nach Leipzig zurückzukehren, wo er von 1736 an Vorlesungen über Mathematik, Philosophie und Musik hielt und eine kritische Monatsschrift unter dem Titel »Neueröffnete musikalische Bibliothek« herauszugeben anfing. Mizler besaß einen Gönner und Freund in dem musikalischen Grafen Lucchesini, welcher Rittmeister im Sehrischen Cürassierregiment des Kaisers Carl VI war, und als solcher 1739 den Soldatentod starb. Als in Folge der polnischen Erbfolgestreitigkeiten 1735 der Kaiser von Frankreich und dessen Verbündeten hart bedrängt wurde, widmete Mizler dem Grafen eine kleine lateinische Scherzschrift, in welcher er den muthmaßlichen Verlauf des Krieges durch das Zusammen- und Entgegenwirken [503] verschiedener Töne darstellte.34 Lucchesini war ihm zur Gründung der »Societät der musikalischen Wissenschaften« als der erste behülflich. Von den vier musikalischen Gönnern, denen er seine Dissertation widmete, unterstützte ihn nur einer, der alte Bümler in Anspach. Mattheson war schon damals Mizler nicht mehr hold, in dessen Musikalischer Bibliothek er sich »etwas verdeckter Weise angezwackt« fühlte, und wurde bald sein entschiedener Gegner. Bach hielt sich nur aus innern Gründen fern. Der Zweck der Societät, die Wissenschaft der Musik zu verbessern und in ein System zu bringen, war ihm im Grunde etwas gleichgültiges. Er hatte sein Leben hindurch nach eignen Grundsätzen gelehrt und gehandelt und war wohl dabei gefahren. Was ging es ihn an, wenn die Gesellschaft die Frage zur Untersuchung stellte, warum Quinten- und Octavenfolgen falsch seien? Er sagt in seiner Generalbasslehre: »Zwey Quinten und zwey Octaven müssen nicht auf einander folgen, denn solches ist nicht nur ein vitium sondern es klingt übel«; damit gut. Oder wenn Mizler den Generalbass mit der Mathematik verbinden wollte? »Im Generalbass spielet die linke Hand die vorgeschriebenen Noten, die rechte greift Con- und Dissonantien dazu, damit dieses eine wohlklingende Harmonie gebe zur Ehre Gottes und zulässiger Ergötzung des Gemüths. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Musik sondern ein teuflisches Geplärr und Geleyer«. Abgemacht. Es war eine bekannte Thatsache, daß Bach sich um das Verhältniß der Mathematik zur Tonkunst keine grauen Haare wachsen ließ. Mattheson bemerkt: »Dieser [Bach] hat ihm [Mizler] gewiß und wahrhaftig ebensowenig die vermeinten mathematischen Compositionsgründe beigebracht, als der nächstgenannte [Mattheson]. Dafür bin ich Bürge.«35 Auch die Verfasser des Nekrologs melden: »Bach ließ sich nicht in tiefe theoretische Betrachtungen der Musik ein«.36 Nun gar Gesetze aufstellen, [504] wie man Cantaten machen müsse, gemeinsam mit andern einen Muster-Jahrgang componiren unter gegenseitiger Beaufsichtigung! Vereinigungen, wie die Societät sie sein sollte, können ihren Nutzen haben, die etwaigen Resultate aber kommen eigentlich nur dem Durchschnitts-Menschen zu gute. Dem Genius sagen sie entweder zu wenig oder zu viel. Außerdem mußte Bach Mizlers Persönlichkeit und Beanlagung entgegen sein. Mizler besaß eine umfassende Bildung, war auch für seine Verhältnisse ganz gut in der musikalischen Praxis, er hatte regsamen Fleiß und wußte es in der Welt zu etwas zu bringen. Aber er war eitel und großsprecherisch, und endlich doch ein unfruchtbarer Geist; seine Compositionen vollends, die er unklug genug war zu veröffentlichen, konnten den Musikern höchstens ein mitleidiges Lächeln erregen. So erklärt es sich denn leicht, daß Bach abseits auch dieser musikalischen Vereinigung stehen blieb. Mizler empfand recht wohl den stummen Tadel, der hierdurch auf sein Unternehmen fiel. In den Gesetzen der Societät hieß es freilich, bloße praktische Musikverständige könnten deswegen in ihr keinen Platz finden, weil sie nicht im Stande seien, etwas zur Aufnahme und Ausbesserung der Musik beizutragen.37 Allein hiermit waren Männer von Bachs Schlage nicht gemeint. Denn vorzugsweise praktische Musiker, wie Telemann und Stölzel, traten in die Societät schon im zweiten Jahre ihres Bestehens und der Urprakticus Händel wurde 1745 sogar zum Ehrenmitgliede einstimmig erwählt. Überdies war Bach, wenn er auch keine Abhandlungen schrieb, grade als gelehrter Componist bekannt genug.38 Mizler, der schon 1743 nicht mehr in Leipzig, sondern beim Grafen Malachowski in Polen weilte, gab sich alle Mühe, Bach zum Eintritte zu bewegen. 1746 meldet er erfreut, es sei im Werke, daß nächstens die Gesellschaft wieder mit drei ansehnlichen Mitgliedern vermehrt werde.39 Es waren Graun, Bach und Sorge. Graun trat schon im Juli desselben Jahres ein. Bach hatte es nicht [505] eilig, er wartete noch bis zum Juni 1747.40 Einmal Mitglied erfüllte er aber auch seine Pflichten; ein dreifacher sechsstimmiger Canon und die canonischen Veränderungen über »Vom Himmel hoch da komm ich her« sind von ihm für die Societät gearbeitet worden. Nach seinem Tode meinte man, er würde unfehlbar noch viel mehr gethan haben, wenn ihn nicht die kurze Zeit, da er nur drei Jahre Mitglied gewesen sei, daran gehindert hätte.41 Dies mag mehr als eine leere Vermuthung sein. In seinen letzten Lebensjahren trat bei Bach die Neigung zu tiefsinnigen, einsamen musikalischen Problemen stärker hervor, als je. Für sie fand er in der Societät ein zwar sehr kleines, aber doch urtheilsfähiges Publikum.
Fußnoten
II.
Im Vordergrunde des Bildes von Bachs späterer Compositionsthätigkeit stehen dessen lateinische Messen. Er hat deren fünf geschrieben. Die erste Frage ist, ob und in welcher Art dieselben mit dem protestantischen Gottesdienst zusammenhängen.
Die Form des Cultus der Leipziger Hauptkirchen war in einer näheren Verwandtschaft mit der katholischen Gottesdienstordnung geblieben, als dieses an andern Orten zu bemerken ist. Schon bei einer früheren Gelegenheit wurde hierüber ausführlicher gesprochen.1 Neben lateinischen Hymnen und Responsorien, neben lateinischen Motetten hatte sich für die Vespergottesdienste der drei hohen Feste auch das lateinische Magnificat behauptet, und wir sahen wie Bach hieraus Veranlassung zur Composition eines seiner hervorragendsten Werke gewann.2 So bestanden auch die Hauptbestandtheile der choralischen lateinischen Messe und zwar an den ihnen von altersher zugewiesenen Stellen des Cultusganges fort; zum Theil folgten ihnen die ersetzenden deutschen Gesänge nach. Stehend für alle Sonn- und Festtage waren allerdings nur Kyrie, Gloria und Credo, und selbst diese Theile wurden nicht immer vollständig gesungen. Das Sanctus kam allein an den hohen Festtagen vor; [506] über das Agnus dei fehlt jeder Nachweis, es scheint in choralischer Form nicht gebraucht worden zu sein.
Anders verhält es sich mit der figuralen Behandlung der Messensätze, welche in zusammenhängender Weise im Leipziger Gottesdienste nicht zur Entfaltung kam. Die protestantische Kirchencantate hatte alle übrige Figuralmusik theils verdrängt theils sehr beschränkt. Nicht einmal für die kurze Messe – Kyrie und Gloria – war Raum geblieben, sie als Ganzes vorzutragen. Aus der früher gegebenen Darstellung der Leipziger Cultusformen ergiebt sich als feststehend nur der Gebrauch des Kyrie am 1. Adventsonntage und Reformationsfeste, und des Sanctus an den drei hohen Festen. Sollte sonst ein Messensatz musicirt werden, so mußte es gelegentlich geschehen. Für den Gebrauch des Gloria bot sich von selbst das Weihnachtsfest dar; es trat dann an Stelle der Cantate, und wirklich hat auch Bach das Gloria seiner H moll-Messe als Weihnachtsmusik benutzt und in eine entsprechend kürzere Form gebracht. Wollen wir weitere Aufschlüsse über gelegentliche Verwendung von Messensätzen gewinnen, so müssen wir aus der nach-Bachischen Zeit zurückschließen. Dies kann aber mit voller Sicherheit geschehen. Das ganze 18. Jahrhundert hindurch arbeitete man auf Einschränkung oder gänzliche Entfernung der lateinischen Liturgietheile hin. Womit 1702 der städtische Rath begonnen hatte, das setzte noch 1791 Johann Adam Hiller fort, obgleich seitdem der Bestand lateinischer Gesänge schon zusammengeschmolzen war.3 Was also derartiges später noch üblich war, das ist es zuverlässig auch zu Bachs Zeit, und in weiterem Maße gewesen. Wir finden in der späteren Zeit beispielsweise am Feste der Heimsuchung Mariä unter der Communion das Agnus, am Nachmittage desselben Festes nach der Motette das Gloria. In der Universitätskirche, die deshalb herbeigezogen werden kann, weil sich ihr Cultus nach und an demjenigen der Nikolai- und Thomaskirche entwickelte, wurden im Kirchenjahr 1779–1780 folgende Messensätze musicirt: zum Weihnachtstage das ganze Gloria einer Messe von Gassmann, zum Feste der Erscheinung Sanctus nebstBenedictus und Agnus einer Messe von Haydn, zum Jubilate-Sonntag [507] ein Gloria von Hasse, zum Trinitatisfest ein Credo von Haydn, zum zweiten Mess-Sonntage ein Gloria von Graun. Hier finden sich also außer dem Kyrie alle Theile der Messe vertreten.4
Wenn die Liturgie die Aufführung auch nur einiger Theile der Messe im Figuralstile zur Vorschrift machte, so war hierdurch immerhin eine gewisse Fühlung mit der Messe als Ganzem erhalten, zumal sie in ihrer choralischen Urform fast vollständig noch im Cultus erschien. Künstlerische und religiöse Gründe sprachen mit, um sie wenigstens als Missa brevis fortleben zu lassen. Ein einzelnes Kyrie zu componiren konnte den christlichen Künstler nicht befriedigen, da die trübe Stimmung desselben nach einem hellen Gegensatz, das Gefühl der Schuld nach Erlösung verlangte.5 Wenn am ersten Adventsonntage ein figurales Kyrie gesungen werden mußte, wenn dann am ersten Weihnachtstage das Gloria in excelsis deo et in terra pax hominibus den Grundgedanken der ganzen Feier aussprach, so war es natürlich, daß der Componist beides auf einander bezog und zu einem Kunstwerke zusammenfaßte. Demgemäß haben auch Bachs Vorgänger Knüpffer und Kuhnau schon kurze Messen componirt.6 Nicht weniger Görner, auch Hoffmann, der zeitweilige Dirigent des Telemannschen Musikvereins;7 da dieser in der Neuen Kirche Aufführungen veranstaltete, dieselben aber nur an den hohen Festtagen und in der Messzeit stattfanden, so muß man annehmen, daß hier Kyrie und Gloria sogar im Zusammenhange, während eines und desselben Gottesdienstes musicirt worden sind. Für Bach trat indessen noch etwas anderes hinzu, was ihn zur Composition von Messen treiben mußte und zu mehren seiner derartigen Werke wohl die erste Veranlassung wurde. Es war seine Verbindung mit Dresden, sein hierdurch gewecktes lebhaftes Interesse für italiänische und überhaupt katholische Kirchenmusik, seine Verpflichtung endlich, als Componist des königlich-churfürstlichen Hofes für denselben von [508] Zeit zu Zeit etwas zu liefern. Bachs Neigung für Lottis Musik ist schon berührt.8 Ausser einer G moll-Messe dieses Meisters, welche er in der mittleren Leipziger Zeit größtentheils eigenhändig abschrieb,9 liegt noch eine im italiänischen Stile abgefaßte Messe für zwei Chöre (und einen verstärkenden Chor) mit Instrumenten (G dur) vor, welche Bach ausschließlich der ersten zwölf Seiten, und zwar gegen 1738, ebenfalls abgeschrieben hat. Man kann in ihr auch wohl eine Lottische Messe sehen, wenngleich sie für diesen Meister auffällig diatonisch ist; jedenfalls rührt sie von einem Italiäner oder ganz in italiänischer Kunst aufgegangenen Deutschen her.10 Aber weit über Lotti zurückgehend hat sich Bach selbst mit Palestrina beschäftigt, von welchem er eine große Messe in Stimmen für die Sänger und die hinzugefügten verstärkenden Instrumente nebst Generalbass ausschrieb.11 Von einem ungenannten Italiäner seiner Zeit schrieb er sich noch eine kurze C moll-Messe in Partitur ab.12 Ein Magnificat von Caldara (C dur) existirt als Bachs Autograph, ein solches von Zelenka (D dur) in der Handschrift seines Sohnes Wilhelm Friedemann.13 Noch eine Anzahl andrer anonymer, aber zum Theil sicherlich italiänischer Magnificat liegen theils in Bachs eigenhändiger Partitur, theils in Stimmen vor, die zumeist von Anna Magdalena Bach herrühren, und hier und da mit eigenhändigen Zusätzen Sebastians versehen sind.14 Hieraus ergiebt sich, daß er diese Werke nicht nur für sich studirte, sondern auch aufführte. Es kommt selbst vor, daß er ihnen Sätze eigner Composition einfügte. Wir sahen früher, daß er die Form seines großen Magnificat durch Einschiebung [509] von vier Weihnachtsgesängen erweiterte.15 Eben dieses hat er auch bei einem fremden Magnificat (D dur) gethan, doch stehen mit Ausnahme des »Freut euch und jubilirt« die Weihnachtsgesänge hier an andern Stellen. In der genannten C moll-Messe ist das Christe eleison – ein kurzes aber sehr kunstreiches Duett über einen Basso quasi ostinato – seine eigne Arbeit. Auch anderer Tonsetzer lateinische Messen oder Messensätze hat er zusammengebracht; so eine Messe des churfürstlich-pfälzischen Capellmeisters Wilderer und manches andre, was eine Zeitlang fälschlich für seine eigne Composition galt.16 Zur Genüge aber erhellt hieraus, wie Bach der katholischen und insbesondere italiänischen Kirchenmusik eine Aufmerksamkeit zuwandte, die um so bemerkenswerther ist, als sie erst in der Zeit seiner vollsten Reife deutlich hervortritt und ein gebieterisches praktisches Bedürfniß nach solchen Kirchenstücken für ihn nicht vorlag. Daß er endlich mehre seiner eignen Messen für den Dresdener Hof geschrieben habe, macht, soweit wir es nicht wie bei den ersten Sätzen der H moll-Messe bestimmt wissen, die Entstehungszeit derselben und auch ihr Inhalt wahrscheinlich. Von den vier kurzen Messen sind zwei um 1737 entstanden, da Bach eben zum Hofcomponisten ernannt worden war. Über den Inhalt wird eingehenderes zu sagen sein.
Bachs kurze Messen stehen in G dur, G moll, Ad ur und F dur. Eine chronologische Aufreihung derselben kann nicht gegeben werden, da nur sicher ist, daß sie alle nach 1730, und daß die erste und dritte um 1737 geschrieben sind. Ich darf meine Überzeugung dahin aussprechen, daß Bach alle vier in kurzer Zeit nach einander componirt haben wird, und ordne sie im übrigen nach inneren Merkmalen. Die G dur- und G moll-Messe sind keine Originalcompositionen, [510] sondern gänzlich aus Bestandtheilen früher componirter Cantaten zusammengesetzt.17 Es machten sich hierfür verschiedene Umarbeitungen nöthig, die wie immer bei Bach sehr lehrreich und in manchem Betracht bewunderungswürdig sind. Auch ohne daß der neue Text und Zweck dazu veranlaßte hat er bisweilen die Tonstücke reicher und freier gestaltet. Aber eben so unverkennbar ist auch die Gewalt, welche er seinen eignen Schöpfungen bei ihrer Umformung zu Messentheilen angethan hat. Es giebt Umarbeitungen, die das Object aus dem Zustande niedriger Gebundenheit erlösen: wenn Bach vom weltlichen Gebiet etwas ins kirchliche überträgt, pflegt dieses einzutreten. Es giebt auch Umarbeitungen, welche auf den Keim der Idee zurückgehen und aus ihm unter andern Bedingungen eine neue Gestalt entwickeln. Es giebt endlich solche, die nur lebendige Reproductionen desselben Stückes sind: wie eine fertige Composition je nach dem Charakter des Vortragenden, nach augenblicklicher Stimmung, Zeit, Ort und Umgebung jedesmal verschieden zur Erscheinung gebracht werden wird, so geschieht es auch wohl, daß Bach ein Tonstück mit geringen Abweichungen nur unter andern Voraussetzungen wirksam werden läßt. Alle diese Arten haben ihre künstlerische Berechtigung, aber keine von ihnen ist bei den genannten Messen angewendet. Sie sind so weit dies bei einem Bach überhaupt möglich war mechanische Arrangements. Will man sehen, mit welch grausamer Objectivität Bach die großartige Ordnung seiner Tonbauten zerstören konnte, so vergleiche man das Gloria der G dur-Messe mit seinem Urbild. Mehr in den Einzelheiten, aber doch empfindlich genug ist der erschütternde Eingangschor der Cantate »Herr deine Augen sehen nach dem Glauben« vergewaltigt, als er sich in die Form des Kyrie der G moll-Messe umzwängen lassen mußte. Andre Sätze haben weniger Rücksichtslosigkeiten zu erleiden gehabt, aber ein künstlerischer Zweck der Umformung ist nirgends ersichtlich. Schon die oberflächliche Vergleichung muß durchweg zu Gunsten der Cantaten ausfallen. Dort [511] erscheint jedes Stück lebendiger Begeisterung entsprungen, dem poetischen Inhalte voll entsprechend, im Ganzen seinen eigenthümlichen Platz ausfüllend. Hier sind prachtvoll entfaltete Blumen von ihren Stengeln geschnitten und zum verwelklichen Strauß gebunden. In der G moll-Messe hat Bach nicht einmal den tief in der Sache begründeten und damals schon typisch gewordenen Gegensatz zwischen Kyrie und Gloria beobachtet. Das Gloria tritt dem leidenschaftlich erregten Kyrie nicht im strahlenden Weihnachtsglanze entgegen, sondern setzt dasselbe mit dem trüben Gewoge unerfüllter Sehnsucht fort, selbst der imposante Schlußchor verharrt in düsterm Ernst.
Die G dur- und G moll-Messe kann Bach nicht für seine Leipziger Kirchen geschrieben haben, das sieht ein jeder. Da in der Liturgie derselben die Figuralmesse als Ganzes garkeinen Platz hatte, so ist durchaus unerfindlich, was ihn hätte bewegen können, aus einigen seiner schönsten Cantaten zwei fragwürdige Werke zusammen zu plündern, um sie der Gemeinde gelegentlich in unwirksamen Fragmenten vorzusetzen. Diese Messen müssen für außerhalb bestimmt gewesen sein, und Dresden ist der Ort, an welchen man zunächst denkt. Dürfen wir die G moll-Messe mit der andern ungefähr in dieselbe Zeit setzen, so möchte Bach beabsichtigt haben, durch deren Einreichung sich als Hofcomponist erkenntlich zu beweisen und zugleich wegen seiner augenblicklichen Nothlage zu Leipzig in Erinnerung zu halten. Die offenbar eilig zusammengeschriebenen Werke deuten auf Mangel an Zeit und Stimmung zu urkräftigem Schaffen. Ähnliches verräth theilweise die ebenfalls um 1737 geschriebene A dur-Messe.
Auch hier ist mit Ausnahme der Fis moll-Arie das ganze Gloria nachweislich aus Cantatentheilen zusammengesetzt,18 und ich zweifle nicht, daß auch die genannte Arie irgendwo anders ihre eigentliche Heimath hat. Das Urtheil über diese Compilation kann nicht viel günstiger lauten, als bei den andern beiden Messen. Daß für Bach keine Aufgabe zu schwer war, zeigt der erste Abschnitt. [512] Um den Originalsatz brauchbar zu machen mußte theils in Instrumentalpartien ein vierstimmiger Chor neu hineincomponirt, theils auch ein Singbass zu einem vollstimmigen Chor ausgebaut werden. In ungezwungenster Weise ist dieses zu Stande gebracht, aber die wunderherrliche Poesie des Originals (»Friede sei mit euch« aus der Cantate »Halt im Gedächtniß Jesum Christ«) doch fast gänzlich zerstört. Die Sologesänge sind manchmal durch Meisterzüge belebt, gerundet und erweitert und allerdings ihrem Zwecke nirgends widersprechend, der Schlußchor hat Lebendigkeit genug, aber das eigenthümlich Eifrige, das im Original als die Grundstimmung erscheint, mußte bei diesem Texte verwischt werden. Noch tiefer in den Schatten tritt das Gloria durch das ihm vorhergehende Kyrie. Nicht wie bei den andern beiden Messen zu einem Satze zusammengeballt, sondern in drei Abschnitte sachgemäß zerlegt zeichnet es zuerst das Bild eines einfältig und schüchtern, aber innig flehenden Gemüths. Der zweite Abschnitt, das Christe eleison, zeigt freieste und strengste Form mit genialer Kühnheit verschmolzen; es ist ein canonischer Chor recitativischen Charakters.19 Canonisch, aber formell gefestigter entwickelt sich auch der letzte Abschnitt. Beide prägen die Empfindung rathlosen Schwankens und leidenschaftlicher Erlösungssehnsucht aus, doch in den Gränzen, welche der erste Abschnitt gezogen hatte. Viel trägt zur Erreichung dieser Wirkung die Art der Canonik bei: da die Stimmen einander immer in gleich großen Intervallen – Abständen (Quarten oder Quinten) nachgehen, so entfernt sich die Modulation mehr und mehr von ihrem Ausgangspunkte, um dann durch eine rasche Wendung wieder in die Bahn zurückgelenkt zu werden. Das Gefühl einer Grundtonart wird hierdurch dem Hörer, und in besonders merklicher Weise im letzten Abschnitte entzogen.20 Es giebt kein Stück Bachs, [513] in welchem Tiefsinn und Wohllaut einen innigem Bund geschlossen hätten. Als Gesammtwerk wird die Messe ihre richtige Beleuchtung erst erhalten, wenn auch über die letzte, F dur, gesprochen ist.
Beim Gloria wieder ziemlich dasselbe Verhältniß. Als Nicht-Originale sind nachzuweisen der Schlußchor, die Arien für Alt und Sopran.21 Unfraglich gehört zu ihnen aber auch der Anfangschor. Allein schon der arienartige Bau verräth es, dessen Wiederholungstheil ganz gegen Herkommen und Sinn der Form mit einem andern Texte auftritt. Daß der Hauptgedanke (die ersten 16 Takte) in einer dreitheiligen Disposition nicht weniger als fünfmal, ein Mittelgedanke (Takt 101–118) nicht weniger als dreimal vorkommen, auch das ist sonst nicht Bachs Art. Diesem Chor glaubt man förmlich die Nähte anzusehen, wenn er auch äußerlich geschlossen und durch seine Lebhaftigkeit fortreißend dahinrauscht.22 Die allein übrigbleibende Bassarie dürfte denn wohl unter all diesen entlehnten Stücken keine Ausnahme machen. Dagegen aber das Kyrie. Ausdrucksvolle, gemessen bewegte Fugensätze entwickeln den Text in drei Abschnitten. Ein Hauptthema durchzieht sie, es tritt im zweiten Abschnitte in einer Gestalt auf, welche durch das Mittel freier Gegenbewegung gefunden ist, für den dritten ist nur sein zweiter Theil durch dieses Mittel umgebildet, während das so gewonnene neue Ganze wiederum in vollständiger Gegenbewegung beantwortet wird. Indessen dieses in den drei oberen Stimmen vor sich geht, bringt der Singbass als Cantus firmus das Kyrie eleison! Christe eleison! Kyrie eleison! der Litanei. Hörner und Oboen aber blasen dazu als zweiten Cantus firmus den Choral »Christe, du Lamm Gottes«, nur das »Amen« desselben etwas verändert und in andrer Tonlage, damit in der Grundtonart abgeschlossen werden konnte. Eine protestantische Kirchenmelodie der Composition des Messentextes einfügen war zu jener Zeit nichts seltenes. Ernst Bach versuchte es mit dem Choral »Es woll uns Gott genädig sein«23, Zachau [514] mit dem Osterliede »Christ lag in Todesbanden«24, Kuhnau mit der Pfingstmelodie Veni sancte Spiritus, ein Ungenannter mit dem Adventshymnus Veni redemptor gentium, und Telemann schrieb nicht weniger als fünf Kyrie über verschiedene fröhliche und traurige protestantische Gesänge.25 Ein musikalisch vortreffliches Stück ist Nikolaus Bachs E moll-Messe, deren Gloria mit dem Choral »Allein Gott in der Höh« combinirt wird;26 hier decken sich Messentext und Choral hinsichtlich ihrer kirchlichen Bestimmungen eben so, wie bei Sebastian Bach, aber ein äußerlich und innerlich organisches Ganze konnte doch nur dieser schaffen, weil auch die Weisen, in die er den lateinischen Messentext faßte, ganz nur protestantischen Geist athmen.27 Das Kyrie der F dur-Messe gehört zu seinen tiefstempfundenen und ergreifendsten Stücken und überragt auch das Kyrie der A dur-Messe durch eine wahrhaft monumentale Bedeutung, welche den Protestantismus nicht als den Gegensatz katholischer Kirchlichkeit erscheinen läßt, sondern als deren Fortbildung und vergeistigte Blüthe. Natürlich kann dieses Werk mit seinem protestantischen Choral für keinen katholischen Gottesdienst geschrieben worden sein. Seine tiefsten Beziehungen und somit den Weg zu seinem vollen Verständniß haben wir aber noch nicht gezeigt. DerCantus firmus des Singbasses ist nicht das gewöhnliche Kyrie dominicale, sondern das Kyrie der Litanei, und nicht das einleitende, sondern das abschließende:
Ihm unmittellbar vorher geht in der Litanei die Anrufung des Erlösers: »O du Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt, erbarm dich über uns [zweimal]. O du Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt, verleih uns steten Fried«. Also eben das, was der obere Cantus firmus enthält. Durch die beiden Schlußgedanken der Litanei hat Bach seinen Messensatz umschlingen und tragen lassen.
Es gab nur zwei Zeiten des Kirchenjahres, zu welchen in Leipzig die Litanei gesungen wurde: die Fasten- und Advent-Zeit.29 Da während der Fasten und an den drei letzten Adventsonntagen keine concertirende Musik gemacht wurde, so enthält die Composition in sich den unwiderleglichen Beweis, daß sie für einen ersten Adventsonntag bestimmt gewesen ist. Sinnvoll bereitete sie die Gemeinde vor auf das demüthige Gebet um Erlösung, welches nach Verlesung der Epistel unter ihrer eignen Betheiligung angestimmt und dann allsonntäglich wiederholt werden sollte, bis das Weihnachtsfest die Erhörung des Gebetes brachte.
War das Kyrie der F dur-Messe für die protestantische Liturgie Leipzigs geschrieben, so muß ihr auch das Gloria haben dienen sollen. Und hier ist jedenfalls das schon oben bezeichnete religiöskünstlerische Motiv in Bach wirksam geworden. Wer sich einmal so tief auf den in der Liturgie der Adventszeit waltenden Sinn eingelassen hatte, wie Bach in diesem Musikstücke, der mußte der Vorbereitung auch die Erfüllung folgen lassen. Er mußte die tiefgedrückte Empfindung zur Freude erheben und die zerknirschten Sünder durch die Verkündigung des Heils beglücken. Diesem Zuge hat er nachgegeben und dem Kyrie des ersten Advents das Gloria als Hauptmusik des ersten Weihnachtstages hinzugefügt. Wenn ihn auch die musikalische Aufgabe im besondern nicht sehr reizte, da er eine deutsche Weihnachtsmusik höher schätzen mußte, so daß er das Gloria lieber aus ältern Compositionen überarbeitend zusammenschrieb, [516] so ist doch einzuräumen, daß er, von der Weitläufigkeit des ersten Chors abgesehen, ein Gloria geliefert hat, welches die der andern kurzen Messen bedeutend übertrifft. Jene Gewaltsamkeiten kommen hier nicht vor. Die umzuarbeitenden Compositionen, soweit wir sie kennen, sind rücksichtsvoller ausgewählt. Der letzte Chor ganz besonders, er ist auch in seiner Originalgestalt ein Weihnachtschor: »Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, daß er die Werke des Teufels zerstöre.«30 Diese sinnvolle Wahl ist ein neuer Beweis dafür, daß das Gloria als Weihnachtsmusik gelten sollte. Abgesehen von dem gekürzten Anfange und noch einigen geringeren Änderungen ist der lateinische Chor nur eine getreue Reproduction des Originals unter etwas veränderten Umständen; auch seine poetische Bedeutung konnte im ganzen gewahrt bleiben. Nicht möglich war dieses bei der Arie »Quoniam tu solus«, aus ihr wurde nur ein neutrales Musikstück, das aber nach Tilgung der malerischesten Züge der Urform doch seinem Zwecke nirgends widerspricht. So wie Kyrie und Gloria der F dur-Messe jetzt vorliegen, sind sie als ein Ganzes gedacht. Dies geht auch aus dem letzten Worte des vom Basse vorgetragenen Cantus firmus hervor. Nicht Amen läßt Bach hier singen, wie es der kirchliche Gebrauch vorschrieb, sondern er wiederholt eleison. Jenes konnte nur statt haben, wenn mit dem Kyrie die Kunstidee abschließende Gestalt gewonnen haben sollte. Bei der Aufführung am 1. Adventsonntage ist es auch gesungen worden31, als aber durch das Gloria die Idee fortgesetzt wurde, mußte das Amen weichen, um erst am Ende des ganzen Werkes den ihm zukommenden Platz zu finden.
Blicken wir nun zurück auf die A dur-Messe, so erhellt daß sie nach Inhalt und Absicht zwischen der F dur-einerseits, und zwischen den G dur- und G moll-Messen andrerseits eine Mittelstellung einnimmt. Ein enges Verknüpftsein mit dem protestantischen Cultus läßt sich an ihr nicht entdecken. Aber die tiefsinnige und liebevolle Ausgestaltung des originalen Kyrie im Gegensatze zu dem compilirten Gloria macht es wahrscheinlich, daß auch dieses Kyrie zunächst für die protestantische Liturgie gedacht war. Verwenden[517] ließ es sich freilich auch im katholischen Gottesdienst. Ob nun das Gloria demselben Bedürfniß entsprang, wie das der F dur-Messe, oder nur hinzugefügt wurde um für den katholischen Cultus etwas vollständiges zu liefern, bleibt eine offene Frage. Daß die Messe als Ganzes demselben Zwecke dienen sollte, wie die Messen in G dur und G moll, läßt die gleiche Entstehungszeit vermuthen.32
Alle diese Werke aber, und auch die F dur-Messe stellen sich nur als schwächere Nachwüchse einesKyrie und Gloria dar, welche später einen Theil der H moll-Messe bilden sollten, der einzigen großen und ganz vollständigen, welche Bach geschrieben hat. Die frühere Entstehung dieses Kyrie und Gloria ergiebt sich uns aus einer Stelle des Domine Deus, mit welcher die in Leipzig übliche Liturgie von dem kanonischen Text der katholischen Kirche abwich. In Leipzig wurde gesungen: Domine Deus rex coelestis, Deus Pater omnipotens. Domine Fili unigenite, Jesu Christe altissime.33 Das Wort altissime ist eingeschoben; der katholischen Kirche war es fremd und auch sonst hat man es, soweit ich sehen kann, nirgends gesungen. In der H moll-Messe ist Bach dem Leipziger Brauche noch gefolgt; als er dann aber mit der katholischen Messe näher vertraut geworden war, hat er in den andern Werken dieser Gattung das Wort fortgelassen. Als der König-Churfürst Friedrich August II. am 1. Februar 1733 gestorben war, beschloß Bach dem Nachfolger seine Ergebenheit zu beweisen und zur Erhöhung seines Ansehens bei den Leipziger Behörden mit dem Hofe in nähere Verbindung zu treten. Deshalb componirte er die beiden Messensätze und überreichte sie unter dem 27. Juli 1733 in Dresden selbst. Das Begleitschreiben ist bekannt, darf aber hier nicht fehlen.
»Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrich Augusto, Königlichen Prinzen in Pohlen und Litthauen, Herzogen zu Sachsen« u.s.w. »Meinem gnädigsten Herrn.
Durchlauchtigster Churfürst,
Gnädigster Herr.
Ew. Königlichen Hoheit überreiche in tiefsterDevotion gegenwärtige [518] geringe Arbeit von derjenigen Wissenschaft, welche ich in der Musique erlanget, mit ganz untertänigster Bitte, Sie wollen dieselbe nicht nach der schlechten Composition, sondern nach Dero Welt berühmten Clemenz mit gnädigsten Augen anzusehen und mich darbey in Dero mächtigste Protection zu nehmen geruhen. Ich habe einige Jahre und bis daher bey den beyden Haupt-Kirchen in Leipzig das Directorium in der Music gehabt, darbey aber ein und andere Bekränckung unverschuldeterweise auch iezuweilen eine Verminderung derer mit dieser Function verknüpfften Accidentien empfinden müssen, welches aber gänzlich nachbleiben möchte, daferne Ew. Königliche Hoheit mir die Gnade erweisen und ein Praedicat von Dero Hoff-Capelle conferiren, und deswegen zur Ertheilung eines Decrets, gehörigen Orts hohen Befehl ergehen lassen würden; Solche gnädigste Gewehrung meines demüthigsten Bittens wird mich zu unendlicher Verehrung verbinden und ich offerire mich in schuldigsten Gehorsam, iedesmal auf Ew. Königlichen Hoheit gnädigstes Verlangen, inComponirung der Kirchen Musique sowohl als zumOrchestre meinen unermüdeten Fleiß zu erweisen, und meine ganzen Kräffte zu Dero Dienste zu widmen, in unaufhörlicher Treue verharrend Ew. Königlichen Hoheit unterthänigst-gehorsamster Knecht
Der Wunsch dem Hofe sich dienstwillig zu zeigen ist für Bach die äußere Veranlassung geworden, sich mit dem Gedanken an die Schaffung einer vollständigen Messe zu befassen. Kyrie und Gloria sind diesesmal offenbar in einem Gusse entstanden und von Anfang an als zusammengehörig gedacht gewesen. Es geht das schon aus dem Tonarten-Plan hervor, nach welchem der letzte Satz des Kyrie nicht in die H moll-, sondern in die Fis moll-Tonart gesetzt ist, um das Gefühl eines vollen Abschlusses und, da im Gloria noch zwei Sätze in H moll stehen sollten, auch die Einförmigkeit zu vermeiden. Auch daß das ersteKyrie fünfstimmig, das letzte nur vierstimmig ist, erscheint in dieser Hinsicht bedeutsam.35 Die übrigen Theile: [519] Credo, Sanctus, Osanna bis Dona sind vereinzelt nach und nach entstanden. Es ist nicht ganz sicher, daß das Credo später componirt wurde, als die ersten beiden Theile; will man einem gewissen Anzeichen unbedingt vertrauen, so wäre es schon in die Zeit 1731–1732 zu setzen. Da indessen die Bedürfnisse der Leipziger Liturgie eine Composition des Credo nicht nahe legten, bleibt doch die Wahrscheinlichkeit bestehen, daß Bach diesen Theil erst componirte, nachdem ihm der Gedanke eine ganze Messe zu machen durch den großartigen Wurf, den er mit demKyrie und Gloria gethan hatte, feststehend geworden war. Das Sanctus wurde vermuthlich 1735 geschrieben, sicher nicht früher, und auch nicht später als 1737. Da alsdann für den fast ganz aus Überarbeitungen bestehenden Rest keine große Mühe mehr aufgewendet wurde, und es Bach gedrängt zu haben scheint, das Werk abzuschließen, so darf man das Jahr 1738 als die äußerste Gränze bezeichnen, bis zu welcher Bachs Arbeit an der H moll-Messe reicht.36
Darauf daß Bach auch die letzten drei Theile der H moll-Messe dem Hofe eingereicht habe, deutet nicht das leiseste Anzeichen. Und die ersten beiden sind, wenn man aus der Beschaffenheit der noch jetzt in der königlichen Musikaliensammlung befindlichen Stimmen schließen darf, in Dresden niemals aufgeführt worden. Für die katholische Kirche machte sie schon ihre ungewöhnliche Ausdehnung unbrauchbar. Zweifellos hat Bach das selbst gewußt und auf eine Aufführung dort garnicht gerechnet. Ein so durchaus praktischer Musiker wie er schreibt aber nichts, und am wenigsten ein solches Riesenwerk, um es klanglos im Pulte zu begraben. Er hat dasselbe für die Thomas- und Nikolai-Kirche in Leipzig bestimmt und jedenfalls dort auch aufgeführt, nur freilich nicht als Ganzes, sondern in Stücken. Nachgewiesen kann dieses werden am Gloria und Sanctus nebst allen noch nachfolgenden Sätzen. Ersteres existirt noch einmal in einer um 1740 geschriebenen Partitur mit dem [520] ausdrücklichen Beisatz »Am Feste der Geburt Christi«.37 Bach muß indessen gefunden haben, daß das ganze Gloria für die beabsichtigte Aufführung zu Weihnachten nicht geeignet sei. Er hat eine Überarbeitung gemacht, welche sich auf den ersten und letzten Chor und das zwischen ihnen stehende Duett beschränkt. Der Text des ersten Chors ist derselbe geblieben, dem Duett, das mit dem 74. Takt der Originalgestalt abschließt, hat er die Worte der kleinen Doxologie untergelegt: Gloria patri et filio et spiritui sancto, dem Schlußchor den Rest der Doxologie:Sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum. Amen; zu diesem Zwecke mußten die Anfangstakte verändert werden. Es wird durch die Überarbeitung aber nicht ausgeschlossen, daß Bach gelegentlich selbst das ganze Gloria als eine Haupt-Kirchenmusik aufgeführt hat. Auch das Sanctus ist als Weihnachtsmusik benutzt, ja ursprünglich als solche componirt, wobei allerdings der grandiose Wuchs desselben durch den Gesammtcharakter der Messe mitbestimmt sein dürfte, welcher es als Theil angehören sollte. In der Leipziger Liturgie hatte, wie schon erwähnt ist, das figurale Sanctus seinen festen Platz. Es schloß an den drei hohen Festen die der Communion vorhergehende Präfation ab. Bach hat zu diesem Behuf noch mehre andre Sanctus gemacht, deren eines gelegentlich des Weihnachtsfestes 1723 schon erwähnt worden ist.38 Das bedeutendste unter ihnen, ebenfalls während der ersten Leipziger Jahre entstanden, steht in D dur: ein Stück voll feierlicher Begeisterung über hinreißend schönen Themen aufgebaut und von den schwebenden Violinen seraphisch überschimmert.39 Alle diese Stücke sind ziemlich knapp gefaßt und eben [521] nur als Schlußact der Präfation gedacht, das Osanna und Benedictus fehlt ihnen. Mit seinen gewaltigen Verhältnissen ist das Sanctus der H moll-Messe allerdings über den Rahmen der herkömmlichen Liturgie etwas hinausgewachsen. Daß es trotzdem für die Präfation an einem der hohen Feste ursprünglich componirt worden ist, wird klar durch den Umstand bewiesen, daß auch von ihm das Osanna und Benedictus ausgeschlossen sind.40 Diese hat Bach mit dem Agnus vereinigt, eine Thatsache, welche für die Verwendung der letzten vier Stücke der Messe einen nicht zu verkennenden Wink giebt. Man wolle sich erinnern, daß während der Communion an den hohen Festen immer noch Figuralmusik gemacht wurde.41 Hier fand ein Agnus seinen natürlichsten Platz, und hat nachweislich denselben auch später noch behauptet. Eine Communion-Musik aber mit dem Osanna beginnen ging nur an, wenn das Sanctus vorhergegangen war. Bach hat also beide Abschnitte während eines und desselben Gottesdienstes aufgeführt, so zwar daß mit dem Sanctus die Präfation endigte, dann die Einsetzungsworte recitirt wurden und nun, während der Abendmahls-Spendung, das Osanna, Benedictus, Agnus und Dona als zusammenhängendes Ganze musicirt wurden. Zu lang für die übliche Liturgie am Reformationsfeste und ersten Adventsonntage war das Kyrie der H moll-Messe, welches allein schon die Zeitdauer einer mäßig großen Kirchencantate in Anspruch nimmt. Als Hauptmusik aber kann es beispielsweise am Sonntage Estomihi, von wo ab die Fastenzeit beginnt, aufgeführt worden sein. Für eine Aufführung des Credo mußte vor allem das Trinitatis-Fest mit seinem dogmatischen Charakter geeignet erscheinen, was, wie oben gezeigt ist, durch eine spätere Praxis bestätigt wird. Jedoch darf man auch an die Aposteltage denken, weil an diesen nach der Recitation des Evangeliums das vollständige nicänische Glaubensbekenntniß choralisch gesungen wurde, woran das figurale Credo sich passend anknüpfen ließ. Selbständige Festgottesdienste gab es übrigens für [522] die Aposteltage damals nicht mehr; sie wurden mit den nächstgelegenen Sonntagen vereinigt.42
Wenn auch in Dresden nichts von der H moll-Messe aufgeführt sein mag, so blieb sie doch schon zu Bachs Lebzeiten auswärtigen Kreisen nicht fremd. Wir wissen, daß er das Sanctus dem Grafen Sporck übersandt hat. Franz Anton Reichsgraf von Sporck, geboren 1662 zu Lissa in Böhmen und seiner Zeit Statthalter dieses Landes, war ein Mann von seltener Bildung, vielseitigen Interessen und großem Reichthum. Seine Verdienste um die Musik sind hervorragend. Er ließ heimische Tonkünstler in Italien ausbilden und war der erste, welcher die italiänische Oper nach Böhmen zog; als in Frankreich das Waldhorn erfunden war, ließ er zwei seiner Diener die neue Kunst erlernen und verpflanzte dieselbe so nach Deutschland. Eine edle christliche Gesinnung bethätigte er durch großartige Wohlthätigkeit und gemeinnützige Einrichtungen. Er war Katholik, aber von einer seiner Zeit widersprechenden Freiheit und Weite der religiösen Anschauungen. Von der Geistlichkeit hatte er zu leiden, da er die alleinseligmachende Kraft der katholischen Kirche nicht anerkennen wollte, sondern die verschiedenen Religionsformen neben einander gelten ließ: alles Heil nur in Christo zu suchen, nach seinem Gebote Gott und den Nächsten zu lieben, darauf komme es an; wer dieses thue werde selig werden, gleichviel in welcher Religionsgemeinschaft er lebe. Er hatte in Lissa eine Buchdruckerei eingerichtet, mittelst welcher er religiöse Schriften verbreitete, die zum Theil von seinen Töchtern aus dem Französischen übersetzt wurden.43 Zu den Künstlern und Gelehrten Leipzigs stand er seit längerem im Verhältniß. Picander widmete ihm 1725 seine poetischen Erstlinge auf religiösem Gebiet, die »Sammlung erbaulicher Gedanken«; in einem Widmungsgedicht hat er den »frommen Grafen Sporck« selber angesungen. Graf Sporck starb hochbejahrt am 30. März 1738 auf seiner Herrschaft zu Lissa.44 Die Bekanntschaft [523] mit dem Bachschen Messensatze fällt also in seine späteste Lebenszeit.
Die Erwähnung dieses Kunstmäcens leitet uns hinüber zur Betrachtung des inneren Wesens der H moll-Messe und des Geistes, aus welchem sie geschaffen ist. Äußerlich angeregt durch den katholischen Cultus schrieb Bach das Werk doch mit Hinblick auf den protestantischen Gottesdienst der Thomas- und Nikolai-Kirche. Er nahm die von der katholischen Kirche festgestellte Form im ganzen und großen an. Die schon jetzt typisch gewordenen Ausdrucksweisen für die einzelnen Theile der Messe: der in sich versenkte Ernst des Kyrie, die jubelnde Bewegtheit des Gloria, die kraftvolle Zuversicht des Credo und feierliche Pracht des Sanctus sind von ihm beibehalten wenn auch im hohen Grade vergeistigt worden. In den Chören des Credo tritt eine seinen Kirchencantaten fremde Weise der Polyphonie hervor: ein Wirken durch breite und einfache Melodiezüge, die Künste der thematischen Vergrößerung und verwickelteren Engführung des Cantus firmus, die Entlehnung desselben nicht aus dem Gemeindelied, sondern vom Priestergesange. Die Zerlegung der großen Abschnitte in viele selbständige Stücke, die Benutzung der Arie und des Duetts – was alles unter dem Einflüsse der Oper in Italien sich während des 17. Jahrhunderts ausgebildet hatte, findet sich auch bei Bach. Doch aber wollte und konnte er seinen protestantischen Stil nicht verleugnen. Auf der festen Grundlage der deutschen Orgelmusik unter emsiger Umsicht nach allen lebenswerthen andern Formen geschaffen, zeigte dieser sich fähig, auch dasjenige unbeschadet in sich aufzunehmen, was die H moll-Messe von Bachs übriger Kirchenmusik unterscheidet. Wo es die protestantische Liturgie gebot, ist Bach sogar von den Grundlinien der katholischen Messe abgewichen. Die H moll-Messe haftet also kaum weniger im Protestantismus als Bachs übrige Kirchenmusik, aber sie streckt ihre Wurzeln tiefer. Aus dem Schooße der katholischen Kirche hatte sich Luthers gereinigte Lehre hervorgehoben. Durch unbegründete Ansprüche der Mutterkirche, welche mit ihrem Urgehalte nichts gemein haben, war der Protestantismus gezwungen worden, um seine Stellung gegen sie zu kämpfen. Fürstenpolitik und Gegensätze der Nationen und Stämme hatten eine Feindseligkeit hervorgerufen, die zu dem entsetzlichsten aller Religionskriege [524] führte, und auch im 18. Jahrhundert noch eine tiefe Erbitterung in den Gemüthern fortdauern ließ. Nirgends war sie protestantischerseits stärker und verhärteter als in Sachsen. Und grade in Sachsen sollte das Kunstwerk entstehen, welches den Protestantismus nicht als Gegensatz des katholischen Wesens erscheinen ließ, sondern nur als eine nothwendige Weiterbildung desselben auf gleicher Grundlage. An der H moll-Messe wird offenbar, wie unermeßlich viel weiter und tiefer Bachs kirchliches Empfinden war, als das seiner Zeit. In ihm lebte der Geist des Reformationszeitalters mit all seiner Streitfreudigkeit und Gefühlsinnigkeit, aber auch mit seiner ganzen umfassenden Kraft. Als Luther sich erhob, war von allen Gebildeten und Aufrichtigen die Notwendigkeit einer Verinnerlichung des Kirchenthums, einer Neugestaltung desselben an Haupt und Gliedern anerkannt. Die edleren Geister, auch wenn sie nicht zum Protestantismus übertraten, waren im Grunde doch mit Luther eines Sinnes. Fast ganz Deutschland zeigte sich anfänglich der neuen Lehre zugethan, ja in dem gesammten gebildeten Europa lebten ihr zahlreiche Anhänger. Auch stand den Reformatoren ein Bruch mit der katholischen Kirche fern. Sie nahmen das nicänische Glaubensbekenntniß in die symbolischen Bücher auf, und mit ihm dasCredo unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam, zum Zeichen ihrer Glaubensgemeinschaft mit dem echten Katholicismus. Aber diese hohe Auffassung des Reformationswerkes war freilich 200 Jahre später nicht mehr zu finden. Zu Bachs Zeit lebte in den Orthodoxen wohl noch der alte, wenngleich bornirt gewordene Kampfesmuth, in den Pietisten die innige religiöse Empfindung; das Gefühl von der historischen Bedingtheit des Protestantismus, von seinem innern Zusammenhange mit der katholischen Kirche hatte kaum einer mehr. Der Musik war es vorbehalten, alles dieses in einem unsterblichen Kunstwerke der Welt noch einmal vereinigt zu zeigen und – wie eine ernste aber kaum mehr verständliche Mahnung – in denselben deutschen Landen, von welchen der gewaltigste Anstoß zur Reformation seinen Ausgang genommen hatte. Damals war die Tonkunst zur Widerspiegelung des vollen neuen Ideengehaltes der Zeit noch nicht geeignet gewesen. Was von protestantischer Musik Bedeutung erlangte, zeigt in einer nur äußerlichen Abwandlung Kunstformen, welche nicht in dem Leben von damals, sondern im späteren Mittelalter [525] wurzelten. Daß die Musik unter allen Künsten die längste Zeit gebraucht, um für den Ausdruck neuer Culturgewalten verwendbar zu werden, sollte sich abermals zeigen. Ebenso wie Händels Musik, ja wie die des ganzen 18. Jahrhunderts, ruht auch diejenige Bachs noch auf dem Zeitalter der Renaissance. Er war berufen, das objectivste, weil zeitlich entfernte, das reinste und verklärteste Bild von dem kirchlich reformatorischen Geiste jener großen Epoche in seiner H moll-Messe zu geben.
Nur in Stücken erweist sie sich durch die protestantische Liturgie bedingt. Ja, allein dem Sanctus undAgnus ist durch diese eine besondere Form aufgenöthigt. Gloria, Kyrie und vollends Credo stehen mit ihr nur in einem losen, mehr willkürlichen Zusammenhange. Die Gestaltung des ganzen Werkes aber ging lediglich von dem persönlichen Willen Bachs aus, welcher in der protestantischen Liturgie nur die Trümmer eines großartigen liturgischen Kunstwerkes fand, das einer Erneuerung im Geiste der Reformation eben so zugänglich wie würdig sei. Mehr als jedes andre Werk ist dieses der freie Ausdruck seiner mächtigen Individualität, aber einer Individualität, die aus dem kirchlichen Leben bis von dessen Urgrunde her ihre Nahrung gesogen hatte. Von der protestantischen Kirche seiner Zeit stellt sich die H moll-Messe unabhängiger hin, als die Cantaten und Mysterien. Wenn auch die Matthäuspassion zu einem Umfange ausgewachsen ist, welcher den Gottesdienst der Charfreitagsvesper fast als Nebensache erscheinen läßt, die Verbindung mit ihm ist doch thatsächlich und, wäre es auch nur der Choräle wegen, zum Verständniß nothwendig. In der H moll-Messe hat sich Bach jeder Verwendung des Gemeindelieds enthalten, obschon für einen jeden Theil der Messe ein solches vorhanden war. Kein bestimmter Sonn- oder Festtag, keine kirchliche Feier dient ihr zur Voraussetzung. Dennoch giebt es kein Werk, das dem echten protestantischen Geiste mehr Genüge thäte. Aber wenn Bach einmal auf den Urgrund der Liturgie zurückgehen wollte, dann mußte der Tiefe des Fundaments auch die Höhe des Aufbaus entsprechen; er konnte das Gebäude nicht in den damaligen Protestantismus als Spitze auslaufen lassen, sondern mußte ihn überwölben. Mit dieser That wendet sich der freie protestantische Künstler an die »eine heilige allgemeine christliche Kirche«; wer irgend von deren Wesen noch [526] etwas weiß und in sich lebendig erhalten hat, kann sein Werk verstehen.
Wenn auch in der H moll-Messe sich einzelne Theile als Überarbeitungen aus Cantaten zu erkennen geben, so weist doch Wesen und Zweck des ganzen Werkes von vornherein die Vermuthung zurück, als sei dieses aus Bequemlichkeit öder nothgedrungener Eile geschehen. Die Vergleichung der Überarbeitungen mit den Urbildern zeigt auch, daß Bach sorgfältig nur solche Stücke auswählte, deren poetischer Gehalt mit den neu unterzulegenden Worten übereinstimmte. Im Gloria wird der Satz: Gratias agimus tibi propter magnam gloriam tuam (Wir danken dir wegen deiner großen Herrlichkeit) durch einen Chor gebildet, dessen deutsche Worte waren: Wir danken dir Gott, wir danken dir und verkündigen deine Wunder.45 In demselben Messentheile liegt dem Chor: Qui tollis peccata mundi miserere nobis, suscipe deprecationem nostram (Der du trägst die Sünde der Welt erbarme dich unser, übernimm unsere Fürbitte bei Gott) der erste Abschnitt des Eingangschors einer Cantate zu Grunde, dessen Worte lauten: Schauet doch und sehet, ob irgend ein Schmerz sei, wie mein Schmerz, der mich troffen hat.46 Der verdeutschte Text des zweiten Chors im Credo ist: Ich glaube an einen allmächtigen Vater, den Schöpfer Himmels und der Erde, alles sichtbaren und unsichtbaren; der Text seines Urbildes: Gott wie dein Name so ist auch dein Ruhm bis an der Welt Ende.47 Das Crucifixus (Gekreuzigt ist er auch für uns unter Pontius Pilatus, er hat gelitten und ist begraben) erneuert den Cantatenchor: Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen, Angst und Noth sind der Christen Thränenbrod, Die das Zeichen Jesu tragen.48. Alle diese Sätze sind Edelsteine, die in eine neue Umgebung gebracht theils selber glänzender erscheinen, theils ein großartigeres Ganze kostbarer zu machen helfen. Völlig unverändert hat Bach keinen gelassen, wenn sie auch eine Neugestaltung von Grund aus nicht erfahren haben. Oft sind sie durch kleine Züge noch charakteristischer gestaltet: das Crucifixus durch den bebenden Baß und die Schlußmodulation, das Qui tollis durch Abdämpfung des Klanges mittelst Weglassung der verstärkenden[527] Blasinstrumente. Der Chor »Gott wie dein Name« scheint auf seine Verwendung zum Patrem omnipotentem gradezu gewartet zu haben: die kleine Umänderung des Themas, welche der lateinische Text nöthig machte, hat dessen nervigen Wuchs erst ganz offenbart, der Rhythmus der Messenworte fügt sich besser zu der Melodie, als derjenige des deutschen Bibelspruchs. Außer den genannten sind nur noch zwei Sätze nicht völlig Originalcompositionen. Sie unterliegen einer etwas andern Beurtheilung. Das Agnus stützt sich auf die Alt-Arie des Himmelfahrts-Oratoriums »Ach bleibe doch, mein liebstes Leben«;49 doch ist nur eine längere Periode derselben benutzt und im übrigen ein ganz neues Stück gestaltet. Das Osanna kommt als Anfang der weltlichen Cantate »Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen« vor.50 Da aber auch jener Eingangschor keine Originalarbeit sein wird, vielmehr starke Spuren des Arrangements an sich trägt, und dem eigentlichen Original ferner stehen dürfte, als das Osanna, so läßt sich in diesem Falle über das Verhältniß zwischen Übertragung und Urbild nichts sagen.
Unter den 26 Musikstücken, in welche die H moll-Messe sich zerlegt, sind 6 Arien und 3 Duette. Recitative, welche die katholische Kirchenmusik nicht zuließ, und die bei der gewichtigen Allgemeingültigkeit des Textes auch dem Protestanten unpassend erscheinen mußten, fehlen. Die übrigen 17 Stücke sind vier-, fünf-, sechs- und doppelt vierstimmige Chöre. Im Übergewicht ist die Fünfstimmigkeit; nur die überarbeiteten Chöre und das anfänglich selbständige Sanctus zeigen sie nicht, außerdem das zweite Kyrie, welches um deswillen vielleicht auch für eine Übertragung angesehen werden könnte. Bach schreibt sonst sehr selten fünfstimmig, hier ist wieder der durch die italiänische Kirchenmusik gegebene Anstoß nicht zu verkennen.
Die Bevorzugung der Chorformen war durch das Wesen der großen Aufgabe gefordert, ergab sich aber auch aus der Beschaffenheit des Textes, welcher subjectiven Empfindungen überall wenig zugänglich ist. Ganz vermeiden ließ sich der Sologesang in einem so kolossalen Werke schon um der Gegensätze willen nicht. Aber daß er noch mehr als sonst bei Bach einen unpersönlichen Charakter [528] annehmen mußte, ist auch zu begreifen. Der innere Widerspruch, den unpersönlicher Einzelgesang immer in sich birgt, kann aber durch das Ganze, welchem er dient, aufgehoben werden. Dieses ist auch in der H moll-Messe der Fall: außer dem Zusammenhange werden diese Arien und Duette weniger Reiz ausüben, als die der Cantaten und Mysterien, aber im fortlaufenden Zuge des Werks erfüllen sie ihren Platz. Das Duett Christe eleison enthält etwas von der vertrauensvolleren und milderen Empfindung des Sünders gegenüber dem göttlichen Mittler, in der Berührung der Unterdominante wird sie schon im ersten Takte des Vorspiels angedeutet. Jene inbrünstige Hingabe an den Heiland, durch welche uns das Agnus Dei ergreift, ist es aber noch nicht, dies verwehrten die umrahmenden Chorsätze. In dem Gedankengange des Gloria-Textes, welcher Christi Ausgang von Gott, sein Wirken und Leiden auf Erden und seine Rückkehr zum Vater verfolgt, hat die ArieLaudamus te den Zweck, zwischen dem hellen Jubel über die Menschwerdung des Gottessohnes und dem feierlichen Dankgebet wegen Gottes Herrlichkeit zu vermitteln. Das Duett Domine geht dann von dem geheimnißvollen Dogma der Einheit von Vater und Sohn aus, auf welchem die Erlösungsmöglichkeit beruht, um sich hernach dem Beruf Christi auf Erden zuzuwenden. Diese dogmatische Anschauung ist der Quell, aus welchem Bach das Tonbild schöpfte, ohne sie kann es nicht verstanden werden. Die mit Sordinen spielenden Violinen und Bratschen, das Pizzicato der Bässe, die phantastisch irrenden Gänge der Flöte stimmen mysteriös. Der musikalische Keim aber, welcher in alle Theile des Stücks sein Leben sendet, ist ein Motiv von vier Noten:
Es ist gewissermaßen das musikalische Symbol jener durch das Dogma gelehrten Einheit, und erweist sich als solches gleich beim Beginn des Gesanges. Die Worte Domine Deus rex coelestis, Deus Pater omnipotens. Domine Fili unigenite, Jesu Christe altissime werden nicht, wie der Messentext sie darbietet, nach einander vorgetragen, sondern der Tenor wendet sich an Gott den Vater, der Sopran, nur einen halben Takt später einsetzend, an Gott den Sohn; [529] beider Melodie, welche sie in Imitation vortragen, ist durch Verlängerung aus obigem Motiv entwickelt, und dieses läßt sich alsbald in seinen ursprünglichen Notenwerthen gleichzeitig vernehmen. Wie sodann das Motiv immer wieder auftaucht, und zwar nicht um sich melodisch weiter zu spinnen, sondern isolirt, abgeschlossen und fest, wie ein Dogma, das ist in Bachs Compositionen eine einzigartige Erscheinung. Nur einen symbolischen Sinn kann auch Takt 42 der absteigende Octavengang der vereinigten Geigen und Bratschen haben, welcher ohne organisch motivirt zu sein ganz unvorhergesehen in einer Bach sonst nicht eignen Weise eintritt. Unter Berücksichtigung des vielfach ähnlichen Duetts Et in unum im Credo dürfte man darin das Medersteigen des Gottes zur Menschheit angedeutet finden.51 Ein menschlicher Affect wird überall nicht ausgedrückt, wie ihn auch die Worte nicht anregen: erst später, als die Betrachtung sich dem Opfertode Christi zuwendet, wird ein solcher bemerkbar. Wollte aber Bach einmal die verschiedenen Messentheile in einer Vielheit von Sätzen entfalten und nicht nur Musik um der Musik willen machen, so blieb ihm nur der Ausweg zu einem solchen tiefsinnigen Tonspiel. Hierfür kam ihm seine theologische Bildung,[530] welche durch Auffindung des Verzeichnisses seiner theologischen Bibliothek erwiesen worden ist, zu Statten. Die Dogmatik unterscheidet ein prophetisches, hohenpriesterliches und königliches Amt Christi. Auf das prophetische Rücksicht zu nehmen gab der Text keinen Anlaß, wohl aber auf das hohenpriesterliche und königliche. Wie bei ersterem wieder unterschieden wird zwischen der Sühne und der Vermittlung (munus satisfactionis und intercessionis), so hat Bach jene durch den Chor Qui tollis, diese durch die Alt-Arie Qui sedes dargestellt, doch beides in enger Verbindung, indem die Tonart dieselbe bleibt, der Chor gegen Ende schon das Suscipe deprecationem hören läßt, und im Halbschluß die Arie vorbereitet. Die Vermittlung erscheint so, in Übereinstimmung mit der Dogmatik, als ein mehr persönlicher Ausfluß des Sühnungswerkes, als eine Anwendung desselben auf den einzelnen Menschen. Der folgenden BassarieQuoniam tu solus sanctus fällt sodann die Darstellung des königlichen Amtes zu, deutlich charakterisirt in dem stolzen Zuge des Hauptgedankens und in dem feierlichen Klange der mit Singbass und Orgel verbundenen zwei Fagotte und Horn. Des Credos Inhalt ist die Darlegung des Wesens der Dreieinigkeit. Hier galt es, die Wesenseinheit des Vaters und Sohnes noch stärker als im Gloria zu betonen. Das DuettEt in unum thut dieses durch die zwischen den Singstimmen wie auch in den Instrumenten hervortretende canonische Führung. Um die Wesenseinheit aber unzweifelhaft zu verdeutlichen läßt Bach jedesmal am Beginn des Hauptsatzes die Stimmen im Canon des Einklangs auftreten und geht erst im zweiten Takte in den Canon der Unterquarte über: so löst sich aus der Einheit das eine beider Wesen zur gesonderten Existenz ab. Die Absicht ist nicht zu verkennen, da die musikalische Anlage von Anfang an den Canon in der Unterquarte gestattet.52 Man darf ohne spitzfindig zu werden noch mehr sagen. Überall wo der Hauptsatz von den Instrumenten gebracht wird, läßt Bach im ersten Takt die letzten Achtel von der vorspielenden Stimme stoßen, von der nachspielenden binden, z.B.:
[531] Die Absicht dieses consequent durchgeführten Verfahrens kann nur sein, die imitirende Stimme schon im Gleichklange durch einen etwas verschiedenen Ausdruck von der andern abzuheben, also selbst hier bereits eine gewisse persönliche Verschiedenheit in der Wesenseinheit anzudeuten. Sinnbildliche Züge finden sich auch sonst noch. Wir finden T. 21–22 und T. 66 jenen musikalisch nicht motivirten abwärts schwebenden Octavengang wieder; da er die Worte et ex patre natum und et incarnatus est begleitet, im letzteren Falle von den Singstimmen secundirt, so wird seine Bedeutung unschwer verstanden. Auch um das descendit de coelis auszudrücken senken sich die Instrumente in der Dominantseptimen-Harmonie durch den Raum dreier Octaven nieder. Bach hat erst später die Worte Et incarnatus est de Spiritu sancto ex Maria virgine et homo factus est in einem besondern Chorsatze ausgeprägt und diesen, wie noch zu sehen ist, der Partitur auf einem einzelnen Blatte eingefügt. Ursprünglich waren die Worte im Duett mit enthalten, und demnach überhaupt die Textvertheilung eine andre gewesen. Diese allein darf man bei Beurtheilung des Stückes berücksichtigen. Die fremdartigen Modulationen am Schluße, welche eine andre Welt zu öffnen scheinen, erklären sich daraus, daß sie eigentlich das Wunder der Wandlung des göttlichen Zustandes in den menschlichen ausdrücken sollten. Durch die spätere Textunterlage hat Bach manches dieser feineren Beziehungen verdunkelt, aber dadurch daß er in Zusammenhange der Partitur trotz des eingeschobenen Chors die erste Wortvertheilung stehen ließ doch wohl andeuten wollen, daß sie auch bei Benutzung des Chorsatzes gesungen werden könne.
Empfindungsvoller und wärmer sind die letzten drei Solostücke. Das Glaubensbekenntniß auf den Heiligen Geist, durch dessen Vermittlung das neue göttliche Leben der Menschheit zuströmt, wird in einer Bassarie abgelegt. Den Sinn der wie milde Frühlingsluft fließenden Melodien faßt man völlig erst, wenn man den in gewissen Pfingstcantaten (wie »Erschallet ihr Lieder«, »Also hat Gott die Welt [532] geliebt«) herrschenden Grundton vergleicht. Das Benedictus ist dem Tenor übertragen; anmuthige Gewinde einer Solovioline53 schlingen sich in den lieblich – ernsten Gesang, der zwischen dem jubelnden Osanna der mächtig andringenden Chormassen eine um so eindringlichere Wirkung thut. Die menschlich am tiefsten ergreifende Weise aber stimmt der Alt im Agnus Dei an. Welcher Art die Empfindung war, die Bach hier ausdrücken wollte, verräth schon die Entlehnung aus dem inbrünstigen Abschiedsgesange des Himmelfahrts-Oratoriums. Das Agnus als Ganzes mußte aber schon deshalb etwas ganz andres werden, weil der Text die Zweitheiligkeit des Musikstückes forderte. Nur ein leiser Anklang an die Form der dreitheiligen Arie ist geblieben, übrigens von den beiden Gedanken, aus denen ein jedes Gesätz sich bildet, der erste ganz neu erfunden, so zwar daß aus langgezogenen Klagetönen sich der Gesang zur leidenschaftlicheren Bitte erhebt.
Wie vereinzelte Niederungen zwischen riesenhaften Bergen, die dem Auge den gliedernden Überblick wohlthuend erleichtern, erscheinen die Sologesänge unter den Chören. Diese sind von einer Übermacht und Größe, die das kleinere, unruhige Geschlecht unserer Tage fast erdrückt. Indem ihnen überall das Wesentliche der großen Aufgabe zufällt, wird ihre Betrachtung den leichtesten Weg durch das Ganze bilden. Der in der Messe enthaltenen liturgischen Grundstoffe sind vier: das Sündenbewußtsein der Menschheit (Kyrie), Christi Versöhnungswerk (Gloria), die von ihm ausgehende christliche Kirche (Credo), das Gedächtnißmahl, in welchem diese ihre Vereinigung mit und in dem Stifter feiert (Sanctus und alles folgende). Was diese in der H moll-Messe zu fünf großen Abschnitten ausgestalteten Stoffe künstlerisch unter einander verbindet, ist nicht die aus der Vorstellung eines feierlichen Hochamtes fließende Gesammtstimmung, welche der katholischen Messe die oberste Einheit giebt. Von einer solchen scenischen Beimischung mußte natürlich die in Bachs Werke waltende Empfindung ganz frei sein. Einzig der zwischen den liturgischen Stoffen bestehende innere Zusammenhang bleibt wirksam; es ist eine ideale Durchlebung der Hauptmomente [533] in der Entwicklung der Christenheit, und zugleich jedes einzelnen Christen, bis zu der realen Feier des heiligen Abendmahls. Selbst diese ist nur halb real, insofern die betreffende Musik mit den übrigen Theilen der Messe als Ganzes gedacht ist, denn als Ganzes kann und soll sie den Gottesdienst nicht wirklich begleiten. Die Abendmahlsmusik bezeichnet aber den hervorspringendsten Punkt, an welchem der wesentliche Unterschied von einer nur geschichtlichen Darstellung des Christenthums erkannt wird. Aus dem überwiegend innerlich geschauten Zusammenhange der Theile und dem hierdurch ermöglichten tieferen Eingehen auf besondere Bezüge einzelner Textabschnitte fließt nun jene Abwandlung der typischen Ausdrucksweisen, welche bei Erwähnung des in der katholischen Messe für Bach gegebenen Kunstvorbildes schon gestreift worden ist. Ein Zug ernster Sammlung läßt sich auch in den katholischenKyrie jener Zeit nicht verkennen. Er neigt sich aber mehr zu dem Charakter einer Einleitung in eine feierliche Ceremonie, und ist als solcher mit der zunehmenden Leichtfertigkeit der katholischen Kirchenmusik flacher und flacher geworden. Bachs Kyrie ist ohne jede Nebenrücksicht aus dem Kern der Sache geschöpft. Die sündenbewußte Menschheit fleht aus ihrer Noth zu Gott um Erbarmen. Über die weitgespannte Absicht des Componisten, ein umfassendes Gebet der ganzen Christenheit darzustellen, benehmen die ungeheuren Verhältnisse des ersten Chors sofort jeden Zweifel. Eine zwölf bis dreizehn Minuten dauernde Fuge entwickelt sich durch 126 Takte langsamen Zeitmaßes in einfachster Gruppirung und Modulationsordnung über ein in Schmerzen wühlendes, unerhört kühnes Thema. Man darf behaupten, daß niemals ein ganz persönlich concipirter Gedanke mit ähnlich andauernder gleichmäßiger Empfindungsstärke festgehalten worden ist. In der Unterwerfung des fast ans Pathologische streifenden Schmerzausdrucks unter den großartig ordnenden Willen des Künstlers liegt eine unvergleichliche Erhabenheit. Sie giebt uns die rechte Grundstimmung für das Werk, hat aber auch im engeren Bereiche des Kyrie-Theiles ihre Bedeutung. Den heilsbedürftigen Zustand der Menschheit, wie ihn das dreifache Kyrie als geschichtlichen symbolisiren soll, verlegt die Kirche in die gesammte vorchristliche Zeit. Wie das erste Kyrie es ausdrückt, so betete das auserwählte Volk von Anbeginn der Sündhaftigkeit dem [534] Retter entgegen. Als die Zeit sich der Erfüllung näherte, wurde die Sehnsucht drängender, leidenschaftlicher: dies darzustellen ist Gegenstand des kürzeren, bewegten, an einigen Stellen (s. T. 9 ff. vom Schlusse) fast wilden Schluß-Kyrie. Jenes ist epischer, dies dramatischer, wenn man die Bezeichnungen gestatten will. An eine nähere Beziehung der einzelnen Sätze zu der dreifachen Persönlichkeit Gottes, die allerdings ja mit dem dreifachen Ausrufe gemeint ist, kann nicht gedacht werden. Die Stellung, welche der Kyrie-Abschnitt im Ganzen haben sollte, verwehrt dies. Das Christe fasse ich vorzugsweise als leichteres musikalisches Mittelglied, was nicht ausschließt – und bei Bachs bekannter Art, sich durch Gelegenheiten künstlerische Motive zuführen zu lassen, am wenigsten – daß sein Charakter durch die Vorstellung des milden Erlösers beeinflußt wurde.
An der Spitze des Gloria-Textes steht der Hymnus angelicus: der biblische Lobgesang der Engel in der Christnacht. Bach hat ihn als eignen Chor behandelt, was nicht stehender Gebrauch der katholischen Messe war. In den Gloria-Compositionen seiner kleinem Messen verarbeitet der erste Chor neben den Worten des Hymnus auch immer noch einige Sätze vom Folgenden. Hier hat Bach das Bibelwort von den späteren dogmatischen Ausführungen getrennt. Wüßte man auch nicht, daß er diesen Chor nach Jahren zu einer Weihnachtsmusik benutzt hat, man würde doch etwas von weihnachtlicher Empfindung durchmerken, dergleichen in den katholischen Messen nicht zu spüren ist. Die Behandlung der Worte Et in terra pax hominibus bonae voluntatis zeigt eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Engelchor des Weihnachts-Oratoriums. Auch der Dreiachteltakt ist charakteristisch für ein Fest, von dem Paul Gerhardt singt: »Fröhlich soll mein Herze springen, Dieser Zeit, Da vor Freud Alle Engel singen«. Wirklich findet sieh die Takt-Art außer in mehren Chören des Weihnachts-Oratoriums auch im Eingangschor der Cantate »Christen, ätzet diesen Tag«.54 Mehr als alles andre entscheidet der Gesammteindruck. Ein Jubel der erlösten Menschheit, für welche der Tag des Heiles erscheint, ist dies weniger, als ein unschuldiges Jauchzen. Allerdings zur denkbarsten Höhe gesteigert, [535] die auf diesem Gebiete möglich war. An die kolossalen Verhältnisse der H moll-Messe muß man sich erst gewöhnen, um den Empfindungsausdruck der einzelnen Chöre richtig gegen einander abzuschätzen. Dann aber findet man in diesem Chore die alte Weihnachtsseligkeit wieder, die uns schon oft bei Bach in so rührender Weise entgegentrat; nicht zum wenigsten in dem friedevoll schwebenden Mittelsatze, aus dem sich ebenso eigenthümlich wie natürlich eine strömende Fuge entwickelt, in welcher mit dem Friedensgruße jubilirende Stimmen sich einigen. Zu der ernsteren dogmatischen Darstellung des mit der Geburt Christi beginnenden Versöhnungswerkes leitet erst die folgende Arie hinüber. Hier hat als Gratias agimus tibi der feierlich prächtige Chor, welcher anfänglich die Rathswahl-Cantate »Wir danken dir Gott« begann, den seiner würdigen Platz gefunden. Der weitere Verlauf wird größeren Theils durch Sologesänge hergestellt. Nur den wichtigsten Punkt, den Versöhnungstod Christi, hebt der tief mitempfindende Chor Qui tollis peccata mundi nachdrücklich hervor. Zum Schlusse ein Jubel-Hymnus auf Christus, der seinen Gang vollendet hat und zur Rechten des Vaters thront. Das kühn vordringende Fugenthema, das in die Mitte breit hineinklingende siegeswisse Amen, und jenes eigenthümlich Bachsche Rollen und Wogen kündet uns den protestantischen Geist. Aber die langgezogenen Harmonien des Chors, aus denen es wie Lichtströme hervorbricht und die alle individuelle Gestaltung zeitweilig verschwinden lassen, zeigen ihn doch in einer andern und allgemeineren Sphäre kirchlich-künstlerischer Anschauung.
Im Credo legt die von Christus gegründete Kirche mit den Worten des Symbolum Nicaenum ihr Bekenntniß ab. Einem riesigen Portale gleich wölbt sich der Eingangschor Credo in unum Deum, durch welchen uns die Hallen der christlichen Kirche geöffnet werden. Als Thema der Fuge hat Bach die Intonation des Priesters gewählt:
Zu den fünf Singstimmen treten, den Fugenbau höher aufthürmend, die beiden Violinen; der Continuo durchwandelt Höhen und Tiefen in stetiger Viertelbewegung. Am Schlusse bringt der Bass das Thema [536] in der Vergrößerung, zweiter Sopran und Alt darüber im eigentlichen Zeitwerth, der erste Sopran zugleich in der Engführung; Engführung findet hernach auch noch in den Violinen statt. Da solche Complicationen bei Bach sonst nur selten auftreten, so ist die Beziehung auf die polyphone Kirchenmusik des 16. Jahrhunderts ziemlich verständlich, und Bachs Beschäftigung mit Palestrina erhält hierdurch eine besondere Bedeutung. Die Benutzung des Priestergesanges, die Anwendung der mixolydischen Tonart nehmen vollends jeden Zweifel darüber, daß der Meister mit Bewußtsein in jene Zeit zurückgriff, da es sich noch nicht um eine Trennung, sondern um der ganzen Kir che Erneuerung handelte. Die Symbolik der Thema-Vergrößerung durch den Bass und der darüber gebauten Stimmenverschlingung – die unerschütterlich gegründete Glaubenseinheit – ist ohne weiteres klar. Im Fortgang des Bekenntnisses wird nun zunächst das Bild Gottes des allmächtigen Vaters in großartigen Kraftzügen gezeichnet: ein Chor voll Glanz und nerviger Energie besingt ihn als Schöpfer Himmels und der Erde. Das Mysterium seiner Wesenseinheit mit dem Sohne zu verkünden fällt einem vermittelnden Sologesänge zu. Dann erscheint Christus selbst, der fleischgewordene Gott. Die langsam niederwärts strebenden Schritte des Eingangsthemas versinnlichen sein Herabkommen zur Menschheit. Eine jungfräuliche Innigkeit athmet in dem sonst ganz schlichten, überwiegend homophonen Chore, dazu haucht es uns an mit geheimnißvollem Schauer und, vorzugsweise durch die kühnen Wechselnoten der Begleitung bewirkt, wie Ahnung tiefen Leides. Am Schlusse drängen sich die Trübsalswolken dichter daher; dann ein neues Bild: Christus am Kreuze. So hatte Bach allmählig die Tonformen veredelt und vergeistigt, daß er es unternehmen konnte, an dieser Stelle den Passacaglio anzuwenden. Charakteristischeres kann nicht gedacht werden, das dreizehnmal wiederkehrende Thema bannt die Phantasie in den Anblick des Unerhörten, was ihr hier gezeigt wird. Der einer früheren Cantate entnommene Tonsatz schien uns dort schon auf eine noch weiter hinaufliegende Quelle zurückzuweisen. Das Bassthema an sich hat den Künstler von früher Jugend auf verfolgt, hier erhält es für die Passacaglioform seine letztgültige Ausprägung. Nach einer gewissen Richtung hin zieht dieser Chor und der Cantatensatz »Jesu, der du meine Seele«, welcher dasselbe [537] Thema ciaconenartig verarbeitet, die Summe von Bachs Entwicklung. Beide als zusammengehörig anzusehen ist gut auch für die schärfere Erkenntniß der im Messensatze herrschenden Eigenart. Hier gilt es nicht eine durch den Textinhalt nur coloristisch angehauchte Empfindung allgemein kirchlicher Feierlichkeit, noch viel weniger eine theatralische Illustration eines erschütternden Vorganges. Unter den erzählenden Worten tönt es für das innere Ohr heraus wie ein inbrünstiges Gebet an Jesus, der einst durch seinen Tod die Welt erlöste, daß er fort und fort an jedem, der ihn sucht, das Erlösungswerk vollbringen möge. Mitleidenschaft ist hier alles, und dennoch gereinigt von selbstischem Wesen. Was über dem Bassthema die Stimmen in chromatischen, übermäßigen, verminderten Melodieschritten einzeln und im Zusammenklang ihrer Gänge sagen, ist ebenso unerhört, wie das Ereigniß, dessen Bedeutung sie ausdrücken sollen. Wenn zuletzt der thematische Bass sich aus der starren Haltung löst und der Chor tief in die kühlende Ruhe der Grabesnacht hinabsinkt, dann steht der Hörer unter dem Eindruck eines Tonbildes, neben dem alles was je in Messen an dieser Stelle gesungen ist, zu Schemen verblaßt. Auch der Chor Qui tollis peccata mundi aus dem Gloria tritt gegen dieses Bild in Schatten. Er sollte es; dort war das Leiden Christi nur ein Moment des ganzen Versöhnungswerkes, von welchem der Abschnitt handelte, hier verdichtet sich in einem Tonbilde das Wesen des Sohnes im Gegensatz zu dem des Vaters und Heiligen Geistes. Anfänglich sollte der Chor Crucifixus dieser Aufgabe allein genügen; hernach erachtete Bach den Vorgang durch ihn noch nicht für genügend betont und prägte auch das Et incarnatus est in einem Chorsatze aus. Also war er bedacht, die Messentheile unter dem Gesichtspunkte des Ganzen gegen einander abzuwägen. – Aus der Grabesruhe, in welche der Schluß des Crucifixus hinabführte, springt der Chor triumphirend empor und schwingt das Panier der Auferstehung. Ein längeres Instrumentenspiel schließt sich an und gewöhnt den Sinn an das zurückgegebene Licht. Dann wallt es in neuem Lebensdrange aufquillend zur Höhe und jubelt hoch auf der Zinne, nicht im lang fortgesetzten Gesange, sondern stets von Zwischenspielen unterbrochen; dies giebt dem Satze ein Eigenthümliches, was ihn trotz aller Kraft, trotz der herausfordernden Kühnheit des Basses, der die Verheißung von Christi Wiederkunft [538] ganz allein vorträgt, noch in einer mittleren Höhe festhält. Eine Steigerung bleibt möglich. Die dritte Person der Trinität, der Heilige Geist, offenbart sich in der Kirche. Das Symbol der kirchlichen Gemeinschaft ist die Taufe. So wird das Bekenntniß auf dieselbe zugleich ein Bekenntniß auf den Heiligen Geist. In dieser Anschauung liegt die weite chorische Ausführung des Confiteor unum baptisma begründet, nachdem der Glaube an den Heiligen Geist selbst sich in einer musikalisch nothwendigen Arie ausgesprochen hatte. Wieder begegnen wir hier, mit derselben Beziehung auf die allgemeine christliche Kirche, wie im einleitenden Credo, dem gregorianischen Choralgesange, nämlich folgender Melodie:
Zum Thema eines fugirten Satzes war diese Melodie nicht geeignet. Ein solches wird frei gebildet; im 73. Takte tritt der Choral erst in Verkürzung und Engführung zwischen Bass und Alt, und nach dieser Ankündigung voll und einfach im Tenor auf. Nun bereitet sich der gänzliche Schluß vor. Die Kirche dauert über den Tod hinaus ins ewige Leben, wo sie zur Vollendung gelangt. Durch eine langsame Folge wunderbarster Harmonien, in welchen die alte Welt versinkt, werden wir hinübergeleitet in den Zustand »eines neuen Himmels und einer neuen Erde«. Die Hoffnung auf denselben strömt in einem trotz aller Lebendigkeit und Zuversicht grundfeierlichen, breitathmigen Chore aus.
Der vierte Act der Messe, welcher sich um die Abendmahlsfeier schließt, ist ein zweitheiliger. In der katholischen Messe bilden Sanctus, Osanna und Benedictus den ersten, das Agnus mit dem Dona den zweiten Theil. Aus Unkenntniß der leipzigischen Liturgie und unter Ignorirung von Bachs ausdrücklicher Vorschrift ist man bei Aufführungen und in Ausgaben der H moll-Messe bisher einfach bei dem katholischen Schema geblieben.55. Aber die an dieser Stelle[539] hervortretende abweichende Eigenart der H moll-Messe ist in mehr als einer Beziehung wichtig und bedeutungsvoll. In den ältesten Zeiten der Kirche bildete das Sanctus zusammt der vorhergehenden Präfation eine Danksagung für die Wohlthaten der Schöpfung, deren Erstlinge, meistens in Brod und Wein bestehend, zuvor von den Gemeindemitgliedern dargebracht worden waren (Offertorium). Seine Erweiterung durch das Osanna und Benedictus fand statt, als dieses Symbol des Dankopfers vor der später aufgekommenen Idee einer symbolischen Opferung des Leibes nnd Blutes Christi durch den Priester zurückweichen mußte. Denn Osanna und Benedictus deuten auf das Kommen des Heilandes, in diesem Fall auf sein Gegenwärtigwerden im Brod und Wein. Bekanntlich verwarf die Reformation die priesterliche Opferung. Hierdurch verloren Osanna und Benedictus als Fortsetzung des Sanctus ihren Sinn, und als Figuralmusik waren sie auch in der Liturgie der Leipziger Hauptkirchen schon im 17. Jahrhundert abgeschafft.56 Bach, der das Sanctus der H moll-Messe zugleich zum liturgischen Gebrauch im Gottesdienste, ebenso wie seine übrigen Sanctus bestimmte, hat demnach in diesem Theile der Messe die Absicht der ältesten Kirche wieder zur Geltung gebracht. Ob er es bewußt oder unbewußt gethan hat, muß dahin gestellt sein; die Thatsache daß hier das Sanctus als Messentheil wieder in seiner Urgestalt auftritt bleibt dieselbe. Um die Wirkung dieses aus Jesaias 6,3 entnommenen Hymnus seraphicus ganz zu fassen, muß man ihn mit dem Inhalte der Präfation in Verbindung bringen. Derselbe erfuhr je nach dem Charakter der hohen Feste gewisse Abwandlungen. Der Hauptinhalt blieb sich aber gleich und lautet in deutscher Übertragung nach Weglassung des responsorischen Eingangs: [Geistlicher:] »Wahrlich würdig und recht ist es, billig und heilsam, daß wir dir immer und überall danken, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott, durch Christum unsern Herrn; durch welchen deine Majestät loben die Engel, anbeten die Herrschaften, fürchten die Mächte; die Himmel und der Himmel Kräfte und die seligen Seraphim mit einhelligem Jauchzen feiern; mit ihnen flehen wir, laß auch unsre Stimmen zu dir sich wenden und anbetend und bekennend sagen: [Chor:] Heilig, Heilig, Heilig« u.s.w. Die [540] überschwängliche Vorstellung eines Lobgesanges, zu dem die Kräfte des Himmels und die Engel mit der Menschheit sich vereinigen, mag neben der Idee dasSanctus der H moll-Messe einzuverleiben den Componisten gedrängt haben, die Tonmittel zum sechsstimmigen Chore zu erweitern. Im übrigen sieht man auch wie die Schilderung des Jesaias für einzelne Züge des ungeheuren Tonstückes bedingend wurde. »Ich sähe den Herrn sitzen auf einem hohen und erhabenen Stuhle und sein Saum füllete den Tempel. Seraphim standen über ihm, ein jeglicher hatte sechs Flügel; mit zween deckten sie ihr Antlitz, mit zween deckten sie ihre Füße und mit zween flogen sie. Und einer rief zum andern«. Die majestätisch schwebenden Gänge, mit welchen höhere und tiefere Stimmen einander zu antworten scheinen, sind gewiß aus den letzten Sätzen jener Worte geschöpft. An jenen Stellen, wo die fünf obern Stimmen in schallenden Harmonien unter dem mächtigen Flügelschlag der Geigen und Holzbläser, dem Schmettern der Trompeten und Donner der Pauken sich strecken und der Bass in gewaltigen Octavenschritten stufenweis abwärts steigt, empfinden wir wie der Prophet, »daß die Überschwellen bebten vor der Stimme ihres Rufens und das Haus ward voll Rauch«. Nach dem breiten Sanctus folgt ein bewegtes Pleni sunt coeli, welches an ekstatischem Jubelschwung alle ähnlichen Sätze der Messe so weit überbietet, daß man wieder inne wird: bisher wollte Bach nur Preis- und Wonnegesänge der Christenheit laut werden lassen, aber hier »loben den Herrn die Morgensterne mit einander und jauchzen alle Kinder Gottes«.57
Der zweite Theil des vierten Messenactes beginnt bei Bach mit dem Osanna und schließt mit demDona. Man würde, da das Sanctus nunmehr wieder nur die allgemeinste Danksagung für die Segnungen Gottes ausdrückt, sagen können, es bilde allein den vierten Act und das Osanna mit seinem Gefolge sei der fünfte. Jedoch wurde oben gezeigt, daß beide für eine zusammenhängende Aufführung gedacht sein müssen, und auch ein innerer Zusammenhang ist vorhanden. Auf der Hand liegt, daß durch eine Gruppirung, welche das Osanna als Eingang und dasDona als Schluß eines Messenabschnittes verwendet, dieser selbst ein ganz andres Gesammtgepräge [541] erhält, als wenn nur Agnus und Dona zu einem Ganzen zusammengefaßt werden. Im letzteren Falle kann, wie das aufmerksame Beobachter auch längst empfunden haben, der Eindruck nur ein unbefriedigender sein, sowohl hinsichtlich jedes einzelnen der beiden Stücke, als auch ihrer Zusammengehörigkeit, als endlich ihrer abschließenden Stellung im Ganzen der Messe. In Wirklichkeit aber bildet das Agnus nur ein sehr wirkungsreiches Mittelglied; es ruht wie ein schwermüthiger dunkler See zwischen stolzen Berghöhen; der Grundcharakter des Schlußabschnittes ist nicht bußfertiges Gebet, nicht erschüttertes Mitempfinden eines tragischen Vorgangs, auch nicht mystische Abendmahlsstimmung: er ist Jubel und Dank und setzt insofern die Empfindung des Sanctus fort, nur in menschlich gemäßigtem Grade. Der Osanna-Doppelchor hat auch das Wesen eines Eingangsstückes viel mehr, als das eines Abschlusses; wer an dem Fehlen eines Ritornelles Anstoß nehmen wollte, möge bedenken, daß keine concertirende Kirchenmusik ohne Orgelpraeludium aufgeführt wurde. Mag nun der ursprüngliche Zweck der übertragenen Osanna-Musik gewesen sein welcher er wolle, unzweifelhaft ist, daß diese nachdrängenden und einander überbietenden Jubelchöre vortrefflich zu den Worten der Volksmenge passen, welche Christi Einzug in Jerusalem begleitete. Unter dem für den ganzen Abschnitt sich ergebenden Gesichtspunkte fällt endlich auch das Befremdende fort, was bisher dem Dona anhaftete, das einfach die Musik des Gratias agimus tibi wiederholt. Ein Gebet um Frieden ist es nicht, soll es aber auch nicht sein. Wie die Gruppirung nun einmal war, konnte nur mit einem feierlichen Dankhymnus geschlossen werden. Daß auf diese Weise nicht ein, wenngleich nur äußerlicher und im Ganzen sich aufhebender, Widerspruch zwischen Text und Musik entstände, und daß nicht auch ein Schlußsatz mit andrer Musik denkbar wäre, soll damit nicht behauptet werden. Aber der Vorwurf, als entbehre die H moll-Messe eines innerlich begründeten, vollgewichtigen Abschlusses wird fürder nicht erhoben werden können.
Die H moll-Messe erweist am überzeugendsten und in den größesten Formen die Tiefe des kirchlich-christlichen Empfindens ihres Schöpfers. Wer sich zu dem Grunde desselben, soweit das überhaupt möglich ist, den Zugang öffnen will, muß die [542] H moll-Messe als Schlüssel gebrauchen. Ohne sie läßt sich nur ahnen, von welcher Urkraft alle kirchlichen Werke Bachs getragen werden. Wenn man diese Messe unter den für ihr Verständniß nothwendigen sachlichen Voraussetzungen hört, so ist es als rausche der Genius von zwei Jahrtausenden über den Häuptern hin. Fast unheimlich berührt die Einsamkeit, mit welcher die H moll-Messe in der Geschichte dasteht. Wenn auch alle findbaren Mittel herbeigeschaft werden, um die Wurzel von Bachs Kunstanschauung, den Gang seiner Kunstbildung, die ihr von außen zugeführten Elemente, die von seinen persönlichen Verhältnissen ausgehenden Anregungen aufzudecken, wenn endlich selbst das allgemeine Wesen der Tonkunst zur Erklärung sich hülfreich erweist, so bleibt doch ein letztes, das Aufblitzen der Idee zu einer Messe von solcher Tragweite, das abermalige Hervorbrechen des kirchlich reformatorischen Geistes wie aus lange angesammelten Quellen, ja das unzweifelhafte Wiedererscheinen von Anschauungen des Urchristenthums grade nur in dieser einen Künstlerpersönlichkeit unfaßlich, wie der Grund alles Lebens. Ein schwaches Nachzucken dieser Kraft ist in den nachfolgenden Generationen protestantischen Bekenntnisses wohl bemerkbar; bis in die neueste Zeit lockte sie die Idee einer musikalischen Messe mit geheimnißvoller Gewalt. Aber bei den Besten unter ihnen, Spohr und Schumann, war es doch großentheils nur ein antiquarisch-romantischer Reiz, wenngleich des letzteren Äußerung, der geistlichen Musik die Kraft zuzuwenden bleibe ja wohl das höchste Ziel des Künstlers, das deutliche Gefühl von dem Gebiete verräth, wo die Urquellen der Kunst fließen. Katholischerseits konnte ein Zusammenfassen des Inhalts der gesammten christlichen Kirche in der Form einer idealen Liturgie nicht unternommen werden, da hier die nothwendige Freiheit innerhalb der kirchlichen Gebundenheit nicht vorhanden war; und es ist auch nicht unternommen worden. Beethovens zweite Messe der Bachschen Messe ebenbürtig an die Seite setzen, wie man es heutzutage zu thun liebt, kann nur der, welcher den unverhüllbaren Riß nicht sehen will, der zwischen dem, was die Idee eines solchen Werkes fordert und dem Geiste, in welchem seine Gestaltung unternommen wurde, aufklafft. In Beethovens Messe muß man die gewaltige Persönlichkeit ihres Schöpfers bewundern, man wird diese Messe verstehen [543] und mag sie lieben, so lange hundert andre Werke vorhanden sind, aus denen sein Genius reiner und voller und mit einer annoch unsre Zeit beherrschenden Macht kundbar wird. Von Bachs Compositionen könnte alles verloren gehen, die H moll-Messe allein würde bis in unabsehbare Zeit von diesem Künstler zeugen, wie mit der Kraft einer göttlichen Offenbarung. Nur ein wirkliches Gegenstück ist ihr gegeben. Vielfach wird der Messias Händels mit der Matthäuspassion verglicheu, und die unebensten Urtheile sind dann über diese beiden Werke, die im Grunde ihres Wesens kaum etwas mit einander gemein haben, unvermeidlich. Das eigentliche Gegenstück zum Messias kann nur die H moll-Messe sein. Beider Werke vollerreichtes Ziel ist die künstlerische Gestaltung des Inhalts des Christenthums. Nur die Auffassung der Aufgabe war eine verschiedene: Händel erkannte sie mehr unter dem frei geschichtlichen, Bach unter dem dogmatisch gebundenen Gesichtspunkt. War der letztere hinsichtlich der Tiefe der darzustellenden Empfindungswelt zweifellos der ergiebigere, so ermöglichte der erstere eine faßlichere Plastik, eine unmittelbarere Wirkung, die darum doch nicht weniger rein war. Wie der musikalische Gehalt jener Zeit sich in diesen beiden gleichberechtigten großen Männern auseinander legt, und somit ein jeder endlich nur durch den andern ganz verstanden werden kann, so wird eine wahrhaft geschichtliche Auffassung es ablehnen müssen, den einen über den andern zu erheben. Sie darf sich freuen, daß die Unerreichten beide unser sind.
Fußnoten
III.
Der Composition von Kirchencantaten gab sich Bach auch in dem letzten Abschnitte seines Lebens eine Reihe von Jahren hindurch noch mit Eifer hin. Indessen bemerkt man nur anfangs noch jene königliche Freigebigkeit, mit welcher er in den mittleren Leipziger Jahren aus einem unbegränzten Reichthum an musikalischen Formen schöpfte.1 Dann zieht er sich mehr und mehr in eine bestimmte Form der Choralcantate zurück, wird [544] schweigsamer und wenn er redet typischer in der Fassung. Er giebt zweien seiner größten kirchlichen Werke, der Johannes- und Matthäus-Passion, die letzte endgültige Form und bestellt sein Haus. Schließlich scheint er als kirchlicher Vocalcomponist ganz zu verstummen. Sein Lebenswerk ist gethan, er sieht dem Tode entgegen.
Die Cantate, mit welcher Bach das neue Jahr 1735 begrüßte, kann ich nachweisen. Das Jahr fand Europa in kriegerischem Aussehen. In Italien kämpften Franzosen, Sardinier und Spanier gegen die Österreicher, auch bedrängten die Franzosen die österreichischen Besitzungen am Rhein. Die kleinen Herren Deutschlands erfaßte eine Panik und schon flehte man im Gebiet von Reuß jüngere Linie in besonders angesetzten wöchentlichen Betstunden »bey diesen besorg- und gefährlichen Kriegs-Läuften« um die Gnade Gottes. Während dessen war nach Zähmung und Begütigung der widerspänstigen Polen im Reiche Augusts III. die Ruhe wieder hergestellt worden, und der König konnte nach seiner Ankunft in Warschau unter dem 16. December 1734 eine friedetriefende Proclamation erlassen. Wir sahen, daß Bach schon zum 7. October 1734 eine Geburtstags-Cantate für den König componirte2, in welcher er als Friedebringer gefeiert wurde. Von derselben Empfindung ist der Textverfertiger der Neujahrs-Cantate geleitet worden. Ihm erscheint Sachsen-Polen als eine sichere Insel, von welcher man dem sturmbewegten Meere ringsumher theilnahmevoll zusieht.
Tausendfaches Unglück, Schrecken,
Trübsal, Angst und schneller Tod,
Völker, die das Land bedecken,
Sorgen und sonst mehr noch Noth
Sehen andre Länder zwar,
Aber wir ein Segensjahr.
Während er so singt und den Herren preist, dessen mächtige Hand geholfen hat, bittet er zugleich Jesum den Friedefürsten, seines Amtes zu walten. So lange Bach in Leipzig wirkte, ist nur einmal, grade um den Anfang des Jahres 1735, eine Situation eingetreten, welche genau auf diese Schilderung paßt. In die schlesischen Kriege war Sachsen direct und durchgängig verwickelt. Daher [545] denn die Entstehungszeit der Cantate unzweifelhaft feststeht. Die Composition selbst hat mancherlei merkwürdiges. Sie gründet sich auf Vers 1, 5 und 10 des 146. Psalms, Strophe 1 und 3 des Ebertschen Kirchenliedes »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« und nur zwei madrigalische Texte. Von diesen kann der zweite »Jesu, Retter deiner Heerde« auch nur halb in Betracht kommen, da der Gesang des Tenors mit dem Fagott und Grundbass zur Contrapunktirung der Choralmelodie dient, welche von den Violinen und Violen gespielt wird. Sonach tritt der Choral dreimal auf: zuerst, als zweites Stück, vom Sopran allein gesungen und von Violinen und Bässen anmuthig umrankt; dann zu dem Tenorgesange in düsterer Färbung, als poetischer Inhalt wird hier die zweite Strophe des Kirchenlieds gedacht werden müssen; endlich als Choralfantasie für den Chor mit sämmtlichen Instrumenten. Der Psalmist kommt nicht weniger häufig zu Worte. Mit dem »Lobe den Herrn, meine Seele« beginnt die Cantate. Vers 10 ist eines jener Bass-Ariosos, welche schon auf der Gränze der Arie stehen und dergleichen wir als eigenthümlich Bachsche Neubildungen auch in den nächstvorhergehenden Jahren antrafen.3 Vers 5 ist gar zu einen einfachen Tenor-Recitativ benutzt; dies kam bei Bach bisher nicht vor, abgesehen von den nicht zu vergleichenden Mysterien, und bleibt auch überall bei ihm eine seltene Erscheinung. In der Cantate streiten sich gleichsam Bibelwort und Choral um die Herrschaft. Es ist in diesem Sinne bedeutungsvoll, daß dem ersten Chor nur eine geringe Ausdehnung (35 Takte) und keine thematische Entwicklung zugestanden wird; so kann er nicht ohne weiteres als richtungbestimmend für das Ganze angesehen werden. Im Schlußchore aber triumphirt nicht etwa der Choral. Während sonst die contrapunktirenden Singstimmen sich desselben Textes, wie der Cantus firmus zu bedienen pflegen, erfassen sie hier das letzte Wort des Psalms »Hallelujah«; also eine Vereinigung beider Elemente. In dem hier entwickelten Verhältniß liegt das Eigenthümliche des geistreichen Werkes.4
Unter dem Eindrucke der Kriegsereignisse am Rhein und in [546] Welschland ist auch die etwa vier Wochen später, am vierten Epiphanias-Sonntage (30. Januar 1735) aufgeführte Cantate »Wär Gott nicht mit uns diese Zeit« entstanden. Bekanntlich hat Luther den 124. Psalm zu einem dreistrophigen Liede umgedichtet. Dieses bildet den Kern des Textes, doch ist die zweite Strophe madrigalisch paraphrasirt.5 Die erste Strophe hat die Form des Pachelbelschen Orgelchorals. Die Chorstimmen bereiten fugirend vor und zwar mit sehr kunstvollen Beantwortungen in der Gegenbewegung, contrapunktiren dann auch mit ihren Themen gegen den Cantus firmus, welcher aber dem Horn und beiden Oboen zugewiesen ist. Diese neue Form zu begreifen – nicht technisch, denn da ist sie auf den ersten Blick klar, sondern sie durch die Phantasie zu einem innerlichen Erlebnisse nachzugestalten, möchte unter die schwierigsten Aufgaben gehören. Der nur gespielte Choral läßt für die subjectiven Nebenempfindungen den weitesten Raum. Tritt dazu ein Solo- oder Chorgesang mit eignen Worten und Melodien, so mischen sich zwei gegensätzliche Mächte, ein Subjectiv-Fließendes und ein Objectiv-Festes, von welchen aber ersteres, weil es das Kirchliche voller repräsentirt, die Oberhand behalten und den Anspruch des Objectiven erheben muß. Diese bunte Empfindungskreuzung ist die echteste Bachsche Romantik. Im vorliegenden Falle aber, da zwischen gespieltemCantus firmus und contrapunktirendem Gesang kein inhaltlicher Gegensatz besteht, läßt Bach in den subjectiven Raum der gespielten Melodie ein objectiver gestaltetes zwar eindringen, aber nicht bis zur gänzlichen Erfüllung. Diese würde stattfinden, wenn auch der Cantus firmus gesungen würde. Bach hat aber mit Fleiß auf halbem Wege innegehalten. Ansätze zu der gewagten Form finden sich schon im ersten Chor der Cantate »Es ist nichts gesundes an meinem Leibe«, insofern nämlich die gesungenen Fugenthemen [547] aus zwei Zeilen des gespielten Chorals gewonnen sind.6 Sehr bedeutend sind die beiden Arien, die erste durch ihre eckige Rhythmik ein wahres Charakterstück, die zweite eben so kunst- wie affectvoll und namentlich im zweiten Theile hinreißend durch den Ausdruck großartiger, immer trotziger sich aufrichtender Glaubenskraft.
Bach vollendete im März 1735 sein fünfzigstes Lebensjahr. Wie unvermindert kräftig jetzt immer noch der Schaffensdrang in ihm war, geht auch daraus hervor, daß aus keinem Jahre eine gleich große Zahl Kirchencantaten theils nachgewiesen theils wahrscheinlich gemacht werden können. Nicht weniger als zwanzig Cantaten seiner Composition scheint Bach in diesem Jahre gebracht zu haben. Unter ihnen sind allerdings mehre Überarbeitungen arnstädtischer, weimarischer und cöthenischer Werke, und die Cantate »Komm du süße Todesstunde«7 hat er wohl ganz unverändert gelassen, nur daß sie jetzt nicht dem 16. Trinitatis-Sonntage, sondern dem Feste Mariä Reinigung (2. Febr.) zu dienen hatte. Zum ersten Ostertage (10. April) griff er auf Compositionen seiner frühesten Jugend zurück (»Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«8, zum dritten Ostertage auf eine cöthenische Gelegenheits-Cantate (»Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß«9. Die Musik zum zweiten Ostertage (»Erfreut euch ihr Herzen«)10 verdankt ihren gefälligen Charakter dem Umstände, daß sie zwischen jenen beiden stehen sollte. Bach war es gegeben, sich leicht bis zu einem gewissen Grade in andre Stilarten, sowohl fremder Persönlichkeiten, als seiner eignen früheren Entwicklungsphasen hineinzuversetzen. Daß die Cantate »Erfreut euch ihr Herzen« der Cöthener Gelegenheitsmusik und ihrer Überarbeitung angeähnelt ist, lehrt die Vergleichung sofort. Eine mehr in die Breite als Tiefe gehende Behaglichkeit ist nicht das Einzige was sie gemeinsam haben. Stimmt doch der erste Chor der jüngern mit dem letzten Chor der älteren Composition auch in der Anlage genau überein; selbst die duettirenden Stellen, namentlich des Mittelsatzes, welche in der Gelegenheitscomposition durch den Text bedingt waren, hat Bach in der zweiten Ostercantate nachgemacht [548] Geist und Anmuth herrscht in beiden, wenn sie auch unter Bachs Ostermusiken eine hervorragende Stelle nicht beanspruchen können. Dem aufmerksamen Beobachter wird es nicht entgehen, daß der vorletzte Takt des Bass-Recitativs am Anfang des zweiten Theils der folgenden Arie wieder aufgegriffen wird. Dies, und das etwas unmotivirte Auftreten der Bewegung im Recitativ selber hat vielleicht einen äußerlichen Grund. Ein Blatt, auf welchem der erste Entwurf des Anfangs der Exaudi-Cantate für dasselbe Jahr steht, enthält außerdem folgende Skizze:
Sie dürfte die erste Intention der Bassarie in der zweiten Oster-Cantate andeuten und vom Componisten, als er für die Hauptsache andern Sinnes geworden war, in obiger Weise nebensächlich aufgebraucht worden sein. Nur theilweise aus altern Compositionen zusammengesetzt sind zwei Pfingstcantaten: »Wer mich liebet, der wird mein Wort halten« und »Also hat Gott die Welt geliebt«. Jene geht auf die Cantate gleichen Anfangs zurück, welche Bach über einen Neumeisterschen Text in Weimar setzte.11 Zwei Stücke aus derselben hat er hineingearbeitet; daß das Ganze bedeutender geworden wäre als das ältere Werk, kann nicht behauptet werden. Tenor- und Alt-Arie haben einen merkwürdig äußerlichen, fast weltlich-virtuosischen Charakter; die Länge der Cantate steht zu ihrem Gehalt in keinem Verhältniß.12 Für die Arien von »Also hat Gott die Welt geliebt« mußte die vielbenutzte Gelegenheitsmusik »Was mir benagt, ist nur die muntre Jagd« den Stoff hergeben. Wie genial die Übertragung ist, aus welcher die entzückende Lieblichkeit der Sopran-Arie »Mein gläubiges Herze« hervorging, wurde schon an einer andern Stelle erörtert.13 Zu jeder der beiden Arien ist ein [549] neu componirter Chor gefügt, dessen Charakter durch sie be stimmt ist: mit der Sopranarie schließt sich der Anfangschor zusammen, eine vierstimmige Chorarie, deren Begleitung das Ganze zu einem reizvollen kirchlichen Siciliano macht; die Stimmung der Bassarie setzt die durch Posaunenklang umhüllte kräftige Schlußfuge fort.14 Diese Cantate ist eben so gehaltreich wie durchaus eigenthümlich. In allen fünf Übertragungen aber spielt der Choral theils keine, theils eine untergeordnete Rolle.
Die zwischen Ostern und Pfingsten liegenden Sonn- und Festtage scheint Bach im Jahre 1735, vielleicht nur mit Ausnahme des Sonntags Quasimodogeniti, sämmtlich mit neuen Cantaten versehen zu haben. Zum Himmelfahrtsfeste liegen, ein seltener Fall, sogar zwei Cantaten vor: in der That waren ja für diesen Tag zwei concertirende Musikwerke nöthig. Bemerkenswerth ist zunächst die Beschaffenheit der Texte. Aus den tiefausgefahrenen Gleisen madrigalischer Reimerei wendet sich der Dichter häufiger zur Liedstrophe zurück und baut ungewöhnlichere, anmuthige Formen. Das Bibelwort tritt öfter ein, als sonst. Die Empfindung ist durchweg tiefer und reiner, als durchschnittlich in den früheren madrigalischen Cantaten, manchmal erhebt sie sich zu wirklich erbaulicher Kraft. Gern möchte man wissen, ob sich hier ein neuer Textdichter zeigt, oder ob Bach, nachdem er mit dem Durchcomponiren ganzer Kirchenlieder deutlich sein Mißbehagen an dem wennauch verwendbaren, so doch leeren Wortkram Picanders kundgegeben hatte, dessen Talent durch seinen ernsten Geist zu veredlen vermocht hat. Den größesten Theil der Himmelfahrts-Cantate »Gott fähret auf mit Jauchzen« (von der Sopran-Arie an) bildet ein sechsstrophiges, geschickt gestaltetes und einer gewissen Wärme nicht entbehrendes Gedicht.15 Die erste Arie der dritten Pfingst-Cantate »Er rufet seine Schafe mit Namen« stützt sich auf anmuthige, in die Strophenform des Kirchenlieds »Ach Gott und Herr« gefaßte Worte.16 Die übereinstimmende [550] Anordnung der Texte zu Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«)17, Rogate (»Bisher habt ihr nichts gebeten in meinem Namen«)18, Himmelfahrt (»Gott fähret auf«) und zum dritten Pfingsttag (»Er rufet seine Schafe mit Namen«), in welchen sowohl am Anfang wie in der Mitte ein Bibelspruch angebracht ist, läßt schon erkennen, daß dieselbe Dichterhand thätig war.19 Bach seinerseits, der bei den Überarbeitungen durch den Charakter der älteren Musikstücke immerhin beengt war, hier aber frei aus dem Vollen schöpfen konnte, hat eine Reihe Compositionen von seltener Schönheit geschaffen. Was er schon früher vereinzelt versuchte: eine neue Form für das Bibelwort im Sologesang, welche aus dem üblichen Arioso mit contrapunktirendem Generalbass durch Hinzutritt concertirender Instrumente zu der reicheren Arienform hinüberstrebte, aber doch in erkennbarer Verschiedenheit von ihr verharrt, das ist in diesen Cantaten mit schönstem Gelingen weiter geführt. Nichts läßt sich denken, was der Bedeutsamkeit des heiligen Schriftwortes und zugleich dem Bedürfniß nach persönlichster Belebung desselben in vollkommenerer Weise genügte, als die köstlichen Bass-Gesänge, mit denen die Compositionen zu Misericordias (»Ich bin ein guter Hirt«)20. Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«) und Rogate (»Bisher habt ihr nichts gebeten«) anheben. Das Arioso mit bloßem Generalbaß wird darum auch in diesen Cantaten nicht aufgegeben. Darüber hinaus finden sich aber auch einige Bibelstellen rein recitativisch behandelt, was in der eigentlichen Kirchencantate sonst nicht Bachs Gebrauch ist. Zweimal wird sogar schlankweg mit einem solchen Recitativ begonnen; so in der Exaudi-Cantate »Sie werden euch in den Bann thun«.21 Eine große Freiheit der Gestaltung im Ganzen und Einzelnen ist überhaupt diesen Cantaten eigenthümlich. An ihr hat die abweichende Form der Texte natürlich ihren vollen Antheil. Da die Worte nicht immer mit Rücksicht auf das italiänische Arienschema gedichtet waren, mußte der [551] Componist vermittelnde Wege gehen. Dabei kamen denn allerhand geistvolle Abwandlungen der üblichen Form zu Tage. Die kleinere Himmelfahrts-Cantate »Auf Christi Himmelfahrt allein«22 – für deren zusammenhangslosen und offenbar eilfertig zusammengestoppelten Text aber das allgemein gespendete Lob nicht gilt – bietet die originelle Erscheinung, daß eine Arie sich gänzlich ins Recitativ verläuft, dabei aber insoweit doch ihren Charakter wahrt, als nach Beendigung desselben das Anfangs-Ritornell der Arie das Ganze abschließt. Viele der Sologesänge stehen mit ihrer herrlichen Melodiefülle, ihrer zarten Innigkeit und überraschenden Farbenmischung, mit ihrem Schwung und großartigem Pathos unter Bachs allerhöchsten Leistungen dieser Art. Auf die Zahl angesehen treten die Chöre zurück. Choräle kommen meistens nur als einfache Schlußstücke vor; nur die kleinere Himmelfahrts-Cantate beginnt mit einer Choralfantasie, und in der Misericordias-Musik steht eine solche in der Mitte, beschäftigt aber allein den Sopran. Wo indessen freie Chöre vorkommen, sprühen sie von charakteristischem Leben. Auch in ihnen überall jene geniale Freiheit und Kühnheit der Form. Auf Jubilate beginnt Bach mit einem Chor »Ihr werdet weinen und heulen, aber die Welt wird sich freuen«,23 in welchem die Gegensätze des Weinens und der Freude mit durchdringender Kraft gestaltet und hernach zu einer Doppelfuge verbunden werden, dann leitet er hinüber zu einem Bassrecitativ, nach welchem der anfängliche Satz mit anderm Text weiter geführt wird. Die große Himmelfahrtsmusik »Gott fähret auf«, welche in den drei ersten Sätzen einen mehr oratorienhaften, hernach einen kirchlich erbaulichen Charakter trägt, bietet ein Tonbild der Auffahrt Christi von großartiger malerischer Bewegtheit im Ganzen und Einzelnen: alles strebt aufwärts, die Gestalt verschiedener Themen sowohl als der Bau der Fuge im ganzen, und ein Hauptthema schmettert wie Posaunenklang hinein. Eigen ist, wie Bach den Chorsatz eröffnet: durch ein kurzes feierliches Instrumentaladagio, welches das erste Fugenthema praeludirend andeutet. Ins Allegro gelangt hört man das Thema und sein Contrasubject zuerst sich instrumental entwickeln, bis denn nach vollster musikalischer Vorbereitung der Chor unter Trompeten- und [552] Paukenschall hereinbraust. In der Cantate »Es ist euch gut, daß ich hingehe« nimmt der einzige große Chor die Mitte des Werkes ein. »Wenn aber jener der Geist der Wahrheit kommen wird, der wird euch in alle Wahrheit leiten« ist sein biblischer Text. Unmittelbar an ein Secco-Recitativ sich anschließend tritt er ein, und redet wie die Jünger am Pfingstfeste, begeistert und überwältigend. Bei dem alle Schranken durchbrechenden Fugenthema:
empfindet man, daß »des Herrn Wort ist wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt.«24
Was sonst noch an Cantaten mit frei erfundenen Hauptchören vorliegt, ist nicht eben viel, denn die Choralcantate gelangt während der letzten Periode ins entschiedene Übergewicht. In Werken, die sich mit Zuversicht in die zeitliche Nähe der vorher geschilderten setzen lassen, tritt ebenfalls der Zug zu neuen, tiefsinnig verschlungenen und scharf charakterisirten Gestaltungen hervor. Der zum Reformationsfeste des Jahres 1735 verordnete Predigttext – es wurde, da der 31. October auf Montag fiel, am 30. October, dem 21. Trinitatis-Sonntage gefeiert – bestand aus Psalm 80, 15–20. Die in diesem Abschnitte vorkommenden Worte »Siehe darein und schilt, daß des Brennens und Reißens ein Ende werde« lassen die Kriegsereignisse des Jahres 1735 deutlich anklingen. Auch im Text der Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild« athmen die Zeilen
Denn er will uns ferner schützen,
Ob die Feinde Pfeile schnitzen
Und ein Lästerhund gleich billt
eine besondere Erregtheit, die sich aus dem allgemeinen Charakter des Reformationsfestes nicht genügend erklären läßt. Die Musik entbehrt gleichfalls nicht der kampfschildernden Züge. In dem Duett »Gott, ach Gott, verlaß die Deinen nimmermehr« beschäftigen[553] sich die vereinigten Violinen nicht mit einer contrapunktirenden Begleitung, wie es sonst bei Bach Regel ist. Sie wollen etwas besonderes sagen, schlagen den Boden, wie ungeduldige Kriegsrosse, und fahren ungezügelt zwischen den Gesang hinein. Eine Ähnlichkeit mit dem zweiten Satze der Cantate »Ein feste Burg«25 ist nicht zu verkennen; außerdem verdient es Beachtung, daß bei der Übertragung dieses Satzes in die G dur-Messe die Begleitung gänzlich geändert ist. Im Eingangschor hat ebenfalls ein Hauptthema einen trotzig pochenden und aufbrausenden Charakter. Bei dem Entwurf des Chors wurde Bach von der Idee der Concertform geleitet, indem er zwei stark contrastirende Gedanken aufstellte und mit einander wechseln ließ. Das Eigenthümlichste daran, und für Bach so sehr bezeichnende ist aber, wie der Chor an das instrumentale Tonstück sich krystallisch nach und nach ansetzt. Anfangs giebt er zu dem zweiten Hauptgedanken mit den Worten »Gott der Herr ist Sonn und Schild« nur den weitgespannten harmonischen Hintergrund, verständlich symbolisirend, daß aller Kampf im Namen Gottes geführt werde. Hernach verdichtet sich jener Hauptgedanke zu einem Fugenthema. Die tiefsinnigen Verbindungen, welche sonst noch das mächtige Stück bis hinab auf die Bewegungen der Pauke durchziehen, können hier nicht verfolgt wer den. Die poetische Bedeutung aber des ersten Hauptgedankens wird im dritten Stücke völlig klar; hier singt unter seiner Begleitung der Chor in einfach prächtigen Harmonien »Nun danket alle Gott.«26
Zu derselben Zeit mit der ersten Aufführung des Oster-Oratoriums, also wahrscheinlich 1736, brachte Bach eine Cantate auf den zweiten Ostertag (2. April 1736): »Bleib bei uns, denn es will Abend werden.«27 Das Fest-Evangelium enthält die gemüthvolle Erzählung von den zwei Jüngern, welche nach Emmaus wandern in bekümmerten Gesprächen über Christi Tod. Unerkannt gesellt sich Christus zu ihnen. Als sie das Ziel ihres Ganges erreicht haben, stellt er sich als wolle er von ihnen scheiden. Sie aber bitten: »Bleibe bei uns, denn es will Abend werden und der Tag hat sich [554] geneiget.« In dem Hauptchor wird ein aus mehren Themen kunstreich gewobener Satz von innig bewegtem, aber doch mildem Ausdruck eingeschlossen durch zwei langsame Abschnitte, deren sehnsuchtsvolles einfältiges Wesen mit rührender Gewalt ergreift. Eine solche Dreitheiligkeit, die aus der ruhigeren Empfindung zur stärkeren Erregtheit übergeht und dann wieder zur anfänglichen Gemüthsstimmung zurückfuhrt, ist in Bachs Cantaten-Chören neu; denn die in Ouverturenform gesetzten Chöre lassen sich wegen des ganz verschiedenen Charakters jener Form nicht vergleichen.28 Außerdem ist der Chor durch eine intensive Naturstimmung ausgezeichnet und in dieser Beziehung von uns auch schon früher herbeigezogen worden.29 So eigen klingen im Mittelsatze die langgezogenen Töne »Bleib bei uns« durch das Stimmengespinnst hindurch und über demselben hin, als hörte man ferne Rufe über das dämmernde Feld. Lange, tiefdunkle Schatten fallen in das Bild des Anfangs und Schlusses; Bach selbst hat gesorgt, daß wir seine Absicht nicht mißverstehen können, da er dasselbe Tonmittel auch in der Tenorarie einer weltlichen Cantate gebraucht, wo es die Worte zu illustriren gilt: »Frische Schatten, meine Freude, sehet wie ich schmerzlich scheide.«30 Die abwärts strebende Bewegung mancher Partien stimmen das Gemüth wie das Niedersinken der Nacht. Auch an verschiedenen Stellen der von edler Sehnsucht getränkten Altarie wird das Hereinbrechen der Finsterniß durch Klang und Harmonienfolgen seltsam schaurig dargestellt. Mochte Bach geglaubt haben, es sei nun nach dieser Richtung genug geschehen, oder veranlaßten ihn andre Dinge – das schöne, namentlich für Vesper-Gottesdienste beliebte Abendlied »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ«, welches die Mitte der Cantate bildet, läßt als Bachsche Composition einiges an Tiefe zu wünschen. Wie in einem Orgeltrio singt der Sopran den Cantus firmus, während Generalbass und ein Violoncello piccolo contrapunktiren. Letzeres ent wickelt seine Tonreihen aus der ersten Choralzeile, ergeht sich dann aber bald in merkwürdigen Sprüngen, Arpeggien und Läufen. Am Schlusse, wo man die Wiederkehr desselben [555] Chorals erwartet, steht die zweite Strophe von »Erhalt uns Herr bei deinem Wort«, was wohl durch die lehrhafte Wendung, welche der Text hernach nimmt, veranlaßt ist. Jedenfalls hält gegenüber der ergreifenden Schönheit der ersten beiden Stücke das übrige nicht Stand.
Die Cantaten »Es wartet alles auf dich« (7. Trinitatis-Sonntag)31 und »Wer Dank opfert, der preiset mich« (14. Trinitatis-Sonntag)32 sind für die Messen in G moll und G dur benutzt worden. Sie müssen also vor deren Entstehungszeit geschrieben sein und diese ist um 1737. Auf das Evangelium von der Speisung der Viertausend Bezug nehmend preist der Hauptchor der ersten Cantate mit den Worten des Psalmisten (Ps. 104, 27 und 28) die Güte Gottes, der mit unerschöpflichen Gaben alle Creatur ernährt. Der Chor ist großartig entworfen und reich ausgeführt, nur für den Gegenstand auffällig düster. Im Verlaufe des Werkes, das sich zu einer umfassenden Darlegung von Gottes Wohlthaten erweitert, wird dieser Ton auch nicht festgehalten. Über Worte der Bergpredigt (Matth. 6, 31 und 32) entwickelt sich eines jener Bass-Ariosos, die schon an der Gränze der Arie stehen, voll des lehrhaften Eifers, der Bach so schön kleidet. Die Alt- und Sopran-Arie aber wogen so goldig und quellend entgegen, wie der Segen reifender Saatfelder. Es ist in ihnen etwas von der warmen, schönen Sinnlichkeit, die erst Mozart ganz entfalten sollte. Hinreißend ist in der Sopranarie das Un poco allegro im 3/8 Takt, in welchem rhythmisch verändert auch das Hauptthema des Adagio wiederauftaucht. Die alterthümliche Weise des Danklieds »Singen wir aus Herzensgrund« leitet wieder mehr in die Stimmung des Hauptchors zurück. Die Cantate »Wer Dank opfert« besingt ebenfalls die Macht und Güte Gottes, aber durchweg in helleren Farben. In einer prachtvollen Fuge strömt der Jubelgesang des Hauptchores dahin. Die Mitte der Cantate thut sich durch ein Stückchen erzählenden Bibelwortes hervor, von welchem die Betrachtung einen neuen Ausgang nimmt. Ebenso ist es in der Himmelfahrts-Musik »Gott fähret auf mit Jauchzen.«
[556] In die Zeit von 1738–1741 fallen noch drei Cantaten mit freien Hauptchören, welche mehr oder weniger aus Überarbeitungen hervorgegangen sind. Eine Musik auf das Johannisfest »Freue dich, erlöste Schaar« wird auf den 24. Juni 1738 zu setzen sein. Sie gründet sich auf die weltliche Cantate »Angenehmes Wiederau«33, und giebt einer wohligen Stimmung Ausdruck, welche weniger zu dem dogmatischen Charakter des Festes paßt, als zu der Jahreszeit, in welcher es gefeiert wurde. Ungefähr in dieselbe Zeit, vielleicht schon in den Spätherbst 1737 gehört eine umfangreiche Brautmessen-Musik »Gott ist unsre Zuversicht.« Alle Hauptstücke ihres zweiten Theils sind der Weihnachts-Cantate »Ehre sei Gott in der Höhe« entnommen.34 Der große Anfangschor ist sehr wohllautend, leicht faßlich und doch gehaltvoll. Eine bezaubernde Süßigkeit, wie sie nur in Bachschen Hochzeits-Cantaten vorkommt, liegt in den weitgespannten Melodien der Alt-Arie. Die Aufschrift In diebus nuptiarum, welche das Werk trägt, deutet wohl auf eine weitläufige, solenne Feier, vermuthlich für hochgestellte Personen. Aus einer Hochzeitscantate endlich, welche nur noch unvollständig erhalten ist, aber ein sehr bedeutendes und interessantes Werk gewesen zu sein scheint, hat Bach etwa 1740 oder 1741 eine Pfingst-Cantate »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe« gebildet.35 Sie enthält zwei Chöre und zwischen kurzen Recitativen in der Mitte eine Alt-Arie »Wohl euch ihr auserwählten Seelen.« Die Übertragung wird fühlbar an der Kürze des schließenden Chors, der in der Trauungs-Cantate diesen Zweck nicht hatte. Ebenso an der Arie, welche die bräutliche Stimmung in keinem Theile verkennen läßt. Von allem was Bach in diesem Sinne schrieb steht sie mit ihrem keuschen und berauschenden Duft, ihrem Klangzauber, ihren wonnigen Melodien unbedingt am höchsten und wohl als ein schlechthin unerreichbares da. Auch um die prachtvolle Blume des ersten Chors[557] schwebt ein Schein von menschlichen Liebesflammen, der bei Bachs Reinheit und Idealität freilich für die Pfingstbestimmung nicht gradezu störend wird, aber sich doch erst unter dem ursprünglichen Zwecke des Chores ganz verstehen läßt.
Schon früher ist nachgewiesen worden, daß Bach auch Instrumentalwerke für Kirchen-Cantaten ausnutzte, und zwar nicht nur als Sinfonien sondern auch zu Sologesängen.36 Zwei Cantaten liegen vor, in denen aus Instrumentalsätzen gar Chöre gemacht sind, eine Weihnachts-Cantate »Unser Mund sei voll Lachens«37 und eine Jubilate-Musik »Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen.«38 Ähnlich wie im Gloria der A dur-Messe ist der Chor in das Instrumentalstück hineingebaut, ohne daß dieses wesentlich verändert wurde. Zu der Weihnachts-Musik hat Bach die Ouvertüre einer Orchesterpartie in D dur benutzt.39 Wir wissen nicht sicher, wann diese entstand; doch macht ein Vergleich mit der C dur- und H moll-Partie es wahrscheinlich, daß Bach sie nicht schon in Cöthen, sondern erst in Leipzig schrieb, als ihm die Direction des Musikvereins auch solche Aufgaben wieder nahe brachte. Da wir aus der Zeit von 1723–1734 bereits drei Cantaten zum ersten Weihnachtstage von ihm besitzen und er auch die Leitung des Musikvereins erst 1729 übernahm, so ist es unwahrscheinlich, daß er die Cantate »Unser Mund sei voll Lachens« vor 1734 componirt hat.40 Nur das fugirte Allegro der Ouverture ist mit erstaunlicher Meisterschaft zum Chor umgebildet; die Grave-Sätze bilden Vor- und Nachspiel. Ähnlich hat Bach die Form in der Cantate »Preise Jerusalem den Herrn« und auch in der Choral-Cantate »In allen meinen Thaten« verwendet,41 während er anderswo (»Nun komm der Heiden Heiland«, »Höchsterwünschtes Freudenfest«, »O Ewigkeit, du Donnerwort«) den Chor auch am Grave sich betheiligen läßt.42 Der pompöse Charakter der französischen Ouverture machte sie für eine Weihnachtsmusik wohl geeignet, wenngleich nicht zu leugnen ist, daß durch die Beschränkung des Chors auf das Allegro dieses ein [558] Übergewicht erhält, das mit der Idee der Form nicht im Einklange steht. Es findet sich außerdem in der Cantate das Virga Jesse floruit des Magnificat43 auf die Worte des »Ehre sei Gott in der Höhe« übertragen. Die übrigen Solostücke, welche sämmtlich neu componirt zu sein scheinen, sind von hervorragendem Werth, und drücken, namentlich die Alt-Arie, eine tiefe männliche Empfindung aus, welche man so in den früheren Leipziger Cantaten nicht finden dürfte. Ganz dasselbe gilt von der Cantate »Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen«. Ein Vergleich der von obligater Orgel begleiteten Alt-Arie »Ich will nach dem Himmel zu« mit der Arie »Willkommen will ich sagen« aus der Cantate »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende«44 dürfte dies deutlich machen. Die Arien haben sehr viel Ähnlichkeit, auch in der Gesangsbesetzung und Begleitung, aber der Überschwang der Todessehnsucht erscheint hier mehr nach Innen gezogen. Als Instrumentalstück ist für die Cantate das nämliche D moll-Concert benutzt, welches Bach schon der Cantate »Ich habe meine Zuversicht« als Einleitung vorausschickte, nachdem das Rückpositiv der Thomas-Orgel selbständig spielbar gemacht worden war.45 Hier aber dient zur Sinfonie nur der erste Satz, in das Adagio ist der Hauptchor so hineingefügt, daß der Part des concertirenden Soloinstrumentes unbeeinträchtigt nebenher geht – eine That virtuoser compositorischer Gewandtheit.
Von den vier Cantaten zum Trinitatis-Feste, welche sich erhalten haben, ist noch eine unerwähnt geblieben, über deren Entstehungszeit nichts genaueres zu ermitteln war. Sie wird aber schon deshalb, weil während der Jahre 1723–1732 nicht weniger als drei jener Cantaten entstanden sind (»Höchsterwünschtes Freudenfest«, »O heilges Geist- und Wasserbad«. »Gelobet sei der Herr«), in eine spätere Zeit zu setzen sein, und ihre musikalische Beschaffenheit stimmt zu dieser Vermuthung. Ganz besonders der Hauptchor, dessen energievolle Charakteristik ihn zu einem würdigen Seitenstücke der Chöre »Herr deine Augen sehen nach dem Glauben«, »Ihr werdet weinen und heulen«, »Gott fähret auf mit Jauchzen« und anderer macht. Bei aller rein musikalischen Schönheit bietet doch [559] die Cantate als Ganzes ein unlösliches Räthsel. Nach dem Evangelium schleicht sich Nikodemus, ein vornehmer Pharisäer, bei Nacht zu Jesu, um sich von ihm belehren zu lassen. In diesem Vorgange erkennt der Textdichter ein Beispiel schwächlichen Kleinmuths und leitet daher seine Dichtung mit dem Bibelspruch ein »Es ist ein trotzig und verzagt Ding um aller Menschen Herze«. Wenn es nun, meint er weiter, der Christ eben so mache, und Jesus nicht öffentlich zu suchen wage, so geschehe es im Gefühl der Scham über die eigne Unzulänglichkeit. Aber in der Hoffnung auf Errettung durch den Glauben dürfe man Muth fassen. Der Gedankengang wird Bach so klar gewesen sein, wie uns; es ist deshalb unbegreiflich, warum er sich durch seine Musik in den entschiedensten Widerspruch zu ihm gesetzt hat. Nicht auf die Verzagtheit legt er im ersten Chore den Nachdruck sondern auf den Trotz. Und ein titanischer Trotz ist es, der in dem furchtbar energischen Fugenthema gegen den Himmel stürmt. Das Stück an sich ist eine Meisterleistung höchsten Ranges, aber sein Charakter hebt jeden innern Zusammenhang mit dem Folgenden auf. Im schroffen Gegensatze hierzu steht die gavottenartige erste Arie. Sie ist als Musikstück höchst reizvoll, aber sie paßt nicht einmal zu ihrem eignen Text, welcher von der Schüchternheit des Christen gegenüber dem gotterfüllten, wunderwirkenden Jesus handelt. Wenn nun auch im weiteren Verlaufe das Verhältniß zwischen Text und Musik ein angemesseneres wird, so ist doch eine harmonische Gesammtwirkung unmöglich gemacht. Verböte es nicht die Beschaffenheit des Autographs, so würde man eine Übertragung der ersten beiden Stücke muthmaßen. So aber bleibt nur übrig, den Widerspruch einfach aufzuzeigen.46
Wie in dieser Trinitatis- und der vorher beschriebenen Weihnachts-Musik sich außer zu Anfang auch in der Mitte ein Bibelspruch findet – eine Form, deren häufige Wiederkehr grade in den Cantaten dieser Zeit man schon bemerkt haben wird –, so auch in den beiden letzten, die uns als mit freien Hauptchören versehen noch zu berühren übrig sind. »Brich dem Hungrigen dein Brod« gehört dem ersten, »Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist« dem achten Trinitatis-Sonntage[560] an.47 Die Ähnlichkeit beider hinsichtlich der musikalischen Disposition und des Geistes, in welchem sie ausgeführt sind, fällt in die Augen. Der Chor der ersteren Cantate, über zwei schöne Verse des Jesaias (58, 7 und 8) gesetzt, führt dem Sinne nach mehr noch jenen Bergpredigt-Spruch aus »Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen«, wie denn auch die Cantate mit der sechsten Strophe der versificirten Seligpreisungen ausklingt.48 Ein ergreifendes Bild christlicher Liebe, wie sie mit zarter Hand und wehmüthige Theilnahme im Blick die Leiden der Brüder lindert, hieraus den schönsten Lohn des Lebens erwerbend. Die eigenthümliche zwischen Flöten, Oboen und Geigen getheilte Begleitung – zusammenhängend findet man sie T. 17 ff. – ergab sich Bach zunächst wohl aus der Vorstellung vom Zerbrechen des Brodes. Wie wenig er aber hierbei auf kleinliche Spielerei ausging, zeigt sich aus dem Verlauf, wo zu ganz andern Worten die Begleitung sich fortsetzt. Sie verleiht dem Stück einen eigen zarten und schwebenden Anstrich; dies war es was Bach hauptsächlich wollte. An der Spitze des zweiten Theils der Cantate steht der Spruch Ebräer 13, 16: »Wohlzuthun und mitzutheilen vergesset nicht, denn solche Opfer gefallen Gott wohl«. Er wird vom Bass in der bekannten Weise gesungen. Die beiden Arien haben einen liebevoll geschäftigen, freundlichen Ausdruck. Das Evangelium des Sonntages handelt vom reichen Mann und armen Lazarus. – Dagegen ist die ganze andre Cantate eine mächtige protestantische Predigt über die Pflichten, deren Erfüllung Gott von den Christen fordert, damit sie einst vor seinem Gerichte bestehen. Ein strenger Charakter ist allem aufgeprägt; dem Hauptthema des ersten Chors, welches immer wieder auf denselben Fleck schlägt, fehlt sogar ein Zug von orthodoxer Härte nicht. Aber keine unfruchtbare Erstarrung in überkommenen Dogmen liegt ihr zu Grunde, sondern lebendige Begeisterung für ein erhabenes Ziel, welche sich brausend durch das Bette des weitgeformten Chores ergießt.
Ein gewaltiger Torso einer Kirchen-Cantate ist uns noch erhalten in einem Doppelchor mit reichster Instrumentalbegleitung [561] über die Worte Offenbarung Johannis 12, 10 (»Nun ist das Heil und die Kraft«).49 Ein Torso muß er heißen, da es offenbar ist, daß er in der vorliegenden Gestalt keinerlei kirchliche Verwendung gefunden haben kann. Den Platz der regelmäßigen Kirchenmusik konnte er nicht einnehmen, dazu ist er zu kurz; als Motette konnte er der concertirenden Begleitung wegen nicht gelten; ihn unter der Communion aufgeführt zu denken verbietet natürlich der Inhalt. Andre Gelegenheiten aber gab es nicht. Sicherlich bildete er den Eingang einer vollständigen Michaelis-Cantate, auch darf angenommen werden, daß er ein Orchestervorspiel hatte. Das reckenhafte Stück mit seiner zermalmenden Wucht und seinem wilden Siegesjubel ist aber auch für sich ein unvergängliches Denkmal deutscher Kunst.50 –
Solocantaten, welche in die spätere Leipziger Zeit fallen könnten, sind nur äußerst wenige vorhanden. Ein Dialogus zwischen Jesus und der Seele für den zweiten Weihnachtstag (»Selig ist der Mann, der die Anfechtung erduldet«)51 gehört in die Gattung derjenigen Compositionen, die mehr geistliche Hausmusik vorstellen als Kirchenmusik. Von christfestlicher Empfindung findet sich garnichts darin, und wäre nicht die Bestimmung ausdrücklich angegeben, so würde niemand an Weihnachten denken. Anders steht es mit einem Werke auf den dritten Christtag, »Süßer Trost, mein Jesus kommt«52. Wie tief und umfassend Bach auch im Weihnachts-Oratorium, in einzelnen Arien früherer Cantaten53 die kirchliche Feststimmung ausgedrückt hatte, diese Cantate beweist, daß das Thema von ihm noch nicht erschöpft war. Die unschuldige Weihnachtsseligkeit hat hier einen eigen verklärten Charakter angenommen. Wie ein Friedensengel über der nächtlichen Stadt schwebt die silberhelle Sopranstimme mit ihren langgezogenen, einfachen, seligen Melodien, [562] durch welche eine Oboe zarte Gewinde schlingt. Der Mittelsatz der ersten Arie hat andern Takt und Zeitmaß, eine Form, die Bach in der Leipziger Zeit nicht selten anwendet54. Die zweite Arie wiegt sich anmuthig in tieferen Regionen; der Weihnachtschoral »Lobt Gott ihr Christen allzugleich« schließt das schöne kleine Werk. Ein andrer, für den ersten Epiphanias-Sonntag componirter Dialogus (»Liebster Jesu, mein Verlangen«)55 ist da durch für uns besonders interessant, daß Bach in dem Duett »Nun verschwinden alle Plagen« einen Gedanken weiterführt, den er schon in einer früheren Cantate auf denselben Epiphanias-Sonntag vorgebracht hatte56. Diesem Dialogus haben wir eine Cantate auf den zweiten Epiphanias-Sonntag, »Meine Seufzer, meine Thränen« an die Seite zu stellen57. Es bezeichnet die Ärmlichkeit und einseitige Richtung der damaligen kirchlichen Poesie, daß man dem Evangelium von der Hochzeit zu Cana, dessen anschauliche Schilderung durchaus einen edel-heiteren Grundton hat, kein andres Motiv abgewinnen konnte, als das unzählig oft benutzte: Jesus hilft dem in seiner Noth verzagenden Sünder. Mehr oder minder variiren alle hervorragenden Cantatendichter der Zeit diesen einen Gedanken. Die drei Cantaten, welche Bach für den Sonntag componirte58, sind ebenfalls sämmtlich auf diesen Grundton gestimmt. Am hartnäckigsten wird die Empfindung der Noth, des »Ächzens und erbärmlichen Weinens« um Rettung aber in der vorliegenden Musik festgehalten. Bis auf den Schlußchoral kaum ein Sonnenblick in diese trübe, dicht umwölkte Welt. Ein fester verschlungenes Netz von Trauertönen, wie in den Arien für Bass und Tenor, hat Bach nie gesponnen. Es scheint nicht möglich, daß diese Vereinigung von tiefer, spontaner Empfindung und ausbündiger Künstlichkeit je übertroffen werden könnte. Seinem natürlichen Kunstgefühle folgend hat der Meister der Choralfantasie, welche die beiden Arien trennt, einen etwas milderen und schlichteren [563] Charakter gegeben. Die Sechzehntelbewegungen der Violinen fächeln Kühlung, obwohl der Text des Chorals dieser Auffassung widerspricht, und daher auch eine wirkliche Beruhigung des Gemüths nicht erreicht wird. Bach liebte in Schmerzen zu schwelgen, ihm waren derartige Cantatendichtungen willkommene Aufgaben. Man sieht aber aus diesem Werke wieder, wie die selbstgenügsame Musik sich leise von ihrem Urgrunde, der Kirche zu lösen beginnt. Ein solches Werk paßte doch gewiß nicht in einen Gottesdienst, der die Christen dem Evangelium gemäß durch den Gedanken erbauen sollte, daß Christus mit den Seinen Gemeinschaft hält, sie mit seinen Gaben labt, fröhlich ist im Kreise fröhlicher Menschen. Selten genug kommt es allerdings vor, daß man von einer Bachschen Kirchenmusik sagen muß, sie erfülle nicht ihre liturgische Bestimmung. In hohem Grade zweckentsprechend sind wieder die Cantaten auf den 25. Trinitatis-Sonntag »Es reifet euch ein schrecklich Ende« und auf Quasimodogeniti »Am Abend aber desselbigen Sabbaths«. Erstere ist ein mächtig ergreifendes Stück trotz der sparsam aufgewendeten Mittel59. Letztere wird durch eine liebliche Sinfonie eingeleitet, welche, die Form eines ersten Concertsatzes in geistreicher Verbindung mit der dreitheiligen Arienform darbietend, irgend einer weltlichen Instrumentalcomposition entnommen sein muß60. Auch der Anfang der Alt-Arie scheint auf einer Entlehnung zu beruhen. Das Duett zwischen Sopran und Tenor behandelt eine Choralstrophe: »Verzage nicht, o Häuflein klein«, aber nur den Text; die Musik ist frei erfunden. Hier treffen wir Bach wieder auf dem Wege, den wir ihn mit den Cantaten »Gelobet sei der Herr«, »In allen meinen Thaten« und andern einschlagen sahen61. Jede von all diesen Solocantaten ist unter verschiedene Stimmen vertheilt; auch stehen am Schluß vierstimmige Choräle. Nur die Cantate »Meine Seele rühmt und preiset« singt der Tenor allein, und sie hat keinen Choral. Sie gehört also mit den Gesangswerken »Ich habe genug«, »Widerstehe [564] doch der Sünde« und andern62 in dieselbe Gattung. Da ihr, obgleich an der Echtheit nicht zu zweifeln ist, doch einstweilen jede ältere diplomatische Grundlage fehlt, so erwähne ich sie hier nur abschließend63. –
Wir gelangen zu derjenigen Cantatenform, in welcher Bachs kirchliche Schaffenskraft endlich ausläuft und zu Kühe kommt. Es darf allerdings nicht vergessen werden, daß ein Theil seiner Kirchencantaten verloren gegangen ist. Da unter diesen sich gewiß auch solche befunden haben werden, die in Leipzig componirt worden sind, so könnte sich, kämen sie wieder zu Tage, das Verhältniß der Gruppen, in welchen die verschiedenen Formen sich darstellen, wohl noch etwas verschieben. Immerhin ist durch eine große Anzahl gleichgestalteter, gleichzeitiger Werke sicher zu erweisen, daß Bach in der letzten Lebensperiode mit einer selbst bei ihm sonst nicht vorkommenden Stetigkeit in einer und derselben Form verharrte. Diese Form ist die Choralcantate.
Es muß nochmals daran erinnert werden, daß Bach um 1732 auf den Gedanken kam, Kirchenlieder durchzucomponiren; so nämlich, daß nur bei einigen Strophen die zugehörige Melodie beibehalten wurde, andre Strophen aber ohne weiteres zu Texten für Recitative und Arien dienen mußten64. Ich nannte diese Cantaten Übergangs- oder abschweifende Bildungen, welche auf oder an dem Wege zu höheren Formen lagen. Solche Bildungen haben vereinzelt auch noch in andrer Weise stattgefunden: ein Choral wurde als Mittelpunkt gedacht, wurde aber bald musikalisch bald poetisch nicht voll als solcher ausgeprägt. In einer Cantate auf den 19. Trinitatis-Sonntag65 tritt er im Hauptchore nur instrumental auf. Der Chor entwickelt in Imitationen die Worte Römer 7, 24 »Ich elender [565] Mensch, wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes?« Den Instrumenten ist ein selbständiger zwölftaktiger Gedanke zugetheilt, welcher sich immer von neuem abspielt, derart wie wir es bei dem Choral »Was Gott thut, das ist wohlgethan« der Cantate »Die Elenden sollen essen« kennen gelernt haben66. Dazu blasen Trompete und Oboen den Choral im Canon der Quinte; am Schluß wiederholt die Trompete allein nochmals die beiden ersten Zeilen, sodaß in der Form der musikalischen Frage geschlossen werden kann. Um den vollen poetischen Sinn zu fassen, muß man die der Choralmelodie zugehörigen Worte wissen. Sie lauten:
Herr Jesu Christ, ich schrei zu dir
Aus hochbetrübter Seele,
Dein Allmacht laß erscheinen mir
Und mich nicht also quäle.
Viel größer ist die Angst und Schmerz,
So anficht und turbirt mein Herz,
Als daß ichs kann erzählen.
Den Schluß der Cantate macht dann die einfach vierstimmige zwölfte Strophe. In der Mitte aber begegnet uns noch eine zweite Choralmelodie: die vierte Strophe von »Ach Gott und Herr« in einem vierstimmigen Satze, der an modulatorischer Kühnheit das Unglaubliche wirklich macht. Die madrigalischen Mittelstücke stehen zum Choral in keinerlei Beziehung. Unter ihnen ist die Tenorarie in rhythmischer und modulatorischer Hinsicht ein apartes, besonders interessantes Musikstück. – Eine andre, dem 15. Trinitatis-Sonntage gehörende, Cantate verwendet die drei ersten Strophen des Hans Sachs'schen Liedes »Warum betrübst du dich, mein Herz«67. Die ersten beiden Strophen, welche einander fast unmittelbar folgen, sind von frei gedichteten madrigalischen Recitativen durchzogen, wie wir dieses schon in den Cantaten »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende«, »Herr wie du willst, so schicks mit mir« und anderwärts gehabt haben. Daß aber den ersten drei Zeilen der ersten Strophe jedesmal ein kurzes Tenor-Arioso über die betreffenden Worte des Kirchenlieds vorausgeschickt wird, darin tritt die Richtung hervor, [566] welche Bach mit den obenerwähnten, ganz über Kirchenlieder gesetzten Cantaten einschlug. Die Tonreihen der Arioso-Stellen sind dem Haupt-Motive nachgebildet, aus welchem das Instrumentalstück sich aufbaut, das sich so anläßt als sollte der ganze Satz eine Choralfantasie werden. Aber dazu kommt es nicht; so oft der Chor eintritt, beschränken sich die Instrumente auf die einfachste Begleitung. Auch ist es dem Wesen der Choralfantasie entgegen, daß jede der drei ersten Zeilen vor dem Anheben des Gesanges von der ersten Oboe vorgespielt wird. Eine gewisse Buntheit und Unruhe ist auch der zweiten Choralstrophe eigen. Anfänglich zeigt sie sich im einfachsten vierstimmigen Satze, dagegen werden die beiden letzten Zeilen reich und motivisch contrapunktirt, und – was fast das merkwürdigste ist – sie kehren nach einem Zwischenrecitativ beinahe genau so noch einmal wieder. Die dritte Strophe steht am Schlusse; sie ist eine wirkliche Choralfantasie, das instrumentale Tonbild freilich von einer Einfachheit, der man bei Bach in solchen Fällen nicht grade häufig begegnet. Indessen ist dieses, so wie das anspruchslose Wesen der vorhergehenden Choralsätze, wohl durch den Inhalt des Sonntags-Evangeliums bedingt worden: der gläubige Christ soll in kindlicher Unbekümmertheit die Sorge für das leibliche Wohl dem göttlichen Vater überlassen, gleich den Vögeln unter dem Himmel und den Lilien auf dem Felde. Was viel mehr der Cantate das Gepräge einer unfertigen Übergangsbildung giebt, ist die subjectiv-willkürliche Ausführung der ersten Choralstrophen und die seltsame Disposition des Ganzen. Ein Choralsatz am Anfange und Schluß mit madrigalischen Mittelstücken, oder drei verschiedene Choralformen zu Anfang, in der Mitte und am Ende mit madrigalischem Beiwerk sind verständlich; eine Form, die zwei buntgewirkte Choralsätze auf einander folgen läßt, dann eine madrigalische Bass-Arie bringt, und mit einer Choralfantasie abschließt, ist es weniger. Die Entstehungszeit dieser und der vorher besprochenen Cantate konnte nicht genauer ermittelt werden. Erstere muß aber vor der G dur-Messe geschrieben sein, da in ihr die Bass-Arie als überarbeitetes Stück wieder vorkommt.
Was man im strengsten Sinne Choralcantate nen nen kann, davon hat Bach in der ersten Leipziger Periode nur einzelne zerstreute Proben gegeben. Die Cantaten »O Ewigkeit, du Donnerwort« (F dur),[567] »Liebster Gott, wann werd ich sterben«, »Wer nur den lieben Gott läßt walten«, »Was Gott thut, das ist wohlgethan« (zweite Composition) und »Es ist das Heil uns kommen her« weisen die Form vollausgebildet auf. Nahe angränzend an dieselbe sind »Wachet auf, ruft uns die Stimme« und die am Anfang der letzten Periode stehende »War Gott nicht mit uns diese Zeit«. Die Hauptmasse der Choral-Cantaten möge nun zunächst hier zusammengestellt werden:
1. Ach Gott vom Himmel sieh darein (2. Trinitatis-Sonntag).
2. Ach Gott, wie manches Herzeleid (2. Epiphanias-Sonntag).
3. Ach Herr, mich armen Sünder (3. Trinitatis-Sonntag).
4. Ach lieben Christen seid getrost (17. Trinitatis-Sonntag).
5. Ach wie flüchtig, ach wie nichtig (24. Trinitatis-Sonntag).
6. Allein zu dir, Herr Jesu Christ (13. Trinitatis-Sonntag).
7. Aus tiefer Noth schrei ich zu dir (21. Trinitatis-Sonntag).
8. Christum wir sollen loben schon (2. Christtag).
9. Christ unser Herr zum Jordan kam (Johannisfest).
10. Das neugeborne Kindelein (Sonntag nach Weihnachten).
11. Du Friedefürst, Herr Jesu Christ (25. Trinitatis-Sonntag).
12. Erhalt uns Herr bei deinem Wort (6. Trinitatis-Sonntag).
13. Gelobet seist du, Jesu Christ (1. Christtag).
14. Herr Christ der einig Gottssohn (18. Trinitatis-Sonntag).
15. Herr Gott, dich loben alle wir (Michaelisfest).
16. Herr Jesu Christ, du höchstes Gut (11. Trinitatis-Sonntag).
17. Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott (Estomihi).
24. Meinen Jesum laß ich nicht (1. Epiphanias-Sonntag).
25. Meine Seele erhebet den Herren (Maria Heimsuchung).
[568] 26. Mit Fried und Freud ich fahr dahin (Maria Reinigung).
27. Nimm von uns Herr, du treuer Gott (10. Trinitatis-Sonntag).
28. Nun komm, der Heiden Heiland-H moll- (1. Advent).
29. Schmücke dich, o liebe Seele (2. Trinitatis-Sonntag).69
30. Was frag ich nach der Welt (9. Trinitatis-Sonntag).
31. Was mein Gott will, das gscheh allzeit (3. Epiphanias-Sonntag).
32. Wie schön leuchtet der Morgenstern (Maria Verkündigung).
33. Wo Gott der Herr nicht bei uns hält (8. Trinitatis-Sonntag).
34. Wohl dem, der sich auf seinen Gott (23. Trinitatis-Sonntag).
35. Wo soll ich fliehen hin (19. Trinitatis-Sonntag).
Abgesehen von den Cantaten 3, 6, 16, 20, 27, 32, 33 und 34 gehören die übrigen siebenundzwanzig schon wegen ihres handschriftlichen Aussehens in einen und denselben engeren Zeitraum. Soweit sich genaueres über die Entstehungszeit sagen läßt, ist die Cantate »Du Friedefürst Herr Jesu Christ« unter ihnen die späteste, denn sie fällt auf den 15. November 1744. Zu den frühesten dagegen scheinen »Was frag ich nach der Welt«, »Wo soll ich fliehen hin«, »Ich freue mich in dir« und »Jesu nun sei gepreiset« zu gehören. Von diesen dürfte die erste für den 7. August 1735, die zweite für den 16. October 1735, die dritte für den 27. December 1735 und endlich die vierte für den 1. Januar 1736 geschrieben sein70.
Es handelt sich, wie man sieht, bei diesen fünf und dreißig Cantaten um eine Reihe der schönsten und größtentheils auch bekanntesten [569] protestantischen Choräle des sechzehnten und siebenzehnten Jahrhunderts. In welcher Weise diese benutzt sind und worin demnach das Wesen der eigentlichen Bachschen Choralcantate besteht, wäre, nachdem der Gegenstand bisher nur einige Male angestreift werden konnte, nunmehr vollständig zu zeigen.
Einer jeden Cantate liegt das betreffende ganze Kirchenlied zu Grunde. Bei längeren Dichtungen sind wohl einmal einige Strophen übersprungen; es ist dabei aber keine Schädigung oder Änderung des Gedankenganges eingetreten, sondern nur nach dem Grundsatze verfahren, nach dem gelegentlich ja auch beim Gemeindegesange diese und jene Strophe ausgelassen wird. Jedoch treten in ihrer Originalgestalt regelmäßig nur die erste und letzte Strophe auf, mit denen immer auch die Originalmelodie verbunden er scheint. Seltener thun sich im Verlaufe noch eine oder mehre Strophen des ursprünglichen Textes hervor, welchen dann ebenfalls die Kirchenmelodie als etwas unabtrennbares anhaftet. Übrigens sind die Strophen madrigalisch umgeformt und dienen so als poetischer Stoff für die freien concertirenden Solostücke. Um eine grundlegende Vorstellung von der auf diese Art entstandenen eigenthümlichen Poesie zu geben, sollen hier ein Kirchenlied und dessen madrigalische Paraphrase einander gegenüber gestellt werden.
Wie man sieht schließt sich hier der madrigalische Text, von kleinen Kürzungen und Erweiterungen abgesehen, ganz genau an die Urform an. Die Gedanken sowohl als auch zum Theil die sprachlichen Wendungen und einzelnen Worte sind dieselben geblieben. Das Kirchenlied erscheint ohne wesentliche Änderungen nur gleichsam in einer Umhüllung. In derselben Weise sind alle andern Cantatentexte gestaltet, nur ist der Anschluß bald strenger bald freier. In den Cantaten z.B. »Ach Gott vom Himmel sieh darein«, »Ach Herr, mich armen Sünder«, »Erhalt uns Herr bei deinem Wort«, »Liebster Immanuel, Herzog der Frommen«, »Schmücke dich, o liebe Seele«, »Wo soll ich fliehen hin«, folgt die madrigalische Umformung dem Grundtext mit bemerkenswerther Genauigkeit. Anderwärts, wie in »Christum wir sollen loben schon«, »Mache dich, mein Geist, bereit«, »Nimm von uns Herr, du treuer Gott«, »Nun komm, der Heiden Heiland«, »Wie schön leuchtet der Morgenstern«, »Herr Christ der einig Gottssohn« gebärdet der Dichter sich ungebundener, zuweilen sogar sehr frei, doch läßt sich an gewissen Schlagworten [572] die Paraphrase immer wieder als solche erkennen. Nur ausnahmsweise und an unwichtiger Stelle kommen selbständig erfundene Einschaltungen vor, so zum Bass-Recitativ von »Ach lieben Christen seid getrost« und »Das neugeborne Kindelein«, zum Alt-Recitativ von »Mit Fried und Freud« und »Wohl dem, der sich auf seinen Gott«. Auch das Alt-Recitativ der Cantate »Du Friedefürst, Herr Jesu Christ« ist frei gedichtet; dies hat seinen Grund offenbar in dem durch die Kriegsereignisse von 1744 bestimmten besondern Charakter des Werks. Waren die betreffenden Kirchenlieder nur kurz, so mußte eine größere Menge von Worten aufgewendet werden, um die nöthige Anzahl von Arien und Recitativen herauszuschlagen. Dies ist z.B. in »Meine Seele erhebet den Herren« geschehen71. Manchmal hat der Dichter in solchen Fällen die Strophen in je zwei Hälften zerlegt: die Alt-Arie der Cantate »Ich freue mich in dir« stützt sich auf die erste Hälfte der zweiten, die Sopran-Arie auf die erste Hälfte der dritten Strophe, die beiden letzten Hälften wurden für die nachfolgenden Recitative verwendet. Bei der Cantate »Jesu nun sei gepreiset« mußte gar sämmtliches Madrigalische – zwei Arien und zwei Recitative – aus der mittleren Strophe entwickelt werden. In der Cantate »Mit Fried und Freud« scheint der erste Arientext aus der Anfangsstrophe gezogen zu sein, obgleich diese vorher in ihrer Originalgestalt gesungen wird. Dagegen kommen bei sehr strophenreichen Liedern auch Zusammendrängungen vor. In »Ach Gott, wie manches Herzeleid«, sind Strophe 7–10 für das Tenor-Recitativ, in »Mache dich, mein Geist, bereit« Strophe 3–6 für das Bass-Recitativ verarbeitet. Das stärkste in dieser Beziehung wird innerhalb der Cantate »Ach wie flüchtig« geleistet, allwo das Alt-Recitativ sieben Strophen (3–9) in ebensovielen Zeilen abthut. Daß auch zuweilen Auslassungen gewagt worden sind, wurde oben schon bemerkt; ein Beispiel dazu bietet ebenfalls die Cantate »Ach Gott, wie manches Herzeleid«, wo nach dem Tenor-Recitativ die[573] Strophen 11–14, dann noch Strophe 17 und vorher schon 4 und 5 übersprungen worden sind.
Eine besondere Art der Paraphrase tritt dort ein, wo die Choralstrophe mit Recitativen umflochten ist. Entweder nämlich wird der Choral, bald ein- bald mehrstimmig, gesungen, und es schieben sich dann recitativische Gebilde zwischen die Zeilen, oder er wird von Instrumenten gespielt und eine Singstimme recitirt dazu. Dies kommt weder am Anfange noch Ende einer Cantate vor, pflegt dagegen zuweilen im Verlaufe derselben zu geschehen. Ich nenne beispielsweise die Cantaten »Ach Gott, wie manches Herzeleid«. »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«, »Das neugeborne Kindelein«, »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Ich hab in Gottes Herz und Sinn«. Hier steht die Recitativ-Dichtung mit der betreffenden Choralstrophe in keiner engeren Beziehung, sondern geht nur allgemein von den Gedanken derselben aus. Ist schon überhaupt jede Umschreibung eine Art von Erläuterung, so hier ganz besonders. In der lockern madrigalischen Form ließen sich gewisse erwünschte Hinweise leicht anbringen. Nicolais Lied »Wie schön leuchtet der Morgenstern« war nicht ursprünglich auf das Fest Mariä Verkündigung gedichtet. Sollte es diesem dienen, so war es angemessen, das anzuzeigen. Daher im Tenor-Recitativ, welches die zweite Strophe umschreibt, die Erwähnung des Engels Gabriel. Außerdem laufen noch einige Anklänge an die erste Strophe mit unter, was übrigens nicht hier allein geschieht. Die Tenor-Arie »Jesus nimmt die Sünder an« aus der Cantate »Herr Jesu Christ du höchstes Gut« phantasirt über die vorher wörtlich gebrachte vierte Strophe frei weiter und mischt zugleich einige Anspielungen auf das Sonntags-Evangelium vom Pharisäer und Zöllner ein. Wer die Texte der Choralcantaten genauer studirt und mit ihren Urbildern vergleicht, wird oft bemerken, wie der Dichter mit den Bildern, Gedanken und Worten eine Art von Versetzspiel ausführt, das manchmal etwas artiges und anregendes hat, oft aber auch nur den Eindruck des Mechanischen macht. Um von diesem Verfahren wenigstens innerhalb des Rahmens einer und derselben Strophe eine Vorstellung zu geben, führe ich noch die vierte Strophe des Liedes »Ach Gott vom Himmel sieh darein« und ihr madrigalisches Gegenstück an.
Daraus ist folgender Recitativ-Text gemacht worden:
Die Armen sind verstört,
Ihr seufzend Ach, ihr ängstlich Klagen,
Bei soviel Kreuz und Noth,
Wodurch die Feinde fromme Seelen plagen,
Dringt in das Gnadenohr des Allerhöchsten ein.
Darum spricht Gott: Ich muß ihr Helfer sein,
Ich hab ihr Flehn erhört;
Der Hülfe Morgenroth,
Der reinen Wahrheit heller Sonnenschein
Soll sie mit neuer Kraft,
Die Trost und Leben schafft,
Erquicken und erfreun.
Ich will mich ihrer Noth erbarmen,
Mein heilsam Wort soll sein die Kraft der Armen.
Die Mache der Choralcantaten-Texte ist durchweg zu sehr dieselbe, als daß man nicht annehmen sollte, sie rührten auch von demselben Dichter her. Picander besaß im Umformen eine große Leichtigkeit. Er hat uns diese schon mehrfach an seinen eignen Poesien bewiesen. Daß er auch Kirchenlieder geschickt nachzubilden wußte, zeigen die »Erbaulichen Gedanken«. Die Strophenlieder dieser Sammlung sind großentheils nichts anderes als Compilationen; Originalität fehlte ihm auf diesem Gebiete fast gänzlich, aber er compilirte so gewandt, daß doch einige der Dichtungen in den kirchlichen Gebrauch übergingen72. Und für einen Text wenigstens können wir ihn als Urheber nachweisen. Man erinnert sich, daß er seiner Zeit das Michaelislied aus den »Erbaulichen Gedanken« für[575] Bach zu der Cantate »Es erhub sich ein Streit« umformte73. Aus diesem Material hat er behufs der Michaelis-Cantate »Herr Gott, dich loben alle wir« wieder einiges benutzt, indem er die zweite Strophe des Liedes und den Schlußchoral der Cantaten-Dichtung zum Text der Tenor-Arie der letzteren Cantate zusammenschweißte.
Man irrt auch gewiß nicht mit der Annahme, daß zu dieser neuen Text-Art Bach selbst die Veranlassung gab, denn sein eignes Vergnügen konnte an ihr ein Dichter unmöglich finden. Daß Bach gegen die stroherne Poesie der gewöhnlichen Cantaten-Texte mit der Zeit einen Widerwillen empfand, ist begreiflich. Daß es aber sein mißliches habe, Kirchenlied-Strophen zu Recitativ- und Arien-Texten zu verwenden, mußte er auch bald merken. Die Widerspänstigkeit des Baus der Strophe gegen freie musikalische Behandlung war noch das geringere Übel. Für die feinere Empfindung bestand zwischen dem modernen Einzelgesange und der Kirchenliedstrophe ein fast eben so starker innerer Gegensatz, wie zwischen jenem und dem Bibelspruch. Was von Seiten der Musik geschehen konnte um die Kluft zu überbrücken, war durch die Richtung welche Bach seinem Kirchenstil gegeben hatte gewiß geschehen. Um die Überbrückung perfect zu machen mußte aber von der andern Seite ihm entgegengearbeitet werden. Durch die madrigalische Paraphrase wurde eine vermittelnde poetische Form hergestellt, die für ihren Zweck unübertrefflich genannt werden muß. Sie hielt den Zusammenhang mit dem Kirchenlied fest und ermöglichte einen gediegenen, angemessenen poetischen Inhalt. Zugleich ergab sie sich williger den vorhandenen musikalischen Ausdrucksformen. Dadurch aber, daß immer wenigstens Anfangs- und Endstrophe des Chorals, zuweilen auch noch mittlere Strophen in Wort und Melodie unangetastet stehen blieben und also die Grundfesten des Werkes bildeten, stellten sich die madrigalischen Stücke auch im Ganzen als leichtere aber aus demselben Stoffe gemachte Zwischenglieder dar.
In den Cantaten, welche Bach früher über unveränderte Kirchenlieder schrieb, hatte er zuweilen mit Anklängen an die Melodie ein phantastisches Spiel getrieben. In dieser Beziehung ist er jetzt zu strengeren, kirchlichen Grundsätzen zurückgekehrt. Die Choralmelodie [576] ist etwas heiliges und unberührbares. Die Kirchenmusik soll sich um dieselbe als festen Punkt krystallisiren, aber sie soll nicht selbst in die Bewegung des Gestaltungsprocesses hineingezogen werden. Höchstens ist eine Verbrämung und Umspielung derselben zu gestatten. Wo die Melodie im Zusammenhange eines subjectiveren Ergusses auftritt, wird solches manchmal in der That als das stilvollere erscheinen. Hauptsächlich die mittleren Partien der Choralcantaten bieten interessante Beispiele, wie Bach diesen Grundsatz befolgt hat. Hier stößt man nicht selten in madrigalischen Stücken auf vereinzelte Zeilen der Choralmelodie. Sie sind immer vollkommen ausgeprägt und mit bewunderungswürdiger Kunst in den freien Fluß des Stückes eingefügt. Nur einmal habe ich bemerkt, daß eine solche Melodiezeile auf fremde Worte gesungen wird. In der Tenorarie der Cantate »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« wird Takt 41–43 und Takt 52–55 zu den Worten »dein Sünd ist dir vergeben« zweimal die letzte Zeile der Melodie in ausgeschmückter Form vernehmlich. Es geschah wohl, weil der Text der Arie nur in ganz lockerer Beziehung zu einer Strophe des Kirchenlieds, der vierten, steht; durch diese musikalische Anspielung wurde die Arie fester an das maßgebende Kirchenlied geknüpft. Bemerkenswerth aber ist, daß die Worte keine frei erfundenen madrigalischen, sondern der Bibel entnommen sind74. Im übrigen schließt sich die Melodiezeile stets an den zugehörigen Text der betreffenden Strophe, welcher vom Dichter in die madrigalische Paraphrase eingeflochten war. Gleich das Duett derselben Cantate bietet hierzu Beispiele. Es ist über die siebente Strophe componirt, deren erste, dritte, fünfte und siebente Zeile wörtlich benutzt sind75; ihnen gesellen sich die betreffenden Melodiestücke, die dann immer sofort durch freie Erfindungen weiter geführt werden. Ähnlich schließt das Bass-Recitativ von »Schmücke dich, o liebe Seele« mit der fast wörtlich herübergenommenen letzten Zeile der achten Strophe ab; dazu in ein melismatisches Arioso aufgelöst die letzte Melodiezeile. Für die Kunst, eine gegebene Tonreihe ausdrucksvoll zu umspielen, [577] wer den diese Melodiefragmente Musterbilder höchsten Ranges bleiben. Die zwei Anfangstakte des Alt-Recitativs der Cantate »Ach Herr mich armen Sünder«, welches mit den Worten der vierten Strophe beginnt »Ich bin von Seufzen müde«, zeugen von einer ebenso genialen Umbildungskraft wie unvergleichlichen Tiefe der Empfindung. Nicht weniger Takt 44–47 der Tenor-Arie in derselben Cantate, wo der Gesang statt einen Secundenschritt abwärts zu thun plötzlich in die Septime hinaufschlägt. Das Bass-Recitativ der Cantate »Jesu, der du meine Seele« läuft aus in die wörtlich beibehaltene zweite Hälfte der zehnten Strophe:
Dies mein Herz, mit Leid vermenget,
So dein theures Blut besprenget,
So am Kreuz vergossen ist,
Geb ich dir, Herr Jesu Christ.
Zu einer seufzenden, durchaus selbständigen Begleitung der Saiteninstrumente variirt die Singstimme die vier letzten Melodiezeilen zu einem Gefühlserguß inbrünstigster Hingabe. Manchmal treten auch die Fragmente in ihrer natürlichen Einfachheit auf. In dem Duett der Cantate »Nimm von uns Herr« geschieht dies schon am Anfang, und nachher wiederholentlich, in der Alt-Arie der Cantate »Ach Gott vom Himmel sieh darein« geschieht es von Takt 55–59. Es macht auf den Verstehenden eine ganz eigne, durchschauernde Wirkung, wenn im Gewoge fremder Weisen unerwartet die allbekannten Töne des Chorals ans Ohr schlagen; eine Empfindung, wie wenn durch Wolken die Sonne dringt und auf einen Augenblick alles mit Licht übergießt, zur Gewähr gleichsam, daß sie obgleich zeitweise verborgen, als Lebenspenderin doch gegenwärtig sei. Zweimal werden solche Fragmente nicht nur vorübergehend eingeführt, sondern erweisen sich als Hauptpotenz eines ganzen Stückes. In der Cantate »Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott« befindet sich ein Bass-Gesang, welchem Bach den Namen »Recitativ und Arie« gegeben hat. Die »Arie« hat man sich in Takt 13 beginnend zu denken. Der Name wurde wohl der geschlosseneren Construction des Textes wegen gewählt und weil eine anfängliche musikalische Periode am Ende wiederkehrt, freilich zum Theil in andrer Tonart. In dem Texte, der übrigens hier wirklich poetisch ist, werden die sechste und siebente Strophe paraphrasirt und aus der sechsten die [578] erste, dritte und vierte Zeile wörtlich benutzt. Ihnen analog auch die melodischen Partien; zur vierten Zeile erscheint die Melodie melismatisch zerdehnt (Takt 33–37), zur ersten und dritten einfach, aber häufiger wiederholt und vom Instrumentalbasse imitirt. Und dieses eben stellt sich als der Hauptgedanke der ganzen »Arie« dar, mit welchem lebhaft bewegte Perioden im Sechsachteltakt und frei erfundenen Inhalts wechseln. Ebenfalls eine »Arie« für Bass bietet die Cantate »Nimm von uns Herr, du treuer Gott«. Sie ersetzt die vierte Strophe: »Warum willst du so zornig sein?« Ein aufgeregtes Vorspiel schildert gleichsam den Zorn. Dann intonirt der Bass im Andante die Anfangszeile mit der zugehörigen Melodie. Mit dem dritten Takte bricht aber der lebhafte Instrumentalsatz wieder herein, an dem sich nun in entsprechender Weise auch der Gesang betheiligt. Noch einmal unterbricht ihn die gemessene Bewegung der Choralmelodie, dann fluthet er in der parallelen Durtonart weiter. Als er sich aber nach Arienweise zur Haupttonart zurückwenden will, ergreifen die Instrumente die Choralmelodie. Sie begnügen sich nun nicht mehr mit der ersten Zeile; über den erregten Gängen des Sing- und Generalbasses schwimmt sie als vollständiges Ganze dahin, als sei sie durch die gesungenen Ansätze des Eingangs geweckt worden, und habe nur auf die Gelegenheit gewartet sich als Hauptsache geltend zu machen. Eine in diesen Cantaten mehrfach vorkommende Form: Choralmelodie in den Instrumenten und dazu Recitativ über frei erfundene Worte in der Singstimme, ist hier durch Bachs unerschöpfliche Kraft mit der Arie zu einer gänzlich neuen Form combinirt.
So erhält der Hörer innerhalb der madrigalischen Paraphrasen auch zahlreiche musikalische Mahnungen an die Quelle, der all dies scheinbar freie Kunstspiel entströmt. Doch hat sich Bach nicht so sehr von derselben abhängig gemacht, daß er überall wo der Dichter eine wörtliche Entlehnung einstreute dieser mit der zugehörigen Choralmusik secundirte. Es kommen in den Cantaten »Allein zu dir, Herr Jesu Christ«, »Herr Gott dich loben alle wir«, »Ich freue mich in dir«, »Jesu, der du meine Seele«, »Mache dich, mein Geist, bereit«, »Wo Gott der Herr nicht bei uns hält« manche wörtliche Reminiscenzen vor, welche vorübergehen ohne melodische Reflexe zu erzeugen. Da diese Umdichtungen eine vermittelnde Form bilden [579] sollten, so mußte es Bach auch unverwehrt sein, je nach seinem Ermessen sich mehr der frei musikalischen oder der kirchlich bedingten Seite zuzuneigen.
Die beiden Grundsäulen der Choralcantate, die erste und die letzte Strophe, haben insofern überall dieselbe Gestalt, als diese immer einfach gesetzt, jene immer zu einem großen Tonbilde ausgeführt ist. Wie diese Anordnung, welche das musikalisch bedeutsamere zuerst, das bescheidenere zuletzt bringt, aufgefaßt werden muß, habe ich schon früher dargelegt76; sie giebt von dem grundkirchlichen Geiste, von dem Bachs Phantasie erfüllt war, das deutlichste Zeugniß. Daß die Instrumente sich dem Gange der Singstimmen schlichtweg anschließen zeigt gleichfalls an, wie die ganze Fülle des individuellen Lebens endlich zu ihrem Urquell fromm und demüthig zurückströmt. Und auch dieses ist bedeutungsvoll, daß Bach gern die obere, melodieführende Stimme durch möglichst viele Instrumente verstärkt; sie tritt dann in einer Weise hervor, die rein musikalisch genommen etwas unverhältnißmäßiges hat, aber das Gefühl von ihrer hohen symbolischen Bedeutung drängte den Künstler auch zu einem starken äußeren Mittelaufwande. Die Fälle, wo beim Schlußchoral einige Instrumente etwas selbständigeres auszuführen haben, sind ganz vereinzelt. In den Cantaten »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Herr Gott dich loben alle wir« und »Wie schön leuchtet der Morgenstern« wirken die Gänge der Homer und Trompeten mehr nur coloristisch77; die fanfarenartigen kurzen Ritornelle in »Jesu nun sei gepreiset« greifen auf den Anfangschor zurück, und haben wenigstens insofern keinen selbständigen Werth.
Was die großen Choralchöre am Anfange betrifft, so lehrt eine Übersicht, daß Bach die für diesen Zweck geeigneteste Form ein für allemal gefunden zu haben glaubte. Der Drang nach neuen, mannigfaltigen Bildungen, der ihn sonst beherrschte, ist fast geschwunden. Bei weitem die meisten dieser Chöre sind Choralfantasien. [580] Motettenartige Tonsätze kommen nur vor in den Cantaten »Ach Gott vom Himmel sieh darein«, »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Christum wir sollen loben schon.« Diese grandiosen Stücke zeigen, zu welcher Höhe noch die Motettenform emporwachsen konnte, nachdem sie in den neuen fruchtbaren Boden der Bachschen Cantate verpflanzt worden war78. Die sogenannte Pachelbelsche Choralform findet sich in voller Reinheit nur in der Cantate »Ach Herr, mich armen Sünder«; wie bei Bach auf dieser Stufe seiner Entwicklung selbstverständlich, mit einheitlicher Contrapunktirung. Die Schwierigkeit, dasselbe Motiv festzuhalten und zugleich doch jede einzelne Zeile praeludirend vorzubereiten, löste er in den Orgelcompositionen gern dadurch, daß er das contrapunktirende Motiv und die betreffende vorbereitende Tonreihe gleichzeitig einführte. Der große Orgelchoral »Jesus Christus unser Heiland« bietet dazu ein schönes Beispiel79. Hier hat er sich die Aufgabe dadurch erschwert, daß er als Contrapunkt durchweg die verkleinerte erste Melodiezeile in rechter und umgekehrter Bewegung benutzt. Aber auch darin fand seine überreiche Phantasie noch nicht Genüge: er bringt außerdem die vorbereitenden Melodiestücke in immer andern und fremderen Tonarten. Die Art, den Pachelbelschen Choral mit einem und demselben musikalischen Gedanken contrapunktirend auszustatten, steht auf dem Übergange zur Form der Choralfantasie80. Es kann demnach nicht auffallen, daß wir in den Choralcantaten »Nun komm der Heiden Heiland«, »Wohl dem, der sich auf seinen Gott« und »Wie schön leuchtet der Morgenstern« Formen begegnen, die halb dieses, halb jenes sind. In der ersten wird nur die Anfangszeile, welche mit der Endzeile übereinstimmt, vorbereitend eingeführt; in der zweiten gestaltet sich aus der ersten Zeile ein nunmehr fast unabhängig entwickeltes Tonbild, nur indem es [581] vor der fünften Zeile einen Anklang an dieselbe aufnimmt mahnt es noch deutlich an die Pachelbelsche Form; in der letzten geschieht dasselbe dadurch, daß vor dem Cantus firmus der zweiten und fünften Zeile die Melodie mit dem durchgehenden Motiv vereinigt vorbereitend auftritt81. Eine Mischform in andrer Beziehung bietet »Jesu nun sei gepreiset«; hier ist der Eingangschor am Anfang und Ende Choralfantasie, in der Mitte nimmt er theils eine frei phantasirende, theils eine motettenartige Gestalt an.
Einige weitere Chöre verrathen ihren Ursprung aus der vollentwickelten Pachelbelschen Form nur dadurch noch, daß das Tonbild, welches den Cantus firmus umgiebt und trägt, aus der ersten Choralzeile sein Motiv entnimmt. Sonst stehen sie schon durchaus auf dem Boden der freien Choralfantasie. In der Cantate »Erhalt uns Herr« werden nur die ersten drei Töne motivisch benutzt, in »Was frag ich nach der Welt« und »Wo soll ich fliehen hin« die ganze Zeile. Dasselbe gilt von der Cantate »Herr Jesu Christ, wahr' Mensch und Gott«. Hier wird aber das Ohr noch durch eine andre tiefsinnige Combination gefesselt. Die Cantate ist auf den Sonntag Estomihi geschrieben, welcher am Eingange der Passionszeit steht. Deshalb läßt Bach, während Chor und Instrumente ihre Hauptaufgabe erfüllen, von einzelnen Instrumenten den Choral »Christe, du Lamm Gottes« in gewissen Zwischenräumen stückweise hineinfügen und so die Passionsempfindung in der Seele des Hörers aufdämmern. Es erinnert dieses einigermaßen an das Tenor-Recitativ der Estomihi-Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn«82. Wie bedachtsam auf Nebenbezüge Bach auch in der feststehenden Form der Choralfantasie immer noch verfuhr, lehrt nicht weniger der Hauptchor von »Liebster Immanuel«. Dieses Kirchenlied, das wahrscheinlich von Ahasverus Fritsch gedichtet ist, gehört nebst der Melodie in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts. Es hat trotz seiner schönen [582] Innigkeit etwas weltlich-spielendes an sich und die Melodie ist in die Form einer Sarabande gefaßt83. Bach hat diesen Charakter nicht unbeachtet gelassen, und daher sein Tonstück aus der ersten Melodiezeile mehr motivisch-homophon, als imitatorisch-polyphon entwickelt.
Die Anfangschöre aller übrigen Choralcantaten sind ganz freie Choralfantasien. Bei der Übertragung von dem Orgelgebiet auf das Gebiet der concertirenden Kirchenmusik hat der Stil nur diejenigen Abwandlungen erfahren, welche das verschiedene Tonmaterial forderte. Das selbständige Tonbild, welches den Empfindungsgehalt des Chorals erschöpfend darstellen soll, wird nicht mehr durch Orgelstimmen, sondern auf Grundlage der Orgel durch das Bachsche Orchester zur Erscheinung gebracht. Der Cantus firmus, welcher gespielt von der Bedeutsamkeit jenes Tonbildes erdrückt zu werden Gefahr lief, erscheint als Gesang in eine höhere, beherrschende ästhetische Sphäre gerückt. Vermittelnd zwischen dem Choralgesang und dem Instrumentenspiel stehen die übrigen Singstimmen des Chors. Manchmal unterstützen sie durch einfache Harmonien die melodieführende Stimme, welche meistens dem Sopran zuertheilt ist; häufiger noch wirken sie als Factoren des instrumentalen Satzes mit. Es versteht sich, daß dieser Satz seine Aufgabe nicht nur durch den größten rein musikalischen Reichthum, sondern auch durch tonbildliche Mittel löst. Als Muster eines in dieser Weise poetisirenden Orgelchorals ward früher einmal die Bearbeitung der Melodie »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« aus dem »Orgelbüchlein« angeführt84. Er zählt zehn Takte. Man vergleiche mit ihm den ersten, 65 Takte langen Satz der betreffenden Choralcantate. Es ist dieselbe Gestaltungsweise, im Grunde auch dieselbe Form, nur Stufe um Stufe weiter gebildet bis zu einer Höhe, die freilich das Gemeinsame beider Formen kaum noch erkennen läßt. In ihren Umrissen haben diese Chöre etwas stereotypes. Sie offenbaren weniger einen aufstrebenden, als einen auf erreichtem [583] Hochgefild ruhig fortwandelnden Künstler; die unterscheidenden Merkmale liegen mehr in den Einzelbildungen. Ganz indessen war der kühne Gestaltungsdrang auch jetzt noch nicht gestillt. Der herrliche Eingangssatz der Cantate »Jesu, der du meine Seele«, welcher mit dem Crucifixus der H moll-Messe das Thema gemeinsam hat, giebt eine Choralfantasie in Form einer Ciacone. In der Cantate »Meinen Jesum laß ich nicht« wird die Choralfantasie mit der Form des Instrumentalconcerts verbunden. Auch in »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« und »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit« tritt diese Absicht deutlich zu Tage, wenngleich nach Bachs verinnerlichender Methode hier nicht mehr ein Soloinstrument dem Tutti gegenüber gestellt ist. Dagegen bietet die Cantate »Christ unser Herr zum Jordan kam« einen ganz regelrechten Concertsatz und sogar ein Concerto grosso: das Concertino besteht aus Solovioline und zwei Oboi d'amore, Violinen, Bratschen und Bass mit Orgel machen das Tutti; zwischenhindurch wandelt der Choralchor, mit dem Cantus firmus im Tenor, seinen Weg, als ginge ihn all das Tonspiel garnichts an, und dennoch ist er auf das innigste mit ihm zusammen gewachsen. Man muß indessen gestehen, daß sich die Formideen hier in einer fast verwirrenden Weise verschlingen. Es genügt nicht nachzuweisen, wie dieses oder jenes allmählig geworden ist, immer mehre und verschiedene Lebenssäfte in sich aufgenommen hat, wie von andrer Seite her ein Fremdes ihm entgegenreifte, und wie sich das gesonderte endlich vereinigt hat. Ein Kunstwerk soll als Ganzes begriffen und lebendig nachempfunden werden. Eine jede Form trägt einen gewissen allgemeinen Stimmungsgehalt gleichsam als Seele in sich, der erfaßt sein muß, soll die Notwendigkeit der Form einleuchten. Wer nicht durch das Studium der Concerte jener Zeit sich mit der Stimmungswelt vertraut gemacht hat, in welcher jene Werke gleich Organismen athmen, wird nie verstehen können, was Bach mit jener Combination beabsichtigte. Sie wird ihm fremdartig und absurd vorkommen. Der eigenthümlich rüstige Muth der ersten Concertsätze, wie sie damals waren, scheint Bach geeignet erschienen zu sein, der kirchlichen Choralfantasie in diesen Werken eine besondere Färbung zu geben. Aber auch bei vollständig geglückter Nachempfindung nach dieser Richtung hin wäre man doch der Sache noch nicht an die Wurzel [584] gelangt. Die Choralfantasie überhaupt ist in der Choralcantate wieder von einer höheren und keineswegs einfachen Kunstidee abhängig.
Geht man dem Wesen der Choralcantate auf den Grund, so ist sie nichts anderes, als die vollständigste poetisch-musikalische Entfaltung eines bestimmten Kirchenliedes vermittelst aller Kunstmittel, welche sich Bach in einem reichen Leben unter gründlicher Ausnutzung aller Kunstelemente seiner Zeit und Vorzeit erworben hatte. Sein Bildungsgang beweist, daß er von der Orgelmusik, insbesondere vom Orgelchoral den Ausgang nahm, und die vielen verschiedenfältigen Kunstformen dadurch überwältigte und sich zueignete, daß er sie in den Orgelstil als den einzig kirchlichen seiner Zeit einschmolz. So geschah es mit den instrumentalen, so auch mit den vocalen Tonformen. Soweit letztere mit dem Choral zusammenhängen, waren sie indessen in Bachs Orgelmusik gleichsam latent. Das poetische Element, welches dem Orgelchoral wesentlich ist, drängte bei weiterem Ausbau desselben in die Vocalmusik naturgemäß hinüber. Jene Form will den Stimmungs- und Empfindungsgehalt eines Kirchenliedes, wie er sich dem Einzelnen im Kreise der Gemeinde offenbart, zum Ausdruck bringen. Mit immer größeren Mitteln, in immer weiteren Verhältnissen wird dieses versucht. Der Gesang erweist sich nöthig für die Melodie, um die überschwellende persönliche Empfindung dahin zurückzudämmen, wohin sie dem Kirchlichen gegenüber gehört. Nun ist ein vocal-instrumentales Tonbild da, aber es erschöpft nur eine Strophe des Chorals: das gespielte Tonwerk sog seine Nahrung aus dem Choral als Ganzem. Ein letzter zum höchsten führender Schritt blieb möglich: die Idee des Mit- und Ineinander der reinen Musik nach Maßgabe des Verhältnisses, welches die jetzt leibhaftig mitwirkende Poesie an die Hand gab, in eine Idee des Nacheinander umzuwandeln, und den ganzen Choral, der zum rein instrumentalen Tonbild gleichsam verdichtet war, in seinen einzelnen Strophen ausführlich zu behandeln. So mußte die Choralfantasie am Anfang wieder nur ein Theil des Ganzen werden; die Choralcantate an sich ist die volle Blüthenkrone, jene nur ein glänzendes Blatt derselben. Aber doch hat die Choralfantasie den Stil der ganzen Cantate bestimmt. Ein Werk wie die Ostermusik »Christ lag in Todesbanden«, welches durch alle [585] Strophen die Choralmelodie festhält und in dem Choral des »Orgelbüchleins« »Christ ist erstanden« ein instrumentales Vorbild hat, war nicht das Ziel, wohin die Entwicklung endlich strebte. Der starke persönliche Zug, welcher dem Protestantismus und Bach eigen ist, verlangte weiteren Raum um sich ausleben zu können. Die Choralcantate gewährt ihn. In den Recitativen und Arien kann sich die Persönlichkeit scheinbar ganz frei ergehen. Selbst die Schranken, welcher der Wortlaut des kirchlichen Gedichtes ihr setzt, werden durch die madrigalische Umformung erweitert, scheinen zuweilen ganz zu verschwinden. Manchmal bleibt nur die aus der Erinnerung an das Kirchenlied fließende Grundstimmung haften. Dann wird gelegentlich durch wörtliche Benutzung einer Textzeile das Gefühl des Zusammenhanges lebhafter erweckt; dann tritt gar ein Stück der Melodie hervor, nun die Melodie vollständig in einem Instrument, jetzt gar im Gesange, wenngleich von Recitativen umgeben und durchflochten; enger und enger zieht sich nun wieder der Kreis der Empfindung. Hat der Hörer nun, ehe er diese freieren Mittelpartien der Cantate durchwanderte, einen großen Choralchor in sich aufgenommen, und erreicht er als Ziel und Ergebniß endlich wieder denselben Choral, der je schmuckloser, einfacher er erscheint, um so nachdrücklicher zu ihm spricht, dann erfüllt ihn eine Empfindung, als sei nie ein Moment gewesen, wo er den Choral, seis äußerlich oder innerlich, nicht gehört habe. Wie in der Choralfantasie die Stimmen in selbständigstem Wirken sich entfalten, ja eine Welt für sich aufzubauen scheinen, und doch zur rechten Zeit durch die Töne des Cantus firmus wieder auf ihren Urgrund bezogen werden, genau so ist es mit der Choralcantate im Ganzen, nur daß eben die veränderten Kunstmittel veränderte Formverhältnisse bedingten.
In der Choralcantate tritt uns die letzte, denkbar höchste Entwicklung des Orgelchorals entgegen. Jenes zehntaktige Spielstückchen über die Melodie »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig« war der Keim, die gleichbenannte Cantate mit ihrer großen Choralfantasie, ihrem einfachen Schlußchoral, mit ihren Recitativen und weitausgeführten Arien ist die endliche Frucht. Das Verständniß für die Choralcantate kann sich folgerichtigerweise auch erst dem erschließen, der sich mit dem Wesen des Orgelchorals vollständig vertraut gemacht hat. Wie dieser setzt auch sie voraus, daß der [586] Hörer das betreffende Kirchenlied sammt der Melodie als ein innerlich Erlebtes in sich hegt. Während aber dort zunächst nur das feine Arom der Gesammtstimmung die nöthige Voraussetzung ist, in zweiter Reihe erst, daß man auch specielle Empfindungen und Einzelvorstellungen sich gegenwärtig erhält, wird hier eine genaue Kenntniß des Inhalts jeder einzelnen Strophe als unerläßlich gefordert. Schon die Wort- und Satzfügungen des madrigalischen Textes sind ohnedem manchmal nicht zu verstehen. Daß in der Bassarie der Cantate »Ach wie flüchtig« die verzehrenden Gluthen und wallenden Fluthen nicht bildlich gemeint sind, sondern an wirkliche Feuer- und Wassersnöthe zu denken ist, davon vergewissert man sich erst durch Vergleichung von Strophe 10 des Kirchenliedes. Die Worte der Bassarie der Cantate »Ich hab in Gottes Herz und Sinn«, welche sich so vernehmen lassen: »Das Brausen von den rauhen Winden macht daß wir volle Ähren finden«, sollen bedeuten, daß die Frucht der Saatfelder nicht ohne Wetterstürme völlig gedeiht; auch dieses lehrt mit Klarheit erst die entsprechende neunte Strophe. Was wichtiger ist: der Charakter der Musikstücke wird zuweilen durch Anschauungen bestimmt, die nicht in der madrigalischen Paraphrase, sondern nur im Urtext ausgedrückt sind. Wie kam Bach dazu, dem Duett der Cantate »Jesu, der du meine Seele« jenen idyllisch-zarten Charakter zu geben, da es sich doch um ein Hülfegebet der Schwachen und Kranken handelt? Die zweite Strophe des Kirchenlieds lautet:
Treulich hast du ja gesuchet
Die verlornen Schäfelein,
Als sie liefen ganz verfluchet
In den Höllenpfuhl hinein.
Wir bemerkten öfter, wie Bach einem matten oder abschweifenden Cantatentexte dadurch Kraft und Richtung gab, daß er durch ihn hindurch in die Grundbedeutung des Sonn- oder Festtages hinabgriff. Dieses Beispiel zeigt, wie er auch in den Choralcantaten nicht eigentlich die madrigalische Umdichtung componirte, sondern den Urtext in ihr. Und so sind diese Werke alle darauf berechnet, daß der Hörer ihnen folgt, das originale Kirchenlied stets vor Augen oder im Sinne. Der Kirchgänger jener Tage, der den gedruckten Text der Cantate neben sein Gesangbuch legte, that dies; oder er [587] bedurfte auch dieses äußeren Mittels nicht einmal, denn jene Kirchenlieder waren damals als Gemeingut in aller Gedächtniß. Man hatte sie unzählige Male in der Gemeinde gesungen, im häuslichen Leben sich daran erbaut, bei besonderen Erlebnissen aus einzelnen Strophen derselben Erhebung und Trost gezogen. Auf solche Hörer hat Bach gerechnet und rechnen diese Compositionen immer wieder, soll sich anders ihr Sinn und Inhalt erschließen, im Ganzen wie im Einzelnen.
Wer von dieser Stelle aus auf Bachs Leben zurückblickt, dem offenbart sich die Geschlossenheit seiner künstlerischen Entwicklung in greifbarster Gestalt. Von dem geistlichen Volkslied nahm er in früher Jugend seinen Ausgang und mit ihm endete er auch. Er wußte, daß alles, was er auf dem Gebiete der Kirchencantate schaffen durfte, innerlich mit dem Choral und den durch ihn bedingten Kunstformen zusammenhing. Es mußte ihm als das würdigste Ziel erscheinen, seiner Kraft diejenige Richtung zu geben, daß sie sich in einer Form auslebte, welche den Choral in seiner größtmöglichen künstlerischen Erweiterung darstellt. Wohl entbehren die Choralcantaten jener Mannigfaltigkeit der Gestalten, die in ihrem üppig aufquellendem Drange während der früheren und mittleren Lebensperiode zur höchsten Bewunderung hinreißt. Aber die gelassene Beherrschung aller Kunstmittel, der tiefe männliche Ernst, der ihnen aufgeprägt liegt, konnten nur als Frucht eines solchen überreichen Kunstlebens hervorgehen. Wenn man diese Werke in ihrer festen, charaktervollen Größe an sich vorüberziehen läßt, so wird einem zu Muthe, als wandle man nach einem leuchtenden Sommertage im Abendfrieden durch den stillen deutschen Hochwald.
Fußnoten
IV.
Bach hatte sich in Leipzig eine Sammlung von Choralmelodien mit Generalbass angelegt. Sie umfaßte alle Melodien, die dort gebräuchlich waren, gegen 240 an Zahl. Im Jahre 1764 war der Musikalienhändler Bernhard Christoph Breitkopf zu Leipzig im Besitz des Manuscripts und bot Abschriften zum Preise von 10 Thalern [588] für das Exemplar zum Verkauf aus1. Dieses wichtige Sammelwerk ist verloren gegangen2. Einige Fragmente des Inhalts sind indessen, wie es scheint, gerettet. Schüler Bachs, welche von seinen Orgelchorälen Abschrift nahmen, hängten diesen wenn er ihnen zugänglich war den zweistimmigen bezifferten Satz aus Bachs Choralbuch an. Gebrauchten sie dann den Orgelchoral zum Vorspiel, so hatten sie hernach auch für die Begleitung zum Gemeindegesange eine Harmonisirung des bewunderten Meisters zur Verfügung. Auf diese Weise dürften die bezifferten Sätze der Melodien »Christ lag in Todesbanden«, »Herr Christ der einge Gottssohn«, »Jesu meine Freude«, »Wer nur den lieben Gott läßt walten« auf unsere Zeit gekommen sein3. Außerdem hat uns Johann Ludwig Krebs noch die bezifferten Sätze Bachs zu vier Weihnachtsgesängen überliefert, nämlich »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »In dulci jubilo«, »Lobt Gott, ihr Christen allzugleich« und »Vom Himmel hoch«. Daß diese gradezu zum Zweck der Orgelbegleitung beim Gemeindegesange niedergeschrieben sind, zeigen die eingefügten Zwischenspiele. Die Harmonisirung von seltener Originalität und Kraft läßt uns ahnen, wie viel wir mit dem Verschwinden des gesammten Choralbuchs zu beklagen haben4.
Eine dritte Quelle, welche vermuthlich noch Reste des Choralbuchs spendet, ist durch Stich und Druck zu Bachs Lebzeiten veröffentlicht. [589] Im Mai 1735 bezog ein Student aus Zeitz, Christian Friedrich Schemelli, die Universität Leipzig5. Dessen Vater, der Schloß-Cantor Georg Christian Schemelli zu Zeitz, trug sich mit der Herausgabe eines Gesangbuchs sammt Melodien, wofür ihm Freylinghausens weitverbreitetes »Geistreiches Gesangbuch« als Muster vorschwebte; doch sollte es von pietistischer Färbung frei sein und unparteiisch das auf beiden Seiten hervorgebrachte Gute nebst dem anerkannten Schatz alter Lieder zusammenfassen. Bach stand damals noch mit der Studentenschaft durch den Musikverein in engerer Beziehung. Wenn er bei dem im Jahre 1736 erfolgten Erscheinen des Gesangbuchs als Bearbeiter des musikalischen Theils auftritt, so dürfte dieses wohl durch Schemellis Sohn vermittelt oder doch betrieben worden sein6. Bisher hatte sich Bach, soweit wir wissen, mit solchen Arbeiten nicht befaßt. Wenn es aber galt, einem so beliebten Gesangbuche wie dem Freylinghausenschen Concurrenz zu machen, so war ein berühmter Name vonnöthen. Es wird denn auch in der Vorrede der Hinweis darauf nicht unterlassen, daß »die in diesem musikalischen Gesangbuche befindlichen Melodien von Sr. Hochedlen Herrn Johann Sebastian Bach, Hochfürstlich Sächsischem Capellmeister und Directore Chori musici in Leipzig, theils ganz neu componiret, theils auch von ihm im Generalbass verbessert seien«. Großes Glück hat das Buch trotzdem nicht gemacht. Eine zweite vermehrte Auflage, welche nach dem Verkauf der ersten in Aussicht gestellt wird, ist nicht erschienen, obgleich die erste Auflage nur eine kleine war7.
Daß Bach sich für das Zustandekommen des Buches sehr interessirt [590] hat, muß bezweifelt werden. Es erschien in Leipzig bei Breitkopf und auch der Name des Kupferstechers, der übrigens seine Arbeit an der Titel-Vignette und den Melodien recht zierlich ausgeführt hat, ist ein leipzigischer. Es trägt aber auch die Spuren, daß die Vorlagen zum Stich etwas sorglos zusammengestellt wurden und daß keinesfalls der Stich genau überwacht worden ist. Sonst wäre es, von Stichfehlern abgesehen, wohl nicht vorgekommen, daß bei jedem mit einer Melodie versehenen Liede zweimal dieselbe Nummer steht, daß über Nr. 627 besonders gestochen ist: Di S. Bach, D.M. Lips.«, während doch viele Melodien, z.B. nachweislich 397, von Bach componirt sind, und daß gar bei dem Liede »Jesu, meines Glaubens Zier«, nachdem erst die gedruckte, dann die gestochene Nummer darüber gesetzt ist und außerdem die Melodie regelrecht vor dem Liede ihren Platz gefunden hat, nochmals ausdrücklich bemerkt wird: »NB: diese Melodie gehört zum Liede N. 119«. Es läßt sich auch noch erkennen, daß zur Herstellung der Stichvorlagen verschiedene Schreiberhände zusammen gewirkt haben. Also ist es wohl sehr wahrscheinlich, daß Bach den größesten Theil der Melodien aus seinem Choralbuche einfach abschreiben ließ. Die Gesammtzahl der Melodien beträgt 69. Unter ihnen sind 40 fremde, aus dem 16., 17. und auch 18. Jahrhundert. In der Vorrede wird man verständigt, daß noch gegen 200 Melodien zum Stiche bereit lägen und für eine etwa nöthige zweite Auflage hinzugethan werden sollten. Das macht zusammen gegen 240 Melodien, also genau so viele wie Bachs Choralbuch enthielt.
Immerhin haben wir in den erhaltenen Chorälen einen werthvollen Besitz. Diese Melodien mit ihren schlanken, lebhaft geführten bezifferten Bässen zeigen uns die Kunst, welche der Meister bei den vierstimmig ausgeführten Choralsätzen bewährte, gleichsam in der Skizze. Ihrer Veröffentlichung verdanken wir aber zugleich die Bekanntschaft mit einer Reihe kleiner Originalcompositionen zu geistlichen Gesängen, die einen noch höheren Werth für uns haben müssen. Da Bach einen Theil der Tonstücke in Schemellis Gesangbuch selbst componirt hat und nach gründlichster Durchforschung des bis dahin producirten Melodienschatzes der evangelischen Kirche unter den 69 Melodien 40 von andern Componisten herrühren, so haben wir ein volles Recht die übrigen 29 ihm selbst zuzuschreiben. [591] Urkundlich wissen wir es von zweien (»Dir, dir Jehovah will ich singen« und »Vergiß mein nicht, vergiß mein nicht, mein allerliebster Gott«). Doch tragen auch die andern, wenigstens größesten Theils, das unverkennbare Gepräge des Bachschen Stiles8. Bei 7 dieser 29 Tonsätze haben wir sogar einen Anhaltepunkt für die Vermuthung, daß sie direct für das Schemellische Gesangbuch componirt sind9. Für den Gemeindegesang geeignete Melodien zu liefern, hat schwerlich in Bachs Absicht gelegen. Schemellis Sammlung war, wie auch die Freylinghausensche und andre, ebensowohl, ja ganz besonders der häuslichen Erbauung bestimmt. Ihr, der sich Bach selbst im Stil seiner großen Kirchencompositionen manchmal zuneigt, sollten auch die für Schemelli gefertigten Compositionen dienen. Wer sich wie er sein ganzes Leben der Choralbearbeitung mit einer Energie hingegeben hatte, die alle Eigenthümlichkeiten des Chorals durchdrang, mußte wissen, was von einem kirchlichen Volksliede zu fordern sei. Er mußte auch wissen, daß seine eigne durch die höchste Kunst verfeinerte, bewegliche und dem subjectivsten Ausdrucke sich willig fügende melodische Ausdrucksweise dem Charakter des Volksmäßigen zuwider laufe. Man darf jene Bachschen Tonstücke nicht mit dem Maßstabe des kirchlichen Chorals [592] messen. Es sind geistliche Arien, und wenn sie nicht in den Kirchengesang übergingen, ja bis auf fünfe nicht einmal in einer der späteren Choralsammlungen Aufnahme fanden, so beweist das nichts gegen ihren Werth10. Der ihnen eigne Reiz ist wie der eines frommen, musikalisch gebildeten Familienkreises, und gern denken wir uns diese innigen, im kleinsten Rahmen fein ausgeführten Lieder bei des Meisters häuslichen Andachten von einem der Familienglieder gesungen.
Das im Jahre 1725 angelegte Musikbuch Anna Magdalena Bachs, welches ausschließlich häuslichen Zwecken dienen sollte, enthält auch wirklich auf S. 115 ff. eines der Lieder, nämlich Crasselius' »Dir, dir Jehovah will ich singen«, mit ausdrücklicher Nennung Bachs als Componisten. Außerdem sind noch einige andre Stücke derselben Gattung darin. Alle andern überleuchtet durch ihre hohe einzigartige Schönheit die gleichfalls unter Bachs Namen eingetragene Composition von Gerhardts »Gieb dich zufrieden und sei stille«. Eine andre Melodie zu demselben Liede läßt uns freilich über den Verfasser im Zweifel; sie ist auch als Bachsche Composition auffallend einfach, jedenfalls aber eine neue11. Gleichen Charakter hat eine Composition des Liedes »Wie wohl ist mir, o Freund der Seelen«. Muß man bei diesen beiden zaudern, sie ohne weiteres Bach zuzusprechen, so zeigt das Lied »Schaffs mit mir Gott nach deinem Willen« schon deutlichere und die Compositionen »Warum betrübst du dich und beugest dich zur Erden« und »Gedenke doch mein Geist zurücke« unverkennbare Merkmale seiner Schreibweise12. Es scheint endlich auch, als habe Bach grade in Veranlassung von Schemellis Gesangbuche noch mehre geistliche Lieder gesetzt; sein [593] Schüler Krebs, der eben um diese Zeit sich sehr eng an ihn anschloß, im Musikverein und im Kirchendienst sein Amanuensis war13, hat fünf solche Lieder überliefert, die mit Grund als Bachsche Compositionen angesehen werden können14.
Nachdem Schemellis Gesangbuch ohne sonderlichen Beifall zu finden in die Welt hinausgegangen war, setzte doch Bach zur eignen Genüge die Arbeit daran noch in einer besonderen Weise fort. Er versah sein Exemplar mit nicht weniger als 88 vollstimmig geschriebenen Chorälen. Nach seinem Tode ging das Exemplar in den Besitz Philipp Emanuel Bachs über, ist jetzt aber ebenfalls verschollen15. Unzweifelhaft hatte hier Sebastian auch von seinen eignen Melodien viele, wenn nicht alle, für vierstimmigen Gesang ausgesetzt. Wir können deren nur noch viere beibringen: »Dir, dir Jehovah«, »Jesu, Jesu, du bist mein«, »Meines Lebens letzte Zeit« und »So giebst du nun, mein Jesu gute Nacht«16. Außer den für Schemelli componirten hat Bach noch einige andre selbstgeschaffene Melodien zu geistlichen Liedern vierstimmig gesetzt hinterlassen, unter ihnen glücklicherweise auch das herrliche »Gieb dich zufrieden«. Was oben von dem Charakter der einstimmigen Lieder mit Generalbass gesagt wurde, gilt auch von denen, die wir nur als vierstimmige kennen, soweit wir sie eben mit Grund für Bachsche Originalcompositionen halten dürfen. Sie sind weniger Choräle als erbauliche Hausgesänge, und als solche meistens von charaktervoller Schönheit. Daß im vierten Theile des Weihnachts-Oratoriums zwei solcher selbstgeschaffener Melodien vollstimmig verwendet werden, erschien uns schon früher für die Beschaffenheit dieses Theiles bezeichnend.17[594] Eine ähnliche Chorarie beginnt die Cantate »Also hat Gott die Welt geliebt«18, eine andre schließt die Motette »Komm Jesu komm«19. Unter den neun vierstimmigen Compositionen, welche wir überdies noch für Bachsche zu halten einigermaßen berechtigt sind, befinden sich einige, welche sich dem choralmäßigen Stile mehr nähern. Zwei derselben (»Da der Herr Christ zu Tische saß« und »Herr Jesu Christ, du hast bereit'«) nahm Johann Balthasar Reimann 1747 in sein Hirschberger Choralbuch auf20. Reimann war zwischen 1729 und 1740 bei Bach in Leipzig, der ihn, wie er selbst erzählt, »liebreich aufnahm und entzückte«21. Auch die Melodie, mit welcher Bach seine weimarische Cantate »Ach ich sehe« ausgehen läßt, hat einen choralartigeren Charakter; sie erweist sich freilich auch nur als ein aus Zusammenschmelzung der Melodien »Herr ich habe mißgehandelt« und »Jesu, der du meine Seele« hervorgegangenes Product22. Im Ganzen mußte es Bach fern liegen, [595] seine Größe als Kirchencomponist auf diesem Gebiete offenbaren zu wollen. Seine geistlichen Lieder sind angesichts der hohen Aufgaben, die zu erfüllen er berufen war, nur als nebensächliche Arbeiten zu betrachten. –
Wir haben Beweise dafür, daß Bachs Art eine Choralmelodie vierstimmig zu harmonisiren schon früh die Bewunderung weiterer Kreise erregte. Nach seinem Tode sammelte man sie, und zu Neujahr 1764 befand sich Breitkopf in Leipzig im Besitz eines Manuscripts mit 150 in Partitur gesetzten Chorälen, von welchen er Abschriften verhandelte23. Vermuthlich war es diese Sammlung, nach welcher Birnstiel in Berlin 1765 eine gedruckte Ausgabe zu veranstalten unternahm. Noch in letzter Stunde kam er auf den richtigen Gedanken, Emanuel Bach um Revision des Manuscriptes zu ersuchen. Soweit es noch anging sorgte dieser dafür, daß die, 100 Choräle enthaltende Sammlung eine correcte Gestalt erhielt, während er sich an der zweiten, 1769 erschienenen Sammlung nicht betheiligte. Nicht lange vor seinem Tode veranstaltete er dann eine zweite, bessere und vollständigere Ausgabe bei Breitkopf; sie umfaßte vier Hefte und enthielt 370 Choralsätze.
Diese Choräle sind größtentheils Seb. Bachs concertirenden Kirchencompositionen entnommen, waren also für Gesang mit Instrumentalbegleitung bestimmt. Den Orgel- und Clavierspielern zu Liebe hatte sie der Herausgeber auf zwei Systeme zusammengezogen. Wenn er aber ankündigt, die Sammlung werde ein vollständiges Choralbuch ausmachen, so geschah dies nur um ihr zahlreichere Abnehmer zu verschaffen. Ein Choralbuch, welches alle in einer bestimmten Stadt oder Gegend gebräuchlichen Melodien umfaßte, konnte sie unter den obwaltenden Umständen nicht sein, auch wären dann die mehrfachen Bearbeitungen einer und derselben Melodie zwecklos gewesen. Die eigentliche Bestimmung des Buches war, die Kenner der Setzkunst zu erfreuen und den angehenden Componisten Muster zum Studium darzubieten. Grade mit letzterem durfte der Sohn überzeugt sein, im Sinne seines Vaters zu handeln. Denn der Choral spielte nicht nur in den eignen Tonwerken, sondern [596] auch im Compositionsunterricht desselben eine bedeutsame Rolle.
Johann Philipp Kirnberger sagt von der Methode, welche sein Lehrer Bach beim Compositionsunterricht angewendet habe, sie führe durchgängig Schritt vor Schritt vom Leichtesten bis zum Schwersten. Sie sei unter allen ihm bekannten die beste; er habe sie daher auf Grundsätze zurückzuführen und der Welt vor Augen zu legen gesucht24. Hieraus geht hervor, daß wir wenn auch nicht die Begründung der Methode und einzelnen Lehrsätze, so doch jedenfalls die Ordnung des Lehrstoffes wie sie sich in Kirnbergers theoretischen Schriften findet, als eine von Bach probat erfundene ansehen müssen. Kirnbergers Hauptwerk »Die Kunst des reinen Satzes in der Musik«25 soll einer höheren Stufe des Compositionsunterrichtes dienen. Es behandelt nach einander die Lehre von den Tonleitern und der Temperatur, von den Intervallen, von den Accorden, deren Verbindung und von der Modulation; dann von der Melodiebildung, dem einfachen und dem doppelten Contrapunkt. Der Contrapunktslehre gilt bei weitem der größeste Theil des Werkes: Kirnberger hatte die Absicht noch eine Lehre von der Gesangscomposition und dem Charakter der Tanzformen hinzuzufügen, um dann mit der Fugenlehre zu schließen. Zur völligen Ausführung seiner Absicht ist er indessen nicht gekommen. Der Titel »Kunst des reinen Satzes« entspricht nicht ganz dem Inhalte des Werkes, das überall darauf ausgeht, unter vorzüglicher Hinweisung auf die Werke Bachs nicht nur den schulgerechten, sondern auch den geschmackvollen Componisten zu bilden. Indem es als systematisches Lehrbuch im einzelnen zu wünschen übrig läßt, gewinnt es doch als Widerschein von Bachs praktischer Lehre auch in seinen wissenschaftlichen Mängeln eine besondere Bedeutung, da wir von ihnen auf das Lebensvolle, Mannigfaltige und Reiche der Bachschen Lehrart zurückschließen dürfen. Als nothwendige Vorstufe zu seiner Compositionsschule gab Kirnberger später noch eine Generalbasslehre heraus26.
[597] Bach hat von seinem 22. Lebensjahre an durch einen Zeitraum von 43 Jahren eine sehr große Anzahl von Compositionsschülern gehabt. Abgesehen davon daß sich ihm eine Lehrmethode überhaupt erst mit der Zeit bilden konnte, ist doch nicht anzunehmen, daß er selbst als reifer Meister dieselbe immer in gleicher Weise angewendet habe. Friedrich Wilhelm Marpurg, der mit Kirnberger über einige Fragen der musikalischen Theorie in Streit gerieth, sagt da sein Gegner überall sich auf Bach zu stützen liebte einmal: »Mein Gott! warum will man den alten Bach mit Gewalt in einen Streit mischen, an welchem er, wenn er noch lebte, gewiß keinen Theil genommen haben würde? Man wird doch niemanden überreden, daß derselbe die Lehre von der Harmonie nach Art des Herrn Kirnberger erkläret habe. Ich glaube, daß dieser große Mann sich mehr als einer einzigen Methode bei seinem Unterrichte bedienet und solche allezeit nach der Sphäre eines jeden Kopfes, nachdem er solchen mit mehrern oder weniger Naturgaben ausgerüstet, geschmeidiger oder steifer, voller Seele oder hölzern fand, eingerichtet hat. Aber ich bin auch zugleich versichert, daß, wenn noch irgendwo Anleitungen zur Harmonie in Manuscript von diesem Mann existiren, man nirgends gewisse Dinge finden wird, die uns Herr Kirnberger für Bachische Lehrsätze verkaufen will. Sein berühmter Herr Sohn zu Hamburg müßte doch auch ein Wort davon wissen«27. Hierin ist gewiß etwas wahres. Indessen kannte Kirnberger die ältesten Söhne und andre Schüler Bachs genau genug, um dem Verdachte zu entgehen, er habe sein System nur nach den von ihm selbst mit Bach gemachten Erfahrungen aufgebaut. Mit dem Appell an Emanuel Bach fuhr Marpurg übel: jener trat unter entschiedener Mißbilligung des von Marpurg angeschlagenen polemischen Tones auch sachlich auf Kirnbergers Seite, den er zu der Erklärung ermächtigte, daß Seb. Bach die von Marpurg gegen Kirnberger in Schutz genommenen Ansichten Rameaus nicht getheilt habe28. Und was Bachs eigne Aufzeichnungen über die Tonsetzkunst betrifft, so tragen auch [598] diese nur dazu bei, den von Kirnberger als Bachisch bezeichneten Lehrgang wirklich als solchen erscheinen zu lassen.
Man kannte bisher nur jene kurzen Regeln vom Generalbass, welche Bach seiner Gattin Anna Magdalena in ihr späteres Clavierbuch eingezeichnet hat29. Es existirt aber auch eine ausführlichere Generalbasslehre Bachs, von welcher selbst Kirnberger nichts gewußt zu haben scheint, da er behauptet, Bach habe nie etwas theoretisches über Musik geschrieben30. Sie ist durch Johann Peter Kellner der Nachwelt erhalten worden, stammt aus dem Jahre 1738 und führt den Titel: »Des Königlichen Hoff-Compositeurs und Capellmeisters ingleichen Directoris Musices wie auch Cantoris der Thomas-Schule Herrn Johann Sebastian Bach zu Leipzig Vorschriften und Grundsätze zum vierstimmigen Spielen des General-Bass oderAccompagnement, für seine Scholaren in der Musik«. Die nur hier und da von Kellner corrigirte Abschrift scheint von einer der Musik noch ziemlich unkundigen Persönlichkeit und zwar nach dem Manuscript eines Bachschen Schülers angefertigt zu sein. Auf ersteres deuten zahlreiche unverständige Schreibfehler, auf letzteres die vielfachen Unreinheiten des vierstimmigen Satzes. Einzelnes, wie das mehrmals vorkommende modus für motus, scheint zu verrathen, daß Bach den Text des Manuscripts dictirt hat. Er dürfte das Werkchen zum Gebrauch beim Gesammtunterricht ausgearbeitet haben, wodurch es sich auch leichter erklärte, warum die im Manuscript enthaltenen vierstimmig ausgesetzten Bässe nicht oder wenigstens nicht durchgängig von ihm corrigirt, und somit fehlerhaft geblieben sind31.
Die Generalbass-Lehre zerfällt in zwei Theile, einen »Kurtzen Unterricht von dem so genannten General-Bass« und einen »Gründlichen Unterricht des General-Basses«; ersterer augenscheinlich für die völligen Anfänger, letzterer für schon etwas vorgeschrittene Schüler entworfen. Auch diese kleine Arbeit zeugt von dem tiefen und kräftigen sittlichen Ernst, der alle künstlerische Thätigkeit Bachs [599] durchdrang. »Des Generalbasses Finis und Endursache soll anders nicht, als nur zu Gottes Ehre und Recreation des Gemüths seyn. Wo dieses nicht in Acht genommen wird, da ists keine eigentliche Music, sondern ein Teuflisches Geplärr und Geleyer«. Sie zeichnet sich außerdem durch Klarheit, straffe Fassung und einen musterhaften methodischen Fortgang aus. Sie offenbart in diesen Beziehungen ein bedeutendes Lehrtalent und bewahrheitet Kirnbergers Wort, daß Bach Schritt vor Schritt vom Leichtesten bis zum Schwersten gegangen sei. Von nicht minderer Wichtigkeit aber ist, daß Bach den Generalbass einen Anfang zum Componiren nennt und hinzufügt, wenn ein Lehrbegieriger sich den Generalbass wohl einbilde und ins Gedächtniß präge, so dürfe er versichert sein, daß er schon ein großes Theil der ganzen Kunst begriffen habe32. Hierdurch wird bewiesen, daß es völlig im Sinne Bachs geschieht, wenn Kirnberger einen vollständigen Cursus des Compositionsunterrichts mit der Generalbasslehre begonnen wissen will und diese »die ersten Linien zur Composition« nennt. Eine wie große Bedeutung Bach einem tüchtigen Generalbassstudium nicht allein für den Zweck des Accompagnirens beimaß, wird durch andre Dinge bestätigt. In der vorliegenden Anweisung führt er den Schüler bis zur Begleitung kleiner Fugensätze. Es kann kaum noch einem Zweifel unterliegen, daß eine vorhandene Sammlung von 62 Praeludien und Fugen, welche sämmtlich nur auf ein System verzeichnet, mit Bezifferung versehen sind und als Namen ihres Verfassers denjenigen Bachs tragen, gleichsam die Fortsetzung seiner Generalbasslehre bilden33, daß Bach also die vorgerückteren Schüler anzuleiten pflegte, nach einem bezifferten Basse und einigen andern Andeutungen sogar selbständige Musikstücke ex tempore auszuführen.
Bei einer derartigen Compositionsvorschule erscheint es selbstverständlich, daß Bach es im wirklichen Compositionsunterricht gleich Kirnberger vorgezogen haben muß, nach der Intervallenlehre sofort zu Accord, Accordverbindung und Modulation überzugehen, hernach auch nicht mit dem zweistimmigen, sondern dem vierstimmigen einfachen Contrapunkt zu beginnen. Sicher geschieht es in [600] seines Meisters Sinne, wenn Kirnberger sagt: »Man thut am besten, daß man bei dem vierstimmigen Contrapunkt anfängt, weil es nicht wohl möglich ist, zwei- oder dreistimmig vollkommen zu setzen, bis man es in vier Stimmen kann. Denn da die vollständige Harmonie fehlen muß, so kann man nicht eher mit Zuverlässigkeit beurtheilen, was in den verschiedentlich vorkommenden Fällen von der Harmonie wegzulassen sei, bis man eine vollkommene Kenntniß des vierstimmigen Satzes hat«34. Diesem Verfahren liegt die Anschauung zu Grunde, daß alle mit und nach einander stattfindenden Tonverbindungen auf gewisse Grundharmonien und deren Zusammenhang zu beziehen seien. Die Anschauung wurde in der musikalischen Praxis schon während des 17. Jahrhunderts die allein herrschende. Von ihr sind auch Bachs Compositionen getragen. Die Kühnheit und Freiheit seiner Stimmführung, Polyphonie und Modulation, die Auflösung der Dissonanzen durch Umwechslung der Stimmen, gelegentlich selbst die Überschreitung allgemeingültiger Satzregeln sind durchaus durch jene »harmonische« Anschauung bedingt, welche bei ihm zu einer so staunenswürdigen Sicherheit entwickelt war, daß ihm auch das Verwegenste gelingen mußte. Daneben aber war doch sein Ohr so sehr geschärft in der Verfolgung der Stimmen selbst des reichst besetzten und complicirtesten Musikstückes, daß er nicht nur bei Aufführungen den geringsten Fehler sofort bemerkte35, sondern auch bei Anfertigung seiner Compositionen sich der penibelsten Sauberkeit des Satzes befliß. Quinten-und Octaven-Parallelen erklärt er in seiner Generalbasslehre für die größesten Fehler des Tonsatzes; dafür hatten sie freilich immer gegolten, aber die Componisten am Ausgange des 17. Jahrhunderts und zum Theil auch noch die Zeitgenossen Bachs zeigen sich in dieser Beziehung sehr viel lässiger als er. Auch gegen verdeckte Octaven und Quinten selbst in den Mittelstimmen war sein Ohr ausnehmend empfindlich36. Über Verdopplung [601] der Dissonanzen und des Leitetons galten ihm für sich wie seine Schüler die strengsten Gesetze. Kirnberger behauptet, Bach habe, soweit er ihn durchforscht habe, nur ein einziges Mal in einem vierstimmigen Satze die große Terz des Oberdominant-Accordes verdoppelt37. Daß er für den fünfstimmigen Satz die Verdopplung der übermäßigen Secunde, Quarte, verminderten Quinte, übermäßigen Sexte, Septime und None verbot, weiß man gleichfalls durch Kirnberger38. Im Sextaccorde des verminderten Dreiklangs die Sexte zu verdoppeln bezeichnet Bach selbst als einen Fehler, weil es übel klinge39. Indessen alle diese sorgfältig beobachteten Regeln der Stimmführung waren ihm immer doch ein Zweites. Ein Außerachtlassen derselben konnte er sich gestatten ohne seinem empfindlichen Gehöre wehe zu thun, wenn nur die Logik der Harmonienfolge unanfechtbar und verständlich war. Sein unerschütterlich sicheres Gefühl für diese ließ ihn manchmal Dinge wagen, daß selbst ein Kirnberger gestehen mußte, Bachs Sachen erforderten einen ganz besondern Vortrag, der seiner Schreibart genau angepaßt sei. Der Spieler müsse die Harmonie vollkommen kennen, sonst seien viele derselben kaum anzuhören40.
Daß der musikalischen Praxis schon im 17. Jahrhundert eine gleich entwickelte Theorie zur Seite gestanden habe, darf man nicht annehmen, denn die Kunstlehre pflegt zu allen Zeiten hinter der Kunstübung um ein beträchtliches zurück zu sein. So viel aber steht doch fest, daß findige praktische Musiker schon im Anfange jenes Jahrhunderts es als den kürzesten und leichtesten Weg zur Einführung in die Compositionslehre erkannt hatten, wenn man mit dem Generalbass den Anfang machte. Der Berliner Cantor Johann Crüger [602] nennt im Jahre 1624 diese auch von ihm angewendete Methode bereits eine bekannte41, und mag sie neben den mannigfaltigen andern Lehrarten, welche er andeutet, einstweilen auch nur eine bescheidene und wenig vornehme Figur gemacht haben, sicher ist daß sie nicht wieder ausstarb, sondern der musikalischen Praxis parallel immer mehr erstarkte und in Deutschland wenigstens allmählig die herrschende wurde42. Bach, wenn er diese Methode anwandte, that damit nichts neues; sie war eine alte langbewährte. Sie hatte natürlich auch ihre Mängel und konnte von ungeschickter Hand angewendet schädlich wirken und der Ungründlichkeit Vorschub leisten. Aus diesem Grunde erhob sich gegen sie im Jahre 1725 der Wiener Capellmeister Joseph Fux mit seinem Gradus ad Parnassum, in welchem er den Compositionscursus mit dem einfachen zweistimmigen Contrapunkt nota contra notam beginnt, unter gründlicher Durcharbeitung der fünf Gattungen des einfachen zwei-, drei- und vierstimmigen Contrapunkts allmählig zur Imitation, zur zwei-, drei- und vierstimmigen Fuge fortschreitet, dann den doppelten Contrapunkt abhandelt, denselben wiederum auf die Fuge anwendet und mit einigen Capiteln über den Kirchenstil und das Recitativ den Beschluß macht – der Generalbass und die Accordlehre bleiben ganz außer Betracht. Diese Methode war damals für gewisse Kreise wirklich etwas neues, und Fux bezeichnet sie selbst ausdrücklich so, er verhehlt auch nicht die reactionäre Absicht, die ihn leitete, der immer mehr um sich greifenden Willkür und Maßlosigkeit in der Musik entgegen zu arbeiten. Im Grunde aber war sie nur eine Erneuerung und Vervollständigung der Kunstlehre des 16. Jahrhunderts und bezieht sich demnach einzig auf die unbegleitete [603] polyphone Gesangsmusik: diese wollte Fux als den Ausgangspunkt aller musikalischen Bildung angesehen wissen. Fast um dieselbe Zeit hatte der Franzose Rameau den ersten Versuch gemacht, die auf der harmonischen Anschauung beruhende Kunstübung wissenschaftlich zu begründen und in ein System zu bringen. Seine 1722 erschienene »Abhandlung von der Harmonie« erregte sehr bald auch in Deutschland Aufsehen; Nikolaus Bach erzählte 1724 allerlei darüber an Schröter43, und daß Seb. Bach sich mit ihr bekannt gemacht habe, müssen wir aus Emanuel Bachs Auftreten für Kirnberger schließen, von dem oben die Rede war. Die Hauptgegenstände des Rameauschen Systems: die Bestimmung des Accords durch den Grundbass, sowie die durch Umwechslung des Basstones entstehenden Accorde waren natürlich in der Praxis längst bekannte und angewendete Dinge, in Bezug auf sie also eine Übereinstimmung Bachs mit Rameau natürlich. Gewisse im Ausbau des Systemes gewonnene Resultate des Franzosen wollte aber Bach nicht gelten lassen. Worauf im Besondern sich seine abweichende Ansicht bezog, können wir nicht mit Sicherheit angeben, dürfen aber annehmen, daß es die auch von Kirnberger bestrittenen Behauptungen waren44. Demgegenüber ist der Schluß gestattet, daß Bach der Fuxschen Methode volle Anerkennung gezollt hat. Denn kein andrer als sein [604] Compositionsschüler Mizler übertrug den Gradus ad Parnassum gleichsam unter Bachs Augen ins Deutsche, und wenn Mizler über den Werth des Werkes bemerkt, daß es von den wahren Kennern einer guten Composition durchgehends vielen Beifall erhalten habe, so zielt er doch unzweifelhaft auf Bach in erster Linie45. In der That stehen sich Bach und Fux näher, als es manchem scheinen möchte. Nicht so darf man sich die Entwicklung der Kunstlehre in Deutschland denken, daß bis zu Bachs Zeit die strenge contrapunktische Schulung herrschend gewesen, durch Bach aber eine freiere Lehrmethode eingeführt worden sei. Ein genaueres Studium der deutschen Componisten besonders aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und unter ihnen namentlich der Orgel- und Claviermeister, welche der Stolz dieser Periode sind, beweist unzweifelhaft das Gegentheil. Die Ungeschicklichkeit im polyphonen Vocalsatze war während des Jahrhunderts größer und größer geworden, die berechtigten Freiheiten der Instrumentalcomponisten drohten in Willkürlichkeit und Laune auszuarten. Seine fabelhafte contrapunktische Gewandtheit, seine Strenge und Reinheit im Satze hat Bach zum geringsten Theile als Tradition seiner Vorgänger überkommen. Er hat diese Dinge von neuem in die Kunst hineingebracht, gewiß auch mit Anlehnung an alte classische Muster, mehr jedenfalls noch dem Zuge des eignen Genius folgend. Die alten bewährten Gesetze der Stimmführung kommen durch ihn unter den deutschen Künstlern erst wieder recht zu Ehren, allerdings mit den Abwandlungen, welche das inzwischen gründlich veränderte Tonmaterial nöthig machte, und Bach ist es gewesen, der die Orgel- und Clavier-Componisten von neuem lehrte, überhaupt mit realen Stimmen gewissenhaft zu verfahren und eine bestimmte Stimmenanzahl ein ganzes Stück hindurch fest zu halten. Wenn er bei aller Billigung der Fuxschen Methode seinerseits doch einen andern Lehrgang vorzog, so that er nur was in der Natur der Sache lag. Jene paßte für den Gesang; dem angehenden Vocalcomponisten konnte allein sie die nothwendige sichere Grundlage verschaffen. Sie war auch mit gewissen Einschränkungen für den Violin-Spieler und -Setzer die richtige; für Orgel und Clavier konnte sie nicht in Anwendung [605] kommen, da sie den Kunstjünger in Widerspruch setzte zu den Forderungen seines Instrumentes. Ob es nicht überhaupt das richtigere sei, jede Kunstbildung mit dem Gesänge und nicht mit dem Spiel zu beginnen, kommt hier nicht in Frage, wo es sich um Erklärung historischer Erscheinungen handelt. Unbestreitbar ist, daß nur diejenige Lehrmethode Erfolg haben kann, welche, der Schüler beginne womit er wolle, von Anfang an dessen individuelles Kunstgefühl zu wecken im Stande ist. Es giebt in der wahren Kunst nichts mechanisches, zwischen Reproduction und Production besteht kein principieller Gegensatz, die erste gesungene Tonreihe, das leichteste gespielte Clavierstückchen ist schon ein Anfang der Composition, oder soll es sein. So ist es denn ganz natürlich, daß in Italien und den unter italiänischem Einfluß gebliebenen Gegenden Deutschlands die alte contrapunktische, von Fux erneuerte Methode das Übergewicht behielt, da die musikalische Bildung der Italiäner vorzugsweise auf dem Gesang gegründet geblieben ist, während in Deutschland, wo immer besser und mehr gespielt wurde als gesungen, die andre Lehrart den naturgemäßen Vortritt hatte. Unter diesem Gesichtspunkte wird auch die verschiedene Stellung verständlich, welche in dem Fuxschen Lehrgange und demjenigen Bachs (oder Kirnbergers) der Fuge angewiesen ist. Die Vocalfuge ruhte eben auf andern Bedingungen als die instrumentale, und was Bach aus letzterer gemacht hatte konnte wohl als ein höchster Gipfel der Kunst angesehen werden, zu dessen Ersteigung nur der gründlichst und allseitigst gebildete Jünger die Kraft besaß46.
Bei zwei Schülern Bachs, Heinrich Nikolaus Gerber und Agricola, sind wir über den Lehrgang welchen der Meister mit ihnen einschlug wenigstens insofern genauer unterrichtet, daß sie als Beispiele dienen können, wie sich Bach durch das Instrument, von dem die Schüler ausgingen, die Lehrmethode für die Composition gleichsam [606] vorzeichnen ließ. Gerber mußte als er von Bach Unterricht empfing erst dessen Inventionen, eine Reihe Suiten und das Wohltemperirte Clavier »durchstudiren«. Dann wurden Generalbass-Übungen vorgenommen, aber nicht extemporirte: Gerber hatte vielmehr die Bässe zu den Albinonischen Violinsoli schriftlich vierstimmig auszusetzen47. Ähnlich geschah es mit Agricola, den Bach erst im Clavier- und Orgelspiel, hernach »in der harmonischen Setzkunst« unterwies48. Beide Male handelte es sich nicht um Anfänger und musikalischen Elementarunterricht: mittelst der harmonischen Setzkunst und der vierstimmig auszuschreibenden Albinonischen Generalbässe führte Bach jene jungen Männer in die wirkliche Composition ein. Und zu diesem Zwecke geschah es auch, daß er sich des Chorals bediente. Er liebte es die Übungen im einfachen Contrapunkt damit zu beginnen, daß er Choralmelodien vierstimmig harmonisiren ließ. Hierüber kann man nach den Äußerungen Kirnbergers und Emanuel Bachs nicht mehr zweifelhaft sein. Letzterer fragt mit Hinblick auf die von ihm herausgegebenen Choralsätze seines Vaters, wer heutzutage wohl den Vorzug der Unterweisung in der Setzkunst leugne, vermöge welcher man statt der steifen und pedantischen Contrapunkte, den Anfang mit Chorälen mache49? Kirnberger empfiehlt mit dem vierstimmigen Contrapunkt zu beginnen, und stellt die Choräle Bachs als unübertroffene Muster eines vierstimmigen Satzes hin, in welchem nicht nur alle Stimmen ihren eignen fließenden Gesang hätten, sondern auch in allen einerlei Charakter beibehalten werde50. Eine fleißige Übung in Chorälen sei eine höchst nützliche, ja unentbehrliche Sache, und es sei ein schädliches Vorurtheil, dergleichen Arbeiten für überflüssig oder gar [607] pedantisch zu halten, da sie den wahren Grund bildeten nicht nur zum reinen Satz, sondern auch um richtig und ausdrucksvoll für Gesang componiren zu lernen51. Keineswegs sollte also dieser Lehrgang dem Schüler schwierige aber unerläßliche Anfangsstudien auf Kosten der Gründlichkeit erleichtern, und er wurde auch nicht so aufgefaßt, da es gar Leute gab, die ihn für pedantisch erklärten, wogegen Verständige ihn eben wegen seiner Gründlichkeit priesen52. Wenn Kirnberger die Bachschen Choralsätze auch als Vorbilder der Gesangscomposition ansieht, so darf man nicht vergessen, daß er begleitete Gesangsmusik meint und vor allem dabei auf Erfindung einfacher, ausdrucksvoller Melodien abzielt. Als Muster eines mehrstimmigen a cappella-Satzes sollen sie nicht gelten, und nichts liefe auch Bachs eigensten Absichten mehr zuwider als eine solche Unterstellung. Meist mit reicher instrumentaler Begleitung, nie ganz ohne eine solche, fast durchaus als integrirende Theile großer, kunstvoll ausgeführter Kirchenmusiken und auf besondere Textunterlagen immer sehr eng bezogen, so sind diese Choralsätze gedacht und nur so darf man sie beurtheilen. Carl Friedrich Fasch, welcher Ernst Ludwig Gerber gegenüber meinte, bei Bach sänge zwar jede Stimme für sich, aber ihre Verbindungen unter sich blieben unsangbar; es seien schöne Theile, aber nicht zu einem schönen Ganzen zusammengefügt53, hatte diesen Standpunkt der Beurtheilung nicht gefunden. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Herausgabe der Choräle als aparter, schlechtweg vierstimmiger Tonstücke und vollends unter der Ankündigung, dieselben sollten ein vollständiges Choralbuch bilden, irrige Vorstellungen hervorrufen mußte und allerhand Schaden stiften konnte. Bald bediente man sich Bachs als Vorbildes auch am ungehörigen Orte, und als Abraham Peter Schulz [608] im Jahre 1790 den Einfluß der Musik auf die Bildung eines Volkes und deren Einführung in Schulen erörterte, mußte er gestehen, »es haben die größesten Harmoniker aus der Bachschen Schule bei der Bearbeitung des simplen Chorals mehr einen Prunk von Gelehrsamkeit in unerwarteten und auf einander gehäuften dissonirenden Fortschreitungen, die oft die Melodie ganz unkenntlich machen, zu zeigen gesucht, als auf die Simplicität Rücksicht genommen, die in dieser Gattung für die Faßlichkeit des gemeinen Mannes so nothwendig ist«54.
An die vierstimmigen Choralsätze Bachs knüpft sich noch eine andre Frage, welche gleichermaßen bedeutsam ist sowohl für des Meisters eigne Stellung zur musikalischen Vorzeit, als auch für den Sinn in welchem er seine Kunstjünger lehrte. Ein großer Theil der von ihm gesetzten Choralmelodien entstammt Jahrhunderten, da man bei der Bildung von Melodien einer andern Grundanschauung folgte, als zu unsern und auch schon zu Bachs Zeiten. Die Gestaltung einer Tonreihe nach Maßgabe einer der sechs, oder, wenn man die Plagaltöne besonders rechnen will, zwölf Octavengattungen hatte eine eigenartige Modulation derselben, und wenn sie mehrstimmig behandelt wurde auch eine entsprechende besondere harmonische Begleitung zur Folge. Das Gefühl für den Charakter der verschiedenen Octavengattungen war bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts unter den protestantischen Musikern noch ziemlich lebendig. Dann fing es an abzusterben und es bildete sich aus der Vielheit der Kirchentonarten immer entschiedener die Zweiheit der Dur- und Moll-Tonart heraus. Bestanden jene auch dem Namen nach noch eine Zeitlang weiter, so verband man doch mit der Mehrzahl derselben keine bestimmten Begriffe mehr. Johann Schelle fragte den von ihm hoch bewunderten Rosenmüller einmal, was er von den alten Modi musici halte. Darauf lächelte Rosenmüller und sagte, er kenne nur Jonisch und Dorisch55. Die Zusammendrängung der Octavengattungen mit großer Terz in das System von C ging übrigens leichter vor sich, [609] als die Concentrirung des Dorischen, Phrygischen und Aeolischen, deren Grunddreiklänge eine kleine Terz zeigen, zur Molltonart. Mit Rosenmüller nahm zuerst auch noch Werkmeister das Dorische als besten Repräsentanten der Molltonart an56, erklärte später aber das Aeolische dafür57. Johann Gottfried Walther beschreitet einen vermittelnden Weg, indem er im Jahre 1708 lehrt, man gebrauche heutzutage drei Tonarten: Dorisch, Aeolisch und Jonisch58. Bach endlich kennt nur zwei Tonleitern, eine mit großer und eine mit kleiner Terz, jene ist ihm die ionische, diese die aeolische59. Dieser allmählige Vereinfachungsprocess ist interessant zu beobachten. Dorisch und Aeolisch hatten ein jedes ihre Vorzüge für den angestrebten Zweck. Das Dorische ließ auf Grundton, Quinte und Quarte eine vollständige Cadenz zu, ohne daß, von der Erhöhung des Leitetons abgesehen, die Gränzen des diatonischen Systems überschritten zu werden brauchten. Im Aeolischen war eine diatonische Cadenz auf der Quinte unmöglich. Dagegen prägte es insofern wieder den Mollcharakter schärfer aus, als es auf Grundton sowohl, wie auf Quinte und Quarte Dreiklänge mit kleiner Terz besaß, während im Dorischen die Terz des Quartdreiklanges groß ist. Unsere Molltonart erscheint also recht eigentlich als eine Combination des Dorischen und Aeolischen. Steht nun bei Bach das moderne Zweitonarten-System völlig fest, so hält er andrerseits doch noch einen engern Zusammenhang mit dem System der sechs Octavengattungen dadurch aufrecht, daß ihm als Molltonleiter einfach die aeolische gilt. Theoretisch giebt es für ihn sowohl in aufsteigender als absteigender Bewegung nur eine und dieselbe Tonreihe, während Rameau und mit ihm auch Kirnberger für die aufsteigende Bewegung die Reihe a h c d e fis gis a annahmen und Lingke, um den Dualismus aufzuheben, für beiderlei Bewegung die Reihe a h c d e f gis a aufstellte60.
[610] Bachs Molltonleiter ist freilich für seine Praxis von keiner unterscheidenden Bedeutung, aber doch ein beachtenswerthes Zeichen für seine Stellung zu den beiden gegensätzlichen Systemen. Als er als Organist in Weimar zuerst seine ganze Meisterschaft in der Behandlung des Chorals erwies, stritten sich Mattheson und Buttstedt über die Existenzberechtigung der Kirchentonarten, und jener bereitete ihnen unter fast allgemeinem Beifall ein feierlichkomisches Leichenbegängniß. Wenn Fux einige Jahre später in dem Lehrgange seines Gradus den Kirchentonarten wieder eine grundlegende Bedeutung beimaß, so konnte die Opposition eines so hervorragenden Mannes gegen den modernen Radicalismus zwar ihre Wirkung nicht verfehlen. Indessen hatte Fux doch zunächst und vorwiegend die katholische Kirchenmusik im Auge. In der protestantischen Kirche konnte das alte System der Octavengattungen den verdienten Schutz nur durch einen protestantischen Tonkünstler finden. Durch Bach ist er ihm zu Theil geworden. Wie in der Compositionslehre, so wußte er auch in Betreff des Choralsatzes eine höhere Stellung zu gewinnen, in welcher er die Gegensätze vereinigte. Er ging auch hier von dem durch die geschichtliche Entwicklung hergestellten Grunde der Dur- und Moll-Tonleiter aus, benutzte aber die Kirchentöne gewissermaßen als Nebentonleitern. Er gewann ihnen den ganzen Reichthum der Modulationen ab, den sie zu bieten fähig sind, wußte ihn aber so zu verwenden, daß er dem einfacheren Grundgefühle der Dur- und Moll-Tonart sich unterordnete61. Die Erkenntniß, daß manche alte Choralmelodien nicht zur Entfaltung ihres ganzen Wesens gelangen könnten, wenn man sie unter die Modulationsgesetze des harmonischen Systems beuge, war für Bachs Verfahren nur ein Motiv zweiter Ordnung. Er empfand, daß die Kunstideen, welche in diesen Gesängen Gestalt [611] gewonnen hatten, eben weil sie durch Jahrhunderte im Schooße der Kirche gereift waren eine unersetzbare Fülle echtester kirchlicher Empfindung und Stimmung mit sich führten. Diese konnte und wollte er für seinen Kirchenstil sich nicht entgehen lassen. Das System der Kirchentöne erscheint bei Bach nicht als ein für gewisse Gegenstände künstlich angewendetes; es ist in Bachs Geiste von Grund aus wiedergeboren und kommt demnach nicht nur diesen oder jenen Chorälen, sondern seiner gesammten Musik zu Statten. Erschien es ihm angemessen, so setzte er einen Choral streng nach den Gesetzen seiner Octavengattung, so einmal die mixolydische Melodie »Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist«62. Meistens wendet er jedoch eine Harmonisirung an, welche sein Schüler Kittel die gemischte nennt63, indem er die charakteristischen Modulationen einer bestimmten Octavengattung bald stärker, bald schwächer vorklingen läßt. Beispiele bieten die dorischen Choräle »Das alte Jahr vergangen ist«, »Erschienen ist der herrlich Tag«64, die mixolydischen »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Gott sei gelobet und gebenedeiet«, »Nun preiset alle Gottes Barmherzigkeit«65, die phrygischen »Christum wir sollen loben schon«, »Erbarm dich mein, o Herre Gott«66. Daneben kommt es dann auch vor, daß Melodien, die einer Kirchentonart angehören, in ganz moderner Harmonisirung erscheinen, und andrerseits werden z.B. mixolydische Modulationen bisweilen auch bei Chorälen angewendet, die ihrem Wesen nach in diese Tonarten nicht gehören. Die Bearbeitungen, welche die Choräle »Jesu nun sei gepreiset«, »Es ist das Heil uns kommen her«, »Vom Himmel hoch da komm ich her« in den gleichnamigen Cantaten, beziehungsweise in der Mitte des zweiten Theils des Weihnachts-Oratoriums erfahren haben, legen davon Zeugniß ab. Denn eigentlich sind alle drei ionisch, auch die zweite; sie galt wenigstens da Bach den Schlußchoral jener Cantate setzte schon seit länger als einem Jahrhundert dafür. Man erkennt aus all diesem, daß Bach sich aus den Kirchentonarten [612] ein Ausdrucksmittel zubereitet hatte, welches er frei anwendete, wo es ihm der poetische Sinn und der musikalische Zusammenhang zu erfordern schien. Ist es doch auch nur aus solchen Gründen herzuleiten, daß er eine seiner Lieblingsmelodien »O Haupt, voll Blut und Wunden« bald ionisch, bald phrygisch harmonisirt. Bachs unerschöpflicher harmonischer Reichthum, den er nicht nur in den Chorälen sondern in allen seinen Compositionen zeigt und zwar meistens ohne irgendwie weitgreifend zu moduliren, entspringt aus diesen zwei Quellen: aus der gründlichsten Ausnutzung der Octavengattungen und aus einem überaus scharfen und sichern Gefühle für die harmonischen Verwandtschaften innerhalb des Dur- und Moll-Systems67.
Kirnberger hat deshalb seinen großen Lehrer ganz wohl begriffen, wenn er sich nicht nur veranlaßt sah, eine Reihe von Orgelchorälen des dritten Theils der »Clavierübung«, welcher eben um die Zeit erschien, da er in Leipzig bei Bach studirte, später nach Seite ihres harmonischen Wesens hin zu commentiren68, sondern eine nach Art der Kirchentöne eingerichtete Modulation auch in Fugen des Wohltemperirten Claviers und freierfundenen Stücken Bachscher Cantaten erkannte. In seinem Handexemplare des ersten Theils jener Fugensammlung bezeichnete er die Fugen aus C dur und Cis dur mit Jonisch, die aus C moll, Es moll und Gis moll als Aeolisch, die aus Cis moll und Fis moll als Dorisch. Das Terzett der Cantate »Aus tiefer Noth« eignete er der aeolischen Tonart zu69. Diese Bezeichnungen können natürlich nur eine sehr bedingte Gültigkeit haben, insofern sie nämlich nichts anderes ausdrücken sollen, als ein Überwiegen derjenigen Modulationen, die dem Wesen dieser oder jener Kirchentonart eigenthümlich sind. Mehr aber hat auch Kirnberger gewiß nicht sagen wollen. Streng genommen sind kaum einige zusammenhängende Takte in diesen Stücken zu finden, in welchen die diatonischen Gesetze nicht irgendwie außer Acht gesetzt würden. Aber eine solche aus den tiefsten Tiefen heraus sich entfaltende [613] Harmonienfülle war doch nur möglich bei umfassendster Benutzung der in den Octavengattungen gegebenen Modulationsmittel.
Auch in der Art der Vorzeichnung läßt sich noch Bachs Zusammenhang mit dem System der Kirchentonarten erkennen. So bezeichnet er E dorisch folgerichtig mit zwei Kreuzen, F dorisch mit drei Been, G dorisch mit einem Bee, und enthält sich natürlich auch bei dem Dorischen, Phrygischen, Mixolydischen, wenn sie in ihren ursprünglichen Lagen angewendet werden, jeder Vorzeichnung. Als Beweis, wie sehr sich für andre Köpfe damals das Wesen der Octavengattungen verflüchtigt hatte, mag hiergegen angeführt werden, daß Mizler dem Dorischen D moll, dem Phrygischen E moll, dem Lydischen F dur u.s.w. ohne Umstände gleichstellt70. Bach wählt jene Vorzeichnungen aber nur dann, wenn er seinem Stück die Art und Stimmung der betreffenden Octavengattung aufprägen und zugeeignet wissen will. Wo das nicht der Fall ist, zeichnet er einfach Dur oder Moll vor. Manchmal scheint sogar, wenigstens beim Dorischen, seinem Verfahren nur absichtslose Gewohnheit zu Grunde zu liegen, und es gölte demnach theilweise auch von ihm Agricolas Bemerkung71, daß viele Componisten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts auch dort die dorische Tonart anzeigten, wo eigentlich die aeolische gemeint sei. Namentlich ist dieses von Bachs freien Compositionen zu verstehen. In der Altarie der Cöthener Huldigungs-Cantate72 hat Bach die erste Zeile als G moll, die übrigen alle als G dorisch bezeichnet, hier kann also ein innerer Grund nicht maßgebend gewesen sein. Aus solchen Dingen erkennt man aber wieder, wie die musikalische Empfindung im Suchen nach einer zusammenfassenden Molltonart noch längere Zeit zwischen Aeolisch und Dorisch schwankte73.
Fußnoten
V.
Wenn Bach in der ersten, bis zum Abschluß der Cöthener Jahre zu rechnenden Hälfte seines Lebens sich uns vorzugsweise als Instrumentalcomponist gezeigt hatte, so legte sich während der Leipziger Zeit die concertirende Kirchenmusik als das Feld seiner Hauptthätigkeit vor Augen. Eine naturgemäße Weiterbewegung von jener zu dieser Periode ist sichtbar; soweit es ohne Beeinträchtigung des selbständigen Werthes der verschiedenen Kunstgebiete geschehen kann, darf man sagen, daß die frühere Periode zur späteren sich verhält, wie Vorbereitung zur Erfüllung. Die instrumentale Kunst wird nicht aufgegeben, sie wird nur durch höhere Organe ausgeübt: in Folge der Doppeldeutigkeit des Gesanges als künstlerischen Ausdrucksmittels kommt dann freilich ganz von selbst ein neues wesentliches Element in sie hinein. Aber da die instrumentale Musik der eigentliche Quell von Bachs Kunst ist, so ist es natürlich, daß er auch in der zweiten Periode unmittelbar aus ihm zu schöpfen fortfuhr. Und ist schon die Zahl seiner später geschaffenen Instrumentalcompositionen keine geringe, so verleiht ihnen ihr Gehalt den Charakter schwerer, vollreifer Früchte eines gesegneten Lebensherbstes.
In der glücklichsten Lage befindet sich der wahre Künstler dann, wenn alle seine Werke Gelegenheitswerke sein können, und umgekehrt wird derselbe instinctiv getrieben, seine Kunst wo es nur angeht an die ihn umgebenden Lebensverhältnisse anzuknüpfen. Beides findet sich bei Bach bewahrheitet. Er ist nie größer gewesen, als wo er mit seiner Musik eben nur den Veranlassungen seines [615] Dienstes und Amtes nachzukommen hatte. Er hat aber auch immer die Gelegenheit wahrgenommen, wo es für einen bestimmten Zweck etwas zu componiren galt. Von 1729 bis nach 1736 war er Dirigent des Telemannschen Musikvereins. Über die Kammermusikwerke für Gesang mit Begleitung, welche er für ihn schrieb, ist schon gesprochen worden. Daß er auch Instrumentalien seiner Composition in ihm zur Aufführung brachte, steht außer Zweifel. Man denkt dabei zunächst an Orchesterpartien. Jene »Bachschen Sonaten«, welche noch im Jahre 1783 die Musikanten zu Eutritzsch bei Eröffnung der Kirmeß hören ließen, können nur Werken solcher Art entnommen sein1. Welche seiner Orchesterpartien er neu für den Musikverein componirt hat, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Bach auch in Cöthen schon sich mit dieser Form beschäftigte. Bei der einen, jetzt bekannteren, der beiden D dur-Partien steht aber soviel fest, daß die zur Ausführung angefertigten Original-Stimmen derselben zwischen 1727 und 1736 geschrieben worden sind, ungefähr also während der Zeit, da Bach den Musikverein dirigirte. Die andre D dur-Partie deutet wenigstens durch ihren Inhalt auf die Leipziger Periode2.
Die Musik, welche in dem Vereine getrieben wurde, war indessen mannigfaltiger Art; man muß daher annehmen, daß auch Violin- und Clavierconcerte Bachs hier zur Aufführung kamen. Häufiger noch wird dies in Bachs Wohnung geschehen sein. Da er bei seinem Tode nicht weniger als fünf Claviere, zwei Violinen, drei Bratschen, zwei Violoncelle, eine Gambe und noch andre Streichinstrumente hinterließ, so sieht man, daß er auf häusliche Concerte vollkommen eingerichtet war. An talentvollen, oder doch brauchbaren Schülern fehlte es zur Ausführung nie. Die glänzendste Zeit für Bachs Hauscapelle aber war unstreitig etwa von 1730 bis 1733, da die erwachsenen Söhne Friedemann und Emanuel noch im Elternhause weilten, Bernhard ins Jünglingsalter getreten war, und Krebs, schon seit 1726 Sebastians Schüler, sein großes Talent entwickelte – von den Gesangsleistungen Anna Magdalenas und ihrer Stieftochter Katharina abgesehen. Wissen wir es ja auch durch Bachs [616] eigne Worte, welche Freude es ihm damals machte, im Familienkreise ein Concert »vocaliter und instrumentaliter zu formiren«3. Ob Bach noch Violinconcerte eigens für diese Zwecke componirt hat, muß dahin gestellt bleiben; sicher ist nur, daß er solche Werke seiner Arbeit um die erwähnte Zeit zur Aufführung brachte4. Seine Hauptthätigkeit auf diesem Gebiete galt in Leipzig jedenfalls dem Clavierconcert. Die Violin-Sonaten und -Suiten hatte Bach später ganz oder theilweise für Clavier oder Orgel bearbeitet, und die Vergleichung zwischen Bearbeitung und Original ergab, daß die Idee dieser Stücke manchmal mehr im Boden des Clavierstiles ihre Wurzeln hatte, als daß sie wirklich geigenmäßig erfunden waren5. Nicht anders ist Bach auch mit einem Theil seiner Violin-Concerte verfahren, und die Vergleichung ergiebt ein ähnliches Resultat. Aber nicht nur die Violinconcerte in A moll, E dur und D moll hat er für Clavier mit Orchester übertragen, wobei sie nach G moll, D dur und C moll versetzt wurden. Er bietet uns auch drei Concerte (D moll, F moll und C moll), welche aus sich selbst erkennen lassen, daß sie Umgestaltungen früherer, als Originale leider verloren gegangener, Violinconcerte sind6. Ein viertes, E dur, trägt untrügliche Zeichen, die auf ein Violinconcert zurückwiesen, nicht an sich; man muß also einstweilen annehmen, daß es von Anfang für Clavier gesetzt worden ist. Es wurde, nachdem es seine erste Gestalt erhalten hatte, für zwei Kirchencantaten vollständig aufgenutzt, dann aber als Clavierconcert nochmals überarbeitet7. Ein fünftes, D moll, ging ebenfalls in eine Kirchencantate auf, als Original ist [617] es bis auf ein kleines Fragment verloren8. Ohne nachweisbare Beziehungen zu andern Werken steht nur das A dur-Concert da. Die beiden Concerte, welche ursprünglich für zwei Violinen und Tutti componirt waren, sind demgemäß auch auf zwei Claviere übertragen9; die Zahl der einfachen Clavierconcerte ist sieben, wenn man dasjenige mitrechnet, welches nur noch in der Kirchencantate vorhanden ist10.
Bei einigen dieser Concerte läßt sich über die Entstehungszeit genaueres sagen. Das erstere D moll-Concert ist für zwei verschiedene Kirchencantaten benutzt, zuerst für die Cantate »Ich habe meine Zuversicht«, welche auf den einundzwanzigsten Trinitatis-Sonntag 1730 oder 1731 gesetzt werden mußte, hernach zu der Jubilate-Musik »Wir müssen durch viel Trübsal in das Reich Gottes eingehen«11. Das andre D moll-Concert befindet sich in der wahrscheinlich für 1731 componirten Cantate zum zwölften Trinitatis-Sonntage »Geist und Seele wird verwirret«12. Die ersten beiden Sätze des E dur-Concerts enthält die Kirchenmusik »Gott soll allein mein Herze haben«, den letzten die Cantate »Ich geh und suche mit Verlangen«; sie sind dem achtzehnten und zwanzigsten Trinitatissonntage bestimmt, wahrscheinlich der Jahre 1731 oder 173213. [618] Die Originale müssen also vor diesen Daten componirt sein. Die Übertragung des einen der beiden C moll-Concerte für zwei concertirende Instrumente hat im Jahre 1736 stattgefunden14. In seiner späteren Lebenszeit, als Bach die hervorragendsten Orgelchoräle einer abschließenden Revision unterzog, den Passionen nach Johannes und Matthäus die endgültige Gestalt gab, hat er auch seine Clavierconcerte gesammelt und der letzten Feile unterworfen15.
Violinconcerte zu Claviermusik umzuformen hatte sich Bach wie wir wissen schon in Weimar eifrig geübt: er übertrug hier eine große Anzahl Vivaldischer Compositionen. Die Arbeit war nur insofern eine andre, als dort auch das Tutti in das Clavierarrangement einzuarbeiten war, hier aber der Clavierpart einfach an Stelle der Violinstimme treten sollte. Außer der Umformung derjenigen Passagen und melodischen Gänge, welche zu violinmäßig erfunden waren, außer der Umlegung derselben und der Benutzung tieferer Lagen, welche der Violine unzugänglich waren, galt es eine Stimme für die linke Hand herzustellen. Das concertirende Clavier einfach den Continuo mitspielen zu lassen, war ein Nothbehelf, zu dem Bach allerdings häufig gegriffen hat, besonders im D dur-Concert und dem Mittelsatz des einen C moll-Concerts. Wo er aber auf eine gründlichere Umarbeitung einging, ließ er zunächst den Continuo durch den Clavierbass in bewegteren Gängen umspielen, fügte zuweilen auch eine selbständige Stimme als dritte zwischen Oberstimme und Continuo hinein, oder machte, wenn der Continuo zu pausiren hatte, aus dem einstimmigen Satz des concertirenden Instruments einen zweistimmigen. Eine hervortretend sorgfältige Behandlung haben in dieser Beziehung das G moll- und in seiner letzten Überarbeitung das D moll-Concert erfahren; auch der erste Satz desjenigen C moll-Concerts, von welchem das Original noch erhalten ist. Gegenüber den Saiteninstrumenten ist dem Clavierstil die Zweistimmigkeit, und in weiterer Ausbildung die Drei- und Mehr-Stimmigkeit eigenthümlich. Dieses sowohl wie die Klangfarbe sind [619] Mittel, das Clavier zum Tutti in einen schärferen Contrast zu bringen, als er durch eine Solovioline erzielt werden kann. Mit gutem Grunde ist seit Mozart das Clavier als Soloinstrument beim Instrumentalconcert immer mehr in den Vordergrund getreten und nirgends hat sich sein Stil reiner und vollkommener entfaltet, als in der widerstreitenden Stellung, welche es in Mozarts und Beethovens derartigen Compositionen einzunehmen gezwungen war. Von Bachs Clavierconcerten läßt sich das gleiche nicht behaupten, auch nicht wenn man den in der Verschiedenheit des Cembalo vom Pianoforte gegebenen Entwicklungsbedingungen gebührend Rechnung trägt. Man muß berücksichtigen, daß damals zu einem jeden Concert auch noch ein Clavier als generalbassirendes Instrument gehörte. Es hatte als solches nicht nur das Soloinstrument zu stützen, sondern diente bei Bach ganz besonders auch dazu, die verschiedenen im Tutti mitwirkenden Organe zu binden und zu einer Einheit zu verschmelzen, welcher es seine Stileigenthümlichkeit zum Gesammtgepräge gab16. Daß auch bei Clavierconcerten Bachs das accompagnirende Cembalo in Anwendung kam, ist erwiesen. Von einem entschiedenen Gegensatz zwischen Tutti und Soloinstrument konnte also weder äußerlich noch innerlich die Rede sein. Dies erkannte Bach natürlich, und sein Streben ging viel mehr dahin, dem Clavier die Rolle, welche es als Generalbassinstrument bisher gleichsam latent gespielt hatte, nunmehr auch öffentlich zu übertragen. Die musikalische Form, welche sich durch das Gegeneinanderwirken zweier gleichberechtigter Mächte gebildet hatte, ist wie in den brandenburgischen Concerten beibehalten, übrigens aber ist das Clavier durchaus die herrschende Macht. Diese Werke sind gewissermaßen in Concertform entwickelte Claviercompositionen, die durch Mitwirkung von Streichinstrumenten eine größere Ton-, Stimmen- und Farbenfülle erhalten haben. Demnach läßt auch Bach alle Tuttisätze vom Soloclavier mitspielen oder durch Clavierfiguren umhüllen. Er beraubt sich hierdurch in einer oft ganz auffälligen Weise selbst der einfachsten gegensätzlichen Wirkung, wie z.B. im Andante des G moll-Concerts. Aber es kam ihm darauf an, eine dominirende Stärke des Cembaloklanges zu erzielen, was er denn auch, wenn man [620] bedenkt, daß noch ein generalbassirendes Cembalo hinzuzukommen und das Tutti nur dünn besetzt zu werden pflegte, vollkommen erreicht haben muß. Was dieses zweite Cembalo an unterstützenden Accorden zu leisten hat, ist meistentheils so geringfügig, daß es vom concertirenden Cembalo unschwer mit übernommen werden konnte, und in der That will es mir scheinen, als seien die letzte Überarbeitung des D moll-Concerts und das G moll-Concert auch darauf hin eingerichtet. Wie Bach der Idee, im Clavierconcert das Clavier zum Herrscher zu machen, weiter und weiter bis in ihre letzte Consequenz nachgegangen ist, werden wir alsbald erfahren. Der Keim dieser Idee steckte aber in den Compositionen schon als sie noch originale Violinconcerte waren. Denn daß Bach die Überarbeitungen nur aus Mangel an Lust zu ganz neuen Clavierconcerten vorgenommen habe, ist eine bei diesem Meister nicht zu rechtfertigende Annahme, und auch die große Anzahl der Überarbeitungen zeugt dagegen. Unzweifelhaft hatte er das Gefühl, daß der Stil seiner Violinconcerte zu sehr durch seinen Clavierstil bedingt war, als daß diese Compositionen nicht allein als Clavierconcerte ihr volles inneres Wesen entfalten könnten. Daß im Einzelnen manche und namentlich cantable Stellen durch die Clavierübertragungen unwirksamer geworden sind, läßt sich nicht leugnen; im Ganzen aber haben wir in ihnen eine Weiterbildung, kein gelegentliches Arrangement zu erkennen.
Es erhellt, daß in Bezug auf die Form, namentlich des ersten Satzes, auf das Verhältniß des Soloinstrumentes zum Tutti, auf die Klangeigenthümlichkeit beider und des Ganzen das Bachsche Clavierconcert unter einem andern Gesichtspunkte beurtheilt werden will, als das durch Mozart begründete neuere. Hat man ihn gefunden, dann ist des Genußreichen die Fülle17. Wenn wir von den [621] drei Concerten absehen, die noch als Violinconcerte vorliegen und als solche schon besprochen sind18, sowie von jenem D moll-Concert, welches sich nur innerhalb der Cantate »Geist und Seele wird verwirret« erhalten hat, so ziehen unter den übrigen einclavierigen Concerten diejenigen aus F moll und A dur durch ihre klare und gedrungene Form die Aufmerksamkeit auf sich. Sie sind besonders geeignet, das Verständniß für den Bau des älteren Concerts zu erschließen. Der Mittelsatz des F moll-Concerts besteht nur aus einer zusammenhängenden, reich verzierten Cantilene des Soloinstruments, während in dem Larghetto des andern die Streichinstrumente mit dem Generalbass eine Art freier Ciacone ausführen, die sich dem Adagio des E dur- Violin- (D dur-Clavier-) Concerts vergleichen ließe; nur liegt das Thema in der Oberstimme, bildet Zwischensätze und wird auch in der Umkehrung angewandt. Das E dur- und D moll-Concert zeigen weite Verhältnisse, dem ersteren ist ein rührig wohlgemuther, im Siciliano zart schwärmender, dem letzteren ein leidenschaftlich vordringender, pathetischer Charakter eigen. Es ist von allen unstreitig das bedeutendste, unablässig fesselnd durch den mächtigen Schwung und tiefen Ernst seiner Gedanken, wie durch deren geistreiche Verarbeitung. Dieselbe erfolgt in den Allegrosätzen nach Concertweise mehr motivisch als thematisch, das Adagio ist eine Ciacone, deren Thema diesesmal aber im Basse verbleibt, nur die Tonarten wechselt und zu Modulationszwecken jedesmal kurze motivische Zwischensätze einfügt. Die stürmisch losbrechende Thatkraft, welche nur in tiefer Klage zu Ruhe kommt und selbst zum Abschluß kaum die ernste Miene erheitert, giebt dem Werke grade auch als Concert ein ungewöhnliches Gepräge; denn viel mehr als später war man damals noch der Meinung, in dieser Form nur ein angenehm und flüchtig anregendes Spiel sehen zu sollen. Auch das auf eine verlorengegangene Violincomposition gegründete C moll-Concert für zwei Claviere hat jene dunkle Stimmung, doch spielt sie mehr ins Elegische hinüber. Was dieses Concert hinsichtlich seiner Textur, die namentlich im ersten Satze eine sehr dichte [622] und polyphone ist, eigenartiges hat, fließt zumeist aus dem Umstände, daß es Überarbeitung ist. Bach hat dieselbe augenscheinlich mit besonderer Sorgfalt ausgeführt. In einem Originalconcerte für zwei Claviere wäre aber das Verhältniß derselben zu den Streichinstrumenten ein andres geworden.
Neben dem einfachen Concerte gab es das Concerto grosso, in welchem dem Tutti nicht eines sondern mehre Soloinstrumente vereinigt gegenüber traten. Bachs Concerte für zwei Violinen gehören schon dahin, ebenso natürlich die aus ihnen hervorgegangenen für zwei Claviere. Man muß annehmen, daß auch ein Concert für Oboe und Violine, welches leider in Verlust gerathen ist, in dieser Weise gehalten war19. Daß Bach das sogenannte Concertino sehr eigenartig zu besetzen liebte, lehren die brandenburgischen Concerte. Wir finden zu einem solchen vereinigt: im zweiten Trompete, Flöte, Oboe und Violine, im fünften Flöte, Violine und Cembalo, im vierten Violine und zwei Flöten20. Dieses letztgenannte Concert hat Bach mit Transposition von G dur nach F dur in der Weise umgearbeitet, daß an Stelle der Violine das Clavier trat; das Concertino wurde also dem des fünften brandenburgischen ähnlich21, und wie dort tritt auch hier das Clavier nunmehr entschiedener vor den andern Soloinstrumenten in den Vordergrund. Ein drittes Concert der Art verwendet als Soloinstrumente ebenfalls Flöte, Violine und Cembalo. Seine Allegrosätze sind großartige Erweiterungen eines Praeludiums und Fuge für Clavier allein, die als solche schon in der Form von Concertsätzen entworfen waren und bereits früher von uns gewürdigt sind22. Den Mittelsatz entnahm Bach einer dreistimmigen Orgelsonate aus D moll. Hier schweigt das Tutti; die beim Zusammenwirken der drei Soloinstrumente nöthig gewordene vierte Stimme ist nicht obligat, sondern dient nur der harmonischen Füllung23.
[623] Wären wir im Stande die chronologische Folge der Clavierconcerte genau zu bestimmen, so würden sich auch deutlicher die einzelnen Stationen des Weges erkennen lassen, auf welchem Bach der immer höheren Entwicklung dieser Form nachging. Zur Erreichung dessen, was in dem C dur-Concert für zwei Claviere, den beiden Concerten für drei Claviere und dem sogenannten Italiänischen Concert vollendet vorliegt, haben verschiedene äußere und innere Impulse zusammen geholfen. Daß Bach die dreiclavierigen Concerte geschrieben habe, um sie mit seinen ältesten Söhnen zusammen auszuführen, ist eine glaubwürdige Tradition24. Dies war ein Anstoß von Außen, der seiner Neigung, das Concert immer mehr zur bloßen Claviercomposition zu machen, entsprach. Jedenfalls war ihnen das C dur-Concert für zwei Claviere vorhergegangen, und wenn sie bis spätestens 1733 componirt sind, so scheint dieses etwa zwischen 1727 und 1730 entstanden zu sein25. Von den beiden als Umarbeitungen dastehenden Concerten für zwei Claviere wurde, wie bemerkt, das eine im Jahre 1736 niedergeschrieben. Fällt das andere in eine frühere Periode, so läge die Annahme nahe, daß Bach eben durch diese Umarbeitung angeregt worden sei, sich nun auch in einer originalen Composition der Art zu versuchen26. Recht wohl denkbar ist es aber auch, daß der Gebrauch jenes zweiten, zum Generalbass verwendeten, Cembalo den Künstler anregte, dieses aus seiner dienenden Stellung zur Mitherrschaft zu erheben27. Denn es muß als unzweifelhaft angesehen werden, daß ein Generalbassinstrument bei dem C dur-Concert nicht mehr beabsichtigt ist; nach den aus Bachs Zeit stammenden Stimmen zu schließen war ein solches aber auch schon bei dem älteren C moll-Concert mit Recht als entbehrlich erschienen. Vergessen darf man endlich nicht, daß [624] für zwei Claviere zu componiren damals nichts ganz neues mehr war. Durch Hieronymus Pachelbels zweiclavierige Toccate braucht sich Bach nicht haben anregen zu lassen, wenn er überhaupt von ihr wußte. Aber schon Couperin schrieb eine Allemande für zwei Claviere, die Bach, der Verehrer Couperins, jedenfalls gekannt hat28.
Wie dem nun immer sein möge, das C dur-Concert läßt uns keinen Augenblick darüber im Zweifel, welchem Ziele Bach in dieser Gattung zustrebte. Von einem Wettstreit zwischen den Soloinstrumenten und dem Tutti ist schon garnicht mehr die Rede. Das Tutti thut nichts als harmonisch accompagniren oder die Gänge der Claviere verstärken. Zum Adagio schweigt es ganz und auch für die übrigen Sätze kann man es ohne Schädigung ihrer Construction entbehren. Seine Aufgabe ist, Fülle und Farbe zu geben. Die wenigen motivischen Stückchen oder polyphonen Wendungen, welche es selbständig hat, entstanden offenbar weil es Bach auf die Länge unerträglich wurde, nur nicht-obligate Stimmen zu schreiben. Die Entwicklung fällt ausschließlich den Clavieren anheim, erfolgt aber übrigens ganz in der durch die Concertform vorgeschriebenen Weise. Eine Tutti-Periode (T. 1–12) und eine Solo-Periode (T. 12–28) heben sich im ersten Satze deutlich hervor, aus den verschiedenfachen Stellungen und Verschlingungen, die sie gegen und miteinander in wechselnden Tonarten vornehmen, entwickelt sich der Satz. Innerhalb dieser beiden Hauptgruppen concertiren nun aber wieder die Soloinstrumente in sehr lebendiger Weise unter sich. Dieser Satz kann daher in doppeltem Sinne ein Concert genannt werden, einmal weil er die aus dem Gegensatze zwischen Solo und Tutti hervorgegangene Form des Vivaldischen Concertsatzes beibehält, trotzdem die ursprüngliche Voraussetzung derselben fortgefallen ist, sodann weil er wirklich auch einen Wettstreit zwischen zwei Instrumenten wenngleich andrer Art vorführt29. Dem letzten Concertsatze pflegte man gern einen Tanzcharakter und ungerades Zeitmaß zu [625] geben, immer mußte er dem pathetischeren ersten Satze gegenüber durchaus heiter, leicht und glänzend gehalten sein. Diese allgemeine Forderung erfüllt auch Bach im C dur-Concerte; bemerkenswerth ist aber die Anwendung der Fugenform. Die Fuge gehörte in die Sonate oder das sonatenartige Concert;30 mit dem eigentlichen Concertstil steht ihr Wesen nicht im Einklange, da dieser sich nicht auf Polyphonie sondern Homophonie, nicht auf thematische sondern motivische Entwicklung gründet. Bach hat die Fuge als letzten Concertsatz mehrfach, besonders wo das Clavier als Soloinstrument auftritt; so im fünften brandenburgischen Concert, im A moll-Concert für Clavier, Violine und Flöte, auch im vierten brandenburgischen, dessen Violinpart er für Clavier umarbeitete. Dort, wie auch im C dur-Concert, weiß er durch die Art der Erfindung und Behandlung, namentlich durch längere motivische oder auch ganz freie Zwischensätze die Form dem Charakter des Satzes meisterlich anzupassen. Auf sie geführt wurde er aber durch den seine Phantasie beherrschenden Zug zum Cembalo- und Orgelgemäßen.31 So wenig die Fuge dazu einzuladen scheint, so hat Bach dennoch selbst in diesem Satze ein Concertiren der beiden Claviere möglich gemacht, daß sie als völlig gleichberechtigte Factoren dastehen. Die Entwicklung der Fuge wird hierdurch, auch abgesehen von den Zwischensätzen, eine eigenthümliche und besonders interessante. Beide Allegrosätze und in nicht geringerem Maße das fein geflochtene, schwermüthig angewehte Quatuor, welches zum Adagio dient, offenbaren eine frische, nachhaltige Schaffensfreudigkeit, eine gesunde mittlere Stimmung, welche, da sie der Idee eines Concerts am vollständigsten entspricht, in Verbindung mit höchster Formvollendung das Werk zu einer classischen Erscheinung macht.32
[626] Nach denselben Grundsätzen sind die beiden Concerte für drei Claviere geformt. Das Tutti, wenn man diesen Namen überhaupt noch gebrauchen soll, dient mit einigen Ausnahmen nur der Unterstützung und Verstärkung, die musikalische Entwicklung wird von den Clavieren allein ausgeführt. In ihrem Concertiren unter sich ist allerdings eine andre Behandlungsweise zu bemerken. Wegen der nothwendigen Responsion der Glieder läßt sich solches mit drei Clavieren schwieriger durchführen, als mit zweien. Bach hat sie, ich glaube zunächst aus diesem Grunde, in den ersten Sätzen meistens gemeinschaftlich arbeiten lassen und auch von Gegenüberstellung einer Tutti- und Solo-Periode abgesehen. Ihr hieraus sich ergebender dichter, symphonischer Bau, den er durch übersichtliche Gliederung und bewundernswerthen Erfindungs-Reichthum dennoch mit aller erforderlichen Mannigfaltigkeit auszustatten wußte, bildet aber dadurch zugleich einen wirkungsreichen und im Wesen des ersten Concertsatzes wohlbegründeten Contrast zu dem letzten Satze. Von beiden Concerten ist dasjenige aus D moll sicherlich das frühere33. Es hat ein eingänglicheres, liebenswürdiges und einschmeichelndes Wesen, entbehrt aber jener vollständigsten Durchbildung, welche das kraftvolle, ernste und großartige C dur-Concert zu einer der imposantesten Instrumental-Compositionen Bachs erhebt34. In den beiden ersten Sätzen des D moll – Concerts tritt das erste Clavier merkbar in den Vordergrund, ja in dem, übrigens reizenden, Siciliano herrscht es ausschließlich, die andern Claviere accompagniren und verstärken nur. Das Streichquartett nimmt ungefähr die Stelle ein, welche bei concertirender Kammermusik sonst dem Generalbass-Cembalo[627] zukommt. In dieser Eigenschaft löst es seine Aufgabe sehr discret und geschmackvoll. Auch ist es beachtenswerth, wie gewählt und umsichtig Bach durch dasselbe die realen Stimmen der Claviere zu verstärken weiß. Doch liegt sogar der Bass meistens schon in den Clavierpartien selbst; wenn man das Streichquartett ganz fortließe, so würde man, von einigen Stellen abgesehen, die allerdings ohne Streichbass nicht verständlich werden, wohl die volle, wohllautende Wirkung, aber doch nicht den eigentlichen Organismus schädigen35. Das C dur-Concert gönnt allen drei Clavieren gleichgemessenen Antheil, und giebt auch dem Streichquartett, ohne es aus seiner untergeordneten Stellung hervortreten zu lassen, ein größeres selbständiges Leben zurück, als ihm im D moll-Concert und auch im zweiclavierigen C dur-Concert zu führen erlaubt war. Hier ist der Streichbass der wirkliche, unentbehrliche Continuo, mag er auch häufig mit dem Clavierbass zusammenfließen oder in dessen Figuren als Grundlinie verborgen sein. In bescheidenen Gränzen darf auch das Quartett an der Darstellung des Ganzen mit eignen Ideen theilnehmen. Dem Thema des ersten Satzes, welches im Einklange aller Claviere auftritt, stellt es sich mit prägnanten Weisen gegenüber. Den lapidaren Hauptgedanken des letzten Satzes übernimmt zweimal der Streichbass ganz allein. Und im Adagio finden wir gar einen wahrhaftigen Tuttigegensatz wieder, soweit ein solcher überhaupt im Concertadagio Platz hatte. Dasselbe ist, wie Bach öfter thut, über einen Basso quasi ostinato gebaut, der siebenmal vollständig, doch in verschiedenen Tonarten erscheint, außerdem aber auch motivisch zerlegt wird. Zu ihm bringen viermal die Streichinstrumente ihren eignen contrapunktirenden Gegensatz, während dessen die Claviere die Generalbassrolle übernehmen; hernach accompagnirt das Streichquartett wieder. So erfüllt dieses Concert alle Anforderungen, die man an die Selbständigkeit der zusammenwirkenden Organe je nach ihrer Bedeutung für das Ganze stellen darf. Auch in Bezug auf die allgemeine musikalische Stimmung ist der Concertcharakter überall gewahrt. Doch [628] führen selbstverständlich so reiche Mittel und eine so polyphone Verwendung derselben einen Zug zum Großartigen und Tiefsinnigen nothwendig mit sich. Er giebt der strammen Rüstigkeit des ersten Satzes die Wucht, dem melancholischen Adagio einen Beischmack von Strenge, und weit unter sich läßt der Finalsatz das gewöhnliche, in heiterer Lebenslust hingleitende Tonspiel. In stolzem, adlergleichem Fluge schwebt er empor, über dem Pfundnoten – Thema
sich erhebend und zu voller Sechsstimmigkeit ausbreitend. Mit concertmäßigem Glanz reichlich ausgestattet hat er in seinem breiten, majestätischen Verlaufe beinahe etwas feierliches.
Auch ein Concert für vier Claviere mit Begleitung von Saitenquartett (A moll) liegt vor. Forkel36 hielt es für eine Originalcomposition. Wir wissen jetzt, daß es nur Bearbeitung eines Vivaldischen Concerts für vier Violinen ist; das Original stand in H moll und wurde durch zwei Bratschen, Violoncell und Bass begleitet. Was sich nach den Beobachtungen, welche über Bachs andre Bearbeitungen Vivaldischer Concerte zu machen waren, über diese Umgestaltung ohne Einsicht in das Original sagen läßt, ist daß Bachs Zuthaten sich auf die selbständiger geführten Bässe und ein etwas lebendiger gehaltenes, hier und da mit motivischen Ansätzen auftretendes Accompagnement beschränkt haben werden. Im ganzen wirkt das Accompagnement auch hier nur füllend und verstärkend. Immerhin ist die Arbeit ein neuer Beweis von des Meisters großer Kunst, vielstimmig obligat auch im leichtesten Stile zu schreiben. Daß die Bearbeitung mit den Originalconcerten für drei Claviere ungefähr gleichzeitig entstanden sein wird, muß man annehmen37.
Ostern 1735 ließ Bach im zweiten Theil der »Clavierübung« ein [629] Concert erscheinen, das man in Betracht des Stiles für das reifste Ergebniß seiner Wirksamkeit auf diesem Felde erklären muß. Es ist für Clavier allein und »nach italiänischem Gusto« componirt38. Diese beiden Bezeichnungen umschreiben die ganze Entwicklungsgeschichte und Charakteristik des Bachschen Instrumentalconcerts. Das Concert war eine von den Italiänern erfundene Form der Violinmusik. Seit Bach in Weimar angefangen hatte sich eingehender mit ihm zu beschäftigen, war sein Bemühen darauf gerichtet gewesen, diese Form für die verschiedenartigsten Gebiete der Musik auszunutzen, und wir sahen kürzlich noch, wie er sie selbst in die Hauptchöre einiger Choralcantaten übertrug. Vor allem aber suchte er sie von Anfang an für die selbständige Orgel- und Claviermusik zu verwerthen. Wir fanden, daß er unter dem Namen Toccate schon in der ersten Periode seiner Meisterschaft Orgel- und Clavierstücke geschrieben hat, welche die Concertform vollständig aufweisen. Es liegt selbst unter dem Namen Concert eine Claviercomposition aus allerfrühester Zeit vor39, und die Bearbeitungen der Vivaldischen Concerte sollten ebenfalls als freie Clavierwerke gelten. Hernach ist er, wenn er wirkliche Concerte schrieb, bald weniger bald mehr immer von der Idee ausgegangen, als sei das darstellende Organ nur ein einziges umfassendes Instrument. Wie bei den Clavierconcerten mit Begleitung demgemäß das Clavier immer herrschender in den Vordergrund gerückt wurde, das Tutti zur Begleiterrolle, der Streichbass zum Continuo herabsank, haben wir erfahren. Das Concert der »Clavierübung« schließt die Entwicklung ab. Meisterlich als Cembalo-Composition erscheint es zugleich als ein heller Spiegel einer Form, die eigentlich für Violine und einen gegensätzlichen Instrumentenchor erfunden war. Der dem Violinwesen nachtrachtende Charakter tritt am greifbarsten im Andante hervor. Er eben ist es auch, auf den mit der Bezeichnung »im italiänischen Geschmacke« gezielt wird, gleichwie Bach seine früheren Claviervariationen, in denen er sich der violinmäßigen Behandlungsart annäherte, [630] alla maniera italiana benannte40. Er war nicht der einzige seiner Zeit, welcher ein Concert für nur ein Instrument schrieb. Auch andre versuchten dies hier und da, für Clavier und auch Laute. Aber es blieben eben Versuche, denn um hier zum Gelingen zu kommen, bedurfte es einer Kraft ersten Ranges, und auch wohl nur ein Deutscher war im Stande, zwei entgegengesetzte Stilarten so harmonisch zu einigen. Das erkannte selbst Scheibe an, der doch nichts weniger als Bachs unbedingter Bewunderer war. Ein jeder müsse sofort zugestehen, daß dieses Clavierconcert ein vollkommenes Muster seiner Art sei. Man werde sehr wenige oder fast gar keine Concerte von so vortrefflichen Eigenschaften und einer so wohlgeordneten Ausarbeitung aufweisen können. »Ein so großer Meister der Musik, als Herr Bach ist, der sich insonderheit des Clavieres fast ganz allein bemächtiget hat, und mit dem wir den Ausländern ganz sicher trotzen können, mußte es auch sein, uns in dieser Setzart ein solches Stück zu liefern, welches den Nacheifer aller unserer großen Componisten verdienet, von den Ausländern aber nur vergebens wird nachgeahmt werden«41. Die »wohl geordnete Ausarbeitung« besteht in der klaren Gruppirung und scharfen Gegensätzlichkeit der Gedanken, die verständlich zu machen es des unterstützenden Klanggegensatzes kaum noch bedarf. Eine Form aber, welche sich dadurch entwickelt, daß Tongedanken verschiedenen Charakters einander fortwährend ablösen, bedingt ein Überwiegen der homophonen Setzart und mehr ein motivisches Ausspinnen, als eine vielstimmige thematische Durchführung. Hierdurch ist der Concertstil dem der neueren Claviersonate gleich, und Bachs Italiänisches Concert der classische Vorgänger derselben geworden, ja es kann in vielen Beziehungen sofort als ihr Vorbild angesehen werden. Vom Concert nahm die neuere Sonate nicht nur die Dreisätzigkeit, sondern sie fand auch das Adagio und den letzten Satz in ihm vollständig ausgewachsen vor. Der erste Satz ist hier und dort ein ganz anderes Gebild. Als Sonatensatz hervorgegangen aus einer [631] Verbindung der Tanzform und der dreitheiligen Arie konnte ihm aus dem Concert höchstens die Kunst motivischer Entwicklung zufließen, die indessen in der Arie ebenfalls ausgebildet war. Den letzten Schritt zur Gewinnung der modernen Sonatenform zu thun, sah sich Seb. Bach nicht veranlaßt, obgleich er jene combinirte zweitheilige Satzform wohl kannte und als einzelne gelegentlich anwandte42. Denn der Schritt führte zunächst wieder abwärts aus freien und weiten in kleinbürgerlich enge Tonverhältnisse; hierzu mußte der Meister sich grade zur Zeit seiner höchsten Reife am wenigsten getrieben fühlen. Er überließ das seinem Sohne Emanuel. –
Wir wissen, daß Bach auch wirkliche Claviersonaten geschrieben hat. Sie sind nicht dreisätzig, noch auf die Concertform gegründet; sie bewegen sich in der Form der italiänischen Violinsonate und eine derselben ist nichts weiter als Bearbeitung einer Soloviolin-Sonate für Clavier43. Es wäre merkwürdig gewesen, hätte Bach nicht auch diese Form auf das Feld der Cembalomusik verpflanzt. Aber nachhaltig hat die Lust daran nicht gedauert; wenn er im freieren Stile für Clavier schreiben wollte, hielt er es lieber mit der Suite. Bach ist der letzte große Suitencomponist. Er ist auch der größeste, den es überhaupt gegeben hat, der Vollender dieser Form nach allen Richtungen hin; als er gewesen war, gab es in der Claviersuite nichts neues mehr zu sagen, daher denn auch das jähe Verschwinden derselben aus der Kunstübung nach 1750. Nicht weniger als dreiundzwanzig solcher vielsätziger Werke sind vollständig auf uns gekommen. Von ihnen bilden sechs die Sammlung der sogenannten französischen Suiten. Drei andre erscheinen gleichsam als Paralipomena derselben: sie sind ihnen an Charakter sehr ähnlich und zwei derselben figuriren in einigen Handschriften wirklich unter ihnen44. Wiederum eine gehört mit ihrer anspruchslosen Zierlichkeit in die früheste Zeit von Bachs Meisterschaft45. Hier [632] haben wir uns nur noch mit den übrigen dreizehn zu beschäftigen, von welchen wieder je sechs zu zwei Sammlungen zusammengefaßt sind.
Die eine dieser beiden Sammlungen ist unter dem Namen der »englischen Suiten« bekannt. Der Name bezieht sich noch weniger, als bei den »französischen«, auf den musikalischen Charakter. Es wäre auch schwer zu sagen, was Bach als Suitencomponist von den Engländern hätte annehmen sollen. Glaubwürdiger Überlieferung nach sind sie für einen vornehmen Engländer componirt46. Über ihre Entstehungszeit, welche bisher ganz unsicher war, läßt sich jetzt soviel als bestimmt angeben, daß fünf von ihnen spätestens 1727 componirt gewesen sein müssen. Wahrscheinlich aber fallen sie sämmtlich schon vor 1726, also, da die französischen Suiten jedenfalls älter sind, in die ersten Leipziger oder letzten Cöthener Jahre47. Über die Grundform der Clavier-Suite, ihre einzelnen Theile, deren Bedeutung und Zusammenhang unter einander ist an einer früheren Stelle gesprochen worden48. Daß Bach sie einer weiteren Ausbildung nicht mehr für bedürftig hielt, sieht man daraus, daß er wie früher in den französischen Suiten so auch jetzt in den englischen, und ebenfalls in den letzten sechs Partiten, unerschütterlich an ihr festhielt. Die vier Haupttheile sind Allemande, Courante, Sarabande und Gigue. Vor der Gigue stehen Bourrées, Menuets, Passepieds und Gavotten als Intermezzi. Von den sinnigen und lieblichen französischen Suiten unterscheiden sich die englischen durch ein männlich-kraftvolles, ernstes Wesen. Sie stehen in A dur, A moll, G moll, F dur, E moll, D moll; die Molltonarten überwiegen also. Ihr reicherer musikalischer Gehalt bedingt weitere Formen. Der Charakter der einzelnen Sätze ist noch bedeutend verschärft, ihre Stimmung durch harmonischen Reichthum vertieft: so prachtvoll breite Sarabanden, so verwegene, wilde Gigues hat Bach nicht wieder geschrieben49. In der A dur-Suite bringt er zwei Couranten, [633] und versieht die letztere nach Couperins Manier noch mit zwei Doubles; auch die Sarabande der D moll-Suite hat ein solches Double. Es sind das vollkommene Variationen, die den Gehalt der betreffenden Stücke klarer auseinanderlegen sollen und daher im Ganzen ihre nothwendige Stelle haben. Dagegen hat man die den Sarabanden der A moll- und G moll-Suite folgenden Tonstücke nicht als Variationen anzusehen, weil sie den vorhergehenden Satz nicht als Ganzes in einem neuen musikalischen Gewande erscheinen lassen, sondern nur einzelne Melodietheile mit Verzierungen ausstatten. Einfache Melodien beim Vortrage zu verschnörkeln, war damals Mode. Da hierbei meistens mehr verdorben als gewonnen wurde, so hat Bach, ebenfalls nach Couperins Vorgange, die Verzierungen ausgeschrieben. Es sollten also die einfache und die verbrämte Sarabande nicht hintereinander gespielt werden, sondern dem Vortragenden wurde es freigestellt zwischen beiden zu wählen50. Der Intermezzi sind in jeder Suite zwei; sie gehören zusammen, wie Hauptsatz und Trio. Der zum Reichen und Großartigen strebende Charakter der englischen Suiten offenbart sich endlich in den Praeludien, die ihnen vorgefügt sind, während die französischen Suiten derselben entbehren. Sie, die den Hörer sofort in eine höhere und ernstere Stimmung erheben, sind sämmtlich Meisterstücke Bachscher Clavierkunst. Mit Ausnahme des A dur-Praeludiums sind sie in den größesten Verhältnissen angelegt und mannigfaltig ausgestaltet. Die vollständige dreitheilige Arienform zeigt das A moll-Praeludium, das G moll-Praeludium entwickelt sich wie ein erster Concertsatz, anklingend an die Concertform, doch phantastischer, auch dasjenige aus F dur. Als eine schnellkräftige Fuge combinirt mit der Arienform stellt sich das E moll-Praeludium hin; dieselbe Verbindung weist das D moll-Praeludium auf, doch wird es eingeleitet durch breite, echt praeludienartige Gänge in gebrochenen Harmonien. Es zählt alles in allein nicht weniger als 195 Takte51.
Die zweite Sammlung bildet den ersten Theil der »Clavierübung«, [634] welchen Bach 1731 im Selbstverlage erscheinen ließ. Den Namen hatte Kuhnau aufgebracht, welcher 1689 und 1695 zwei Werke mit je sieben Clavier-Partien als »Clavierübung« veröffentlichte52. Wir hatten an andrer Stelle darauf hinzuweisen, daß Bach in seinen Kirchencompositionen, und auch schon in seinen früheren Clavierwerken mehrfach auf Kuhnau Bezug genommen hat53. Wenn er jetzt für eine Sammlung von Clavierstücken denselben Titel wählte, unter welchem sein Vorgänger diejenigen Werke ausgehen ließ, die ihm zuerst den Namen eines berühmten Claviercomponisten verschafften, wenn er Compositionen gleicher Gattung als sein Opus I herausgab und diese entgegen seinem früheren Verfahren nicht Suiten, sondern wie Kuhnau Partiten (Partien) nannte, so ist es offenbar, daß er auch öffentlich vor der Welt als Kuhnaus Nachfolger erscheinen wollte. Freilich dehnte er den bescheidenen Titel, dessen sich nach ihm noch andre wie Vicentius Lübeck, Georg Andreas Sorge, Balthasar Schmidt, Friedrich Gottlob Fleischer und sein Schüler Ludwig Krebs bedienten, nach und nach viel weiter aus. Es erschien Ostern 1735 ein zweiter Theil, welcher das schon besprochene Italiänische Concert und nochmals eine Partita enthielt. Dann um 1739 ein dritter Theil mit einem großen Orgel-Praeludium nebst Fuge, einer Anzahl Orgelchoräle und vier Clavier-Duetten; endlich spätestens 1742 der vierte Theil mit einem großen Variationenwerke54. Jenen ersten Theil aber gab Bach stückweise heraus, so daß von 1726 ab jedes Jahr eine Partita erschien und mit der letzten 1731 das ganze Werk. Da er es selbst verlegte und auch der Name eines Kupferstechers nirgends angegeben ist, so dürfte Bach auch den Stich besorgt oder wenigstens geleitet haben. Diese Annahme erhält eine Stütze durch die Thatsache, daß sein Sohn Emanuel, der damals noch im Elternhause weilte, sich mit Kupferstich abgab: seine erste eigne Composition, einen Menuett mit überschlagenden Händen, radirte er selbst und ließ sie 1731 ausgehen55. [635] Auch der dritte Theil wurde vom Autor selbst verlegt; die andern beiden erschienen in Nürnberg, der zweite bei Christoph Weigel, der vierte bei Balthasar Schmidt. Mit Opus-Zahlen pflegte man damals nur Instrumental werke zu versehen. Es war aber ganz allgemein genommen die »Clavierübung« das erste Werk, welches Bach veröffentlichte; die Mühlhäuser Rathswechsel-Cantate von 1708 wurde zwar gedruckt aber nicht in den Handel gegeben56. Daß Bach erst mit 41 Jahren etwas von seinen Compositionen herauszugeben anfing, beweist natürlich nicht im mindesten, daß er bis dahin von denselben nichts habe bekannt werden lassen wollen. Die deutschen Musikalien verbreiteten sich damals noch größestentheils durch Abschriften. Bach war lange vor 1726 ein weit bekannter Componist: schon 1716 sprach Mattheson in Hamburg mit Bewunderung von seinen Kirchen- und Claviercompositionen57. Auch später und über seinen Tod hinaus bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts bürgerte sich das Meiste nur abschriftlich bei der musikalischen Welt ein. Außer den vier Theilen der »Clavierübung« sind zu Bachs Lebzeiten nur noch drei Werke desselben erschienen; über den Vorbereitungen zur Veröffentlichung eines vierten starb er.
Man hat den sechs Suiten der »Clavierübung« zur Unterscheidung von den französischen und englischen den Namen: deutsche Suiten gegeben58. Dies ist nicht ohne guten Grund geschehen. Wenn Bach selbst sie Partiten nennt, so liegt darin noch mehr als eine bloße Nachahmung Kuhnaus. Denn diesen Namen führte die Form in Deutschland am Ausgange des 17. Jahrhunderts, als der Einfluß der Franzosen noch nicht maßgebend geworden war, allgemein, und wenn Bach endlich auf ihn wieder zurückgriff, so that er es weil er sich als Suitencomponist auch bei voller Anerkennung der Verdienste der Franzosen und Italiäner im Grunde doch auf deutschem [636] Boden fühlte. Denn die Suite ist eine deutsche Kunstform, mögen auch fremde Völker zu ihrer Ausbildung viel beigetragen haben59. Grade in der Verarbeitung der fremden Elemente bewährte sich der deutsche Genius, und daß Bach von dieser seiner Stellung zu seinen Vorgängern ein volles Bewußtsein hatte, geht nicht allein aus der Wahl des Namens Partita hervor. Die sechs Partiten des ersten Theils der »Clavierübung« sind ein umfassendes, abschließendes Werk, in welchem alle für die Suitenform bedeutsamen Elemente eine absichtsvolle, sorgfältige Berücksichtigung gefunden haben. Der Reichthum an Gestalten, welchen sie ausbreiten, ist ein außerordentlicher; daß dabei die Grundlinien der Gesammtform dennoch streng beobachtet werden, unterscheidet sie von den Händelschen Suiten aus dem Jahre 1720, die ihrem Titel entsprechend mehr nur freie »Folgen von Clavierstücken« sind60. Während bei den englischen Suiten der äußere Zuschnitt überall derselbe ist, und der Erfindungs-Reichthum vielmehr in der Beschaffenheit der einzelnen Tongedanken sich äußert, legt uns jede Partita eine neue Reihe, man darf fast nicht mehr sagen von Formen, sondern von Kunsttypen vor. Die B dur-Partita beginnt mit einemPraeludium von der durch Bach ausgebildeten Art, die gleichsam an der Schwelle des fugirten Stiles steht: ein wirkliches Thema ist vorhanden, aber es ist mehr gangartig, als melodisch, die Durchführung desselben wird nur angedeutet, dann gewannt ein leichtes motivisches Spiel die Oberhand. Dagegen steht an der Spitze der C moll-Partita eine Sinfonia. Wie schon der Name verräth, machen sich hier italiänische Kunstelemente geltend. Ein Andante im Viervierteltakt mit reichfigurirter Oberstimme und dann eine Fuge im Dreivierteltakt – das war die Weise wie die italiänischen Violinsonaten anzuheben pflegten. Um aber die Erinnerung hieran nicht zu stark und für eine Suite störend werden zu lassen, hat Bach noch ein breites, vollstimmiges Grave vorhergeschickt. Dies mahnt an die Eingänge der französischen Ouvertüren und stellt den Charakter des Ganzen als einen vorspielartigen fest. Die A moll-Partita wird durch eineFantasia eingeleitet, ein zweistimmiges Stück im Stil der Bachschen [637] Inventionen, nur weiter ausgeführt. Mit einer Ouverture in französischer Form tritt die D dur-Partita auf. In die G dur-Partita führt ein Praeambulum ein, welches sich von dem Praeludium der ersten dadurch unterscheidet, daß es nicht thematisch entwickelt wird, sondern in Passagen und gebrochenen Harmonien sein Wesen treibt; hinsichtlich der Gruppirung der Theile erinnert es an einen Concertsatz. Die E moll-Partita endlich wird durch eine Toccata eröffnet; dieselbe ist bedeutend einfacher selbst als die Toccaten aus Fis moll und C moll61: sie geht in einem Zuge ohne Taktwechsel fort: phantastisches Spiel am Anfange und Ende umgiebt als leichte Hülse die Vollreife Frucht einer edel-ernsten Fuge.
Es ist früher darauf aufmerksam gemacht worden, daß die Courante unter den Händen der Italiener allmählig eine besondere Gestalt annahm, sodaß am Anfang des 18. Jahrhunderts Corrente und Courante zwei verschiedene Typen repräsentirten62. Aus den Partiten der »Clavierübung« geht hervor, daß Bach denselben, als den Äußerungen zweier Nationalitäten, gleiche Rechte nebeneinander zuerkannte. Die erste, dritte, fünfte und sechste Partita hat er mit Correnten, die zweite und vierte mit Couranten versehen63. Erstere stehen im 3/4- und 3/8-Takt und haben ein flüssiges und eilendes Wesen, die Couranten dagegen sind leidenschaftlich erregt, gediegen und tiefsinnig. Nur ihnen ist der aufregende Wechsel zwischen drei-und zwei-theiligem Takt eigen. Gewöhnlich herrscht der dreitheilige Takt bei Bach vor und tritt nur am Schluß der Theile eine Accentrückung ein. Fälle wie in der H moll-Suite aus den französischen und der alleinstehenden Suite in Es dur, wo der 6/4-Takt zu Grunde gelegt ist, der reine 3/2-Takt nur vorübergehend vorkommt, dafür die rhythmische Caprice aber soweit getrieben wird, daß manchmal beide Hände zugleich in verschiedenen Taktarten spielen, sind sonst Ausnahmen. Die beiden Couranten aus den Partiten sind aber grade in dieser Beziehung in einen Gegensatz gebracht: [638] die C moll hat den 3/2-Takt als Grundrhythmus, die D dur den 6/4-Takt. Indessen ist auch hier 3/2 vorgezeichnet um zu verhüten, daß sich das Gefühl zu sehr in dem zweitheiligen Rhythmus festsetze. Der Couranten-Takt war eigentlich weder dieses noch jenes, sondern ein aus beiden gemischtes. Es galt als Regel, daß auch die Sechsviertel-Passagen im Dreizweitel-Takt gespielt werden sollten, d.h. man sollte bei Tonreihen, die durch ihre Gliederung und ihren natürlichen Verlauf den 6/4-Takt anzeigten, durch gelegentliche Accentuirung die Erinnerung an den 3/2-Takt wach erhalten64. Jedenfalls aber konnte durch das Überwiegen dieses oder jenes Rhythmus der Courante ein besonderer Charakter aufgedrückt werden, und dieses Mittels hat sich Bach bedient, auch hierdurch anzeigend, daß er alle in dem Gebiete dieses Tanzes möglichen Gestaltungen in dem Partitenwerke anbringen wollte.
Auch die Gigue hatte, wennschon nicht mit der Entschiedenheit, wie die Courante, eine zweiästige Entwicklung genommen. In der französisch-deutschen pflegte die Fugenform zu herrschen und im zweiten Theile das Thema umgekehrt zu werden. Die italiänische Giga war homophon und in Folge dessen viel leichter an Gehalt. Das Taktmaß war dreitheilig, sei es nun einfach oder zusammengesetzt65. Fugirte Gigues befinden sich in der dritten, vierten, fünften und sechsten Partita. Die der dritten (A moll) hat nichts formell besonderes; in der vierten (D dur) enthält der zweite Theil statt der Umkehrung ein neues Thema, welches sich als Gegenthema des ersten herausstellt, doch kommt es hier noch nicht zu einer ordentlichen Doppelfuge, wohl aber in der übrigens ebenso entworfenen fünften (G dur)66. Die Gigue der sechsten Partita (E moll) steht [639] den andern dreien dadurch entschieden gegenüber, daß sie den dreitheiligen Takt verschmäht. Den zweitheiligen Alla breve-Takt bei der Gigue anzuwenden hatte Bach schon in der D moll-Suite der französischen gewagt. Die eigentliche Tanzform geht dadurch in die Brüche, es bleibt nur ein energisch-leidenschaftliches Charakterstück übrig. Diese aus der Gigue abstrahirte allgemeinere Form schien indessen dem Meister würdig, als besonderer Typus hier verewigt zu werden. Unverkennbar hat auch dem Schlußsatz der zweiten Partita (C moll) die Gigue als Urbild gedient. Die Form ist zweitheilig, die Entwicklung fugenartig mit Umkehrung des Themas im zweiten Theil. Aber Taktart (2/4) und allgemeiner Charakter weichen doch vom Gigueartigen so weit ab, daß Bach hier den Namen nicht anwendete, sondern zum Zeichen, es handle sich um einen Gestaltungs-Act seines eignen Künstlerwillens, das StückCapriccio nannte67. Am Ende aber der ersten Partita (B dur) steht keine Gigue, sondern eine italiänischeGiga. Der verschiedene Charakter dieses anmuthig sich wiegenden Stückes springt in die Augen. Bach hat dessen Beziehung zur Kunst der Italiäner auch durch die Art der Claviertechnik dargelegt, welche hier zur Anwendung kommt. Das Überschlagen der Hände, wovon Bach in der Giga der B dur-Partita zum ersten Male Gebrauch macht, war eine Specialität Domenico Scarlattis68. Daß man um diese Zeit auch in Deutschland anfing, an ihr Gefallen zu finden, beweist Emanuel Bachs erstes, 1731 erschienenes und noch im Vaterhause componirtes Werk. Sebastian Bach bediente sich dieses technischen Mittels auch in einem Stück der G dur-Partita, außerdem noch in der unten näher zu betrachtenden C moll-Fantasie und dem B dur-Praeludium [640] aus dem zweiten Theil des Wohltemperirten Claviers, dann wurde es eine Zeitlang unter den Componisten Modesache und kam erst in den fünfziger Jahren wieder mehr außer Gebrauch. Emanuel Bach meinte später, bei vielen derartigen Stücken sei der natürliche Gebrauch der Hände einer solchen Gaukelei vorzuziehen, aber es könne auch ein Mittel sein, gute neue Gedanken auf dem Clavier herauszubringen69. Letzteres gilt von der Giga: das Überschlagen der rechten Hand über die linke wird in ihr nicht nur hier und da angewendet, sondern das ganze Stück ist aus dieser Vorstellung heraus concipirt und hat dadurch seinen einzigartigen Reiz erhalten70.
Auch sonst noch hat Bach in den Partiten auf die Eigenthümlichkeiten des italiänischen und französischen Stils Rücksicht genommen. Die Italiäner neigten dazu, die rhythmischen Merkmale der Tanztypen zu verwischen. Um dies unbedenklicher thun zu können, fordert Corelli manchmal nur, daß ein gewisses Stück im Tempo dieses oder jenes Tanzes gespielt werde und bewegt sich im übrigen ganz frei. Ebenso finden wir in der E moll-Partita ein Tempo di Gavotta, während das Stück sonst mehr einer Giga, oder, abgesehen vom -Takt, einer Corrente gleicht. In der B dur- und D dur-Partita stehen Menuets, in der aus G dur ein Tempo di Minuetto71 ein lieblich gaukelndes Stück mit reizenden Accentrückungen, in dem das Überschlagen der Hände vorübergehend angewendet wird; aber mit einem wirklichen Menuet hat es sonst nichts mehr gemeinsam, als den 3/4-Takt. Auch Corellis freie Art, mit der Allemande zu schalten, scheint sich Bach gemerkt zu haben. Während übrigens seine Allemanden wie Oel dahinfließen, zeigt die der E moll-Partita ein eckiges Wesen, welches namentlich durch punktirte Sechszehntel hervorgebracht wird. Diese Bewegung findet sich aber [641] häufig grade in Corellis Allemanden72, und Bach hat auch das Stück nicht wie gewöhnlich mit der französischen, sondern mit der italienischen Form Allemanda benannt. Ferner enthalten die Partiten drei Stückchen mit italiänischen Namen, die keine Tanztypen anzeigen. Sie heißen Burlesca, Scherzo und Aria. Die ersten beiden stehen in der A moll-, die dritte in der D dur-Partita; es sind freie Charakterstücke in Tanzform. Ihnen halten zu Gunsten des französischen Stiles das Gleichgewicht: in der C moll-Partita ein Rondeau, in der E moll ein Air. Vergleicht man Air undAria, so findet man auch einen deutlichen Stilunterschied: diese ist gesanglicher, jene mehr instrumental gehalten.
Aber auch in den Stücken, die Bach ganz nur aus sich heraus gestaltete, zeigt er innerhalb eines und desselben Typus eine Wandlungsfähigkeit, die es mit der allmähligen Entwicklungs- und Umbildungs-Kraft der Zeiten und Nationen zuversichtlich aufnehmen kann. Um sich davon recht zu überzeugen, möge man untereinander die Allemanden der französischen und englischen Suiten und alsdann die der fünf ersten Partiten vergleichen. Es scheint als habe Bach die Dehnbarkeit der Form bis aufs äußerste erproben wollen. Etwas verschiedeneres, als die Allemanden aus B dur und D dur, kann man sich nicht leicht denken, und doch ist den Forderungen des Tanztypus volle Genüge geschehen. Die gleiche Wandlungskraft offenbart Bach in den Sarabanden, doch hat er hier mehremale (in der A moll-, G dur- und E moll-Partita) die Fesseln des Typus wirklich gesprengt73. Sehen wir endlich auf die sechs Partiten als ganze, so sind sie eben so verschieden unter einander, wie einheitlich in sich selbst. Das sicherste Merkmal hierfür geben die einleitenden Stücke ab, die den Charakter ihrer Partita jedesmal von vorn herein feststellen und zugleich unter sich im schärfsten Gegensatze stehen, wie denn auch mit Absicht einem jeden ein andrer Name gegeben ist.
Die Mitwelt zeigte sofort für den Werth dieser köstlichen Gabe [642] Verständniß. Die Neuheit der Gedanken und der Claviertechnik erregten Staunen und Bewunderung. Ihnen gerecht werden zu können galt bald als höchstes Ziel der Clavierspieler, und »wer einige Stücke daraus recht gut vortragen lernte, konnte sein Glück in der Welt damit machen«74. Daß die Zeitgenossen den vollen Werth der überragenden Kunstleistung erkannt haben sollten, läßt sich nicht wohl erwarten und wird auch nirgends sicher bezeugt75. Selbst Sorge, obgleich er in einer Dedication Bach den Fürsten aller Clavier- und Orgelspieler nannte76 und seine Clavierstücke angehenden Componisten als Muster preist um in der linken Hand eine gute Mittelstimme führen zu lernen, mit Dissonanzen im geschwinden Durchgange richtig zu verfahren und sich in der Kunst des Improvisirens auszubilden, stellt ihm immer noch Kuhnau, Händel, Mattheson, Walther und andre an die Seite77. Ohne die übrigen und namentlich Kuhnau zu unterschätzen, sehen wir jetzt doch klar, daß die Kunst der Cembalo-Composition – und für dieses Instrument, nicht für ein Clavichord, sind sie gedacht, wie ihr Tonumfang beweist – mit den sechs Partiten auf eine denkbar höchste Höhe gelangt ist, welche nur Händel einmal, in den Suiten von 1720, sonst aber niemand wieder erreicht hat. Man kann Händel nicht niedriger stellen, wenn man einfach Werk gegen Werk hält. Der Unterschied ist ein Unterschied der Persönlichkeiten: je nach dem eignen Charakter wird sich der eine zu dieser, der andre zu jener mehr hingezogen fühlen. Händels Suiten, in welchen eine mächtige Künstlerseele in freiem Erguße ihren Inhalt ausströmt, sind blendender und hinreißender, die Partiten Bachs erregen tiefer und nachhaltiger, [643] weil er sich streng in den Schranken der überlieferten Form hält. Sieht man die Sache vom höheren, geschichtlichen Standpunkt an, so gebührt Bach die Palme, da er nicht nur als eine Händel ebenbürtige Persönlichkeit dasteht, sondern zugleich die Gattung vertritt. Mit seinen Suiten zog Händel wie ein feuriger Komet durch den Kunsthimmel; wären sie nicht geschrieben oder verloren gegangen, so wären wir um eine glänzende Erscheinung ärmer, aber eine Lücke im System der zusammenwirkenden geschichtlichen Kräfte würde dadurch nicht bedingt. Bachs Partiten könnte man ein Lichtcentrum nennen; zu welcher Gluth die Strahlen kleinerer Lichtkörper endlich gesammelt werden konnten, erfahren wir nur durch sie78.
Der flüchtigeren Betrachtung könnte es auffällig erscheinen, daß Bach, nachdem er mit den sechs Partiten nach allen Seiten hin für die Suitengattung das letzte Wort gesprochen hatte, im zweiten Theil der »Clavierübung« nochmals auf sie zurückzukommen scheint. Dieser Theil enthält nämlich neben dem oben schon gewürdigten Italiänischen Concert als zweites Stück wiederum eine Partita (H moll)79. Aber seine Absicht ging hier auf ein ganz andres Ziel. Nicht eine neue Claviersuite wollte er schreiben, sondern ein Stück, in welchem die Orchesterpartie auf das Clavier übertragen erscheint. Die Verschiedenheit dieser Form von jener ist an andrer Stelle auseinandergesetzt worden80. Bachs Idee kündigt sich schon in der Bezeichnung »Ouverture« an; so nämlich pflegte man die Orchesterpartien von ihrem Anfangsstücke her zu benennen. In der Anordnung der Theile wird dann, was er will, ganz klar. Die Allemande fehlt, da sie, eine ausschließliche Clavierform, in den Orchesterpartien nicht vorkam. Courante, Sarabande und Gigue sind vorhanden, aber vor der Sarabande stehen zwei Gavotten und zwei Passepieds, nach ihr zwei Bourrées, eine Menge von Stücken, die eben deshalb nicht mehr als Intermezzi aufgefaßt werden können, sondern neben [644] den übrigen gleiche Bedeutsamkeit beanspruchen. Eine beliebige zwanglose Folge von Tänzen war aber das Vorrecht der Orchesterpartie. Und endlich ist mit der Gigue das Spiel noch nicht zu Ende. Seine Orchesterpartie in H moll schloß Bach mit einer Badinerie, die eine der beiden aus D dur mit einer Réjouissance. Hier macht ein Echo das Ende; es bewegt sich in der Tanzform, aber ohne einen bestimmten Typus zu zeigen. Seinen Namen führt es von gewissen Nachahmungen des Widerhalls, die deshalb besonders artig sind, weil das Echo nicht mechanisch genau, sondern mit sanft verbindenden Mitteltönen antwortet, gleich als ob der Hall in der Ferne verschwebte, z.B.:
oder:
Es war natürlich nicht Bachs Absicht, den Orchesterstil auf dem Clavier nachzuahmen. Dies wäre auch ein ziemlich überflüssiges Vorhaben gewesen, da in seiner Schreibart für Orchester schon so viel von seinem Clavierstil steckte, die wirklich verpflanzte Form also wie von selbst gedeihen mußte. Er verlangt nur, daß der Hörer dieses Werk in der Gemüthslage auf sich wirken läßt, mit welcher er sich einer Orchesterpartie gegenüberstellt, ebenso wie das Italiänische Concert nur auf den seine volle Wirkung übt, der weiß, um was es sich in einem wirklichen Concert jener Zeit zu handeln pflegt. Beide Werke haben ein innerlich Gemeinsames, das uns begreifen läßt, warum sie Bach zu einem abgeschlossenen Theile der »Clavierübung« vereinigte. Sie sind Reflexe von Formen, welche eigentlich für eine Vielheit verschiedener Instrumente erfunden waren, auf der Fläche der Claviermusik. Ein äußeres Band zwischen ihnen bildet der Umstand, daß zu beiden ein Cembalo mit zwei Manualen erforderlich ist. Was aber den Charakter der einzelnen Sätze dieser Partie anbetrifft, so macht sich auch in ihnen das Wesen des Urbildes deutlich geltend. Man erkennt es am leichtesten an der Gigue. Eine solche und nicht eine Giga soll es sein; aber wie durchaus verschieden ist sie von den Gigues der eigentlichen Clavierpartiten und englischen Suiten! Sogar die französischen Suiten bieten complicirtere Gebilde. Die Orchester-Partie hatte sich mehr als die Clavierpartita[645] einen einfachen, volkstümlichen Zug gewahrt. Dieser drückt sich auch in der Haltung der vorliegenden Gigue aus, deren Wesen so schlicht und faßlich ist, wie nicht einmal in der Gigue der zweiten französischen Suite, mit welcher sie sonst viel Ähnlichkeit hat. Auch die erste Bourrée und zweite Gavotte sind von einer treuherzigen Einfalt, deren Absichtlichkeit man nicht verkennen kann. Wo reichere Mittel angewandt werden, bleibt immer doch in den Melodien ein populärer Zug, der den wirklichen Clavierpartiten nicht eignet. Nur die schöne, sehnsuchtsvolle Sarabande blickt mit durchgeistigtem Antlitz in das unschuldige Treiben der kräftigen übrigen Gestalten81.
Bach hat auch drei Partiten für die Laute geschrieben, welche bei dieser Gelegenheit kurz erwähnt werden mögen82. Jetzt existirt als ausdrückliche Lautencomposition nur noch ein dreisätziges Werk (Es dur) von ihm, in dem wir aber wohl einen Bestandtheil jener Sammlung vermuthen dürfen83. Es ist allerdings keine eigentliche Partite, sondern eine Sonate ohne zweites Adagio und mit einem Praeludium an Stelle des ersten. Indessen konnte es mit andern wirklichen Partiten immer unter diesem Namen durchgehen, vorausgesetzt, daß Bach ihn in der That selbst gewählt hat. Vielleicht gehörte zu der Sammlung auch jene E moll-Suite, deren wir neben den französischen Suiten erwähnten84; die tiefe Lage in welcher sie sich durchgängig bewegt, legt diese Vermuthung nahe85.[646] Bach hat in concertirenden Gesangscompositionen mehre Male Laute angewendet, so in der Johannespassion und Trauerode, er besaß auch unter seinen vielen Instrumenten selbst eine solche. Daß er Laute gespielt habe, folgt aus dieser Thatsache nicht. Sie er klärt sich schon, wenn wir uns erinnern, daß Bach über einer Combination von Laute und Cembalo sann; das Resultat hiervon war das »Lautenclavicymbel«, welches Hildebrand nach seiner Angabe um 1740 bauen mußte, und wovon Bach zwei Exemplare selbst besaß86. Möglich nun, daß er seine Lauten-Partiten für dieses Instrument eigens componirt hat, wie er ja auch das Wesen seiner Viola pomposa durch eine besondere Suite erprobte87. Indessen konnte ihn schon seine Bekanntschaft mit der Dresdener Capelle, die in Sylvius Leopold Weiß den ersten Lautenisten seiner Zeit unter ihre Mitglieder zählte88, zur Lautencomposition führen. Auch mit Ernst Gottlieb Baron, der mit Bewunderung von Bach spricht, dürfte dieser persönlich bekannt gewesen sein89. –
Mit den zweistimmigen Inventionen für Clavier hatte Bach seiner Zeit eine neue Form geschaffen. Er hat uns den Beweis geliefert, daß er ein bedeutendes Gewicht auf sie legte, indem er den dritten Theil der »Clavierübung«, welcher eigentlich nur Orgelmusik enthalten sollte, mit einem Anhang von vier Clavierstücken in Inventionenform ausgehen ließ90. Hier nennt er sie Duette und lenkt dadurch die Aufmerksamkeit bestimmter noch auf den zweistimmigen Satz. Alles was von den Inventionen gesagt ist91, gilt auch von ihnen, sie sind außerdem aber in der offenliegenden Absicht geschrieben, zu zeigen, daß sich auch im zweistimmigen Clavierstück der größeste harmonische Reichthum mit voller Deutlichkeit entfalten lasse. In dieser Beziehung offenbaren sie wirklich erstaunliches; als Muster eines strengen Satzes darf man sie nicht ansehen. Bach hat vielmehr von allen den Freiheiten, welche das »harmonische« System an die Hand giebt, ausgiebigen Gebrauch gemacht, [647] namentlich auch im Gebrauch der Quarte, so daß Kirnberger wohl zu der Behauptung berechtigt war, Bach habe im zweistimmigen Satze die Quarte nicht für eine rechte Grundstimme gehalten92. Was man sonst noch hat bemerken wollen, diesen Duetten sei es eigenthümlich, daß sie keine dritte Stimme zuließen93, ist bei Lichte besehen nichtssagend. Denn wenn sie Kunstwerke sein sollten, mußten sie selbstverständlich ohne weitere Ergänzung alles aussprechen, was der Componist aussprechen wollte. Die Duette sind immer mit mehr Befremden als Hingabe betrachtet worden, und es ist das zum Theil wohl zu begreifen. Als Fortsetzungen der Inventionen lassen sich das capricciöse E moll- und das heitere G dur-Duett leicht verstehen. Sie sind bei aller Künstlichkeit scharf gezeichnete Charakterstücke, bei denen Form und Inhalt in voller Harmonie stehen. Die andern beiden hinterlassen aber den Eindruck, als befinde sich der enorme harmonische Reichthum, die Schwere der Gedanken und Weite der Durchführung nicht ganz im richtigen Verhältniß zu der Dürftigkeit der darstellenden Mittel. Es sind Compositionen für »Kenner von dergleichen Arbeit«, denen es Genuß ist den verwickelten Harmoniengang auch nach bloßen Andeutungen zu verstehen, Leckerbissen für harmonische Feinschmecker. Das A moll-Duett sieht sich wie eine zweistimmige Fuge an; die frei ausgeführten Partien überwiegen aber so, daß man nach dem Gesammteindruck auch dieses Stück nur eine ausgeführte Invention nennen kann. Das Thema ist von außerordentlicher harmonischer Ausgiebigkeit, und trotz aller Beschränkung durch innere und äußere Mittel fühlt man in diesem Duett immer noch das freie Walten eines schöpferischen Geistes. Dagegen läßt sich bei dem Mittelsatze des F dur-Duetts ein starker scholastischer Beigeschmack schwer verwinden. –
Wenn Bach in den Partiten aus der Entwicklung der Suitenform, in dem Italiänischen Concert aus der Form des Violinconcerts, in den Duetten aus der Invention seine letzten Consequenzen gezogen hatte, so that er es mit dem vierten Theile der »Clavierübung« aus der Variationenform. Dieser Theil enthält eine Arie mit 30 Veränderungen [648] für Cembalo mit zwei Manualen94. Die äußeren Umstände, welche zur Entstehung des Werkes führten, erzähle ich später; hier geht uns nur das Musikstück als solches an. Als älteste selbständige Instrumentalform hat die Variation auf die später entstehenden Kunstorganismen im 16. und 17. Jahrhundert nach den verschiedensten Richtungen hin eingewirkt, auf die Claviersuite sowohl wie die Choralbearbeitung, auch auf die Sonate und Violinmusik, doch blieben ihre Hauptorgane die Tasteninstrumente. Wie sie lange Zeit hindurch mit der Suite in eigenthümlicher Weise verwachsen bleibt, habe ich an andrer Stelle gezeigt95. Die eigentlichen Choral-Variationen oder-Partiten blühten aber in einer Zeit, da man Clavier- und Orgelmusik noch nicht genugsam schied. Die Variationenform, d.h. das aus einem Thema und einer Reihe Veränderungen gebildete Kunstganze, gehörte nicht in die Kirche; schon deshalb nicht, weil für sie während des Gottesdienstes nirgendwo Platz war, aber auch weil sie die Würde der Choralmelodie antastete. Sie klärte sich daher mehr und mehr zu einer Form der Claviermusik ab, konnte aber als solche trotz ihrer großen historischen Bedeutung einen Bach nicht eben reizen. Die Erfindungskraft ließ sich entweder nur in der allgemeinen Umrißzeichnung, der Anordnung der verschiedenen Variationen, oder im feinsten Detail des Figurenwerks zeigen. Eine gründliche Durchführung des Themas lag nicht im Wesen der einzelnen Variation. Hinsichtlich der Ausdehnung war sie streng an die Verhältnisse des Themas gebunden, die Umgestaltung desselben bestand nur in Umspielung, so mußten denn auch die Harmonienfolgen wesentlich dieselben bleiben. So wie sie war, hatte die Form etwas äußerliches, das der Vertiefung und Weiterbildung widerstrebte; es ist bezeichnend, daß die Variationen eines Sweelinck, Frescobaldi, Cornet mit den 200 Jahre später zu Mozarts Zeit geschriebenen die größeste Familienähnlichkeit haben. Wenn wir Bachs früheste Choralpartiten, mit denen er sich Böhm anschloß, außer Betracht lassen, so hat er nur ein Variationenwerk im herkömmlichen Stile geschrieben: die Variationen alla [649] maniera italiana, welche wir in die weimarische Zeit versetzen zu müssen glaubten.
Aber er sah, daß es eine verwandte Form gab, mittelst welcher der Enge und Flachheit der Variation abgeholfen werden konnte. Diese Form war der Passacaglio oder die Ciacone. Was sie der Variation verwandt macht, ist die Gebundenheit an eine bestimmte sich bei allen Wiederholungen gleichbleibende Taktzahl und im wesentlichen an eine und dieselbe Harmonienfolge. Wirklich spielen auch in der Praxis der Componisten Passacaglio (oder Ciacona) und Variation in einander hinüber. Man hielt nicht immer an dem Grundsatze der Unveränderlichkeit des Bassthemas fest, brachte es in andern Tonlagen, bildete es um, löste es in Figuren auf. Manchmal wurde gar kein Bassthema aufgestellt, sondern nur eine Anzahl viertaktiger, gleich rhythmisirter Sätze im dreitheiligen Takt aneinander gereiht96. Hernach hat Händel versucht, Ciacone und Variation in der Weise zu vereinigen, daß er die Oberstimme, unter welcher der Bass zum ersten Male auftritt, als Variationenthema festhält97. Wenn man nun regelrecht ein liedartiges, zweitheiliges Thema aufstellte, in den Variationen aber nicht an der Melodie, sondern nur an dem Basse desselben unentwegt festhielt, so wurde dadurch einerseits das enge, vier- bis achttaktige Gehäuse der Ciacone unvergleichlich ausgeweitet, andrerseits zur Entfaltung der verschiedenartigsten Combinationen im Bereiche der Variationenform freier Raum geschafft. Dieses hat Bach gethan.
Als Thema benutzte er eine Sarabande, welche sich von der Hand seiner Gattin geschrieben in deren größerem Clavierbuche vorfindet98. Da sie hier noch vor der Arie »Schlummert ein, ihr matten Augen« aus der Cantate »Ich habe genug« ihren Platz gefunden hat, so wird sie auch früher entstanden sein, als diese, und war [650] demnach schon wenigstens zehn Jahre alt, ehe Bach sie zum Mittelpunkte seines großen Variationenwerks machte99. Zuverlässig hatte er sie ursprünglich für Anna Magdalena componirt gehabt. Daß er ihr diese neue Bestimmung gab, dazu wirkten vermuthlich noch besondere persönliche Motive mit, die wir nicht mehr erkennen können; es ist derartiges auch bei dem Quodlibet, welches die letzte Variation bildet, anzunehmen. Hätte Bach die Sarabande für die Variationen eigens erfunden, so würde er, da ihr Bass die Hauptrolle spielen sollte, diesen wohl durchweg ganz einfach geführt haben, anstatt ihn wie jetzt mit Verbindungstönen, Nebennoten und Verzierungen auszustaffiren, die seine Grundlinien manchmal etwas undeutlich machen. Am klarsten erkennt man ihn aus der 30. Variation. Hiernach würde er im Originaltakt lauten:100
Gelegentlich eines Variationenwerks von Johann Christoph Bach wurde darauf aufmerksam gemacht, daß Sebastian es gekannt haben dürfte, da seine eignen Variationen hier und da an dasselbe erinnern101. Es verdient Beachtung, daß das Thema auch dort eine Sarabande aus G dur ist.
Bach hat den Thema-Bass meistens nach Passacaglio-Art behandelt, ihn also auch in den Variationen die Grundlage der Harmonie sein lassen. In der Regel markirt ihn die erste Note des ganzen oder halben Taktes. Bei einzelnen Schritten springt er zuweilen eine Octave auf- oder abwärts, jenachdem es die Bewegung des Stückes fügt; selten wird von seinem Gange einmal abgewichen, hier und da findet sich eine chromatische Alteration. Einige Male [651] steigt er ciaconenartig in die Mittel- oder Oberstimmen auf, z.B. in Variation 18 und 25, doch so daß er als wichtige Stimme sofort vernehmbar wird, und immer nur vorübergehend. Die Consequenz der Durchführung geht so weit, daß selbst in der Moll-Variation 25 der vollständige Dur-Bass auftritt. Bach erreicht dies durch Chromatik, welche dann auch sehr kühne und fremdartige Harmonienfolgen bedingt. Darauf daß der significante Ton jedesmal am Anfang des Taktes steht, mußte er hier allerdings verzichten. Einmal, Takt 4 des zweiten Theils dient ihm statt h; Takt 9–11 des ersten Theils erscheint der Bass in der Tenorlage; nur Takt 7 und 8 des zweiten Theils ist h ē mit b vertauscht.
Über dem Basse entwickelt Bach eine solche Fülle von Erfindung und Kunst, daß dieses Werk allein hinreichen würde ihn unsterblich zu machen. Seine Claviertechnik zeigt sich von ihren glänzendsten und in Folge der ausgiebigsten Benutzung zweier Manuale auch wieder ganz neuen Seiten. Freie Conceptionen wechseln ab mit gebundenen, durchsichtige, fast homophone Sätze mit polyphonen Formen von größtmöglicher Künstlichkeit. So bietet Variation 7 eine Gigue, Variation 16 eine vollständige Ouverture, Variation 25 ein reich verziertes Adagio nach Violinsonaten-Art, Variation 26 abwechselnd in der linken und rechten Hand eine Sarabande, während die andre Hand in Sechzehntel-Sextolen pfeilgeschwind dahin schießt. Variation 10 ist eine Fughetta, deren Thema aus dem Grundbass hervorgeht und die trotz regelrechtester Entwicklung doch bis zum Ende dem Laufe des Grundbasses folgt. Canons sind darin vom Einklänge an durch sämmtliche Intervalle bis zur None; der Quintencanon verläuft in der Gegenbewegung und noch dazu ist sein Anfang, sowie der des Secundencanons mittelst Verkürzung aus dem Themabasse gebildet. Die letzte Variation ist ein Quodlibet, in welchem über dem Basse zwei Volkslieder in einander verschlungen und imitatorisch durchgeführt werden. Und bei dem allen nicht eine Spur von Zwang. Die schwersten Fesseln sind zu Blumengewinden geworden; leicht, heiter und glücklich zieht die bunte Schaar vorüber, die wenigen Moll-Variationen dienen nur dazu, den Grundton innigsten Befriedigtseins noch stärker vorklingen zu lassen.
Die Frage drängt sich auf, welche Aufgabe bei dieser Erweiterung der Variationenform Bach dann noch für die Melodie des [652] Themas übrig gelassen hat. Das musikalische Motiv des Ganzen ist nicht sie, sondern ihr Bass, die durch ihn bedingte Harmonie der Mutterschooß, in welchem neue und aber neue Gestalten sich bilden. Indessen ist dadurch die variationenhafte Wirkung der Melodie selbst nicht aufgehoben. Abgesehen davon, daß sie zunächst den Hörer mit einer gewissen Grundstimmung erfüllt, welche allen Variationen zur Voraussetzung dient und zu welcher der bunte Wechsel sich schließlich auch wieder abklärt, kann sie auch als Zeichnung überall unsichtbar gegenwärtig bleiben. Der in allen Variationen sich wesentlich gleichbleibende Harmoniengang in Verbindung mit einzelnen eingestreuten melodischen Anklängen hilft dem inneren Ohre ihre Linien wieder hervorzurufen. Der volle Genuß der Variationen ist allerdings davon abhängig, daß dieses geschieht. Es wird eine stärkere Selbsttätigkeit des Hörers vorausgesetzt, als bei gewöhnlichen Variationen, er soll die Umrisse der Melodie gewissermaßen in jedes neue Tonbild selbst hineinzeichnen; insofern ist auch dieses Werk für gebildete Hörer, für »Kenner« geschrieben. Wer sich das Wesen der Choralcantate, wie wir es seinesorts entwickelt haben, vergegenwärtigt102, dem wird die nahe Verwandtschaft zwischen jener Form und diesem Variationenwerk nicht entgehen. Auch dort als Ausgang wie als Endpunkt die volle, reine Melodie, dort wie hier in den dazwischenliegenden Stücken hülfeleistende Anklänge an dieselbe, und wie hier Bass und Harmonie durchweg dieselben bleiben, so mahnt dort unablässig an die eine und alleinige Grundlage der durch die madrigalische Form leicht verschleierte Text des Kirchenliedes. Solchergestalt ist der Tribut, welchen Bach der Variationenform, die in der Entwicklung der Instrumentalmusik eine Macht ersten Ranges gewesen war, gezahlt hat. Er hat sie in eine hohe, ideale Region gehoben; durch ihn ist sie eine tiefsinnige, durchgeistigte Form geworden, welche auf dem unvergleichlich höheren Niveau, das durch Bach die Instrumentalmusik erreicht hatte, wieder im Stande war, die besten und tiefsten Künstler dauernd zu fesseln. Wenn auch in der Folgezeit die ältere Variationenform, eben weil sie dem Urleben der Instrumentalmusik so nahe steht, fort und fort gepflegt worden ist und in vielen reizvollen Gebilden[653] neue Blüthen getrieben hat, die sinnigsten und gedankenvollsten Musiker haben bis auf die neueste Zeit in den Bachschen 30 Veränderungen ihr erhabenstes Vorbild erkannt.
Auf das Quodlibet, welches die letzte Variation bildet, ist nochmals zurückzukommen. Derartige musikalische Spaße, bei welchen man auch Texte in verschiedenen Sprachen durcheinander mengte, konnten auf zweierlei Weise verfertigt werden. Entweder wurde eine bunte Zahl von bekannten Melodien nach einander gesungen oder gespielt, sodaß das innerlich ganz Unzusammenhängende in eine äußerliche musikalische Folge gebracht wurde; wenn das Nachfolgende an irgend eine unwesentliche Wendung des Textes oder der Melodie des Vorhergehenden angeknüpft werden konnte, wurde der Witz um so schlagender. Die andre Weise bestand darin, daß mehre bekannte Melodien mit möglichst contrastirenden Texten zu gleicher Zeit ertönten. Diese letztere und kunstvollere hat Bach gewählt. Die Texte der beiden verwendeten Volkslieder sind durch Bachs Schüler Kittel überliefert103. Sie lauten:
Die Melodie des zweiten Lieds, welches auch heute noch im Volksmunde lebt, hat Bach vollständig benutzt:
[654] Die Zeilen der Melodien wurden in den Quodlibets gern aus ihrem Zusammenhange gerissen und einzeln angebracht, wo es grade paßte. So finden wir auch hier die ersten beiden Takte des Lieds in der Oberstimme Takt 3 und 4, die letzten beiden im Tenor Takt 7 und 8 und in der Oberstimme am Schluß; außerdem werden die beiden ersten Takte das ganze Stück hindurch in den drei Oberstimmen imitatorisch durchgeführt. Von dem ersten Liede läßt sich aus diesem Quodlibet nur die erste Hälfte reconstruiren. Sie lautet etwa so:
Ich bin so lang nicht bei dir gewest, ruck her, ruck her, ruck her.
So weit meine Forschung reicht, ist dieses Lied jetzt verschollen; übereinstimmend im metrischen Bau und fast gleich im Melodieanfang ist das bekannte »Es ist nicht lang, daß g'regnet hat«. Ich finde auch nicht, daß es in einer der zahlreichen Volksliedersammlungen, welche seit Herders Zeit er schienen sind, verzeichnet worden ist. Nur die erste Zeile wird in ihrer genauen Form fleißiger durchgearbeitet. Die zweite zeigt sich undeutlich Takt 2 im Tenor, hernach kaum wieder, man müßte sie denn Takt 10 im Basse erkennen wollen. Von den übrigen Zeilen ist nur der Rhythmus benutzt worden, nämlich Zeile 3:
(Tenor Takt 3–4),
(Oberstimme Takt 5–6),
(Oberstimme Takt 8–11).
Die vierte Zeile wird vom Rhythmus des Basses Takt 4–5:
der Oberstimme T. 11–12:
[655] zurückgespiegelt. Ist nun das aus diesen Elementen gebildete Quodlibet schon wegen seines kunstvollen Gewebes eine außerordentliche Leistung, so hat es auch für das tiefere Verständniß von Bachs Künstlerpersönlichkeit eine hohe Bedeutung. Auf kirchlichem Gebiet zog er aus dem geistlichen Volksliede seine Hauptkraft; hier zeigt er sich auch dem weltlichen Volksgesange eng verbunden. Denn nur unter dieser Voraussetzung wird es begreiflich, wie er ein Werk, an das er das höchste Maß seines Könnens gewandt hat, in solcher Weise ausgehen lassen konnte. Deutlich erscheint hier jener altbachische Geist wirksam, welcher bei den jährlichen Familientagen seiner derben Laune im Singen derartiger Quodlibets die Zügel schießen ließ105.
Wir besitzen aber noch ein zweites Document für Bachs Interesse am Volksgesange, das wir aus diesem Grunde hier in Betrachtung ziehen, während es als Vocalcomposition sonst an einem andern Orte hätte Erwähnung finden müssen. Am 30. August 1742 wurde dem Kammerherrn Carl Heinrich von Dieskau als Gutsherrn von Kleinzschocher gehuldigt106. Als Kreishauptmann war er Vorsteher der Land-, Trank-, Pfennig- und Quatembersteuer107. Wir erfuhren früher, daß Picander im Jahre 1743 die Stelle eines Land- und Tranksteuer-Einnehmers bekleidete108. Sei es daß er die Stelle erst zu erhalten, oder daß er für die erhaltene sich seinem Vorgesetzten dankbar zu erweisen wünschte – in irgend einem Zusammenhange mit diesen Dingen steht es offenbar, wenn Picander zu der Huldigung eine Cantate en burlesque verfaßte. Die Motive seiner Dichtung entnahm er den bäuerlichen Verhältnissen von Kleinzschocher. Mit einem im obersächsischen Dialekt gehaltenen Gesange der Bauern, welche sich des ihnen gewährten Festtages freuen, hebt er an109. Sodann wird ein bäuerliches Liebespaar [656] eingeführt, welches den neuen Gutsherrn und dessen Gemahlin in verschiedenen Beziehungen preist, daneben allerhand Anspielungen auf den Schösser, die Recruten-Aushebung, »Herrn Ludwig und den Steur-Reviser« macht und endlich sich in die Schenke zu Tanz und Trunk begiebt. Wenn die hohen Herrschaften jener Zeit sich an französischen und italiänischen Theaterspielen übersättigt hatten, ließen sie sich des Gegensatzes halber auch einmal ein deutsches Bauern-Divertissement gefallen. Was sie ergötzen sollte, war aber nicht die gesunde, unverbildete Menschlichkeit, wie sie später Christian Felix Weiße zum Gegenstande seiner Operndichtungen nahm. Sie wollten sich als erhabene und modisch gesittete Gebieter über die geplagte, tölpelhafte Bauernschaft amüsiren. Solche Divertissements wurden nicht nur an dem schwelgerischen Hofe zu Dresden, sondern auch in dem einfacheren und ernsten Weimar und anderswo veranstaltet110. Auch Picanders burleske Cantate gehört zu ihnen. Es darf uns nicht befremden, daß Bach sich zur Composition bereit finden ließ. Er hat die ethische Seite der Sache wohl ganz außer Betracht gelassen; es gewährte ihm aber ein augenscheinliches Vergnügen, einmal ein Werk fast durchaus im weltlichen Volkston zu componiren. Das städtische, vornehme Element ist nur durch zwei Arien vertreten (»Klein Zschocher müsse« und »Dein Wachsthum sei feste«), deren zweite er aus dem »Streit zwischen Phöbus und Pan« nicht ohne Gewaltsamkeit übertrug. Alles übrige bewegt sich auf dem engen Gebiete volksthümlicher Formen. Einen Chor hat er nicht eingeführt; auch das erste Stück ist, wie das letzte, nur ein Zwiegesang; dazwischen wechseln Bursch und Dirne mit Recitativen und Liedern ab. Die Instrumentalbegleitung besteht nach Art eines Dorforchesters nur aus Violine, Bratsche und Bass; wenn ein Mal ein Horn hinzutritt so hat es hiermit seine besondere Bewandtniß. Dem ersten Gesange geht ein Instrumentalsatz vorher. Dies ist wieder ein aus sieben Stückchen zusammengesetztes Quodlibet. Mit einem Walzer wird begonnen, der aber erst zum Schlusse vollständig ertönt; anfänglich bricht er nach sieben Takten ab, um einer bunten Folge kurzer Sätze in verschiedenem Takt- und Zeitmaß Platz zu [657] machen. Manches davon klingt wie echte Volksmelodie, so namentlich dieses:
In der Mitte finden sich 16 Takte im Sarabanden-Rhythmus, deren Gravität durch das Unisono doppelt ergötzlich wirkt. Die Tanzweisen herrschen auch in den vocalen Partien. Anfangs- und Schluß-Gesang sind Bourrées, die Arien »Ach es schmeckt doch gar zu gut« und »Ach Herr Schösser« Polonaisen. Nach Kirnbergers Anweisung, der lange in Polen gelebt und die dortige Tanzmusik studirt hatte, haben wir die Arie »Fünfzig Thaler baares Geld« für eine Mazurka zu halten111. Die Arie »Unser trefflicher« ist eine Sarabande, das Lied »Und daß ihrs alle wißt« ein Rüpeltanz (Paysanne)112. Kein bestimmter Typus läßt sich an der Arie »Das ist galant« erkennen, die allgemeine Haltung ist jedoch auch tanzmäßig. Alle diese Stücke sind kurz, derb und lustig, dabei aber doch geistreich gearbeitet; man achte nur auf die feine Art, wie in der Sarabande der Hauptgedanke immer wieder, schließlich auch im Basse auftaucht, oder wie in dem Rüpeltanz durch Accentverschiebungen die Trunkenheit gemalt wird. Die Melodiebildungen sind so volksthümlich, daß man wieder vermuthen kann, es haben hier und da dem Componisten bestimmte bekannte Melodien vorgeschwebt. Die Vermuthung ist um so berechtigter, als drei Volksmelodien nachweislich in der Cantate verwendet sind.
Nachdem die Dirne der neuen Obrigkeit zu Ehren eine »gebildete« Arie gesungen hat, meint der Bursche: »Das ist zu klug für dich Und nach der Städter Weise; Wir Bauern singen nicht so leise. Das Stückchen höre nur, das schicket sich für mich:
Die Melodie, auf welche er diese Worte singt, lebt noch heute mit dem Texte »Frisch auf zum fröhlichen Jagen« in aller Deutschen Munde. Als Bach die Bauern-Cantate componirte, war beides, Melodie und Text, etwa seit 18 Jahren populär geworden. Das Gedicht hat den Schlesier Gottfried Benjamin Hanke zum Verfasser, der als Accisesecretär in Dresden lebte. Er schrieb es 1724 zur Feier des Hubertusfestes für den Grafen Sporck, welcher ein großer Jagdliebhaber war. Die Melodie ist französischen Ursprungs und gehört zu dem Jagdliede Pour aller à la chasse Faut être matineux, dem Hanke auch den Text nachgebildet zu haben scheint113. Gegen 1730 war es in den böhmischen Besitzungen des Grafen schon sehr beliebt und muß sich von da rasch auch nach Sachsen verbreitet haben, da es 1742 schon als Bauernweise gelten konnte. Interessant ist uns auch das abermalige Eintreten des Grafen Sporck in die Lebensgeschichte Bachs. Man wird sich erinnern, daß derselbe zu der H moll-Messe in Beziehung stand und Picander ihm schon 1725 die ersten Früchte seiner religiösen Poesie zueignete114. Bei der Einführung der Melodie waltete also seitens des Componisten sowohl als des Dichters eine besondere Absicht; man begreift es nunmehr auch, weshalb grade bei diesem Stücke, und nur bei ihm, Bach ein Horn anwendet, wozu eine directe Veranlassung in Picanders Text nicht vorliegt.
[659] Die Dirne erwiedert, indem sie den Gesang des Burschen parodirt, das klänge »zu liederlich«, und würde die feine Gesellschaft zum Lachen reizen, nicht anders als wenn sie »die alte Weise« anstimmen wolle – nun folgt die zweite Volksmelodie –:
Sie singt dieselbe zu einem Text, welcher dem bisher nur mit Töchtern gesegneten Hause Dieskau viel männliche Nachkommenschaft wünscht. Der Charakter der Melodie läßt schließen, daß sie eigentlich zu einem Wiegen- oder Kinder-Liede gehört115.
Eine dritte Volksmelodie wird im ersten Recitativ zu Zwischenspielen verwendet. Ihre erste Hälfte steht am Schluß, die zweite in der Mitte desselben. Setzt man beide zusammen und ordnet sie derselben Tonart unter, so ergiebt sich folgendes:
Wie man sieht, stimmt die erste Hälfte im wesentlichen mit der ersten Hälfte des Lieds »Ich bin so lang nicht bei dir gewest« aus dem Quodlibet der Variationen überein. Von der zweiten Hälfte hatte Bach dort nur den Rhythmus benutzt; sicher liegt sie hier in ihrer vollen Originalgestalt vor. Denn vergleicht man den Text des Recitativs an den Stellen, wo die Zwischenspiele eintreten, mit den zugehörigen Worten des Volksliedes, so offenbart sich ein enger poetischer Zusammenhang. Den durch das Recitativ angeregten Gedanken setzt das Zwischenspiel jedesmal fort und plaudert namentlich an der ersten Stelle die Wünsche des Liebhabers in bedenklicher Weise aus. Vergegenwärtigen wir uns noch, daß die Composition der Variationen und der Bauerncantate in eine und dieselbe Zeit fällt, so ist auch äußerlich leicht zu begreifen, wie Bach [660] darauf verfallen konnte, die Melodie in der Bauerncantate, welche etwas später entstand als die Variationen116, abermals anzubringen117. –
Nach der Abschweifung, zu welcher das Quodlibet der 30 Veränderungen die Veranlassung gab, kehren wir nochmals zu Bachs Claviercompositionen zurück, um die Fugenwerke und Canons seiner späteren Zeit zu betrachten. An die Spitze des Zuges tritt die Chromatische Fantasie und Fuge. Das berühmte Werk muß spätestens 1730 componirt gewesen sein118. Innere Gründe treiben dazu, es noch um ein beträchtliches weiter hinauf zu rücken. Eine gewisse Verwandtschaft der Fantasie mit dem Stücke gleichen Namens, welches der großen Orgelfuge in G moll voraufgeht119, springt in die Augen. Diese fällt vor 1725, und wir durften sie mit Bachs Hamburger Reise aus dem Jahre 1720 in Verbindung bringen. Wohl möglich ist es also, ja mit Hinblick auf eine noch existirende ältere Form des Werkes muß man es für wahrscheinlich halten, daß auch die chromatische Fantasie und Fuge noch vor der Leipziger Zeit entstand. Der überschäumende Charakter, welcher beide Sätze gleichmäßig durchdringt, will zu dem Geiste der leipzigischen Erzeugnisse nicht wohl passen. Auch die Fantasien Bachs pflegen sonst nicht der festen, motivisch oder thematisch entwickelten Formen zu entbehren. Hier herrscht fesselloser Sturm und Drang. Der kühne Gedanke, das Recitativ aufs Clavier zu verpflanzen, hatte schon in Bachs früher D dur-Fantasie Gestalt gewonnen120; sein Keim findet sich in den Werken der nordischen Organisten, zur [661] Entwicklung desselben trug die Beschäftigung mit Vivaldis Concerten sehr viel bei121. In der chromatischen Fantasie hat er eine großartige Ausbildung erfahren. Das Stück, in dem auch alle Kühnheiten der Modulation zusammengehäuft sind, wirkt wie eine erschütternde Scene. Die Fuge setzt das chromatische und ausgreifend modulatorische Wesen in entsprechendem Maße fort. So gewaltig ihr dämonischer Schwung, so genial verwegen ist auch die Behandlung der Fugenform.
Eine andre Fantasie mit Fuge (C moll) beschäftigte Bach gegen 1738. Bei der Composition dieses Werkes scheint ihn der Gedanke begleitet zu haben, das Kunstmittel des Überschlagens der Hände einmal in größeren Formen zur Geltung zu bringen, als es in der B dur-Partita geschehen ist. Da die Fantasie die zweitheilige repetirende Form hat, welche Bach bei Stücken dieses Namens sonst nicht anwendet, so darf man muthmaßen, daß er auch auf sie durch Domenico Scarlatti geführt worden ist, und mit Interesse sieht man, welchen Charakter der Stil des Italiäners beim Durchgange durch Bachs Phantasie angenommen hat. Zugleich zeigt uns das energische und brillante Stück ein Vorbild des Emanuel Bachschen Sonatensatzes. Von der Fuge hat Bach nur die ersten 47 Takte hinterlassen. Daß er sie ganz vollendet hatte muß man annehmen, da das Autograph nicht Entwurf sondern Reinschrift ist. Er wird durch einen Zufall verhindert sein, sie völlig ins Reine niederzuschreiben. Dies ist doppelt zu beklagen, da nach dem Fragment zu urtheilen die Fuge ein besonders kühn und groß angelegtes Musikstück gewesen sein muß122. Das abweichende Verhältniß, welches hier zwischen [662] Fantasie, die doch sonst einen praeludirenden Charakter zu haben pflegt, und Fuge sich bemerkbar macht, besteht in vielen Praeludien und Fugen dieser Periode. Wir werden gleich darauf zurückkommen.
Eine dritte Fantasie und (Doppel-) Fuge steht in A moll. Hier hat man als Fantasie ein imitatorisches Stück im streng gebundenen Stile. Das Werk ist von einer edlen, gleichmäßigen Wärme erfüllt und nach allen Seiten in solcher Weise abgeklärt und gereift, daß es in der ersten Leipziger Periode entstanden sein dürfte123.
Weitaus die meisten Charakterstücke in Fugenform, welche Bach übrigens noch für Clavier geschrieben hat, faßt ein Sammelwerk zusammen, das ein Gegenstück zum Wohltemperirten Clavier abgeben sollte und als dessen zweiter Theil bekannt ist. Die Bezeichnung schließt streng genommen einen falschen Gedanken ein, und wir wissen auch nicht sicher, ob sie von Bach herrührt. Das liebevolle Interesse, welches Bach für den ersten Theil dadurch bekundete, daß er ihn wenigstens dreimal abschrieb, ist seinem jüngeren Bruder nicht geworden. Wir besitzen nicht eine einzige vom Componisten selbst gemachte Niederschrift des zweiten Theils, es ist also schwerlich mehr als eine überhaupt vorhanden gewesen124. Abgeschlossen war er bestimmt im Jahre 1744, wenn wir einem gewissen Zeugniß trauen dürfen schon 1740125. Ich nannte ihn ein Sammelwerk. Die lange gehegte und allgemein gewordene Ansicht, als habe Bach nur dem ersten Theile auch ältere Compositionen einverleibt, stellt sich als unrichtig heraus. Das C dur-Praeludium ist [663] lange vor 1740 dagewesen; es zählte in seiner ursprünglichen Gestalt nur 17 Takte, die Fuge war als Fughette bezeichnet. Dann wurde das Praeludium zu 34 Takten erweitert, seine endgültige Form erhielt es aber erst durch eine nochmalige Überarbeitung126. Die G dur-Fuge mit ihrem Praeludium hat ebenfalls mehre Wandlungen durchgemacht. In kürzerer Form und einer so einfachen Contrapunktirung, daß man ihre Entstehung wenigstens in die früheren weimarischen Jahre verlegen muß, ist sie ursprünglich auch mit einem andern Praeludium vergesellschaftet. An dessen Stelle trat ein neues, aber noch nicht das des Wohltemperirten Claviers; die Fuge blieb einstweilen unverändert. Zuletzt wurde sie für das Sammelwerk umgearbeitet und mit einem dritten Praeludium versehen127. Die As dur-Fuge stand anfänglich in F dur, war um mehr als die Hälfte kürzer und hatte auch ein andres Praeludium128. Deutliche Zeichen eines älteren, zum Wohltemperirten Clavier nur wieder benutzten Werkes trägt ferner das Cis dur-Praeludium. Augenscheinlich war es ein selbständiges Stück, denn nur die erste Hälfte ist vorspielartig, die zweite eine leicht hingeworfene aber doch ganz ausgebildete Fughette. Es stand in C dur, und ist an seinem praeludirenden Theile ein Seitenstück zum C dur-Praeludium der ersten Abtheilung. Deshalb konnte es Bach in der Originaltonart hier nicht brauchen129. Was alles aber aus dem zweiten Theile des Wohltemperirten Claviers in eine spätere Schaffens-Periode [664] gehört, hat man sich doch weniger mit der andauernden Absicht auf ein neues Werk von 24 Praeludien und Fugen geschrieben, als vereinzelt nach und nach entstanden zu denken. In seinen letzten zehn Jahren finden wir Bach beschäftigt, seine bedeutendsten Werke zu sammeln, endgültig zu redigiren und nach verschiedenen Seiten hin die Rechnung seines Lebens abzuschließen. Vornehmlich in diesem Sinne ist auch der zweite Theil des Wohltemperirten Claviers zu verstehen. Begreiflicherweise fehlten ihm hier und da Stücke, um nach Maßgabe des ersten Theils den Cyklus vollständig zu machen. Da griff er denn, soweit er sich zu neuer Composition nicht aufgelegt fühlte, auf ältere Werke zurück.
Diese Thatsachen lassen den Werth des Ganzen unbeeinträchtigt. Etwas, das den neu componirten Stücken nicht ebenbürtig war oder durch Überarbeitung geworden war, hätte Bach nicht aufgenommen. Im ersten Theile des Wohltemperirten Claviers stehen einige wenige Stücke gegen die andern etwas zurück. Vom zweiten Theil läßt sich dieses kaum sagen. Doch ist es im ganzen betrachtet nicht der größere oder geringere Grad der Meisterschaft, wodurch sich beide unterscheiden. Die Verschiedenheit liegt in den Lebensperioden des Meisters begründet, während welcher sie der Mehrzahl ihrer Stücke nach entstanden sind. Im zweiten Theil offenbart sich eine vergleichsweise noch reichlicher mit Musik gesättigte Phantasie, eine weiter ausgreifende Gestaltungskraft und das Bestreben, noch schärfer geschnittene Charakterköpfe in der Fugenform herauszubringen. Als ein Ganzes aber stellt sich der zweite wie der erste Theil durch eine gewisse Charaktergemeinschaft hin, welche unter den einzelnen Stücken besteht. Compositionen wie die ältere große A moll-Fuge130, oder die chromatische Fantasie und Fuge, hätte Bach in die Sammlung nie aufgenommen. Auch sie sollte jenes Gepräge der Innerlichkeit und Beschaulichkeit tragen, wofür das Clavichord ein so passendes Organ war131.
Schon am ersten Theile des Wohltemperirten Claviers war zu [665] bemerken, daß einige Praeludien sich mit ihren Fugen nicht zu derjenigen Einheit verbinden wollten, die man für diese beiden Formen voraussetzt. Das Praeludium ist bei Bach schon früh zu größerer Selbständigkeit ausgewachsen, als es seinem Namen nach beanspruchen darf. Nicht wenige Praeludien des ersten Theils waren eigentlich Stücke für sich, auch das Cis dur-Praeludium des zweiten mußte uns eben als ein solches erscheinen und nach Vollendung beider Theile hat Bach einmal eine Sammlung nur von den Praeludien angelegt oder hat sie anlegen wollen132. Weit mehr noch als die Praeludien des ersten Theils tragen die des zweiten das Gepräge in sich ruhender Organismen. Dort stellte sich die Mehrzahl noch in der Form ganghafter Entwicklung von Harmonienfolgen dar. Hier ist zunächst schon das bemerkenswerth, daß nicht weniger als zehn Praeludien die zweitheilige Tanzform haben, die im ersten Theil nur einmal vorkommt – kleine Sonatensätze im Emanuel Bachschen Sinne, nur meistens viel polyphoner133. Andre bekunden wenigstens durch eine sorgfältige Durchführung eines bedeutenden Themas ihre Selbständigkeit. Daß das B moll-Praeludium in die Gattung der dreistimmigen Claviersinfonien gehört, ist schon an andrer Stelle bemerkt worden134. Es zeigt keinen wesentlichen Unterschied mehr von einer Fuge: wenn das Thema gleich anfänglich contrapunktirt auftritt, und später zweimal von einer Stimme an die andre abgegeben wird (Takt 43–44 und 49–50), so ist ersteres kaum etwas andres, als wenn Bach bei Vocalfugen den ersten Themaeinsatz mit vollen Harmonien begleitet, und letzteres kommt auch in der G moll-Fuge vor (Takt 12, im Gegenthema)135. Das Cis moll-Praeludium wird gar aus drei prägnanten, kunstvoll durchgeführten Themen entwickelt. Was der Zweck der Form eigentlich sein soll, vorzubereiten und das Interesse auf die Hauptsache zu spannen, das erfüllen die meisten von ihnen nicht. Sie regen durch sich selbst zu nachhaltig an und erschöpfen ein jedes seine eigne [666] Stimmung. Sie stehen mit eigenthümlichen Rechten nicht nur neben ihren Fugen, sondern manchmal selbst im Gegensatz zu ihnen. Ein jeder muß dies empfinden, der den gemüthlichen Schlenderstil des Es dur-Praeludiums mit der steifen Würde der Fuge vergleicht, die feierlich ziehende E dur-Fuge mit der muntern Rührigkeit ihres Praeludiums136.
Natürlich ist dieses Verhältniß nicht von ungefähr, etwa bei Zusammenstellung der Sammlung, entstanden, sondern von Bach gewollt. Aus Praeludium und Fuge hat sich hier eine neue, zweisätzige Form gebildet. Sie tritt uns nicht ganz unerwartet entgegen. Um von der oben besprochenen Fantasie und Fuge in C moll zu schweigen, da auch sie in die spätere Lebenszeit Bachs fällt, so kommt doch schon im ersten Theil des Wohltemperirten Claviers, in dem Es dur-Praeludium mit Fuge, ein Beispiel dieser Form vor, und jenes Praeludium und Fuge aus A moll, das hernach zum Concert umgearbeitet wurde137, bietet gleichfalls eins. Grade dieses letztere zu vergleichen ist besonders lehrreich, einmal weil Bach durch die Umarbeitung selbst documentirt hat, wie er sich hier das Verhältniß zwischen Praeludium und Fuge gedacht hat, und sodann weil der gigueartige Charakter, welcher der Fuge eigen ist, sich auch bei fünf Fugen des zweiten Theils vom Wohltemperirten Clavier wiederfindet (Cis moll, F dur, G dur, Gis moll, H moll)138. Erinnern wir uns, wie die fugirte Gigue in den Suiten verwendet wurde, so liegt es nahe hier eine ähnliche Idee vorauszusetzen. In drei Fällen ist sie auch ganz evident. Die Praeludien Cis moll, F dur, Gis moll drücken eine ernste, gehaltene, zum Theil stillschmerzliche Stimmung aus; die Fugen lösen die Ruhe und führen wenn auch mehr oder weniger entschieden ein neues, leichteres Lebensgefühl her bei139. Dieser Stimmungs-Gegensatz wird auch [667] in den Satzpaaren aus C dur, Cis dur und F moll wirksam, wo keine Fuge in Gigueform vorhanden ist. In Cis dur muß der Allegro-Ausgang des träumerischen Praeludiums die Vermittlung zu dem neckischen Leben der Fuge bewerkstelligen. So weit es die Verschiedenheit des Stiles erlaubt, kann man in den zweisätzigen Claviersonaten Emanuels Bachs und Haydns Analogien zu diesen Gebilden finden. Andre Satzpaare stehen im entgegengesetzten Verhältniß: das bunte Leben klärt sich zur Festigkeit und Ruhe ab; hier sind die Contraste einigemale so scharf, daß eine gemeinsame, vermittelnde Grundstimmung kaum zu finden ist. Dann kommen auch Fälle vor, wo die beiden Sätze nur durch feinere Schattirungen von einander abgetönt sind (D dur, Fis dur, Fis moll, B moll u.a.), im wesentlichen sonst von einer und derselben Stimmung getragen werden. Durchaus aber – und dieses ist nochmals zu betonen – stehen Praeludium und Fuge als zwei ebenbürtige Factoren da. Beispiele, wo das Praeludium in seiner alten vorbereitenden Function gelassen ist, sind selten, und kaum noch anderweitig als bei den Satzpaaren aus D moll, G moll und H dur wahrzunehmen.
Die in den Fugen entwickelte Kunstfertigkeit ist erstaunlich groß und, alles gegen einander abgewogen, muß man sagen, daß der erste Theil in dieser Beziehung nicht ganz so reich bedacht ist. Die Künste der Umkehrung, Engführung, Vergrößerung sind hier und dort ziemlich gleich häufig angewendet. Dagegen macht Bach im ersten Theil vom doppelten Contrapunkt der Decime und Duodecime nur einen sehr sparsamen, mehr gelegentlichen Gebrauch140, während im zweiten Theile diese Mittel zu großen Wirkungen dienen. Zeigen sie sich in der B dur-Fuge auch nur vorübergehend (T. 41 ff., s. auch 80 ff.), so bildet in der H dur-Fuge der Contrapunkt der Duodecime ein Hauptelement der Entwicklung (s. T. 36, 43, 54, 94). Und ein leuchtendes Beispiel für den musikalischen Reichthum, der durch diese »Künste« ohne Zwang und ohne der schärfsten, lebendigsten Charakteristik irgendwie Abbruch zu thun, gewonnen [668] werden kann, bietet die G moll-Fuge: ein schwungvolles, wuchtiges, wie mit Hammerschlägen treffendes Stück, in welchem von dem doppelten Contrapunkt der Octave, der Duodecime und der Decime Gebrauch gemacht wird. Allein wer in dem zweiten Theile des Wohltemperirten Claviers ein Muster-Fugenwerk im technischen Sinne sehen wollte, würde doch seinen Zweck verkennen. Daß es dieses nicht sein soll, kann man schon daraus abnehmen, daß die Praeludien meistens von gleichem, nicht selten gar von größerem Gewicht sind als die Fugen. Es liegt auch darin noch ein Unterschied gegenüber dem ersten Theil, daß im zweiten die Technik sich nirgendwo hervorthut. Den Fugen aus C dur, D moll, Es moll, A moll, B moll des ersten Theils, welche vom Kunstvollen sich zum Künstlichen neigen, ist aus dem zweiten nichts entgegen zu stellen. Der Vergleich zwischen der A moll-Fuge und der ähnlich construirten aus B moll im zweiten Theile zeigt, wie gänzlich fern jener Beischmack von technischer Virtuosität gehalten werden konnte, der dem älteren Werke noch anhaftet. Die Themavergrößerungen, welche in der C moll- und Cis dur-Fuge des zweiten Theils zugleich mit den natürlichen und umgekehrten Themen eingeführt werden, haben gegenüber den derartigen Führungen in der Es moll-Fuge des ersten Theils etwas leichtes und absichtsloses. Solche Combinationen werden in Instrumentalfugen schwer und selten, eigentlich nur bei ganz kurzen Themen verständlich; das Thema der Es moll-Fuge ist fast schon zu lang und darum tritt bei ihr das Ricercarartige stärker hervor. Die Gelegenheiten zu künstlichen Verwicklungen wachsen natürlich mit der Anzahl der verwendeten Stimmen. Auch dieses ist bezeichnend, daß im ersten Theil sich 10 vierstimmige und 2 fünfstimmige Fugen befinden, während der zweite Theil nur 9 vierstimmige und übrigens lauter dreistimmige Fugen enthält141. Ist nun unter letzteren auch eine wunderbare Tripelfuge (Fis moll), der von den dreistimmigen Fugen des ersten Theiles keine an Kunst [669] gleichkommt, so tritt diese Kunst doch ganz anspruchslos auf. Es finden sich auch allerhand Freiheiten, die dem Werke nicht ziemen würden, wenn es zunächst zeigen sollte, wie sich in strengen Schranken und grade vermöge derselben ein reiches Leben anmuthig entfalten lasse. Mehr als einmal begegnen Änderungen des Themas im Verlaufe der Durchführung (F dur T. 86 und 87, E dur T. 23 ff., Fis moll T. 54 und 55, T. 60), oder unorganische Vielstimmigkeit auch an andern als Schlußstellen (F dur T. 86 und 87, G dur T. 60). Dies sind, ebenso wie die Vertheilung eines Ganges unter zwei Stimmen (G moll T. 12), wie der kecke Einsatz der Themabeantwortung auf der übermäßigen Quarte und die langen, fast homophonen Zwischensätze in der Fis dur-Fuge142 keine Reste jenes jugendlichen Übermuthes, der in frühen Fugencompositionen Bachs sein Wesen treibt. Sie sind aber Zeichen, daß es ihm hier vor allem auf lebensvolle, energisch und bedeutsam ausgeprägte Tonstücke ankam.
Immer wird es einer der höchsten Triumphe der Kunst bleiben, daß es möglich gewesen ist, eine Form für den individuellsten Inhalt gefügig zu machen, die durch ihre Gebundenheit nur für den Ausdruck des Allgemeinsten geeignet zu sein schien. Ganz besonders war es auch dieses, was schon zu Bachs Zeit der musikalischen Welt an seinen Fugen imponirte; »das Fremde und von dem Fugenschlendrian so sehr abgehende Wesen« nannte es jemand einige Jahre nach Bachs Tode143. Und ein andrer meinte: »Gerade zur Zeit, als die Welt auf einer andern Seite auszuschweifen begann, als die leichtere Melodienmacherei überhand nahm, und man der schweren Harmonien überdrüssig ward, war der selige Herr Capellmeister Bach derjenige, der ein kluges Mittel zu ergreifen wußte, und mit den reichsten Harmonien einen angenehmen und fließenden Gesang verbinden lehrte144. Die Fugen des zweiten Theils des [670] Wohltemperirten Claviers gehören zu den sprechendsten Charakterstücken, die es überhaupt im Gebiete der Musik giebt, in ihrer Gattung vollends sind sie unerreicht. Auch der erste Theil hat nichts aufzuweisen, was sich den Fugen aus D moll, E moll, F moll, G moll und A moll in dieser Beziehung vergleichen ließe. Die Aufgabe aber, erschöpfend zu zeigen was die höchstentwickelte Kunst in der Fugenform zu leisten vermögend sei, hatte der Fugenmeister ohne gleichen auch im zweiten Theile des Wohltemperirten Claviers noch nicht gelöst und nicht lösen wollen. Sie blieb ihm als ein letztes für den Spätabend seines Lebens übrig.
Zwei Werke sind es, die sich unter diesem Gesichtspunkte der Betrachtung darbieten, das sogenannte »Musikalische Opfer« und »die Kunst der Fuge«. Jenes war die Vorhalle, durch welche Bach zu diesem gelangte; ohne den Werth seiner einzelnen Bestandteile anzutasten, muß man das Musikalische Opfer als Ganzes doch als eine Studie ansehen, durch welche dem Meister der Wille zu dem zweiten, größeren Werke erstarkte. Ein Theil desselben erschien im Juli 1747, zwei Monate nachdem Bach in Potsdam vor König Friedrich II. gespielt hatte. Das Thema, welches ihm damals der König selbst zur Durchführung gab, beschloß Bach zum Mittelpunkt einer Anzahl gründlich ausgeführter, kunstvoller Compositionen zu machen, da ihm, wie er sagte, seine Improvisation über dasselbe nicht so hatte gerathen wollen, wie das ausdrucksvolle Thema es verdiente. Der Name »Musikalisches Opfer« stammt daher, weil er sie dem Könige widmete145. Das Werk, welches ebenso stückweise componirt wie gestochen wurde, enthält eine dreistimmige und eine sechsstimmige Fuge, acht Canons, eine canonische Quintenfuge, eine viersätzige Sonate und einen zweistimmigen Canon über einem freien Continuo. Alles ist mehr oder weniger aus einem und demselben Thema entwickelt.
[671] Die dreistimmige und sechsstimmige Fuge hat Bach beide als Ricercare bezeichnet. Bei letzterer erscheint der Name sofort schon deshalb berechtigt, weil es ein unerhörtes Unterfangen war, allein für Clavier ohne Pedal eine strenge sechsstimmige Fuge zu setzen. Bach wäre auf den Gedanken auch wahr scheinlich nicht gekommen, hätte nicht König Friedrich seiner Zeit in Potsdam von ihm eine sechsstimmige Fuge ex tempore zu vernehmen gewünscht. Damals hatte Bach dem König nur über ein passendes selbstgewähltes Thema gewillfahrtet. Hier wollte er zeigen, daß er auch das gegebene, wennschon weniger geeignete Thema sechsstimmig zu behandeln vermöge. Ein solcher Satz bedingt, zumal wenn er nur von zwei Händen ausgeführt werden soll, natürlich ein dichtes Stimmengewebe. Vergleicht man indessen die Cis moll-Fuge des ersten Theils des Wohltemperirten Claviers, welche wenn auch nicht sechs, so doch wenigstens fünf Stimmen obligat beschäftigt, und bemerkt wie auffällig viel durchsichtiger sie ist, als die Fuge des Musikalischen Opfers, so scheint es, daß Bach die sechs Stimmen absichtlich fast immer hat zugleich arbeiten lassen. Und die virtuose Lösung dieser Aufgabe ist ein zweites, wodurch das Stück den Namen Ricercar verdient. Anderweitige Künstlichkeiten, besonders prägnante Contrapunkte, geistreiche motivische Entwicklungen sind nicht darin. Ein alterthümlicher Zug, der durch Anwendung des Tempus imperfectum noch verstärkt wird und sich mit der grandiosen Harmoniefülle wohl verträgt, andrerseits eine das Ganze durchziehende kühne Chromatik sind die beiden Gegensätze, aus deren Mischung der eigenthümliche Gehalt des gewaltigen Werkes sich bildet146.
Viel weniger scheint die dreistimmige Fuge dem Wesen eines Ricercars zu entsprechen. Es ist eine einfache Fuge mit ziemlich weitläufigen Zwischensätzen, in denen aber nur der chromatische Theil des Themas eine gründlichere motivische Entwicklung erfährt, und von verhältnißmäßig geringem contrapunktischen Reichthum. Die zum Thema von T. 61–66 gesellten Gegenmelodien werden an nicht weniger als drei Stellen mit demselben wiederholt, [672] zweimal allerdings im doppelten Contrapunkt der Octave versetzt. Die Stelle T. 38–52 kehrt T. 87–101 fast Note für Note in einer andern Tonart wieder, desgleichen 66–71 von 81–86. Auch die Zwischensätze an sich sind zum Theil befremdend. Jene plötzliche Triolenbewegung, die mit T. 38 erscheint, nach vier Takten einem andern, stark contrastirenden Zwischensatze Platz macht, sich bald ganz verläuft, und auch später zu keiner ihrer Auffälligkeit entsprechenden Ausnutzung gelangt, müßte man vom Standpunkt Bachscher Fugenkunst aus fast für unorganisch erklären. Ebenso den Zwischensatz T. 42–45; ebenso die mit T. 108 beginnende Stelle bis zum Eintritt des chromatischen Achtelmotivs; ebenso endlich den Schluß. Wir werden uns hüten, den Meister meistern zu wollen, glauben aber vollberechtigt zu sein, diese seltsamen Erscheinungen auf die Einwirkung äußerer Umstände zurückzuführen. Wenn man bemerkt, wie der Gedanke T. 42 f.:
im ersten Allegro der Sonate wiederkehrt (s. T. 48 ff. in der Flöte, 69 ff. in der Violine u.s.w.) wie die Stelle von T. 108 an auf das Andante vorbereitet, so möchte man meinen, Bach habe der Fuge absichtlich einen leichteren, praeludienartigen Charakter gegeben. Jedoch es ist nicht erwiesen, daß er bei Composition derselben schon an die Sonate gedacht hat. Denn anfänglich überreichte er dem Könige nichts weiter, als diese dreistimmige Fuge, sechs Canons und die canonische Fuge. Wahrscheinlicher ist es deshalb wohl, daß er bei der Ausführung auf die von ihm in Potsdam improvisirte Fuge Rücksicht nahm, da sie dem Könige sehr gefallen hatte, und daß er mehr von seinen augenblicklichen Einfällen in ihr beibehielt, als ihm unter andern Umständen zulässig gedünkt hätte. Jedenfalls erscheint es durchaus begreiflich, daß Bach sich mit diesem »Opfer« noch nicht genug gethan zu haben glaubte, sondern der ersten Gabe in dem sechsstimmigen Ricercar, der Sonate und noch drei Canons eine zweite, gewichtigere folgen ließ.
Von den Canons hat Bach fünf nebst der canonischen Fuge auf einen besondern Bogen drucken lassen und durch die gemeinsame Überschrift Canones diversi super Thema Regium gekennzeichnet. [673] Außerdem versah er sie mit der spielenden Inhaltsangabe:Regis Jussu Cantio Et Reliqua Canonica Arte Resoluta, d.h. Das vom König gegebene Thema nebst den Zusätzen auf canonische Weise entwickelt. Liest man die Anfangsbuchstaben der Worte zusammen, so hat man wieder Ricercar. Dem vierten Canon, der in vergrößerter Gegenbewegung sich entwickelt, hat Bach in dem noch erhaltenen Dedications-Exemplare beischreiben lassen: Notulis crescentibus crescat Fortuna Regis (wie hier die Noten wachsen, so wachse des Königs Glück). Neben dem fünften, einem Cirkelcanon, der durch ganze Töne aufsteigend modulirt, findet sich die Bemerkung: »Ascendenteque Modulatione ascendat Gloria Regis (und wie die Modulation höher steigt, so steige auch der Ruhm des Königs). In diesen netten symbolischen Spielereien, die unzweifelhaft vom Componisten selbst ersonnen sind, lebt etwas vom Geiste der niederländischen Contrapunktisten wieder auf. Die Auflösungen der Canons hat Bach selbst angezeigt. Der erste ist zweistimmig und krebsgängig, das Thema liegt in den canonisch geführten Stimmen selbst. Die übrigen sind zwar auch zweistimmig, bilden aber zugleich die Contrapunktirung zu dem als Cantus firmus eingeführten Thema, so daß ein dreistimmiger Satz entsteht. Fern jener phantasielosen Klügelei, die sich auf dem Felde des Canons mit Vorliebe erging, entwickeln diese kleinen Stücke ebensoviel Scharfsinn als Geist und charakteristische Empfindung. Trotz staunenswerther Künstlichkeit finden sich doch nur wenige schnell vorübergehende Härten147. Ein prägnanteres, interessanteres Bildchen, als der im französischen Stile geschriebene Canon per augmentationem, contrario motu, existirt in dieser Gattung sicher nicht. Auch die dreistimmige canonische Fuge ist ein bewunderungswürdiges, mit spielender Leichtigkeit entwickeltes Meisterstück. Welches Instrument zu den beiden Clavierstimmen[674] die oberste dritte Stimme ausführen soll, hat Bach anzugeben unterlassen; wahrscheinlich eine Flöte.
Die drei übrigen Canons stehen, wohl nur aus typographischen oder andern äußerlichen Gründen, der eine hinter der dreistimmigen, die andern beiden hinter der sechsstimmigen Fuge. Die Auflösung dieser letzteren – eines zweistimmigen und ein vierstimmigen, ohne Cantus firmus – hat Bach nicht angedeutet, sondern durch ein »Suchet, so werdet ihr finden,«(quaerendo invenietis) den Spieler oder Leser auf seinen eignen Scharfsinn verwiesen. Im vierstimmigen folgen sich die Einsätze je nach sieben Takten, der Eindruck dieser verwegensten Chromatik streift ans Abstruse148. Bei dem zweistimmigen setzt der Bass als zweite Stimme mit dem zweiten Viertel des vierten Taktes in strengster Gegenbewegung ein. Der Canon ist übrigens so eigenthümlich beschaffen, daß sich auch bei dem entgegengesetzten Verfahren: wenn der Bass mit der Gegenbewegung beginnt, und der Alt mit der rechten Bewegung auf dem zweiten Viertel des vierten Taktes nachfolgt, ein richtiger Satz ergiebt. Und wiederum kann man sogar den Bass mit dem zweiten Viertel des vierzehnten Taktes nachfolgen lassen. Doch ist die erste der drei Auflösungen die von Bach gewollte149.
Nicht weniger Geist, dabei aber auch warme, reich ausströmende Empfindung zeigt die Sonate in üblicher viersätziger Form. Das Largo beschäftigt sich mit dem Thema noch nicht ernstlich, sondern praeludirt gleichsam nur über den charakteristischen Septimenschritt desselben (s. Takt 4 im Continuo, T. 13 und 14 in Flöte und Violine u.s.w.). In dem fugirten Allegro aber tritt das Thema nach und nach in allen Stimmen mit sehr schöner Wirkung als Cantus firmus auf; das eigentliche Fugenthema des Satzes bildet zu ihm das erste, und an manchen Stellen jener aus dem dreistimmigen [675] Ricercar wieder aufgenommene Gang das zweite Contrasubject. Das schwärmerische Andante phantasirt vorzugsweise über Motive aus dem dreistimmigen Ricercar, doch taucht mehre Male auch der Anfang des Themas deutlich empor. Im Final-Allegro erscheint das Thema genial umgebildet im Sechsachteltakt und entwickelt sich daraus zu einer lebensprühenden Fuge150. Und als ob die Combinationskraft des Componisten unerschöpflich wäre, bringt er nach der Sonate nochmals einen, diesesmal weit ausgeführten Canon. Er ist zweistimmig mit Generalbass und in strengster Gegenbewegung durchgeführt, welche anfänglich von der Oberquinte, später von der Unterquinte aus erfolgt. Ganz am Schlusse hat sich Bach den Spaß gemacht, das Thema auch noch im Continuo anzubringen.
Das allumfassende Combinationsvermögen, der auf den tiefsten Grund dringende harmonische Scharfsinn und die urkräftige Phantasie, welche auch in der größten Beschränkung ihre volle Lebendigkeit bewahrt, machen für alle Zeiten das Musikalische Opfer zu einer eminenten Erscheinung im Gebiete des strengen Satzes. Ein einheitliches Ganze aber ist es schon deshalb nicht, weil es für die einzelnen Theile verschiedene Ausführungsorgane voraussetzt. Die beiden ersten Fugen sind Claviermusik, auch einige Canons sind für Clavier gedacht, oder lassen sich doch auf ihm ausführen. Für andre sind Streichinstrumente erforderlich und theils auch vorgeschrieben, die canonische Fuge setzt Clavier und eine Flöte (oder Violine) in Thätigkeit, die Sonate und der Schlußcanon sind für Clavier, Violine und Flöte geschrieben, wohl mit Rücksicht darauf, daß König Friedrich selbst Flöte blies. Ein zusammengewürfelter, bunter Haufen, stückweise zu Stande gebracht, um einen und denselben Gedanken in möglichst verschiedenen Ausführungen zu zeigen. Von einer höheren Idee, alle diese kunstvollen Einzelbilder zur künstlerischen Einheit zusammen zu fassen, hat Bach dieses Mal abgesehen. Deshalb kann man das Musikalische Opfer als Ganzes eben nur eine Studie für Größeres nennen, eine halb abstracte Leistung, bei deren Werthschätzung die technischen Gesichtspunkte in den Vordergrund treten.
[676] Anders liegt die Sache bei dem zweiten Werke, der »Kunst der Fuge«. Die Idee, aus einem einzigen Thema durch Anwendung aller Mittel des strengen Contrapunkts ein großes, vielsätziges und einheitliches Kunstwerk zu entwickeln, war hier zur Vollendung gebracht. Nur der Zufall hat es verhindert, daß des Meisters Werk, wie er es bei sich abgeschlossen hatte, auch auf die Nachwelt kommen konnte. Der Hauptsache nach haben wir uns die »Kunst der Fuge« im Jahre 1749 componirt zu denken. Als Bach dann das Werk in Kupfer stechen lassen wollte, überarbeitete er sein Manuscript und vervollständigte es. Der größere Theil war unter seiner Aufsicht schon gestochen, da erreichte ihn in der Mitte des Jahres 1750 der Tod. Die Hinterbliebenen waren gegenüber dem Rest des Manuscripts, wie er sich in des Meisters Nachlaß vorfand, nicht genügend unterrichtet; die erwachsenen Söhne waren fern, die Vollendung der Ausgabe gerieth in sachunkundige Hände, welche Entwurf und Ausführung, Original und Arrangement, Zugehöriges und ganz Fremdes in wüster Unordnung auf die Kupferplatten brachten. In dieser Gestalt ging das Werk in die Öffentlichkeit hinaus. Indessen läßt sich noch erkennen, was als nicht für das Ganze bestimmt aus dem Haufen auszusondern ist, wenngleich über die von Bach geplante Anordnung der letzten Theile des Werkes Unsicherheit zurück bleiben muß. Durch Miß- oder Unverständniß geriethen in die Ausgabe ein älterer Entwurf zum zehnten Stücke, ferner eine Fuge mit drei Subjecten, an welcher Bach kurz vor seinem Tode arbeitete, die aber mit diesem Werke gar nichts zu thun hat, und endlich zwei Fugen für zwei Claviere. Die letzteren sind Arrangements jener beiden dreistimmigen Fugen, deren zweite die erste in allen Stimmen umgekehrt zeigt, und welche zum Theil sehr schwer, je nach Bachscher Art gar nicht zu spielen sind, da die Stimmen manchmal soweit auseinander liegen, daß das Gleichzeitige nur sprungweise erreicht werden kann. Um diese Augenmusik auch dem Gehöre zugänglich zu machen, hat Bach die Fugen in der Weise übertragen, daß ein Clavier zwei Stimmen, das andre die dritte und außerdem eine frei hinzucomponirte spielt. Ein paar freie Zusätze sind auch jedesmal noch beim Beginn der Fugen gemacht. Die hinzugefügte neue Stimme bezeugt wieder Bachs enorme Geschicklichkeit für solche Einrichtungen. Das Resultat aber hat [677] als Kunstwerk nur zweifelhaften Werth, und war für das Gesammtwerk keinesfalls bestimmt, da es die Idee des Componisten, eine Fuge mit lauter umzukehrenden Stimmen zu schreiben, zerstört zeigt, und auch schon durch die Einführung eines zweiten Claviers aus dem Stil des Ganzen herausfällt151.
Nach Ausscheidung dieser anorganischen Elemente erhalten wir ein Werk von 15 Fugen und 4 Canons über ein und dasselbe Thema in D moll. Die einfache, Doppel- und Tripel-Fuge, Fugen über melodische und rhythmische Umbildungen des Themas, Fugen in Engführung, mit Beantwortung in der Gegenbewegung, sowohl in gleichen Notenwerthen, als in Verkleinerung und Vergrößerung, Fugen im doppelten Contrapunkt der Octave, Duodecime und Decime, endlich Fugen, in welchen alle drei und vier Stimmen und zwar in verschiedenen Stellungen zu einander umgekehrt werden, daneben zweistimmige Canons in der vergrößerten Gegenbewegung und den drei gebräuchlichen Arten des doppelten Contrapunkts ziehen an uns vorüber. Es sind Formen von den einfachsten an bis zu den denkbar schwierigsten, wie sie selbst Bach in seinem Leben noch nicht ausgeführt hatte. Wenn wir auch nicht sicher wissen, ob der Titel »Kunst der Fuge« von Bach selber herstammt, so trägt das Werk doch deutliche Zeichen genug, daß es einem lehrhaften Zwecke dienen sollte. Dies zeigt sich schon ganz äußerlich darin, daß es in Partitur gesetzt ist, und die Stücke nicht Fugen, sondern mit Beziehung auf die Schule Contrapunkte genannt sind. Aber man würde doch sein Wesen ganz mißverstehen, wollte man in ihm [678] etwa ein Lehrbuch der Fuge in Exempeln und nicht vielmehr ein echtes Kunstwerk erkennen. Die Aussicht belehrend wirken zu können weckte bei Bach die künstlerische Begeisterung. Niemals hat er vorzüglicheres geleistet, als wenn er sich vornahm, durch sein Beispiel zur Förderung der Kunstjünger beizutragen. Auch bei dem Orgelbüchlein, den Inventionen und Sinfonien, dem ersten Theile des Wohltemperirten Claviers trat uns dieser in seiner Schlichtheit so großartige Charakterzug entgegen. Der praktischpädagogische Zweck und die freie künstlerische Absicht durchdringen sich hier auf der höchsten Stufe ihres Wesens so sehr, daß fast nirgends Spuren eines Compromisses sichtbar werden, in dem zu Gunsten des einen Factors von den höchsten Anforderungen des andern etwas nachgegeben wäre. Unter beiden Gesichtspunkten hat man ein hochvollkommenes Werk vor sich. Wer vorzugsweise Belehrung sucht, wird sich zunächst an die einzelnen Theile halten. Er wird die unvergleichliche Gewandtheit der Stimmenverbindung studiren und jene ans Fabelhafte gränzende harmonische Fülle und Vielseitigkeit, welche wohl einmal zu der Behauptung verführen konnte, Bach habe alle Möglichkeiten der Harmonie erschöpft und nach ihm gäbe es hierin nichts neues mehr zu sagen. Die Betrachtung des Werkes als freier Kunstschöpfung hat vom Ganzen und dem durch das Ganze hervorgerufenen Eindrucke auszugehen. Es unterscheidet sich von den beiden Theilen des Wohltemperirten Claviers, auch von den Inventionen und Sinfonien wesentlich durch den tiefen Ernst seiner Grundstimmung. Eine scheinbar größere Einförmigkeit in der Charakteristik der Theile, ein tiefer in sich zurückgezogenes Leben, das besonders in den ersten Fugen den Hörer überkommt, wie die feierliche Ruhe der Winternacht. Auch das Thema, das man mit Unrecht nur musikalisch brauchbar, an sich aber unbedeutend genannt hat, ist von dieser Stimmung durchtränkt. Die innere Fortbewegung erfolgt in großen, majestätischen Gruppen. Von den schon erwähnten vier Fugen wird die erste Gruppe gebildet. Auch in ihr kann man eine Steigerung deutlich wahrnehmen. Die zweite Fuge contrastirt mit der ersten durch einen etwas belebteren Contrapunkt; die dritte führt das vermittelst Gegenbewegung umgestaltete Thema durch, welches nun mit einemmale einen tief sehnsuchtsvollen Charakter offenbart. Diesen spinnt [679] die vierte Fuge in breiteren Verhältnissen weiter und steigert ihn von Takt 61 an zu ergreifender Stärke. Aus der fünften, sechsten und siebenten Fuge besteht die zweite Gruppe. Im Gegensatz zu der ersten ist sie über eine Umbildung des Themas ausgeführt, welche namentlich durch ihren Rhythmus wirkt, und läßt das Thema in verschiedenen Zeitwerthen im doppelten Contrapunkt mit sich selbst combinirt erscheinen. Die hierdurch hervorgerufene Belebtheit erhöht Bach in der sechsten Fuge durch Anwendung der Rhythmen des französischen Ouverturenstils und treibt sie in der siebenten Fuge, welche das Thema in natürlicher, verkleinerter und vergrößerter Gestalt zugleich bringt, bis an die Gränze des Beunruhigenden. Der Entwicklungsfortschritt der zweiten Gruppe ist vergleichsweise mehr im Äußerlichen gelegen. In der dritten (Fuge 8–11) wirken äußere und innere Factoren zusammen, den Höhepunkt zu erreichen. Dem Hauptgedanken gesellen sich jetzt selbständige, gegensätzliche Themen. Die achte Fuge beginnt sofort mit einem solchen: schlangengleich gewunden gleitet es ruhig fort, von schärfster Eigenthümlichkeit ist sowohl die rhythmische Gestaltung wie die melodische. Nachdem es sich in eigner Durchführung ersättigt hat, tritt ein zweites aufgeregt pulsirendes Thema von gleicher rhythmischer und melodischer Bedeutsamkeit ihm entgegen. Eine Doppelfuge erwächst, in der das seltsame Klopfen allmählig zum nervösen Hämmern und die aufgeregte Bewegung zum Ungestüm ausartet. Nun erst, nach Wiederkehr der anfänglichen Ruhe, tritt der Hauptgedanke hervor um zunächst allein fugirt zu werden. Aber durch Viertelpausen zerschnitten trägt er auch seinerseits den Ausdruck tief innerer Erregtheit. Die andern Themen vereinigen sich dann mit ihm und es entwickelt sich mit noch eindringenderen Mitteln abermals jene fortreißende Affectssteigerung. Eine Tripelfuge zu drei Stimmen und 188 Takte lang. Die folgende vierstimmige Fuge hat nur ein Gegenthema, das aber durch seine Versetzung im Contrapunkt der Duodecime wie für zwei wirkt, wenn es auch in beiden Lagen gleichzeitig nicht auftreten kann. Mit wildem Sprunge ansetzend stürmt es unaufhaltsam fort, aber feierlich und groß zieht in verdoppelten Notenwerthen das Hauptthema seine Bahn. Auch in der zehnten Fuge, die im Contrapunkt der Decime componirt ist, erscheint nur ein Gegenthema.[680] Die mild hinfließende Weise derselben besänftigt auf das Vorhergegangene und befähigt zur vollen Aufnahme der letzten Fuge, welche in vierstimmigem Satze die drei Themen der achten Fuge von neuem durcharbeitet, ihren Ausdruck bis zum Unerhörten steigert und ihren harmonischen Gehalt bis auf den letzten Tropfen aussaugt. Diese cyklisch geschlossene Gruppe offenbart den Meister in jener unheimlichen Größe, die wir an keinem andern Tonkünstler außer ihm kennen. Sie beweist zugleich aufs deutlichste, wie sehr er auch in diesem Werke bedacht war, nach rein künstlerischen Principien zu gestalten. Zur vierten Gruppe einigen sich die beiden letzten Fugenpaare. Technisch angesehen zeigen sie Bach auf einer schwindelnden Höhe. Wo für alle andern die Lebensbedingungen aufhören würden athmet er gleich leicht und frei. Die Form-Beschränkungen, denen er sich unterwirft, dienen ihm eben dazu, den Sätzen ihren eignen Kunstcharakter zu geben. Die ernste Ruhe des Anfangs ist wiedergekehrt, aber sie hat sich zu einem Ausdrucke erhoben, der mit dem Worte »grandiose Kälte« treffend bezeichnet worden ist152. Bachs letzten Willen in Betreff der Anordnung der Sätze wissen wir nur bis zur elften Fuge. Indessen ist füglich anzunehmen, daß er von den beiden letzten Paaren das dreistimmige dem vierstimmigen vorangehen lassen wollte153. Wie er die 4 Canons den Fugen hat angesschlossen wissen wollen, ob sie als Intermezzo nach der dritten Gruppe eingefügt, oder dem Ganzen nur als interessanter Anhang beigegeben werden sollten, darüber hat des Meisters vorzeitiger Tod seinen undurchdringlichen Schleier geworfen. Mir erscheint es kaum glaublich, daß Bach den großartigen Aufbau, wie er sich in der Fugenfolge offenbart, durch eine Anzahl von engeren Formen hätte unterbrechen wollen, welche, obgleich sehr geistreich und kunstvoll, doch auch an jenem Mißverhältniß zwischen Ideengehalt und Material leiden, das wir schon bei zweien der Clavierduetten bemerkten, und die deshalb nicht wohl geeignet sind den harmonischen Eindruck der Fugenfolge zu erhöhen.
Die beiden Theile des Wohltemperirten Claviers durften wir als Kunstganze betrachten, wiewohl auch jede einzelne Fuge derselben [681] sei es ohne, sei es mit Praeludium einen befriedigenden Eindruck macht. Bach selber sah sie als solche an, da er sich zuweilen gestimmt fühlte, sie von Anfang bis zu Ende in einem Zuge vorzutragen154. In viel höherem Grade aber muß die Kunst der Fuge als eine geschlossene Einheit gelten. Nicht nur deshalb weil in allen Fugen dasselbe Thema herrscht. Hierbei wäre immer noch eine Behandlungsweise denkbar, die eine jede auf sich selbst gestellt erscheinen ließe; bei Schumanns sechs Fugen über den Namen Bach wird so leicht niemand an eine innere Zusammengehörigkeit denken. Aber in der Kunst der Fuge werden die einzelnen Theile auf einander bezogen und sind nur durch einander völlig zu verstehen. Wie die Wirkung eines im doppelten Contrapunkt geschriebenen Stückes davon abhängt, daß der Hörer die beiden Lagen, in welcher ein Gedanke gegenüber einem andern auftreten kann, als eine Einheit empfindet, die zugleich eine Zweiheit ist, ebenso tritt die Bedeutung der einzelnen Fugen dieses Werkes nur dann in das richtige Licht, wenn man die verschiedenen Abwandlungen, in welchen sich das Thema zeigt, seine verschiedenartigen Gegensätze und die hieraus gewonnenen abgerundeten Bilder sowohl mit der Grundgestalt des Themas selbst und der aus ihr entwickelten einfachsten Fugenform, als auch unter einander vergleicht. Es ist hiermit nicht die verstandesmäßige, sondern die empfindende Vergleichung gemeint; allerdings bedarf es, um sie in einer so umfassenden Weise auszuüben, einer höheren und besonderen musikalischen Bildung. Aber es wird, um nur ein Beispiel herauszuheben, bei der siebenten Fuge, wo das Thema in gerader und verkehrter Bewegung, in natürlicher, verkleinerter und vergrößerter Gestalt verarbeitet wird, schon kaum möglich sein, nur die Beziehungen der Stimmen zu einander zu verstehen, wenn das Ohr nicht durch die vorhergehenden einfacheren Combinationen vorbereitet und mit den Hauptgedanken gründlich vertraut geworden ist. Ebenso wird man nur unter dieser Voraussetzung die innere Berechtigung zur Anwendung so überaus künstlicher Formen zugestehen wollen. Dieses letzte Werk Bachs ist im Grunde nur eine einzige Riesenfuge in fünfzehn Abschnitten. Es wird daher auch in viel engerem Sinne, [682] als die beiden Theile des Wohltemperirten Claviers, von einer Grundstimmung getragen. Jeder Abschnitt muß für sich den Eindruck des Fragmentarischen machen, und aus diesem Umstande ist es gewiß zum großen Theile zu erklären, daß auch nicht eine Fuge des wunderbar gewaltigen Werkes sich nur soweit bei der Nachwelt hat einbürgern können, wie die leichtest wiegende Fuge des Wohltemperirten Claviers. Es aber als Ganzes aufzunehmen, dazu haben wie es scheint nicht allzu viele die Kraft und Neigung gehabt. Bei dem Zustande halber Verschüttung, in dem es sich seither befand, war dies auch äußerlich erschwert, und so ist es gekommen, daß eine Composition von unvergleichlicher Kunstvollendung und unermeßlicher Empfindungstiefe, trotzdem sie als Bachs letzte große Arbeit stets mit besonderer Ehrfurcht genannt wurde, doch dem Leben des deutschen Volkes fast fremd geblieben ist.
Der Stich der Originalausgabe war ziemlich geschmacklos, plump und fehlerhaft ausgefallen155. Emanuel Bach übernahm den Vertrieb, in der Erwartung eines großen und schnellen Absatzes sah er sich aber getäuscht. Er setzte deshalb den Preis von fünf Thalern auf vier herab und veranlaßte F.W. Marpurg in Berlin, anstatt der kurzen Nachricht, die man dem Werke wegen seiner vermeintlichen Unvollständigkeit vorausgeschickt hatte, einen ausführlicheren Vorbericht zu schreiben. Mit ihm versehen präsentirte sich die Kunst der Fuge zuerst in der Leipziger Ostermesse 1752. Aber der Erfolg war auch jetzt nur ein mäßiger. Als Emanuel Bach bis zum Herbst 1756 nicht mehr als ungefähr 30 Exemplare verkauft hatte, gab er die Sache auf und bot die Kupferplatten »für einen billigen Preis« öffentlich aus156. Breitkopf verhandelte im Jahr 1760 das [683] Exemplar wieder zu einem Louisd'or (= 5 Thaler)157. Trotz der geringen Abnahme stand indessen die Meinung über den Werth des Werkes alsbald fest. Die wenigen, die es kennen lernten, waren competente Beurtheiler. Unter den ersten Käufern befand sich Mattheson, der bis ins hohe Alter für alle bedeutenden Neuigkeiten eine seltene Frische und Empfänglichkeit behielt. »Joh. Sebast. Bachs so genannte Kunst der Fuge«, schreibt er,«ein praktisches und prächtiges Werk von 70 Kupfern in Folio, wird alle französische und welsche Fugenmacher dereinst in Erstaunen setzen; dafern sie es nur recht einsehen und wohl verstehen, will nicht sagen, spielen können. Wie wäre es denn, wenn ein jeder Aus- und Einländer an diese Seltenheit seinen Louisd'or wagte? Deutschland ist und bleibet doch ganz gewiß das wahre Orgel- und Fugenland«158. –
Bachs Schaffenstrieb ruhte auch nach Vollendung der Kunst der Fuge nicht. Er machte sich daran, eine Clavierfuge in den allergrößesten Verhältnissen zu componiren, von deren drei Themen das letzte seinen eignen Namen darstellt. Er hat dies Werk nur bis zum 239. Takte ausgeführt, wenigstens uns nicht mehr davon hinterlassen, und Em. Bach berichtet, sein Vater sei über der Ausarbeitung gestorben. Es ist dasselbe Werk, welches durch Mißverständniß in die Originalausgabe der Kunst der Fuge gerieth159. Da das Fragment nur bis an den Beginn der Combination aller drei Themen reicht, so dürften in ihm auch nur etwa drei Viertel des beabsichtigten Ganzen vorliegen, und man kann daraus sehen, in welch kolossalen Dimensionen die Fuge concipirt war. Die Stimmung ist feierlich ernst, ähnlich wie in der Kunst der Fuge; was voraussetzt, daß ihr entsprechend damals Bachs allgemeine Gemüthsverfassung [684] war. Trotz der langen Reihe musikalischer Ahnen, deren Bach sich rühmen konnte, war doch ihm die Entdeckung vorbehalten geblieben, daß selbst der Name seines Geschlechts sich in Musik auflösen lasse. Hernach ist die melodisch eigenthümliche und harmonisch vieldeutige Tonreihe von Bachs Söhnen und Schülern, von ferner stehenden Bewunderern und späteren Nachfolgern bis auf unsere Zeit ungezählte Male zu Fugen und Canons benutzt worden. Ein allbekanntes Praeludium und Fuge über den Namen Bach aus B dur, bei dem Sebastians Autorschaft lange Zeit als selbstverständlich galt, will man jetzt allgemein dem Meister absprechen160. Handschriftlich beglaubigt ist das Stück freilich nicht, auch existiren noch mehre andre Fugen über dasselbe Thema, für welche zu Zeiten Seb. Bach als Componist in Anspruch genommen wurde. Forkel fragte einmal Friedemann Bach, wie es sich hiermit in Wahrheit verhalte. Dieser antwortete, sein Vater sei kein Narr gewesen; nur in der Kunst der Fuge habe er seinen Namen als Fugenthema benutzt161. Das klingt sehr entschieden, und ist doch in doppelter Beziehung falsch. Was die Kunst der Fuge betrifft, so wissen wir nunmehr, daß das von Friedemann gemeinte Stück garnicht hinein gehört. Daß aber Sebastian lange vorher schon eine Composition über seinen Namen geschrieben haben muß, verräth uns Walther. Er sagt in dem kleinen Artikel seines Lexicons über Sebastian Bach: »Die Bachische Familie soll aus Ungarn her stammen, und alle die diesen Namen geführet haben, sollen so viel man weiß der Musik zugethan gewesen sein; welches vielleicht daher kommt, daß sogar auch die Buchstaben à ā Q in ihrer Ordnung melodisch sind. (Diese Remarque hat den Leipziger Herrn Bach zum Erfinder)«. Niemand wird glauben, Bach habe sich mit der bloßen Beobachtung begnügt, und die so sehr brauchbare Tonreihe nicht auch sofort als Thema ausgenutzt. Walthers Lexicon erschien 1732; seine Kenntniß von Bachs Compositionen stammt aber fast ausschließlich aus der gemeinsam verlebten weimarischen Zeit, und vorzugsweise wohl aus der ersten Hälfte derselben162. Ihrer inneren [685] Beschaffenheit nach muß die in Rede stehende Fuge in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts entstanden sein. Wäre Bach nicht ihr Schöpfer, so ständen wir vor der seltsamen Thatsache, die Fuge eines unbekannten Musikers aus jener Zeit, und zwar eine vortreffliche, zu besitzen, während des berühmtesten Fugenmeisters eignes Werk verloren gegangen wäre. Stichhaltige innere Gründe gegen die Echtheit lassen sich meines Erachtens nicht vorbringen, sobald man daran festhält, daß die Fuge nur ein Jugendwerk sei. Dem Praeludium hat die französische Ouverture als Muster gedient, deren Form Bach schon in Weimar häufiger anwandte. Stellen wie Takt 8 ff. finden im Präludium der großen D dur-Orgelfuge163 Analogien. Das Fugenthema in seiner Weiterbildung ist durchaus Bachisch: die Wendungen des zweiten Takts kehren im Thema der H moll-Fuge aus dem ersten Theil des Wohltemperirten Claviers wieder, im »Kleinen harmonischen Labyrinth« finden sie sich sogar mit derselben Contrapunktirung164. Terzengänge mit aufwärts steigender Wiederholung sind der Compositionstechnik jener Zeit, für die noch Kuhnaus Claviermusik maßgebend war, etwas ganz geläufiges; die virtuosenhafte Unterbrechung gegen den Schluß ist eine Stileigenthümlichkeit der nordländischen Meister, deren Einwirkung sich damals Bach noch nicht entzogen hatte. Das ganze jugendlich frische, wohlklingende und spielfreudige Stück paßt zu dem Charakter von Bachs früheren weimarischen Compositionen. Von den übrigen anonym cursirenden Fugen über den Namen Bach tragen die meisten den nicht-Bachischen Ursprung deutlich aufgestempelt. Nur eine:
hat einen ältlichen Zug und erinnert an Buxtehudes größere C dur-Fuge165. Sie könnte daher auch wohl von Seb. Bach sein, und [686] müßte noch früher als die andre, etwa um 1707 angesetzt werden. Hat aber Walther eine derselben gekannt, was ich annehme, so war es gewiß nicht diese, sondern jene; es darf darauf hingewiesen werden, daß er das Thema in der eingestrichenen Octave notirt, nicht in der kleinen. –
Auch ohne sich dessen zu erinnern, was am Ausgange der Darstellung von Bachs weimarischer Periode gesagt wurde, wird der Leser erwarten, daß auf Orgelcompositionen noch einmal die Rede komme. Wenn Bach auf den übrigen Feldern instrumentaler Musik in Leipzig die Arbeit nicht einstellte, wie viel weniger konnte dieses auf dem Orgelgebiete geschehen, das seine älteste und eigentlichste Domäne war. Überdies steht die Orgelmusik zu Cantaten, Passionen, Motetten und Messen in nächster Beziehung, in sofern sie wie diese der Kirche dient. Eine vorzugsweise in kirchlicher Musik sich bethätigende Schöpferkraft mußte immer wieder auch auf sie geführt werden. Wirklich offenbart sich zwischen den concertirenden Compositionen und den Orgelwerken, welche Bach in Leipzig schrieb, ein Gemeinsames. In der ersten Periode, da hinsichtlich der Cantaten die freie Mannigfaltigkeit der Formen überwiegt, herrschen auch in der Orgelmusik die selbständigen Formen vor. In der zweiten Periode tritt entschieden die Choralcantate in den Vordergrund, hier ergiebt sich auch der Instrumentalcomponist überwiegend dem Orgelchoral.
Im Ganzen aber ist, wie begreiflich, die Zahl der Leipziger Orgelstücke im Vergleich mit den weimarischen keine große. Nicht durch die Menge, noch auch durch Vielgestaltigkeit, wohl aber durch den Vollgehalt zeichnen sie sich aus. Von den Orgelcompositionen, die Bach in Leipzig vollendete, zweigt sich außerdem noch manches in frühere Perioden hinüber. Zwei Praeludien mit Fugen, aus C moll und F dur, sind ihrem zweiten Theile nach Erzeugnisse seiner früheren Meisterschaft, und hatten ursprünglich vermuthlich andere Vorspiele166. Was Bach ihnen später vorsetzte, ist so überaus gewaltig, daß es die Fugen fast zu Boden drückt. Genauer [687] läßt sich die Entstehungszeit der gigantischen F dur-Toccate – denn diese steht in Rede – und des aus harmonischen und fugirten Perioden wie aus Tutti und Solo sich entwickelnden C moll-Praeludiums nicht angeben. Auch die edle D moll-Toccate und -Fuge, die sogenannte dorische, müssen wir uns begnügen, im allgemeinen nur der mittleren Schaffensperiode Bachs zuzuweisen167. Ein Praeludium mit Fuge aus G dur brachte Bach 1724 oder 1725 zum Abschluß, ein gleiches Werk aus C dur um 1730168. Die Entwürfe derselben reichen aber jedenfalls in die vorleipzigische Zeit zurück. Als Bach in Weimar und Cöthen die Formen der italiänischen Kammermusik für seine Kunst verarbeitete, ist ihm auch der Gedanke gekommen, nach Analogie des italiänischen Concerts eine dreisätzige Orgelform zu schaffen. Voll ausgeführt hat er ihn nur einmal, wie wir annehmen mußten in Weimar169. Die Idee eines Orgelstücks in der Form des ersten Concertsatzes scheint ihm nicht ergiebig genug gewesen sein. Sie macht sich in dem obengenannten großen C moll-Praeludium noch einmal geltend, obgleich sehr modificirt; übrigens aber behauptet sich die Form des thematischen Praeludiums. Nichtsdestoweniger machte Bach in den erwähnten Werken aus G-und C dur den Versuch, wenigstens die Dreisätzigkeit des Concerts festzuhalten, indem er zwischen Praeludium und Fuge dreistimmige, ruhigere Mittelstücke einlegte. Wegen dieses Experiments darf man die erste Conception der beiden Werke in dieselbe Zeit setzen. Endlich aber entfernte er die Mittelstücke wieder, da er sich klar geworden war, das was ihm vorschwebte auf einem andern Wege erreichen zu können. So sind zwei Satzpaare übrig geblieben, die man mit der D moll-Toccate und -Fuge im schönsten Sinne mittleren Charakters nennen kann: ausgereift in der Form, nach keiner Seite hin ein wohlthuendes Maß überschreitend. Eine [688] festliche Stimmung spielt bei der C dur-Composition mehr ins Feierliche, bei der andern ins Freudige hinüber; der Rhythmus des Themas der G dur-Fuge, welches in der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« schon in Moll verarbeitet war, dient dem Praeludium als frei wirkendes Motiv.
Auch die Composition der berühmten großen A moll-Fuge, welche Virtuosität und Gediegenheit in vollkommenster Weise vereinigt, spannt sich augenscheinlich über zwei Lebensperioden170. Die erste Conception des Praeludiums, das Bachs späterer Art entgegen nur ganghaft ist, dürfte wegen gewisser an Buxtehudes Schule erinnernder Eigenthümlichkeiten (T. 22 ff. und 33 ff.) sogar in ziemlich frühe Zeit zurückreichen. Als unmittelbare Früchte der Leipziger Periode lassen sich nur vier große Praeludien und Fugen ansehen. Sie stehen in C dur, H moll, E moll, Es dur, vier Riesengestalten, in welchen das Höchste Gestalt gewann, was Bach auf diesem Gebiete zu geben hatte171. Die C dur-Fuge, deren fünfstimmiger Prachtbau auf dem bürglich kraftvollen Untergrunde des Praeludiums emporsteigt, wie Bachs Künstlergestalt selber aus der breiten Mittelschicht des deutschen Volkes, hat ein Seitenstück in der C moll-Fuge des zweiten Theils des Wohltemperirten Claviers. Bescheidener Art freilich; aber die künstlichen Verschlingungen des Themas in grader und verkehrter Bewegung sind ganz gleicher Art, namentlich auch der späte Eintritt der tiefsten Stimme mit der Vergrößerung, der in der C dur-Fuge mit überwältigender Majestät wirkt. Einen tief elegischen Ton, wie wir ihn so intensiv in Bachs Orgelwerken sonst nicht finden, schlägt er in Praeludium und Fuge aus H moll an. Das feine und dichte Geflecht des Praeludiums führt in romantische Irrgärten, wie sie kein neuer Componist zauberreicher hätte erfinden können. Still und melancholisch [689] sinnend fließt die Fuge hin. Daß Bach diese Stimmung in ein Orgelstück strengsten Stiles bannen und in den größesten Verhältnissen mit gleicher Stärke fortwalten lassen konnte, würde ihn allein schon unvergänglichen Ruhmes würdig machen. Im Gegensatze zu diesem Werke arbeitet in Praeludium und Fuge aus E moll des Meisters ganze großartige Lebensenergie. Eine Composition, bei der die hergebrachten Bezeichnungen nicht mehr ausreichen, die man eine zweisätzige Orgelsymphonie nennen müßte, um unsrer Zeit eine richtige Vorstellung von ihrer Größe und Gewalt nahe zu legen. Das Praeludium zählt 137, die Fuge erstreckt sich auf 231 Takte. Unter den Orgelfugen Bachs ist sie die längste. Von äußerster Kühnheit ist das Thema und doch, wie das Ganze, im höchsten Grade stilvoll. Die Composition muß zwischen 1727 und 1736 geschehen sein172. In die ersten Jahre der letzten Lebensperiode gehören Praeludium und Fuge aus Es dur, welche um 1739 im dritten Theil der Clavierübung veröffentlicht wurden. Sie bilden den Ein- und Ausgang dieser Sammlung, die eigentlich nur Orgelchoräle enthalten sollte. Obgleich also räumlich getrennt gehören sie doch innerlich zusammen; man erkennt es an dem mild-prächtigen Charakter, welcher beiden gemein ist, auch an der hier wie dort herrschenden Fünfstimmigkeit, außerdem hat Forkel nach Mittheilung von Bachs Söhnen die Zusammengehörigkeit ausdrücklich bezeugt173. Das weit ausgebaute Praeludium müßte man der Toccatengattung zuzählen. Jedoch ist in den nicht fugirten Partien ein eigenthümlicher Zug, der auf Emanuel Bachs und Haydns Claviermusik hinüberdeutet174. Die Fuge dagegen zeigt merkwürdiger Weise die mehrtheilige Buxtehudesche Form175; wird das Thema im zweiten und dritten Abschnitte auch fast nur rhythmisch umgebildet, so bewirken doch seine neuen Contrapunkte, daß es ein völlig andres Gesicht erhält. Dieses Werk ist demnach recht eigentlich ein Werk der Mitte: es weist voraus in die Zukunft und greift in eine vergangene Kunstperiode zurück176.
[690] Jene dreisätzige Form, welche Bach vergeblich suchte, als er zwischen Praeludium und Fuge einen contrastirenden Mittelsatz einschob, hat er in den sechs sogenannten Orgelsonaten gefunden. Es sind dies Compositionen, in denen die Formen der italiänischen Kammersonate, wie sie Bach ausbildete, und des Instrumentalconcerts combinirt erscheinen. Sie bilden zu den sechs Violinsonaten mit obligatem Clavier insofern ein Gegenstück, als auch sie streng dreistimmig sind, ja noch strenger wie jene, die wenigstens hier und da Generalbassaccorde zulassen. In den Orgelsonaten führen zwei Manuale je eine Stimme, die dritte ist dem Pedal zugetheilt. Von seiner Kammermusik ausgehend ist Bach zu dieser Form gelangt. Die Musik, welche uns in ihr geboten wird, hält zwischen Orgel- und Kammerstil die Mitte und gehört sich demgemäß auch für ein Instrument, welches diese mittlere Stellung zum Ausdruck bringt. Es ist das Pedalclavier mit zwei Manualen. Die Originalmanuscripte bestimmen sie ausdrücklich dafür und die jetzt übliche Benennung »Orgelsonaten« ist genau genommen unrichtig. Für seine eigentliche Orgelmusik hat Bach sich zwar manches aus der Kammermusik zu Nutze gemacht. Aber er hat davon Abstand genommen, die Formen ohne weiteres und völlig zu übertragen. Wirkliche Orgelsonaten besitzen wir von ihm so wenig, wie Orgelconcerte. Im Gegensatze zu Händel blieb ihm die Orgel endlich doch immer ein kirchliches Instrument. Mit den sechs Sonaten verfolgte er den praktischen Zweck, den ältesten Sohn Wilhelm Friedemann zum Orgelspieler vorzubilden177. Sie entstanden allmählig; der erste Satz der D moll-Sonate fällt um 1722, Adagio und Vivace der E moll-Sonate gehörten anfänglich zur Kirchencantate »Die Himmel erzählen« aus dem Jahre 1723, der letzte Satz desselben Werks und das Largo der C dur-Sonate sollten zuerst Mittelsätze zwischen Orgel-Praeludien [691] und -Fugen aus G dur und C dur sein, und entstammen demnach auch der cöthenischen oder gar weimarischen Zeit (s. oben). Zum Ganzen wurde aber die Sammlung zwischen 1727 und 1733 abgerundet, da in letzterem Jahre Friedemann Bach als Organist in Dresden angestellt wurde; genauer noch darf man wohl die Vollendung bald nach 1727 ansetzen178. Das musikalische Verständniß für diese Sonaten eröffnet sich am leichtesten, wenn man von den erwähnten sechs Violinsonaten ausgeht. An Reichthum schöner Gedanken, interessanter Durchführung, meisterlicher Behandlung des dreistimmigen Satzes, wie auch an scharfer Gegensätzlichkeit unter einander ihnen vollkommen ebenbürtig, haben sie jedoch ein gedrungeneres Wesen, wie solches dem weniger abwechslungsreichen Tonmaterial entspricht179.–
Der erste, zweite und vierte Theil der »Clavierübung« enthielten Werke, deren jedes in seiner Gattung als ein Höchstes, theilweise Abschließendes betrachtet werden mußte. Auch von dem dritten Theile ist dieses zu sagen, welcher die meisten und bedeutsamsten Choralbearbeitungen für Orgel umfaßt, die Bach in seiner letzten Lebensperiode schuf180. Man ist genöthigt, die 21 Choralsätze des [692] dritten Theils als ein Ganzes zu betrachten, dem eine poetische Idee die Einheit verleiht. Den Grundstock geben 12 Bearbeitungen von sogenannten Katechismusgesängen ab. Für jedes der fünf Hauptstücke des lutherischen Katechismus und außerdem für die Beichte ist einer der bekanntesten und schönsten Choräle ausgewählt, für das erste Hauptstück »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, für das zweite »Wir glauben all an einen Gott«, das dritte »Vater unser im Himmelreich«, das vierte »Christ unser Herr zum Jordan kam«, für die Beichte »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«, und für das Abendmahl »Jesus Christus unser Heiland«. Ein jeder wird zweimal bearbeitet, zuerst mit Pedal, sodann manualiter allein. Ihnen vorauf geht eine doppelte Bearbeitung des »Kyrie Gott Vater in Ewigkeit« und eine dreifache des »Allein Gott in der Höh sei Ehr«. Diese Choräle – Verdeutschungen des Kyrie fons bonitatis und Gloria in excelsis – haben hier als Ersatzstücke der protestantischen Kirche für die ersten beiden Acte der Messe, als welche sie auch am Anfang des Hauptgottesdienstes zu Leipzig gesungen wurden, eine besonders tiefe Bedeutung. Die musikalische Verherrlichung der dogmatischen Grundlagen des lutherischen Christenthums, welche Bach in diesem Choralwerke unternahm, stellte sich ihm unter dem Gesichtspunkte einer vollständigen Cultushandlung dar, zu deren Beginn er sich mit denselben Bitt-und Lobgesängen an den dreieinigen Gott wandte, wie es die Gemeinde allsonntäglich that. Auch in dem Umstande, daß der Choral »Allein Gott in der Höh sei Ehr« dreimal behandelt wird, prägt sich ein kirchlich-dogmatischer Charakter aus. Denn dieses Lied diente zum Preise der Dreieinigkeit, wie das Kyrie zum Gebet an dieselbe; im Kyrie wurden aber schon durch die drei verschiedenen Melodien ebenso viele Behandlungen nöthig, während beim »Allein Gott in der Höh« alle Strophen nach derselben Melodie zu singen waren. Ich sagte früher, der Pachelbelsche Orgelchoral erscheine als eine Art von idealem Gottesdienst auf rein instrumentalem Gebiet181. Es ist grade diese Kunstidee, welche sich in der großartigen Entwicklung, die der Orgelchoral durch Bach erfuhr, so ungemein fruchtbar erwiesen hat. Sie führte zur Choralfantasie, drängte dann zur Übertragung des Cantus firmus[693] auf den Gesang und leitete endlich in die vieltheilige Choralcantate als in die letzte und höchste Consequenz des Pachelbelschen Orgelchorals hinein. Ganz offenbar ist sie es auch, welche das Wesen des Choralwerks im dritten Theil der »Clavierübung« bestimmt hat, sofern dasselbe als Ganzes sich darstellt. Freilich hängen dessen Theile musikalisch garnicht und poetisch nur indirect, vermittelst einer abgeleiteten Vorstellung zusammen. Bach hatte es längst erkannt, daß die Erfüllung jener Kunstform nicht auf instrumentalem Gebiet erfolgen könne, und bethätigte diese Erkenntniß grade am eifrigsten zu der Zeit, da er jene Orgelchoräle schrieb. Aber lassen konnte er von der Idee auch hier nicht, um so weniger als es galt, in ihnen die Summe seiner Lebensarbeit zu ziehen.
Die reine Form der Choralfantasie hat Bach hier nur für die ersten Bearbeitungen der Melodien »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, »Christ unser Herr zum Jordan kam« und »Jesus Christus, unser Heiland« angewandt. Es sind diese gewaltigen Stücke zugleich beredte Verkündiger seines poetischen und tonbildlichen Tiefsinns. Bach schöpfte die Grundstimmung der Orgelchoräle stets aus dem Kirchenliede als Ganzem, nicht nur aus dessen erster Strophe. So griff er auch zuweilen aus dem Gedichte irgend eine besondere Vorstellung heraus, die ihm vorzüglich bedeutsam erschien, und gab nach ihr dem Tonbilde seinen eignen, poetisch-musikalischen Charakter. In dieser Thätigkeit muß man ihm folgen, um gewiß zu werden, daß man ihn richtig versteht. Der breit und wuchtig schreitende Contrapunkt des Abendmahls-Liedes »Jesus Christus, unser Heiland« mag bei oberflächlicherer Betrachtung befremden, da er zum Wesen des Gedichtes nicht zu stimmen scheint. Wer dasselbe aber aufmerksam durchliest, findet bald die Stelle, welcher die charakteristische Tonreihe entquollen ist. Die fünfte Strophe lautet:
Du sollt gläuben und nicht wanken,
Daß ein Speise sei der Kranken,
Den'n ihr Herz von Sünden schwer,
Und für Angst ist betrübet sehr.
Unerschütterlicher, lebenstärkender Glaube, gepaart mit dem Ernst, welchen das Bewußtsein der Sündhaftigkeit bedingt, diese beiden Factoren bilden den Empfindungsgrund, auf dem das Stück ausgeführt [694] ist. Ein Vergleich mit der nicht weniger großartigen früheren Bearbeitung desselben Chorals, auch mit der mystischen Composition »Schmücke dich, o liebe Seele«182 öffnet nicht nur einen neuen Einblick in Bachs Phantasie-Reichthum, sondern dient eben wegen des subjectiven Elements, das in den Orgelchorälen zu Tage tritt, ebensosehr auch der tieferen Erkenntniß seines persönlichen Charakters. Wenn sich ferner in der Bearbeitung des Chorals »Christ unser Herr zum Jordan kam« eine unablässig strömende Sechzehntelbewegung bemerkbar macht, so wird zwar kein kundiger Beurtheiler Bachs hierin ein Bild der Jordanfluthen sehen wollen. Bachs wirkliche Meinung wird aber auch er erst nach vollständiger Lesung des Gedichtes erfassen. Den sichern Schlüssel bietet die letzte Strophe: hier erscheint dem gläubigen Christen das Taufwasser als ein Symbol des Blutes Christi, dessen rothe Fluth alle ererbte und selbst begangene Sünde hinwegspült. Unmittelbarer einleuchtend ist in dem fünfstimmigen Orgelchoral »Dies sind die heilgen zehn Gebot« der poetische Sinn des im Canon der Octave geführten Cantus firmus. Das Bild strengster Gebundenheit, welches also entrollt wird, ist uns überdies schon bei der Cantate »Du sollst Gott deinen Herrn lieben« begegnet, wenn auch nicht in so vollständiger Ausführung. Bach hat sich bei Composition des Orgelchorals jedenfalls an den Cantatenchor erinnert; der Grund, weshalb dies angenommen werden muß, ist an jener Stelle angegeben183.
Häufiger sind jene weniger freien Mittelbildungen zwischen Choralfantasie und einer dem Pachelbelschen Typus nahekommenden Form, welche entstehen, wenn zwar ein Motiv oder Thema das ganze Stück beherrscht, aber aus der ersten Melodiezeile abgeleitet ist. Ich nenne zuerst die größere Bearbeitung von »Vater unser im Himmelreich«. Auch hier erscheint zu drei contrapunktirenden Stimmen die Melodie im Canon der Octave. Bach dürfte durch dieses Mittel den kindlich gläubigen Gehorsam haben symbolisiren wollen, mit welchem der Christ das vom Herrn selbst angeordnete und ihm vorgesprochene Gebet sich aneignet. Die eigenthümlich bewegten Contrapunkte haben etwas besonders inständiges184.[695] Sodann gehören hierher die beiden dreistimmigen Bearbeitungen von »Allein Gott in der Höh«, bei deren zweiter aber der Cantus firmus von den Stimmen abwechselnd, hier und da auch canonisch oder mit Wiederholung derselben Zeile vorgetragen wird. Schließlich die erste Bearbeitung des dreitheiligen Kyrie, deren majestätischer Bau in dem grandiosesten fünfstimmigen Tonsatze gipfelt.
Wie man sich denken kann, durfte in einem so erschöpfenden Werke wie diesem der reine Pachelbelsche Typus nicht fehlen, dem Bach für seinen Orgelchoral am meisten verdankte. Er erscheint an dem Buß- und Beichtgesange »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« sowohl in der vierstimmigen Bearbeitung für Manual allein, als auch in der sechsstimmigen für Manual und Doppelpedal. Es kennzeichnet Bachs Empfindungsweise, daß er grade diesen Choral sich erlas, um ihn zur Krone des Werkes zu erheben. Denn das ist die Composition unfraglich, sowohl wegen der Kunst der Stimmenführung, als der Fülle und Erhabenheit der Harmonien, als auch der Spielvirtuosität, welche sie voraussetzt. In dieser Weise das Pedal durchweg zweistimmig zu führen hätten sich selbst die nordländischen Meister nicht getraut. Grade sie waren es sonst, welche die zweistimmige Pedalbehandlung aufgebracht hatten, und Bach hat neben Pachelbel auch ihnen in dem Stücke Gerechtigkeit widerfahren lassen. Und nicht in ihm allein. In der Fughette über »Dies sind die heilgen zehn Gebot« grüßt uns Buxtehudes Geist ganz vernehmlich, wennschon völlig wiedergeboren aus dem Bachschen Genius. Bedeutsam sowohl für Bachs Kunst als für seine Persönlichkeit ist es, wie in diesem letzten großen Orgelwerke die Ideale seiner Jugendzeit wieder auftauchen. Was mochte der ernste Meister empfinden, als er auf höchster einsamer Kunsthöhe die Bilder alter Tage beschwor und in dankbarlicher Bewegung noch einmal durch seine Phantasie ziehen ließ! Auch Georg Böhm erscheint, das Vorbild der Lüneburger Schuljahre. Der Basso quasi ostinato des Orgelchorals »Wir glauben all an einen Gott« kündigt ihn deutlich an. Das Stück ist sonst eine Fuge über die erste Melodiezeile [696] und hat mit dem Basse garnichts zu schaffen. Eben hieraus wird die Bezugnahme auf Böhm ganz klar; denn Fugen zu schreiben, in denen das Pedal sich nicht an der Themadurchführung betheiligt, auch keinen Cantus firmus führt, sondern nur eine kurze frei erfundene Tonreihe von Zeit zu Zeit wiederholt, war übrigens nicht Bachs Manier185. Damit endlich auch der Orgelchoral in einfachster Form nicht fehle, wie ihn Bach so tiefsinnig in Weimar ausbildete und hernach im »Orgelbüchlein« in den herrlichsten Exemplaren fixirte, hat er jene schöne zweite Bearbeitung des »Vater unser« der Sammlung einverleibt.
Ja, noch weiter wollte er den Bereich der Sammlung spannen. Es genügte ihm nicht, Orgelchoräle in den verschiedensten Formen zu schaffen. Er ist zurückgegangen auf den Keim derselben und hat auch wirklichen Choral-Vorspielen einen Platz gegönnt, Formen also, mit welchen er sich außer vielleicht in frühester Jugendzeit nicht beschäftigt hatte186. Der Orgelchoral unterscheidet sich vom Choralvorspiel dadurch, daß er ein selbständiges Kunstwerk ist, welches nur die Bekanntschaft mit der behandelten Melodie voraussetzt, während das Choral-Vorspiel nichts weiter soll als vorbereiten und seinen Schwerpunkt nicht in sich, sondern in dem nachfolgenden Gemeindegesange hat. Demnach ist hier die Behandlung der Melodie eine ganz andre, nur andeutende, und vor allem braucht die Melodie im Orgelstück nicht vollständig aufzutreten. Solchergestalt ist nun in unsrer Sammlung zuvörderst die zweite Bearbeitung des »Kyrie Gott Vater in Ewigkeit«: hier werden in allen drei Theilen nur die ersten drei Töne des jedesmaligen Chorals durchgeführt. In der zweiten Bearbeitung des Taufliedes ist zwar die volle erste Melodiezeile benutzt, jedoch auch nichts weiter als sie. Um sich aber den fast unmeßbaren Fortschritt klar zu machen, der vom älteren Choralvorspiel zum Bachschen stattgefunden hat, vergleiche man die derartigen Arbeiten Johann Christoph Bachs187 mit den eben genannten.
Eine besondere Art des Choralvorspiels ist die Choralfuge. Auch mit ihr hatte sich Bach während seiner Meisterzeit bislang [697] kaum befaßt188. Der dritte Theil der »Clavierübung« bringt fünf solcher Stücke und zwar über die Melodien »Allein Gott in der Höh«, »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, »Wir glauben all« und »Jesus Christus unser Heiland«. Mit Ausnahme des ersten dient in allen nur die Anfangszeile als Fugenthema. Drei derselben sind mit meisterlicher Leichtigkeit hingeworfene Fughetten und scharf gezeichnete Charakterstücke: die kleinere Composition über das Glaubenslied im französischen Stil, die Composition zum ersten Hauptstück im Buxtehudeschen. Die Fuge über das Abendmahlslied, zugleich der Beschluß der Sammlung, zeichnet sich durch künstliche Engführungen aus und combinirt endlich die natürliche Gestalt des Themas mit seiner Vergrößerung. Von der großen Fuge über den Glauben war schon die Rede. Hier sind zwei Formideen mit einander verschmolzen, die des Böhmschen Chorals und die des Vorspiels.
Man entscheide hiernach, ob es begründet ist die Choralsammlung der »Clavierübung« eine zusammenfassende, abschließende Arbeit zu nennen. Als sie vollendet war, sah Bach sein Lebenswerk auf dem Gebiete des Orgelchorals im wesentlichen als gethan an. Er hat seitdem bis an seinen Tod noch ältere Werke gesammelt und überarbeitet189, aber Neues wenig mehr geschaffen. Als Sammlung und Überarbeitung ergeben sich jene sechs Choräle für zwei Manuale und Pedal, welche er zwischen 1746 und 1750 durch Johann Georg Schübler in Zella St. Blasii bei Suhl verlegen ließ. Sie sind Leipziger Kirchencantaten entnommen, nachweislich bis auf einen, der aber keine Ausnahme bilden wird, und unter diesem Gesichtspunkte muß man sie betrachten, will man sie richtig würdigen190. Originalcompositionen sind dagegen noch die »canonischen Veränderungen« über das Weihnachtslied »Vom Himmel hoch da komm ich her«, welche bei Balthasar Schmidt zu Nürnberg in elegantem Kupferstich erschienen191. Nach einer nicht anzuzweifelnden Überlieferung hat sie Bach für die Leipziger musikalische Societät geschrieben, der er im Juni 1747 beitrat192. Sie sind aber jedenfalls[698] schon ein Jahr vor seinem Beitritt componirt und auch gestochen gewesen193. Aus dem Titel »Veränderungen« könnte man leicht auf die Form einen falschen Schluß machen. Er ist aber werthvoll, sofern er uns die Absicht verstehen lehrt, welche Bach bei diesem Werke hegte. Um 1700 noch wurde der Name Variation auch für Partita gebraucht, welch letztere anfänglich den einzelnen Theil einer mehrsätzigen, aus Stücken gleicher Tonart bestehenden Composition, hernach erst diese mehrsätzige Composition selber zu bezeichnen pflegte. Man verfuhr in der Vertauschung beider Namen so unbekümmert, daß garnicht selten auch die erste Partita eines Variationenwerks, also das Thema, die erste Variation genannt wird. Nun kennen wir die Choralpartita als eine Form, welche Bach in seiner Jugendzeit nach Böhms Muster pflegte194. Ihr äußerliches und unkirchliches Wesen konnte ihm in reiferen Jahren nicht mehr genügen. In der Choralsammlung der »Clavierübung« hat sie keine Berücksichtigung gefunden. Aber der Drang nach vollständigster Erfüllung seiner Aufgabe scheint dem Meister keine Ruhe gelassen zu haben. Die »Variationen« über das Weihnachtslied sind Partiten. Man sieht es schon daraus, daß das Werk gleich mit der sogenannten ersten Variation beginnt; dies ging nur in der Partiten-Form an und kommt in diesem Sinne auch öfter, z.B. bei Pachelbel vor, während eine wirkliche Variation ohne vorhergegangenes Thema ein Unding ist195. Man muß also dieses Werk mit den Jugendarbeiten »Christ, der du bist der helle Tag«, »O Gott du frommer Gott« und »Sei gegrüßet, Jesu gütig«196 vergleichen. Es zeigt sich dann ein gleich großer Fortschritt, wie beim Choralvorspiel. Die eigentliche Form der Variation, welche sich genau an den Umfang und die Gliederung des Themas hält, brauchte in den Choralpartiten nicht durchweg beobachtet zu werden, spielte aber immerhin eine bedeutende Rolle. In den Partiten über das Weihnachtslied hat Bach sie gänzlich verlassen, und zugleich auch die claviermäßige, figurative Umspielung [699] der Melodie. Ebenso aber die unkirchliche motivische Zerpflückung derselben und das bunte Wesen Böhms, welcher das Thema bald hierhin, bald dorthin wirft, und nach Belieben eine größere oder geringere Stimmenzahl in Bewegung setzt. Eine Reihe von wirklichen Orgelchorälen zieht vorüber, ihr Typus ist der im »Orgelbüchlein« vorherrschende. Was sie zum Ganzen einigt, ist die allen gemeinsame Art canonischer Behandlung. In den ersten vier Partiten liegt der Canon in den contrapunktirenden Stimmen, eine Form, die wir im Musikalischen Opfer kennen lernten. Die Nachahmung erfolgt in der Octave, Quinte, Septime und in der Octave mit Vergrößerung. Bach hat sich aber das Ziel dadurch noch höher gesteckt, daß er nicht nur den Contrapunkt meistens aus der Melodie ableitet, sondern in der dritten Partite zwischen Cantus firmus und die beiden canonführenden Stimmen sogar eine sehr gesangreiche, frei erfundene Melodie einflicht. In der letzten Partite, welche eigentlich aus vier mit einander verbundenen vollständigen Durchführungen besteht, wird die Melodie selbst dem Canon der Gegenbewegung, und zwar der Sexte, Terz, Secunde und None unterworfen. Von staunens-werther Künstlichkeit sind die drei Schlußtakte, in denen die verschiedenen Stimmen alle vier Melodiezeilen zu gleicher Zeit hören lassen. An Ungezwungenheit der Bewegung stehen die Partiten über »Vom Himmel hoch« weder dem Musikalischen Opfer noch der Kunst der Fuge, noch auch den 30 Claviervariationen nach. Bach war auch bei den schwierigsten Problemen stets des völligen Gelingens sicher. Er liefert aber hier von neuem den Beweis, daß die complicirtesten Formen, denen er sich in den letzten Lebensjahren mit Vorliebe ergab, ihn nicht nur um der Technik willen reizten, daß er nicht etwa bei einem allmähligen Eintrocknen der Phantasie durch das Vergnügen am leichten Überwinden selbstgeschaffener Schwierigkeiten sich schadlos zu halten suchte, sondern daß seine immer profunder gewordene musikalische Empfindung ihn zu jenen Formen zog. Wahrlich eines urkräftigen Lebens und einer eigenartigen poetischen Empfindung sind diese Partiten voll. Wieder schweben hier die himmlischen Heerschaaren auf und nieder, tönt holder Gesang über der Wiege des Jesuskindes, springt in Fröhlichkeit die erlöste Christenschaar und singt »mit Herzenslust den süßen Ton«. Aber in die Empfindungen, die ihm früher beim Weihnachtsfeste [700] aufblühten und denen er durch Orgelchoräle, durch das Weihnachts-Oratorium, Magnificat und andere Werke eine immer dauernde Gestalt verlieh, auch in die Stimmung, welche ihn einstmals fast noch als Knaben zu jener Kunstform drängte, die er endlich in unvergleichlicher Weise zu veredeln bestimmt war, haben sich die Erfahrungen eines sechzigjährigen reichen Lebens mit tausend Fäden hineingeschlungen. Sie haben sie schwer und gedankenvoll gemacht, wie den Blick des Greises, der unter seinen Enkeln beim Glanze des Christbaumes der eignen Jugend nachsinnt.
Wenn es für Bachs kirchliche Vocalmusik charakteristisch erscheinen mußte, daß sein Geist, nachdem er alle Weiten des Kunstgebietes durchmessen hatte, endlich in der Choralcantate sein Genügen fand, so ist es nicht weniger bedeutsam, wie er bis in die letzten Lebensjahre den Orgelchoral pflegte. In mächtigem Bogen strömt seine Kunst allgemach zu der Quelle zurück, von der sie einst ihren Ausgang nahm. Händels Entwicklungslauf ist der eines stolzen Flußes, welcher den Schiffer zuletzt in das Weltmeer hinausträgt. Bach führt durch alle Höhen und Tiefen des Lebens endlich wieder in die stille Heimath zur Ruhe und Beschaulichkeit. Er schenkt sich nicht weg an die Welt, sondern umschließt dieselbe mit seiner Persönlichkeit. Dieser subjective Zug seiner Musik wird zu keiner Zeit undeutlich, aber in der letzten Lebensperiode macht er sich stärker bemerkbar, als bisweilen in den Jahren vollster Manneskraft. Der Orgelchoral ist unter allen Formen, die Bach ausbaute, die subjectivste, und hatte sich zugleich für sein Leben als die ergiebigste erwiesen. Wie sehr sein Herz an ihr hing, bewies er wenige Tage vor dem Tode. Die letzte Composition, welche er des Augenlichtes beraubt mit Hülfe Altnikols ausarbeitete, war die Erweiterung eines Orgelchorals »Wenn wir in höchsten Nöthen sein« aus früherer Zeit. Seine tiefsten Lebenskräfte hat er bis ans Ende einer Form geweiht, deren Inhalt die Empfindung des Glückes ist, Gott in der Gemeinde loben und anbeten zu können. Wie Augustinus dachte auch Bach: »Du hast uns zu dir geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in dir«.
Fußnoten
VI.
Was über Bachs äußeres Leben seit dem Jahre 1723 bisher erzählt worden ist, hatte den Zweck seine amtliche Stellung nach ihren verschiedenen Richtungen hin, sowie seine sonstigen Beziehungen zur Öffentlichkeit in Leipzig darzustellen. Wie sich während dieser Zeit sein Verhältniß zur musikalischen Welt im allgemeinen gestaltete, davon konnte bis jetzt nur gelegentlich die Rede sein, ebenso wie von dem häuslichen Leben und der in demselben entfalteten Persönlichkeit des Meisters.
Italien, das Eldorado der deutschen Musiker, hat Bach nie gesehen; er hat überhaupt Deutschlands Gränzen nicht überschritten. Aber ein gewisser Wandertrieb steckte ihm von seinen Ahnen her im Blute. Bach ist auch von Leipzig aus verhältnißmäßig viel gereist und hat dadurch die Verbreitung seines Künstlerruhms persönlich gefördert1. Er war cöthenischer Capellmeister geblieben, als er sich in Leipzig niederließ, und wurde in demselben Jahre auch weißenfelsischer Capellmeister von Haus aus. Solche Ämter bedingten, daß ihre Träger die betreffenden Höfe auf Verlangen mit Compositionen versorgten, sich auch hin und wieder persönlich vorstellten. Über Bachs Beziehungen zu Weißenfels hat ein seltsames Geschick gewaltet. Sie sind dem Blicke der Nachwelt fast gänzlich entzogen worden. Keine einzige Composition läßt sich bezeichnen, welche Bach für den Hof des Herzogs Christian neu geschrieben hat, seitdem er ihn im Jahre 1716 von Weimar aus zum ersten Male mit einer Cantate ansang; wir wissen nur, daß er diese selbe Cantate später noch einmal für eine Weißenfelser Hoffestlichkeit benutzte2. Die Vermuthung aber darf hier stehen, daß nach dem Tode des Herzogs Christian (1736) Bach wohl kaum noch für musikalische Leistungen in Anspruch genommen worden ist. Denn der Nachfolger Johann Adolph II. ließ, um sein tief verschuldetes Haus [702] wieder empor zu bringen, sofort eine sehr sparsame Verwaltung eintreten. Er starb 1746 und mit ihm erlosch diese sächsische Nebenlinie. Bach führte den Titel eines Hochfürstlich Weißenfelsischen wirklichen Capellmeisters bis an seinen Tod3; es folgt hieraus also nicht, daß er als solcher unter Johann Adolph noch activ war. In der Zeit von 1723–1736 aber hat er jedenfalls öfter am dortigen Hofe verweilt. Er selbst äußert gelegentlich, daß er zwischen 1723 und 1725 ein- oder zweimal »ob impedimenta legitima« von Leipzig habe verreisen müssen, und zwar das eine Mal nach Dresden4. Das andre Mal dürfen wir wohl auf Weißenfels deuten, da er kurz zuvor sein Amt von dort erhalten hatte. In der ihm unterstellten, nicht unberühmten Capelle befand sich sein Schwiegervater Johann Caspar Wülcken und seines Sohnes Emanuel Pathe Adam Emanuel Weltig.
Über Bachs Thätigkeit als cöthenischer Capellmeister von Leipzig aus wissen wir etwas mehr. Bei dem Fürsten Leopold war nach dem Tode der ersten Gemahlin das Musikinteresse offenbar in alter Stärke wieder erwacht. Die zweite Gemahlin, Fürstin Charlotte scheint selbst musikliebend gewesen zu sein, da Bach es unternehmen durfte, ihr zum 30. November 1726 mit einer Geburtstags-Cantate aufzuwarten5. Sie gebar in demselben Jahre (12. September 1726) ihrem Gemahl einen Erben, da Bach die erste Partita der Clavierübung als Opus I herausgab. Dies Zusammentreffen veranlaßte ihn, die Partita sorgfältig abzuschreiben und nebst einem Widmungsgedicht dem Erbprinzen in die Wiege zu legen. Für die gemüthvollen, ungezwungenen Beziehungen, welche zwischen Bach und dem anhaltischen Fürstenhause bestanden, ist dieses jedenfalls selbstverfaßte Gedicht ein gewichtiger Beleg. Die Widmung lautet: »Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn | Herrn Emanuel Ludewig, | Erb-Printzen zu Anhalt, Hertzogen zu Sachßen, | Engern und Westphalen, Grafen zu Ascanien, | Herrn zu Bernburg und Zerbst u.s.w. | Widmete diese geringe Musicalische Erst- | linge aus [703] unterthänigsterDevotion | Johann Sebastian Bach«. Das Gedicht selbst aber:
»Durchlauchtigst
Zarter Printz
den zwar die Windeln decken,
Doch den sein Fürsten-Blick mehr als erwachsen zeigt,
Verzeihe, wenn ich Dich im Schlaffe sollte wecken,
Indem mein spielend Blatt vor Dir sich nieder beugt.
Es ist die erste Frucht, die meine Saiten bringen,
Du bist der erste Printz, den Deine Fürstin küßt,
Dir soll sie auch zuerst zu Deinen Ehren singen,
Weil Du, wie dieses Blatt, der Welt ein Erstling bist.
Die Weisen dieser Zeit erschrecken uns und sagen:
Wir kämen auf die Welt mit Wünzeln und Geschrey,
Gleichsam als wollten wir zum vorauß schon beklagen,
Daß dieses kurtze Ziel betrübt und kläglich sey.
Doch dieses kehr ich um, und sage, das Gethöne,
Das Deine Kindheit macht, ist lieblich, klar und rein.
Drum wird Dein Lebens-Lauff vergnügt, beglückt und schöne,
Und eine Harmonie voll eitel Freude seyn.
So Hoffnungs-voller Printz will ich Dir ferner spielen,
Wenn Dein Ergözungen noch mehr als tausenfach.
Nur fleh ich, allezeit, wie jetzt den Trieb zu fühlen,
Der Erbprinz Emanuel Ludwig gab indessen unserm Meister keine Gelegenheit, den Vorsatz »ihm ferner zu spielen« zur Ausführung [704] zu bringen: er starb schon am 17. August 1728. Fürst Leopold folgte seinem einzigen Sohne wenige Monate später in den Tod. Daß Bach dem Gönner und Freunde zur letzten Ehre eine großartige Trauermusik in Cöthen aufführte, habe ich an andrer Stelle zu berichten gehabt. Wie sich seine späteren Beziehungen zum cöthenischen Hofe gestalteten, ist unerfindlich geblieben.
In Dresden erfreute sich Bach seit 1717 eines wohlwollenden Angedenkens. Von Leipzig aus ist er jedenfalls häufig hinüber gegangen. Manchmal nahm er seinen ältesten Sohn mit7. Als dieser 1733 Organist an der Sophienkirche zu Dresden geworden und Sebastian selbst 1736 in ein Dienstverhältniß zum Hofe getreten war, wird der Verkehr noch lebhafter gewesen sein. Nachweisen lassen sich indessen zwischen 1723 und 1750 nur vier Besuche. Der erste fällt zwischen 1723 und 1725; aus dem was Bach darüber gelegentlich äußert, darf man schließen, daß er von Hofe aus hinbeordert worden ist8. 1731 war es die erste Aufführung der Cleofide, welche ihn nach Dresden lockte. Am 7. Juli des Jahres war der zum Capellmeister ernannte Johann Adolph Hasse mit seiner Gattin Faustina aus Venedig eingetroffen. Seine Oper, in welcher Faustina die Hauptpartie hatte, wurde am 13. September zum ersten Male gegeben. Dies war für Dresden, wie überhaupt für die italiänische Oper in Deutschland ein Ereigniß von entscheidender Wichtigkeit. Der Enthusiasmus über Hasses Musik und Faustinas Gesang kannte keine Gränzen; ein Berichterstatter meinte, dieses Künstlerpaar zu loben sei so vergebene Bemühung, als wenn man der Sonne ein Licht anzünden wolle. Bach unternahm es, am folgenden Tage Nachmittags 3 Uhr in der Sophienkirche als Orgelspieler aufzutreten. Es scheint nicht, daß ihn jemand vom Hofe des Anhörens gewürdigt hat. Aber die ganze Capelle, also auch Hasse, war zugegen und Bachs Erfolg bei dieser Künstlerschaar ein allgemeiner und sehr großer. Selbst die Publicistik nahm davon Notiz, was unter dem Eindruck der Cleofide gewiß etwas bedeuten will: ein Gelegenheitsdichter erhob die staunenswerthen Wunder seiner »hurtigen Hand« über die Thaten des Orpheus. Nachdem sodann Bach 1733 Kyrie und Gloria der H moll-Messe dem König [705] August III. persönlich in Dresden überreicht und 3 Jahre später auf nochmaliges Ansuchen den Titel eines Hofcomponisten erhalten hatte, ließ er sich wenige Tage darauf, am 1. December 1736 Nachmittags von 2 bis 4 Uhr auf der neuen Silbermannschen Orgel in der Frauenkirche hören. Diesmal bestanden die Zuhörer nicht nur aus den Capellmitgliedern. Auch viele Vornehme und andre Personen hatten sich versammelt und bewunderten den Meister9.
Unter ihnen befand sich der livländische Freiherr Hermann Carl von Kayserling, der einige Jahre später in noch nähere Berührung mit Bach treten sollte, aber ihm auch jetzt schon bekannt und besonders gewogen gewesen sein muß. Das Decret über Bachs Anstellung als Hofcomponist war am 19. November ausgefertigt, und am 28. November dem Freiherrn zur Aushändigung an Bach übergeben worden. Jedenfalls hatte Bach den Inhalt des Decrets zuvor erfahren und sich alsbald aufgemacht, um in Dresden persönlich seinen Dank abzustatten. Sonst hätte er nicht schon am 1. December dort ein Orgelconcert geben können. Kayserlings Vermittlung aber bezeugt, daß sein Interesse für Bach am Hofe schon eine bekannte Sache war. An ihm besaß Bach einen vermögenden, hoch und vielseitig gebildeten Gönner. Bevor er als Gesandter von Petersburg nach Dresden geschickt wurde (13. Dec. 1733), hatte er den Präsidentenstuhl der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Petersburg eingenommen. König August III erhob ihn am 30. October 1741 in den Grafenstand; er weilte in Dresden noch bis 1745. Als »großer Liebhaber und Kenner der Musik« versammelte er gern die hervorragendsten Künstler Dresdens um sich. Pisendel, Weiß, Friedemann Bach verkehrten in seinem Hause, auch zureisende Musiker schätzten es sich zur Ehre dort eingeführt zu werden10. Diese Umstände müssen dazu beigetragen haben, Bachs Beziehungen zu der Dresdener Künstlerwelt noch inniger zu machen. Dieselben waren als solche allgemein bekannt und schon in den Jahren 1727–1731 derart, daß jemand sagen konnte, man habe vermittelst ihrer in Leipzig fast jeden Tag über die Dresdener Capelle sichere und [706] gründliche Nachrichten erhalten können11. Pisendel, welcher schon im März 1709 auf seiner Reise von Anspach nach Leipzig Bach in Weimar aufgesucht hatte, wendete der von ihm erfundenen Viola pomposa sein Interesse zu. Er benutzte das Instrument gern zum Accompagniren; als im Jahre 1738 Franz Benda einmal zum Besuch nach Dresden gekommen war, musicirten sie bei Weiß miteinander vom Nachmittag bis um Mitternacht, indem Benda mit Pisendel nicht weniger als 24 Violinsoli und Weiß dazwischen noch 8 bis 10 Sonaten auf der Laute spielte12. Einer der besten Schüler Pisendels war Johann Gottlieb Graun; zu ihm hegte auch Bach ein solches Vertrauen, daß er ihm, als er 1726 von Dresden an den Hof des Herzogs Moritz Wilhelm von Sachsen-Merseburg als Concertmeister berufen wurde, seinen Sohn Wilhelm Friedemann zur zeitweiligen Unterweisung übergab13. Zu Zelenka, dem gediegenen Schüler des Fux, zog ihn dessen ernster und vorzüglich auf Kirchenmusik gerichteter Sinn; hierin soll er ihn über Hasse gestellt haben; ein Magnificat desselben mußte Friedemann für den Gebrauch der Thomaner abschreiben14. Über Bachs Umgang mit andern Dresdener Kunstgrößen, wie Buffardin, Heinichen, Hebenstreit, Quantz, fehlen die Einzelheiten. Sein Verkehr mit Hasse und Faustina aber beruhte auf gegenseitiger, aufrichtiger Bewunderung; das Ehepaar hat auch Bach mehre Male in Leipzig aufgesucht15.
Hamburg, das Ziel der musikalischen Pilgerfahrten Bachs von Lüneburg aus und seit dem Jahre 1720 ihm noch in frischer Erinnerung, hat er 1727 von neuem, und so viel wir wissen zum letzten Male gesehen. Jakob Wilhelm Lustig, Sohn eines Hamburger Organisten, Schüler Matthesons und Telemanns und später selbst ehrenwerther Organist in Gröningen, hörte ihn damals. Die Worte, mit denen er dieses selbst erzählt, sind in ihrer Schlichtheit überaus beredt: »er hörte große Virtuosen, ja, den Herrn Bach selbst«. So sehr erschien alles, was große Spieler leisteten nur als schwaches [707] Abbild eines einzig dastehenden Ideals. Wie Bach diesesmal mit Mattheson gefahren ist, läßt sich nicht erkennen. Matthesons Stimmung gegen ihn ist schon an einer andern Stelle charakterisirt worden. Er forderte Bach 1731 nochmals zu einem autobiographischen Beitrag für die »Ehrenpforte« auf, und überging ihn, als dieser nicht erfolgte, in jenem Werke ganz, weil er »ein unbilliges Bedenken getragen habe, was rechtes und systematisches von seinen Vorfällen zu melden«. Händel und Keiser hatten es nicht anders gemacht, wurden aber trotzdem der Aufnahme in den Ehrentempel gewürdigt. Seinen Jugendfreund Telemann, der sich wenn er nicht wankelmüthig gewesen wäre, vier Jahre vorher in das vacante Thomascantorat gemächlich hätte hineinsetzen können, ging Bach sicher nicht vorüber. Telemann nahm in das musikalische Journal »Der getreue Musik-Meister«, welches er 1728 herausgab, einen schönen vierstimmigen Canon von enormer Künstlichkeit auf, den Bach 1727 in Hamburg gemacht und dem Dr. Hudemann zugeeignet hatte. Lustig lernte auch diesen Canon kennen, machte sich darüber und löste ihn; die Auflösung theilte Mattheson zwölf Jahre später in dem »Vollkommenen Capellmeister« mit. Wie Hudemann für die ihm angethane Ehre sich erkenntlich gezeigt hat, erfuhren wir bei Gelegenheit der Cantate »Phöbus und Pan«16.
Auch sein heimathliches Thüringen hat Bach von Leipzig aus bisweilen wieder besucht. Vom weimarischen Hofe war er geschieden, nachdem Herzog Wilhelm Ernst in pedantischer Gewissenhaftigkeit den ganz unbedeutenden Sohn Samuel Dreses zum Capellmeister [708] gemacht hatte, während Bach das beste Recht auf diesen Posten besaß. Es ist hiernach nicht wahrscheinlich, daß zu Lebzeiten dieses Herzogs noch Verbindungen zwischen Bach und dem weimarischen Hofe bestanden. Sie sind aber jedenfalls unter Herzog Ernst August (1728–1748) wieder angeknüpft. Dieser seltsame von seinem Oheim in vielen Beziehungen grundverschiedene Herrscher scheint mit seinen Stiefbruder Johann Ernst die Liebe zur Musik vom Vater ererbt zu haben, in dessen Dienst sich Bach 1703 auf kurze Zeit befand. Er spielte eifrig Violine, manchmal gar schon des Morgens im Bette, und scheint auch an italiänischer Opernmusik, wie Herzog Christian von Weißenfels, Gefallen gefunden zu haben17. Eine der vielen Bestimmungen, welchen die Cantate »Was mir behagt« dienen mußte, war den Geburtstag Ernst Augusts zu feiern. Durch Vermittlung der älteren Söhne Bachs ist uns die Nachricht erhalten worden, daß der Herzog nicht minder als Leopold von Cöthen und Christian von Weißenfels dem Künstler »in herzlicher Liebe zugethan gewesen sei«18. Aber auch Erfurt, eine der alten Sammelstätten des Bachschen Geschlechtes, übte noch in Bachs späteren Jahren Anziehungskraft auf ihn aus. Ein Vetter Sebastians, Johann Christoph, Sohn von Aegidius Bach stand an der Spitze der Rathsmusikanten von Erfurt, als Sebastian den ihm ehrwürdigen Ort einmal wieder aufsuchte19. Es muß dies nach 1727 geschehen sein. Adlung war damals Organist an der Predigerkirche, eine Stelle welche seiner Zeit Johann Bach bekleidet hatte. Er schloß sich bei dieser Gelegenheit eng an Sebastian Bach an, fragte ihn wißbegierig über frühere Erlebnisse aus und legte es ihm nahe, ihm auf dem Claviere vorzuspielen, was alles der große Meister auch mit der Zuvorkommenheit und Gutwilligkeit gewährte, die ihm in solchen Fällen eigen war20.
[709] Andre Reisen Bachs haben noch gegen 1730 und im Juli 1736 stattgefunden. Erstere war es, die den Leipziger Rath so sehr gegen ihn aufbrachte, da er versäumt hatte sich pflichtschuldigst bei diesem Urlaub zu erbitten21. Letztere ging dem Ausbruche des Conflicts mit Ernesti unmittelbar vorher22. Wir wissen weder das Ziel der einen noch der andern, erfahren aber gelegentlich dieses Conflicts, daß Bach seit Ernestis Gedenken ziemlich häufig von Leipzig abwesend gewesen sein muß, da dieser angiebt, wie er es in solchen Fällen mit seiner Vertretung zu halten pflege.
In den letzten Lebensjahren war Bach begreiflicherweise weniger mobil, und der Hang zu »einem häuslichen, stillen Leben, zu einer steten, ununterbrochenen Beschäftigung mit seiner Kunst«23 erhielt das Übergewicht. So entschloß er sich schwer zu einem letzten größeren Ausflug, der aber von allen vielleicht das ruhmvollste Ergebniß gehabt hat. Emanuel Bach war 1740 Capellmusiker Friedrichs des Großen und dessen Accompagnist geworden. Da auch die übrigen hervorragendsten Mitglieder der Capelle: beide Graun, Franz Benda, Quantz, Nichelmann, vermuthlich auch Baron, persönliche Bekannte und zum Theil Schüler Sebastian Bachs waren, so konnte es nicht fehlen, daß der König oft von ihm reden hörte. Die Art wie dies geschah reizte sein Verlangen, den großen Künstler selbst kennen zu lernen und zu hören. Emanuel meldete dies nach Leipzig, allein der Vater fühlte sich nicht aufgelegt zu kommen. Nur weil der König immer dringender wurde, entschloß er sich Anfang Mai 1747, die Reise zu machen. Er nahm Friedemann mit, wird also seinen Weg über Halle genommen haben. Sonntag den 7. Mai traf er in Potsdam ein. Es pflegte allabendlich von 7 bis 9 Uhr Hofconcert zu sein, an welchem der König sich mit Solovorträgen auf der Flöte selbst betheiligte24. Emanuel und Friedemann haben die nun folgenden Vorgänge genau weitererzählt25. Als der König sich eben zu einem Flötenconcert anschickte, wurde ihm der Rapport über die am Tage einpassirten Fremden [710] gebracht. Mit der Flöte in der Hand übersah er das Papier, drehte sich aber sogleich gegen die versammelten Capellisten und sagte mit einer Art von Unruhe: Meine Herren, der alte Bach ist gekommen! Die Flöte wurde bei Seite gelegt, und der alte Bach sogleich auf das Schloß befohlen. Er war in Emanuels Wohnung abgestiegen. Es wurde ihm nicht Zeit gelassen, sein schwarzes Staatskleid anzulegen; im Reisecostüm, so wie er eben war, mußte er erscheinen. Friedemann sagte hernach, der Vater habe sich wegen der ungenügenden Toilette etwas weitläufig entschuldigt, der König habe die Entschuldigungen abgewehrt, und darüber sei ein förmlicher Dialog zwischen Künstler und Monarch entstanden26. Friedrich hielt viel von den Silbermannschen Fortepianos, an deren Vervollkommnung Bach selber einen Antheil hatte27. Er besaß mehre derselben und Bach mußte sie probiren und auf ihnen fantasiren. Dann bat dieser sich vom Könige ein Fugenthema aus, welches er sofort zur Bewunderung der Anwesenden durchführte. Am folgenden Tage ließ sich Bach in der Heiligengeistkirche zu Potsdam als Orgelspieler vor einer großen Zuhörermenge hören. Hier scheint der König nicht zugegen gewesen zu sein. Doch beorderte er ihn des Abends nochmals auf das Schloß und wünschte von ihm eine sechsstimmige Fuge zu hören, um zu erfahren, wie weit die polyphone Kunst getrieben werden könne. Hierzu durfte sich Bach ein Thema selbst wählen, da für eine so vollstimmige Durchführung nicht ein jedes geeignet ist und erntete auch nach dieser Leistung des Königs volle Anerkennung.
Er ist von Potsdam aus auch in Berlin gewesen und hat das von Knobelsdorf 1741–1743 erbaute Opernhaus besichtigt. Gespielt wurde damals nicht. Für die regelmäßigen Opern-Aufführungen waren nur die Montage und Freitage der Monate December und [711] Januar bestimmt, außerdem der 27. März als der Geburtstag der Königin-Mutter28. Bach interessirten indessen auch die Localitäten, welche zu Musikaufführungen bestimmt waren, als solche. Es klingt fabelhaft, wenn der Erzähler seines Lebens genöthigt ist, zu der Fülle der Talente, welche diesen einzigen Mann auszeichneten, immer noch neue Gaben zu fügen. Bachs Scharfblick war indessen auch in die Geheimnisse akustisch günstiger Bauart eingedrungen. Alles was in der Anlage des Opernhauses der Wirkung der Musik vortheilhaft oder hinderlich war, und was andre erst durch Erfahrung bemerkt hatten, entdeckte er ohne einen Ton Musik darin zu hören auf den ersten Blick. Er machte seine Begleiter auch auf ein im Speisesaale des Opernhauses zu beobachtendes akustisches Phänomen aufmerksam, das wie er meinte der Baumeister vielleicht unabsichtlich angebracht habe. Die Construction der Bögen der Saaldecke verrieth ihm das Geheinmiß. Wenn jemand an der einen Ecke des oblongen Saales auf der Gallerie leise gegen die Wand sprach, so konnte es von dem, der in der Diagonale gegenüber mit dem Gesicht gleichfalls gegen die Wand gewendet stand, deutlich vernommen werden, übrigens aber im Saale nirgends. Bach hatte das Vorhandensein dieser Merkwürdigkeit beim ersten Anblicke bemerkt, ein Probe bestätigte die Richtigkeit. Der Gewährsmann dieser Erzählung sagt auch, Bach habe es immer genau zu berechnen verstanden, wie große Musikstücke sich in diesem oder jenen Raume ausnähmen29. Es ist nicht überflüssig, hierauf nachdrücklich hinzuweisen, da manche sich den Meister so ganz in seine innere Tonwelt versunken denken möchten, daß er darüber die sinnliche Wirkung seiner Compositionen außer Acht gesetzt habe.
Bach hatte mit seinen Ex tempore-Vorträgen die Bewunderung des Hofes errungen; nur er selbst war mit sich nicht zufrieden gewesen. Das vom Könige gegebene Fugenthema gefiel ihm so gut, daß er sich gegen diesen sofort verpflichtete, dasselbe einer vollkommeneren [712] Ausarbeitung zu unterwerfen und sie dem Könige zu Ehren in Kupfer stechen zu lassen. Das Ergebniß dieses Vorsatzes war das Musikalische Opfer, dessen Kunstwerth an andrer Stelle gewürdigt worden ist30. Wie beflissen er war, sein Versprechen zu erfüllen, und wie hoch er demnach den ihm gewordenen Beifall des großen Königs geschätzt haben muß, geht aus der Hast hervor, mit der das Musikalische Opfer zu Stande gebracht wurde. Denkwürdig ist auch die Dedication, welche er ihm vorsetzte:
»Allergnädigster König,
Ew. Majestät weyhe hiermit in tiefster Unterthänigkeit ein Musicalisches Opfer, dessen edelster Theil von Deroselben hoher Hand selbst her rührt. Mit einem ehrfurchtsvollen Vergnügen erinnere ich mich noch der ganz besondern Königlichen Gnade, da vor einiger Zeit, bey meiner Anwesenheit in Potsdam, Ew. Majestät selbst, ein Thema zu einer Fuge auf dem Clavier mir vorzuspielen geruheten, und zugleich allergnädigst auferlegten, solches alsobald in Deroselben höchsten Gegenwart auszuführen. Ew. Majestät Befehl zu gehorsamen, war meine unterthänigste Schuldigkeit. Ich bemerkte aber gar bald, daß wegen Mangels nöthiger Vorbereitung, die Ausführung nicht also gerathen wollte, als es ein so treffliches Thema erforderte. Ich fassete demnach den Entschluß, und machte mich sogleich anheischig, dieses recht KöniglicheThema vollkommener auszuarbeiten, und sodann der Welt bekannt zu machen. Dieser Vorsatz ist nunmehro nach Vermögen bewerkstelliget worden, und er hat keine andere als nur diese untadelhafte Absicht, den Ruhm eines Monarchen, ob gleich nur in einem kleinen Puncte, zu verherrlichen, dessen Größe und Stärke, gleich wie in allen Kriegs- und Friedens-Wissenschaften, also auch besonders in der Musik, jedermann bewundern und verehren muß. Ich erkühne mich dieses unterthänigste Bitten hinzuzufügen: Ew. Majestät geruhen gegenwärtige wenige Arbeit mit einer gnädigen Aufnahme zu würdigen, und Deroselben allerhöchste Gnade noch fernerweit zu gönnen
Ew. Majestät
Leipzig den 7. Julii
1747.
allerunterthänigst gehorsamsten Knechte,
dem Verfasser.«
[713] Es ist bei allen conventionellen Ergebenheits-Phrasen ein würdiges Selbstbewußtsein in dieser Widmung, entsprungen dem Gefühle, nicht nur die Gnade eines großen Königs genossen zu haben, sondern von diesem auch in der eignen Künstlergröße verstanden worden zu sein. –
Zunächst war es immer, wie natürlich, Bachs eminente Orgelvirtuosität, welche die Welt zur Bewunderung niederzwang. Sie hat ihm nach Telemanns Zeugniß schon zu seinen Lebzeiten den Beinamen »der Große« eingebracht31. Aber auch seine Compositionen haben sich vom zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts an weit und immer rascher verbreitet. Allerdings mehr nur die Instrumental-, namentlich Clavier- und Orgelwerke. Vocalcompositionen findet man selten erwähnt. Mattheson spricht von solchen 1716, kritisirt auch 1725 die Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß«; der Adjuvant in Voigts »Gespräch von der Musik« (1742) rühmt sich, er besitze schon drei Packete Kirchencantaten »von den berühmtesten Componisten, als: Telemann, Stölzel, Bach, Kegel und andern mehr«32. Die weltliche Cantate über den Caffee scheint 1739 nach Frankfurt gedrungen zu sein33. Aber im allgemeinen waren Bachs concertirende Gesangscompositionen theils wohl zu schwierig, theils entsprachen sie auch nicht der Zeitempfindung, welche in Telemann ihr Ideal gefunden hatte. Es ist merkenswerth, daß Samuel Petri, der ein vortrefflicher Musiker, zudem Schüler Friedemann Bachs und ein Bewunderer von Sebastians Instrumentalmusik war, diesen als Cantatencomponisten nicht einmal nennt. »Zu Telemanns Zeit«, sagt er, »suchten sich zwar mehrere im Kirchenstyle ebenfalls hervorzuthun, als Stölzel, Kramer und Römhild des letzten Herzogs von Sachsen Merseburg Capellmeister, nebst anderen, deren Genies aber zu mittelmäßig waren, als daß sie Telemann hätten gleich kommen können«34.
[714] Es konnte nicht ausbleiben, daß Bachs immer wachsende Berühmtheit in der Welt auch auf seine Verhältnisse an dem Orte zurückwirkte, wo er seßhaft war. Künstler und Musikfreunde, vornehme und geringe, suchten mit ihm von auswärts in Verbindung zu treten oder pilgerten persönlich zu dem Hause am Thomaskirchhof. Emanuel Bach berichtet aus eigner Anschauung, wenn er in seiner Autobiographie schreibt: »es reisete nicht leicht ein Meister der Musik durch diesen Ort [Leipzig], ohne meinen Vater kennen zu lernen und sich vor ihm hören zu lassen. Die Größe dieses meines Vaters in der Composition, im Orgel-und Clavierspielen, welche ihm eigen war, war viel zu bekannt, als daß ein Musikus vom Ansehen, die Gelegenheit, wenn es nur möglich war, hätte vorbei lassen sollen, diesen großen Mann näher kennen zu lernen«35. Unter den vornehmen Musikfreunden nimmt neben Graf Sporck und Freiherr von Kayserling Georg von Bertuch einen hervorragenden Platz ein. Bertuch war aus Helmershausen in Franken gebürtig, studirte in Jena und machte hier die Bekanntschaft Nikolaus Bachs, mit dem er eine Reise nach Italien unternehmen wollte. Er disputirte 1693 in Kiel über eine juristisch-musikalische Abhandlung De eo quod justum est circa ludos scenicos operasque modernas, die 1696 zu Nürnberg gedruckt wurde. Später kam er in die militärische Laufbahn und wurde Generalmajor und Gouverneur der Festung Aggershuys in Norwegen36. Musik hatte er so eifrig getrieben, daß er gegen 1738 mit 24 Sonaten durch alle Dur- und Molltonarten hervortreten konnte. Ein Exemplar davon scheint er Bach übersendet zu haben; jedenfalls schrieb er ihm einen Brief, in welchem er die deutschen Componisten vor andern herausstrich und sich dabei auch auf Lotti berief, der seine Landsleute zwar für talentvoll aber nicht für Componisten erachte, sondern dafür halte, daß die wahre Composition sich in Deutschland fände37. Einer allerdings nicht unbedingt glaubwürdigen Quelle entnehmen wir, daß Bach mit einer vornehmen und reichen Familie aus Livland bekannt gewesen sei, deren ältester Sohn in Leipzig studirt habe, und daß Emanuel Bach [715] mit demselben eine Reise durch Frankreich, Italien und England habe unternehmen sollen; doch sei dieser Plan durch Emanuels Anstellung beim Kronprinzen Friedrich von Preußen vereitelt worden38. In Bachs letzten Lebensjahren bestanden auch Beziehungen zwischen ihm und einem Grafen von Würben, dessen Sohn 1747 in Leipzig studirt zu haben scheint39.
Um von zureisenden Musikern nur einige zu nennen, so machte der Böhme Franz Benda 1734 auf einer Reise von Berlin nach Bayreuth Bachs Bekanntschaft40. Der Schwabe Johann Christian Hertel, welcher 1726 in Weimar bei der Trauermusik mitgewirkt hatte, die der Herzog Ernst August auf den Tod seiner Gemahlin aufführen ließ, nahm seinen Weg nach Dresden über Leipzig, trat bei Bach ein und bewog ihn dazu, ihm vorzuspielen41. Johann Francisci aus Neusohl in Ober-Ungarn reiste zur Ostermesse 1725 nach Leipzig, »hatte das Glück, den berühmten Herrn Capellmeister Bach kennen zu lernen und aus dessen Geschicklichkeit seinen Nutzen zu ziehen«42. Balthasar Reimann, ein wackrer Organist zu Hirschberg in Schlesien, der von seinem Landsmanne Daniel Stoppe mehrfach angesungen wird, erzählt, er sei zwischen 1729 und 1740 auf Kosten eines vornehmen Gönners nach Leipzig gereist, um den berühmten Joh. Sebastian Bach spielen zu hören. »Dieser große Künstler nahm mich liebreich auf und entzückte mich dermaßen durch seine ungemeine Fertigkeit, daß mich die Reise niemals [716] gereuet hat«43. In vertraulicherer Beziehung zum Bachschen Hause scheint Georg Heinrich Ludwig Schwanenberger gestanden zu haben, Violinist in der herzoglich braunschweigischen Capelle44. Derselbe befand sich im October 1728 in Leipzig, da Bach grade ein Töchterchen taufen ließ. Zum Pathen war unter andern der Großvater Johann Caspar Wülcken gebeten; da dieser aber nicht persönlich erscheinen konnte, so vertrat der biedre Schwanenberger seine Stelle. Dem Besuche eines befreundeten Musikers verdankt auch ein geistreicher Canon aus Bachs vorletztem Lebensjahre seine Entstehung. Der Meister hat denselben mit sinnvollen lateinischen Sprüchen umgeben, die an die Beischriften des Musikalischen Opfers erinnern. Er hat sammt diesen folgendes Aussehen:
»Fa Mi, et Mi Fa est tota Musica
Canon super Fa Mi, a 7. post Tempus Musicum.
Domine Possessor
Fidelis Amici Beatum Esse Recordari
tibi haud ignotum: itaque
Bonae Artis Cultorem Habeas
Lipsiae d. 1 Martii
1749.
verum amIcum Tuum.«
[717] Es ist ein siebenstimmiger Canon über den Basso ostinato Da diese Töne nach den Regeln der Solmisation ein zweimal wiederkehrendes fa mi darstellen, insofern die mittleren beiden dem sechsten, die äußeren dem fünften Hexachord angehören, so konnte Bach sagen, der Canon sei über das fa mi (oder mi fa) geschrieben. Die canonischen Stimmen setzen eine jede einen Doppeltakt (tempus musicum) nach der vorhergehenden ein. Außerdem bemerkt man in der Überschrift des Ostinato und wiederum in der zweiten Zeile der Unterschrift – in letzterer akrostichisch – den Namen Faber (Schmidt), wogegen die vorletzte Zeile der Unterschrift, ebenfalls akrostichisch gelesen, den Namen Bach ergiebt; die hervorstehenden Buchstaben der letzten Zeile I T bedeutenIsenaco-Thuringum (aus Eisenach in Thüringen). Wer die Persönlichkeit war, dem Bach das mit solch zierlichen Arabesken ausgestattete Kunstwerk widmete, läßt sich nur vermuthen. Es könnte Balthasar Schmidt aus Nürnberg gemeint sein, Sebastian und Emanuel Bachs Verleger, selber Organist und geschickter Musicus. Indessen läßt die Fassung der Unterschrift auf ein langdauerndes Freundschaftsbündniß schließen, und es fehlt an jedem Anhalte, ein solches zwischen Bach und Balthasar Schmidt zu vermuthen. Mehr Wahrscheinlichkeit hat Johann Schmidt, Organist zu Zella St. Blasii in Thüringen für sich. Dieser muß in Bachs Alter gewesen sein. Er war um 1720 Lehrer Johann Peter Kellners, welcher erzählt, daß man ihn mit Recht wegen seiner besondern Geschicklichkeit gerühmt habe45. Vermuthlich haben wir ihn auch unter dem Organisten Johann Ch. Schmidt zu verstehen, der am 9. November 1713 sich ein Clavierpraeludium Seb. Bachs abschrieb46. Darnach wäre die Verbindung zwischen ihm und Bach eine sehr alte. Johann Schmidt räumte freilich schon 1746 die Organistenstelle zu Zella seinem Sohne Christian Jacob, doch wird nicht berichtet, daß er auch in diesem Jahre gestorben sei. Und erwägt man, daß Bach grade in seinen letzten Lebensjahren zwei seiner Werke durch J.G. Schübler in [718] Zella stechen und verlegen ließ,47 so läßt sich mit Grund annehmen, daß diese übrigens auffallende Geschäftsverbindung Bachs mit einem unbekannten Manne in einem kleinen und entlegenen Orte durch Johann Schmidt herbeigeführt war.48 –
Wichtiger als solche vorübergehende wenn auch sehr häufige Berührungen mit auswärtigen Musikern wurden für Bachs Privatleben die Schüler, welche ihm von nah und fern zuströmten. Aus der Mühlhäuser, weimarischen und cöthenischen Zeit hatten wir nur Schubart, Vogler, Tobias Krebs, Ziegler, Schneider und Bernhard Bach als solche zu nennen gehabt, die Bachs Unterweisung genossen. Es mag zum Theil ein Zufall sein, daß uns die Kenntniß einer größeren Anzahl abgeht. Sicher aber ist doch auch, daß Bach erst in Leipzig die stärkste Wirksamkeit als Lehrer entfaltete. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit, welches noch immer die Glieder des großen Bachschen Geschlechtes erfüllte, veranlaßte seit Sebastian in Leipzig war den jüngeren Nachwuchs der Nebenlinien, sich mit Vorliebe diesen Ort nicht nur zum musikalischen, sondern auch zum wissenschaftlichen Studium auszuersehen. Am 7. Mai 1732 ließ sich Samuel Anton, der älteste Sohn Johann Ludwig Bachs aus Meiningen auf der Leipziger Universität inscribiren. Er ging in Sebastians Hause aus und ein und schloß Freundschaft mit Emanuel, der ebenfalls seit einem Semester Student war. Samuel Anton besaß eine reiche und vielseitige Begabung; nicht ohne Erfolg legte er sich auf die Malerei und betrieb die Musik, jedenfalls unter Nachhülfe Sebastians, mit solchem Ernst, daß er hernach in Meiningen Hoforganist werden konnte.49 Einige Jahre später bezog Johann [719] Ernst, der Sohn Bernhard Bachs aus Eisenach die Thomasschule und studirte darauf an der Universität die Rechte. Sein Schülerverhältniß zu Sebastian zeigen 12 Vivaldische, von diesem für Clavier bearbeitete Concerte an, welche er sich abgeschrieben hat.50 Im Frühjahr 1739 kam sogar noch Johann Elias Bach, damals schon wohlbestallter Cantor in Schweinfurt, angezogen, um sich als Student der Theologie immatriculiren und in der Musik von Sebastian fördern zu lassen. Beweisen seiner dankbaren Gesinnung gegen den großen Verwandten werden wir weiter unten begegnen.51
In der Reihe derjenigen Schüler, die nicht durch Bande des Bluts an Sebastian Bach geknüpft waren, hat Heinrich Nikolaus Gerber den Vortritt. Er war 1702 zu Wenigen-Ehrich im Schwarzburgischen geboren, hatte das Gymnasium zu Mühlhausen besucht und hier dem genialen, aber verkommenen Friedrich Bach manches abgelauscht.52 1721 kam er auf das Gymnasium nach Sondershausen und im Mai 1724 als studiosus juris auf die Leipziger Universität. Er hegte jedoch die Absicht, auch die Musik weiter zu pflegen: litterarum liberalium studiosus ac musicae cultor pflegte er sich in jenen Jahren zu unterzeichnen. Seine Ehrfurcht vor Bach war so groß, daß er es ein Jahr lang nicht wagte, ihn um Unterricht zu ersuchen. Es hielt sich aber damals ein Musiker Namens Wilde in Leipzig auf, vermuthlich derselbe, welcher 1741 kaiserlicher Kammermusiker in Petersburg wurde und sich durch eine Reihe von verbessernden Erfindungen an verschiedenen Instrumenten einen Namen gemacht hatte. Dieser spielte den Vermittler und führte den Kunstjünger bei Bach ein. »Bach nahm ihn als einen Schwarzburger, besonders gefällig auf und nannte ihn von da beständig Landsmann. Er versprach ihm den erbetenen Unterricht und fragte zugleich, ob er fleißig Fugen gespielet habe? In der ersten Stunde legte er ihm seine Inventiones vor. Nachdem er diese zu Bachs Zufriedenheit durchstudirt hatte, folgten eine Reihe Suiten und dann das temperirte Clavier. Dies letztere hat ihm Bach mit [720] seiner unerreichbaren Kunst dreimal durchaus vorgespielt, und er rechnete die unter seine seligsten Stunden, wo sich Bach, unter dem Vorwande, keine Lust zum Informiren zu haben, an eines seiner vortrefflichen Instrumente setzte und so diese Stunden in Minuten verwandelte.« Gerber verließ Leipzig 1727 und begab sich dahin nur noch einmal gegen 1737, um den geliebten Lehrer wiederzusehen. Er wurde 1731 Hoforganist in Sondershausen und hat als wackrer und bescheidener Künstler seinem großen Meister Ehre gemacht.53
Johann Tobias Krebs, Bachs fleißiger und begabter Schüler während dessen weimarischer Zeit, sendete nach und nach nicht weniger als drei Söhne auf die Thomasschule. Der zweite, Johann Tobias trat 1729, dreizehnjährig, ein. Bach urtheilte über ihn, er habe »eine gute starcke Stimme und feine profectus«.54 Die Musik scheint indessen bei ihm durch die Wissenschaften allmählig in den Hintergrund gedrängt worden zu sein. Er absolvirte 1740 die Schule mit Auszeichnung, wurde 1743 an der Universität Magister philosophiae, später Rector der Landesschule zu Grimma. Noch ausschließlicher dürfte sich der dritte Sohn, Johann Carl, den gelehrten Studien hingegeben haben, welcher 1747 mit Ehren die Schule verließ.55 Das hervorragendste musikalische Talent aber besaß Johann Ludwig, der älteste. Er ist am 10. Februar 1713 zu Buttelstädt geboren, war von 1726 bis 1735 Thomasschüler, und studirte alsdann noch zwei Jahre auf der Universität. Das Verhältniß Bachs zu diesem Lieblingsschüler war ein besonders vertrautes. Er bewunderte seine musikalischen Leistungen und schätzte seine gelehrten Kenntnisse.56 Scherzend soll er gesagt haben: »Das ist der einzige Krebs in meinem Bache«.57 Im Musikverein ließ er ihn als Cembalisten anstellen,58 er empfahl ihn dem Professor Gottsched als Musiklehrer für seine [721] Frau,59 und ließ sich sogar herbei seine Compositionen zu vertreiben.60 Als Krebs die Schule verließ, stellte ihm Bach folgendes Zeugniß aus:
»Da Vorzeiger dieses Herr Johann Ludwig Krebs mich Endesbenannten ersuchet, Ihme mit einem Attestat wegen seiner Aufführung auf unserm Alumneo zu assistiren. Als habe Ihme solches nicht verweigern, sondern so viel melden wollen, daß ich persuadiret sey, aus Ihme ein solches Subjectum gezogen zu haben, so besonders in Musicis sich bey uns distinguiret, indem Er auf dem Clavier, Violine und Laute, wie nicht weniger in der Composition sich also habilitiret, daß er sich hören zu lassen keine Scheu haben darf; Wie denn deßfalls die Erfahrung ein Mehreres zu Tage legen wird. Ich wünsche Ihme demnach zu seinem Avancement göttlichen Beystand, und recommandire denselben hiermit nochmahligst bestens«.
Im April 1737 wurde Krebs Organist in Zwickau und einige Monate darauf schrieb der Organist Linke in Schneeberg einem Freunde: »Vor einiger Zeit habe die Ehre gehabt, Monsieur Krebsen, den neuen Organisten in Zwickau, einen sehr starken Clavier- und Orgelspieler, zu sprechen und zu hören. Ich muß gestehen, daß es etwas wichtiges sei, was dieser Mensch als ein Organiste vor andern thut, und ist er eine Bachische Creatur«.62 Krebs wurde im April 1744 Schloßorganist in Zeitz, wo er mit dem jüngern Schemelli zusammen wirkte,63 1756 aber Hoforganist in Altenburg und hier ist er 1780 gestorben. Unzweifelhaft war er als Orgelkünstler Bachs würdigster Schüler, und einer der größten, welche überhaupt nach Bach gelebt haben. An Spielfertigkeit mochte ihn Vogler erreichen, als Componist steht er tief unter ihm.
[722] Ein jüngerer Künstler, der seine Ausbildung durch Bach eigentlich schon in Cöthen erhielt, aber nach einer Unterbrechung auch in Leipzig wieder das Verhältniß des Jüngers zum Meister erneuerte, war Johann Schneider. Er wetteiferte 1730 mit Vogler um die Organistenstelle an der Nikolaikirche, und vermochte ihm den Rang abzulaufen. Ich habe dies an andrer Stelle schon erzählt.64 Hier gilt es nur, einen bedeutenden Musiker nicht vorüberzugehen, von dem ein Leipziger Ohrenzeuge meldet, seine Vorspiele auf der Orgel seien von so gutem Geschmacke, daß man in dieser Gattung, ausgenommen seinen Lehrer Bach selber, in Leipzig nichts besseres hören könne.65
1732 begab sich Georg Friedrich Einicke nach Leipzig, geb. 1710 zu Hohlstedt in Thüringen, wo sein Vater Cantor und Organist war. Er besuchte bis zum Jahre 1737 die akademischen Vorlesungen und bildete sich an Bach, zugleich aber auch durch den Verkehr mit Scheibe musikalisch weiter. Als Componist erwarb er sich einen geachteten Namen, und scheint auch bei seinem Meister in guter Erinnerung geblieben zu sein. Noch in Bachs Todesjahre fand zwischen ihnen Briefwechsel statt; Einicke war damals Cantor in Frankenhausen.66
Eine Schaar ausgezeichneter Talente sammelte sich um Bach Ende der dreißiger und Anfang der vierziger Jahre. Ein Thomasschüler war aber nicht unter ihnen, ebensowenig unter denen, die ihm noch später zuzogen und etwas bedeutendes geworden sind. Dies ist nach allem, was zwischen Bach und Ernesti geschehen war, begreiflich, beleuchtet aber hell die ungünstige Stellung, welche Bach seitdem als Cantor einnahm. Seine besten Schüler waren fortan Studenten, oder solche die sich für den musikalischen Lebensberuf schon ganz entschieden hatten. Johann Friedrich Agricola aus Dobitschen bei Altenburg (geb. 1720) ließ sich am 29. Mai 1738 immatriculiren, studirte Jurisprudenz, Geschichte und Philosophie und empfing daneben von Bach einen gründlichen Unterricht in Spiel [723] und Composition. Bach hielt ihn für geschickt genug, im Musikverein, den er also um 1738 noch geleitet haben muß, das Cembalo zu spielen; auch verwendete er ihn bei der Kirchenmusik als Accompagnisten. Agricolas Mutter war eine Verwandte Händels und soll mit ihm zeit seines Lebens in brieflichem Verkehr gestanden haben. Mit Händels Werken beschäftigte sich Agricola eifrig schon in Leipzig, was die Anerkennung und Theilnahme, mit welcher auch Bach seinem ebenbürtigen Zeitgenossen gegenüberstand, von neuem offenbar werden läßt. Im Herbst 1741 ging Agricola nach Berlin, wurde dort bald als der beste Orgelspieler anerkannt, wendete sich aber auch mit Eifer der Oper und italiänischen Gesangskunst zu. 1751 wurde er Hofcomponist und nach Grauns Tode (1759) königlicher Capellmeister. Er schrieb Kirchen- und Instrumentalmusik, namentlich aber Opern. Seine vortreffliche wissenschaftliche Bildung befähigte ihn zugleich, als Schriftsteller mit Erfolg zu wirken. Ihm und Emanuel Bach verdankt die Nachwelt den Nekrolog über Sebastian Bach, den Mizler 1754 in seiner Musikalischen Bibliothek veröffentlichte. In seinen Anmerkungen zu Adlungs Musica mechanica organoedi hat er uns werthvolle Einzelheiten über Bach vermittelt. Die mit Erläuterungen und Zusätzen begleitete Uebersetzung von Tosis Anleitung zur Singkunst kann noch heute als ein classisches Werk gelten. Er starb 1774.67
Ebenfalls 1738 kam Johann Friedrich Doles zur Universität, der 1716 zu Steinbach im Hennebergischen geboren, zu Schmalkalden und auf dem Gymnasium zu Schleusingen vorgebildet worden war.68 Er ist 1755 Bach im Cantorate nachgefolgt, hat sich aber mit der Richtung aufs weichliche, opernhafte und flach-populäre nicht als ein Geisteskind seines Lehrers erwiesen. Während seiner [724] Amtsführung verkümmerte die Pflege Bachscher Kirchenmusik in Leipzig. Er legte aber Gewicht darauf, als ein Schüler Bachs zu gelten.69 Doles erwarb sich durch sein gefälliges Talent schon zu seines Lehrers Lebzeiten in Leipzig viele Freunde. Er, und nicht Bach selber war es, der 1744 zur Jahresfeier des neugegründeten Musikvereins die Festmusik schreiben mußte. In demselben Jahre wurde er Cantor in Freiberg. Ueber seine Erlebnisse dort ist weiter unten noch einiges zu sagen.
Viel ernster gesinnt und auch von ausgiebigerer Begabung war Gottfried August Homilius, geb. 1712 zu Rosenthal an der böhmischen Gränze. Er hatte seine Studien bei Bach im Jahre 1742 beendigt, da er Organist an der Frauenkirche zu Dresden wurde. Später war er Cantor an der Kreuzschule und Kirchenmusikdirector daselbst und ist 1785 gestorben. Als Organist bewundert verschaffte er sich doch den größeren Ruhm durch seine kirchliche Vocalmusik. Das bedeutendste, was in dieser Art die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts aufzuweisen hat, ist unstreitig durch ihn geleistet. Wenn auch nicht durchaus ihrer Bestimmung angemessen, so tragen seine Werke doch noch einzelne Züge eines großen, edlen Kirchenstils.70
Wieder ganz anders geartet war Johann Philipp Kirnberger, geb. 1721 zu Saalfeld in Thüringen, der durch Gerber veranlaßt wurde, sich zu Bach zu begeben und von 1739–1741 dessen Schüler war. Dann ging er nach Polen, kehrte 1751 von dort zurück und wurde Hofmusicus der Prinzessin Amalia von Preußen in Berlin, wo er 1783 gestorben ist. Als Componist wurde er nicht bedeutend, wohl aber als Compositionslehrer. Hätte er eine gründlichere Allgemeinbildung und einen systematischer geschulten Geist besessen, so wäre er unbedingt der erste Theoretiker seiner Zeit geworden. Seiner Arbeiten, welche bis in unser Jahrhundert hinein für die Methode der Compositionslehre fast ausschließlich bestimmend geworden sind, ist in diesem Buche genugsam Erwähnung geschehen.
Vorzugsweise nur Claviervirtuosen waren Rudolph Straube aus Trebnitz an der Elster, der am 27. Febr. 1740 sich auf der Universität [725] einschreiben ließ, in den fünfziger Jahren durch Deutschland Kunstreisen machte und dann nach England ging;71 Christoph Transchel aus Braunsdorf (geb. 1721), als Student der Theologie und Philosophie immatriculirt am 21. Juni 1742, bald Bachs Schüler und Freund, welcher bis 1755 in Leipzig und dann bis zu seinem Tode (1800) in Dresden als gesuchter Clavierlehrer thätig, und ebenso durch Feinheit des Spiels wie durch hohe allgemeine Bildung ausgezeichnet war;72 endlich Johann Theophilus Goldberg. Diesen hatte der Freiherr von Kayserling in noch sehr jungen Jahren mit sich nach Dresden gebracht; als sein Geburtsort wird Königsberg genannt.73 Anfänglich unterrichtete ihn Friedemann Bach;74 später, gegen 1741, nahm ihn sein Gönner häufig mit nach Leipzig, um ihm Sebastians Unterweisung zu verschaffen. Seine Fertigkeit im Clavierspiel, dem er mit rast- und maßlosem Eifer oblag, wurde bald eine erstaunliche. Einen Maßstab für dieselbe gewähren die 30 Veränderungen, welche Bach auf Kayserlings Wunsch für Goldberg componirt hat. Kayserling war kränklich und litt an Schlaflosigkeit; er liebte es dann durch eine sanfte und etwas muntere Musik sich den Trübsinn vertreiben zu lassen. Diesem Zwecke schienen ihm die Variationen auf das vollkommenste zu entsprechen. Forkel erzählt, er habe sich nicht satt daran hören können und Bach durch eine mit hundert Louis d'or gefüllte Dose für seine Kunstgabe belohnt.75 Goldberg trat später als Kammermusicus in die Dienste des Grafen Brühl, starb aber früh. Er war ein grillenhafter, wie es scheint Friedemann Bach in manchem verwandter Charakter. Nach dem gemeinen Urtheil reichte seine Compositionsbegabung nicht [726] weit; indessen ist doch ein grösseres Clavierpraeludium aus C dur ein gediegenes, dabei, wie zu erwarten, sehr brillantes Stück.76
In den letzten Jahren waren es namentlich Altnikol, Kittel und Müthel, mit deren Ausbildung sich Bach beschäftigte. Johann Christoph Altnikol, der 1749 Bachs Schwiegersohn wurde, weilte noch bis 1747 in Leipzig und half bei den Kirchenaufführungen.77 Ein Versuch Friedemanns, ihn 1746 bei seinem Weggange von Dresden an seine Stelle zu bringen, war mißlungen.78 1747 wurde er indessen Organist in Niederwiesa bei Greiffenberg, und 1748 auf Bachs Verwendung Organist zu St. Wenceslai in Naumburg, wo er nach ehrenvollem Wirken im Juli 1759 gestorben ist.79 Johann Christian Kittel aus Erfurt ist einer der spätesten Schüler Bachs, da er bei des Meisters Tode erst 18 Jahre zählte. Er mag bis zu dem Eintritt dieses Ereignisses bei ihm geweilt haben. Von Leipzig ging er nach Langensalza und 1756 nach Erfurt, wo er im Laufe der Zeit Organist an der Predigerkirche wurde. Kittel war tüchtig als Spieler und Orgelcomponist, ausgezeichnet als Lehrer. Er hat eine große Zahl der besten thüringischen Organisten gebildet und in pietätvoller Erinnerung an seinen Meister die Traditionen Bachscher Kunst zu erhalten gesucht. Er starb hochbetagt 1809.80 Nur wenige Wochen [727] hat Johann Gottfried Müthel Bachs Unterricht genossen, wenn bei des Meisters Augenleiden und Kränklichkeit in dieser Zeit von einem solchen überhaupt noch die Rede sein konnte. Müthel kam vom herzoglichen Hofe zu Schwerin, wo er seit spätestens Michaelis 1748 als Nachfolger seines Bruders den Schloßorganisten-Dienst versah. Der Herzog war dem jungen, 1729 zu Mölln geborenen Künstler so sehr gewogen, daß er ihm im Mai 1750 unter Belassung seines Gehalts einen Urlaub auf ein Jahr ertheilte, damit er sich bei Bach in seiner Kunst vervollkommne. Ein Geleitsschreiben des Herzogs verschaffte ihm freundliche Aufnahme und die Vergünstigung in Bachs Hause wohnen zu dürfen. Er ist Zeuge von der letzten Krankheit und dem Hinscheiden des Meisters gewesen und hat sich dann, um sich für den vereitelten Zweck seiner Reise möglichst schadlos zu halten, nach Naumburg zu Bachs Schwiegersohne Altnikol begeben, bei welchem er am 2. Juni 1751 noch verweilte. Von Schwerin ging er im Juni 1753 nach Riga, wo er als Organist sein Leben beschloß. Die Familie Müthel blüht noch jetzt in Livland. Johann Gottfrieds Talent für Clavier- und Orgelspiel war ein außerordentliches und hoch entwickelt. Seine nicht sehr zahlreichen Compositionen galten als Probestücke höchster Virtuosität.81
Wie weit sich nach allen Seiten hin und auch über Dentschlands Gränzen hinaus Bachs Ruhm und lebendiger künstlerischer Einfluß erstreckt hat, mag man aus diesen Mittheilungen abnehmen. Die Zahl[728] seiner Schüler ist durch die angeführten Namen noch nicht erschöpft. Man drängte sich an ihn, manchmal nur um sich in der Welt überhaupt seinen Schüler nennen zu können. Thomaner, wenn sie auch nur im Haufen mit andern seine Unterweisung genossen hatten, setzten hierin ihren Stolz. Zu solchen gehört Christoph Nichelmann aus Treuenbrietzen (geb. 1717), später Capellmusiker bei Friedrich dem Großen. Er war 1730–1733 Bachs erster Discantist bei den Kirchenmusiken, und erhielt außerdem von Friedemann Bach Clavierunterricht.82 Johann Peter Kellner aus Gräfenroda (geb. 1705), der wohl durch den Organisten Schmidt in Zella in Bachs Werke eingeführt und für dieselben begeistert war, pries es öffentlich als sein Glück, die Bekanntschaft »dieses vortrefflichen Mannes« genossen zu haben; er kann mit Recht wenn auch kein eigentlicher Schüler, so doch ein geistiger Zögling desselben genannt werden.83 In einem ähnlichen Verhältniß wird Johann Trier gestanden haben. 1716 zu Themar geboren studirte er in Leipzig Theologie und war 1747 zugleich Dirigent des Telemannschen Musikvereins. Er meldete sich auch 1750 zum Nachfolger Bachs im Cantorat. Hier wurde ihm Harrer vorgezogen, dagegen schlug er 1753 in Zittau sämmtliche Mitbewerber aus dem Felde, unter denen sich auch Friedemann und Emanuel Bach, Krebs und Altnikol, also vier nachweisliche Schüler Bachs befanden. Als Organist der dortigen Kirche hat er bis 1790 in dem Rufe eines Bachschen Schülers und mit dem Ruhme eines der besten Organisten in Sachsen gewirkt und gelebt.84 Eine Empfehlung Bachs galt als Mittel sein Glück in der Welt zu machen. Gerlach erhielt durch eine solche die Organistenstelle an der Neuen Kirche zu Leipzig, Christian Gräbner der jüngere und Carl Hartwig beriefen sich auf die von Bach genossene Unterweisung, als sie 1733 Organisten an der Sophienkirche in Dresden werden wollten.85 Johann Christoph Dorn scheint sich mittelst eines schriftlichen Zeugnisses [729] des berühmten Mannes den Organistendienst in Torgau erobert zu haben. Das Zeugniß ist erhalten und von einem milden Wohlwollen dictirt, welches an Ähnliches des ehrwürdigen Heinrich Bach aus Arnstadt erinnert.86 Man wird es daher gern hier lesen:
»Vorzeiger dieses Mons. Johann Christoph Dorn, der Music Geflißener, hat mich endesbenannten ersuchet, ihme wegen seiner in Musicis habenden Wissenschaften einig attestatum zu ertheilen.
Wenn denn nach bey mir abgelegtem Specimine befunden, daß er auf dem Claviere sowohl als auch anderen Instrumenten einen ziemlichen habitum erlanget, mithin im Stande sey, Gott und der Republic Dienste zu leisten, so habe seinem billigen petito nicht entgegen seyn, sondern vielmehr bezeigen sollen, daß bei zunehmenden Jahren von seinem gutennaturel man einen gar habilen Musicum sich versprechen könne.
Nach alter Meistersitte bildeten die Lehrlinge einen Theil der Familie. Bach hielt es wie seine Vorfahren mit dem zünftigen Musikantenthum, und Müthel wird nicht der einzige Schüler gewesen sein, dem er eine Wohnstätte in seinem Hause einräumte. Die Schüler haben uns gewissermaßen in Bachs häusliches Leben eingeführt, und wie dieses und die Persönlichkeit des Familienhauptes sich ausnahm, mag noch, so weit die Mittel reichen, geschildert werden. Fragt man nach dem gewöhnlichen Verkehr, soweit derselbe nicht Künstler und Kunstangelegenheiten betraf, so dürfte er bei der Abgeschlossenheit des bürgerlichen Hauses jener Zeit, bei Bachs einfachem und haushälterischem Sinne und bei seiner ununterbrochenen [730] Beschäftigung mit Spiel und Composition nur ein enger und wenig bewegter gewesen sein. Die Persönlichkeiten, welche Bach für seine zahlreichen Kinder zu Pathen nahm, und die hierdurch gewisse familiäre Beziehungen zu seinem Hause verrathen, gehören größtentheils der höheren Beamtenwelt oder den vornehmen Kaufmannskreisen an. Auch Advocaten und Docenten der Universität sind darunter. In den späteren Jahren scheint namentlich zwischen dem Hause eines Handelsherrn Namens Bose und der Bachschen Familie ein intimeres Verhältniß bestanden zu haben. Einen regeren und durch persönliche Geneigtheit belebten Verkehr mit dem Hof-Instrumentenmacher Johann Christian Hoffmann darf man ebenfalls annehmen. Hoffmann war schon 1725 in Leipzig ansässig und wohnte auf dem Grimmaischen Steinwege;88 er ging Bach, der mit Vorliebe über allerhand Verbesserungen an den Instrumenten nachsann, in der Construction derselben treu zur Hand. Von der Viola pomposa z.B. verfertigte er mehre Exemplare.89 Als er am 1. Februar 1750 gestorben war, fand sich, daß er aus Verehrung für Bach diesem ein von ihm verfertigtes Instrument testamentarisch vermacht hatte.90
Von einem Umgange mit den litterarischen Größen der Stadt, sofern sie nicht Collegen Bachs waren, finden sich nur einige wenige Spuren. Mit Gotsched war er durch die Trauerfeierlichkeit für die Königin Christiane Eberhardine in Berührung gekommen. Er mochte übrigens mit einem Manne, der ein abgesagter Feind der Oper war, nicht grade sympathisiren,91 und Gottscheds Bestrebungen für die Dichtkunst haben ihn schwerlich sehr interessirt. Indessen knüpfte sich zwischen dem Hause des Gelehrten und dem des Künstlers zeitweilig eine Verbindung dadurch, daß Krebs von Gottsched zum Musiklehrer seiner Frau angenommen wurde.92 Luise Adelgunde Victoria, die 1735 als Neuvermählte ihren Einzug in Leipzig hielt,[731] besaß neben ihren hervorragenden Geistesgaben auch ein bedeutendes Talent zur Musik. Sie spielte schon vortrefflich Clavier und Laute, wollte nun auch die Composition erlernen und Krebs ward ausersehen, sie hierzu anzuleiten. Sie brachte es darin bald so weit, eine Suite und eine Cantate componiren zu können. Krebs selbst war von seiner Schülerin, die damals im Anfang der zwanziger Jahre stand, bis zur Schwärmerei entzückt. 1740 noch widmete er ihr von Zwickau aus ein Heft mit sechs Praeambulen, die er bei Balthasar Schmidt in Nürnberg hatte in Kupfer stechen lassen, und stellte sie in einem überschwänglichen Dedicationsgedicht als die Überlegene hin,
»Die den, der Dein Gehör zu unterweisen dachte,
Sobald Du nur gespielt, zu einem Schüler machte«.93
Gottscheds Haus wurde zeitweilig zu einer Art von musikalischem Mittelpunkt. Sylvius Leopold Weiß, der einst von Dresden aus nach Leipzig gekommen war, besuchte die begabte Frau, hörte sie mit Beifall spielen und spielte ihr selbst vor; Gräfe widmete ihr die zweite Sammlung seiner Oden, auch Mizler suchte durch eine Dedication sich ihr angenehm zu machen. So wird denn wohl auch Bach zuweilen bei ihr eingetreten sein. Die Bewunderung, mit welcher T.L. Pitschel in den »Belustigungen des Verstandes und Witzes« im Jahre 1741 Bachs gedenkt, spricht dafür, dass er dem Gottschedschen Kreise um diese Zeit nicht fern gestanden und ihn wohl zuweilen durch sein Spiel entzückt hat.94
Dauernde Freundschaft verband Bach mit einem andern beliebten, wenn auch weniger als Gottsched berühmten Universitätslehrer. Johann Abraham Birnbaum war schon am 20. Febr. 1721 neunzehnjährig zum Magister promovirt, und hatte sich am 15. October desselben Jahres als Docent habilitirt.95 Sein Hauptfach war die Rhetorik, über welche er stark besuchte Vorlesungen hielt. Es bestand in Leipzig eine »Vertraute deutsche Rednergesellschaft«, deren Mitglied Birnbaum war; auch gab er 1735 eine Sammlung von Reden heraus, die er dort in reinem, flüssigem aber etwas ciceronianisch [732] phrasenhaftem Deutsch gehalten hatte.96 Mit Bach hatte ihm seine Musikliebe – er spielte selber hübsch Clavier – zusammengebracht. Er wohnte im Brühl und starb am 8. August 1748 unverehlicht.97
Bach erwähnt sein Ableben in einem Briefe an Elias Bach vom 2. November 1748 in einer Weise, die schließen läßt, daß der Vetter sich nach ihm erkundigt hatte. Die Freundschaft zwischen Birnbaum und Bach hatte einen thatsächlichen Ausdruck gefunden, der sie auch in weiten Kreisen bekannt machte. In der periodischen Schrift, welche Johann Adolph Scheibe unter dem Titel »Critischer Musikus« vom 5. März 1737 an herausgab, war unter dem 14. Mai desselben Jahres ein anonymer Brief erschienen, welcher einen Angriff auf Bach enthielt. Sein Name war nicht genannt, aber die Persönlichkeit unverkennbar. Scheibe gestand später, daß der Brief eine Fiction und er selbst der Verfasser des Aufsatzes sei. Es wurde in demselben zwar die außerordentliche Fertigkeit Bachs im Clavier- und Orgelspiel gerühmt, aber an seinen Compositionen ein Mangel an Natürlichkeit und Annehmlichkeit, ein schwülstiges und verworrenes Wesen und ein Uebermaß von Künstlichkeit getadelt. Der Schreiber meinte hiermit hauptsächlich die concertirende Vocalmusik und kam zu dem Schlusse, Bach sei in der Musik dasjenige, was ehemals Lohenstein in der Poesie gewesen.98 Ein Jahr später äußerte Scheibe nochmals, »Bachsche Kirchenstücke« seien allemal künstlicher und mühsamer, keineswegs aber von solchem Nachdrucke, Überzeugung und von solchem vernünftigen Nachdenken, als die Telemannschen und Graunschen Werke.99 Mit dieser Ansicht stand er nicht allein, wie bei dem Geschmacke der damaligen Zeit und der verfälschten Vorstellung, die man von Kirchenmusik hatte, begreiflich ist. Trotzdem machte die Sache allgemein ein peinliches Aufsehen, nicht nur wegen der hohen, für unnahbar gehaltenen Stellung [733] des Angegriffenen, sondern besonders auch durch den Ton, in welchem der Tadel gehalten war, und wegen der Person des Angreifers. Scheibe war ein junger Mann von Kenntnissen, Scharfsinn und schriftstellerischem Talent, aber nur ein mäßiger praktischer Musiker. Jedermann in Leipzig wußte, daß sein Probespiel behufs Erlangung der Organistenstelle an der Nikolaikirche keine Gnade vor Bachs Urtheil gefunden hatte, und die übelsten, wenngleich gewiß übertriebenen Gerüchte liefen über dasselbe um. Scheibe war eine ehrgeizige und eifersüchtige Natur. Er hatte seitdem gegen Bach agitirt, und eine Strömung hervorgerufen oder doch sicher befördert, wider die schon im Jahre 1731 Bach und seine Anhänger sich in ihrer Art zur Wehre setzten. Daß der Charakter des Midas in der Cantate »Der Streit zwischen Phöbus und Pan« auf Scheibe zu deuten ist, glaube ich an andrer Stelle augenscheinlich gemacht zu haben.100 Die Welt sah in diesem aus sicherer Ferne unternommenen Angriffe allgemein einen Act unwürdiger persönlicher Rache.
Bach fühlte sich durch denselben tiefer verletzt, als er vielleicht gedurft hätte. Er fiel aber gerade in eine Zeit, da er ohnehin durch den Conflict mit Ernesti in eine sehr gereizte Stimmung versetzt war. Fast scheint es, als habe er den Gedanken gehegt, selbst zu einer Erwiederung gegen Scheibe die Feder zu ergreifen. Da war es Birnbaum, der für ihn eintrat. Zunächst ließ er im Januar 1738 eine anonyme Schrift ausgehen »Unparteiische Anmerkungen über eine bedenkliche Stelle in dem sechsten Stücke des critischen Musikus«. Als Scheibe zwei Monate darauf eine »Beantwortung« derselben erscheinen ließ, trat er ihm im März mit offenem Visir und einer ausführlichen »Vertheidigung« entgegen. Beide Schriften widmete er Bach, die letztere mit einer längeren Zueignung. Sie ist bei weitem die gelungenere. In der ersteren hatte er den Tadel gegen Bachs Musik zu entkräftigen gesucht, und hier bewegte er sich doch auf einem Gebiete, das ihm nicht genau genug bekannt war. Scheibes »Beantwortung« ist ein impertinentes Pamphlet. Allerhand Klatsch, den er sich von Leipzig hatte schreiben lassen, findet darin nebst häßlichen Insinuationen, Verdrehungen und kleinlichen Wortklaubereien seine unerquickliche Verwerthung. Das Äußerste des Anmaßlichen [734] leistet er, wenn er behauptet, Bach habe sich nicht sonderlich in den Wissenschaften umgesehen, die eigentlich von einem gelehrten Componisten erfordert würden. »Wie kann derjenige ganz ohne Tadel in seinen musikalischen Arbeiten sein, welcher sich durch die Weltweisheit nicht fähig gemacht hat, die Kräfte der Natur und Vernunft zu untersuchen und zu kennen? Wie will derjenige alle Vortheile erreichen, die zur Erlangung des guten Geschmacks gehören, welcher sich am wenigsten um critische Anmerkungen, Untersuchungen und um die Regeln bekümmert hat, die aus der Redekunst und Dichtkunst in der Musik doch so nothwendig sind, daß man auch ohne dieselben unmöglich rührend und ausdrückend setzen kann«. Auf derartiges gehörte sich eine derbe Abfertigung allgemeiner Art, und sie hat Birnbaum Scheibe zu Theil werden lassen. Übrigens war er grade in Rhetorik und Poetik selbst ein sehr competenter Beurtheiler, und was er aus eigner mit Bach gemachter Erfahrung den Ausstellungen Scheibes entgegensetzt, hat den vollsten Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Es ist hiervon schon früher die Rede gewesen.101
Scheibe schwieg alsdann und rächte sich nur noch durch ein boshaftes Pasquill auf Bach, das er als Brief eines gewissen Cornelius unter dem 2. April 1739 in den »Critischen Musikus« einrücken ließ.102 Bei einer zweiten Auflage desselben konnte er es sich freilich nicht versagen, die Schriften seines Gegners, mit Anmerkungen versehen, neu zum Abdrucke zu bringen. Er unterlag in diesem Streite, nicht weil sein Tadel über Bach als sachlich unhaltbar nachgewiesen worden wäre, sondern wegen der Ungehörigkeit, mit der er ihn aussprach und weiter verfocht. Es hagelte Püffe von verschiedenen Seiten. Da er die ganze weit verzweigte Bachsche Schule gegen sich aufgebracht hatte, so verfolgte ihn das Gedächtniß an dieses sein Auftreten wie ein böser Geist durchs Leben; noch im Jahre 1779 hieb Kirnberger bei einer günstigen Gelegenheit grimmig auf ihn ein.103 Auch wer ihm sonst die billige Anerkennung seiner Fähigkeiten und Leistungen nicht versagte, verwahrte sich, wie Mattheson und Marpurg, doch dagegen, seinem Urtheile über Bach beizupflichten.104[735] Er selbst scheint später zu der Einsicht gekommen zu sein, diesem Großen gegenüber doch nicht den richtigen Ton angeschlagen zu haben. Aus der 1745 geschriebenen Vorrede zur zweiten Auflage des Critischen Musikus klingt es deutlich hervor.105
An den Birnbaumschen Streitschriften nahm Bach ein ungewöhnlich lebhaftes persönliches Interesse. Scheibe wollte wissen, er habe die erste derselben am 8. Januar 1738 seinen Freunden und Bekannten »mit nicht geringem Vergnügen« selbst mitgetheilt. Seine eigne Antwort gab er, wie es ihm am besten anstand, mit der Veröffentlichung des dritten Theiles der »Clavierübung«, über welchen Mizler bemerkt: »Dieses Werk ist eine kräftige Widerlegung derer, die sich unterstanden, des Herrn Hofcompositeurs Compositionen zu kritisiren«.106 Wenn indessen Scheibe in dem erwähnten Pasquill Bach in den Schein eines Mannes zu bringen sucht, der sich niemals die Zeit genommen, einen weitläufigen Brief schreiben zu lernen, der sich niemals mit gelehrten Sachen abgegeben, auch sehr selten musikalische Schriften oder Bücher gelesen, so ist dies entweder leichtfertige Verleumdung oder schwere wissentliche Unwahrheit. Seine Biographie für die »Ehrenpforte« hatte Bach allerdings zu Matthesons Verdruß trotz wiederholten Bittens nicht geliefert. Sonst aber bewies er, soweit seine praktische Kunstübung, die ihm mit vollstem Rechte als eigentlichster Lebenszweck galt, es zuließ mehr Interesse für litterarisch-musikalische Dinge, als mancher Zeitgenosse. Seine Bibliothek musikalischer Bücher, die nach seinem Tode größtentheils in Emanuels Hände kam, muß nicht unbedeutend gewesen sein.107 Litterarische Fehden hat er mehrfach mit Interesse verfolgt. Als Sorge in Lobenstein 1745–1747 das »Vorgemach der musikalischen Composition« herausgegeben hatte, ließen sich Stimmen vernehmen, die seine [736] Autorschaft anzweifelten: Telemann sollte es geschrieben und Sorge nur den Namen hergegeben haben. Bach bekümmerte sich um die Sache und neigte zu Sorges großem Leidwesen ebenfalls der Vermuthung zu, daß jener mit fremdem Kalbe gepflügt habe. Er mußte sich hierfür noch nach seinem Tode der mißgünstigen Gesinnung zeihen lassen.108 Zu lebhaftem Meinungsaustausch gab Bachs Betheiligung an einer Angelegenheit Veranlassung, die von 1749 an die musikalischen Gemüther eine Weile erhitzte.
Doles war 1744 als Cantor nach Freiberg gegangen und wirkte dort seit 1747 unter dem durch Gelehrsamkeit ausgezeichneten Rector Johann Gottlieb Biedermann. Dieser beschloß im Jahre 1748 zur Erinnerungsfeier des vor 100 Jahren geschlossenen westphälischen Friedens durch die Freiberger Schüler ein Singspiel aufführen zu lassen. Ein blinder Dichter Namens Enderlein machte den Text: »Das nach schweren Kriegen durch einen allgemeinen Frieden erfreute Deutschland«. Act I: »Das Elend des dreißigjährigen Krieges«, Act II: »Die anscheinende Hoffnung zum Frieden, nebst denen vorgefallenen Hindernissen«, Act III: »Der völlig geschlossene Friede«, Act IV: »Der zum allgemeinen Nutzen und Vergnügen ausschlagende Friede«. Die Musik war von Doles, welcher, wie Biedermann vor dem gedruckten Texte bemerkte, seine Arbeit so eingerichtet hatte, »daß sowohl geübte als zärtliche Ohren dadurch gereizt werden«. Das Stück war keine eigentliche Oper im damaligen Verstande, sondern ein Singspiel mit gesprochenem Dialog, wie sie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in sächsischen Schulen mehrfach aufgeführt und in ihrer Bedeutung für die Geschichte der deutschen Oper noch nicht hinlänglich gewürdigt worden sind. Der Rath hatte die Bühne erbauen lassen und dem Unternehmen auch sonst allen möglichen Vorschub geleistet. Am 14. October und folgenden Tagen, Nachmittags 4 Uhr fand im Kaufhause die Aufführung statt.109 Die Theilnahme war groß, auch aus der Umgegend strömten die Menschen zu, den Hauptbeifall aber erhielt die Musik. Es mochte Biedermann [737] unbequem sein, daß hierdurch das Ansehen des Cantors und sein Einfluß auf die Schüler sich bedeutend steigerte, und somit die Musik die Wissenschaften zu beeinträchtigen drohte. Auch munkelte man von allerhand Unzukömmlichkeiten, die sich bei Berechnung der Einnahmen und Honorirung des Componisten ereignet haben sollten. Kurz, der vielerorten schon erlebte Zwist zwischen Rector und Cantor wurde auch in Freiberg zur Thatsache. Biedermann gab seiner Gereiztheit in dem nächsten Schulprogramm vom 12. Mai 1749 einen nur allzu deutlichen Ausdruck. Der Grundgedanke des lateinischen Programms, welchen er gestützt auf eine Stelle aus der Mostellaria des Plautus (Musice hercle agitis aetatem, ita ut vos decet, Act III, Sc. 2, v. 40) ausführt, daß nämlich eine übermäßige Pflege der Musik die Jugend leicht zu einem zügellosen Leben verführe, war richtig und unverfänglich. Wenn er aber, grade nachdem wenige Monate zuvor die Musik in der Freiberger Schule einen ehrlichen, ihm aber unwillkommenen Triumph gefeiert hatte, einige schlechte Subjecte, die der Musik ergeben gewesen seien, zur Warnung vorführte, wenn er darauf hinwies, daß Horaz die Musiker in eine Classe mit Bajaderen, Quacksalbern und Bettelpriestern setze, daß die Christen alter Zeit die Musiker von ihren frommen Versammlungen fern hielten und jährlich nur einmal zum Abendmahl zuließen, so konnte sich hierdurch mit Recht der ganze Musikerstand beleidigt fühlen. Und so geschah es auch. Genannte und Ungenannte fielen über Biedermann her, Mattheson allein mit fünf Schriften. Andre wieder suchten ihn zu vertheidigen. Es entbrannte ein heftiger litterarischer Krieg, der erst 1751 sein Ende erreichte; Biedermann mußte zur Strafe seiner Taktlosigkeit viele grundlose Kränkungen erdulden.
Als Bach die Vorgänge in Freiberg erfuhr und Biedermanns Programm las, brachen alte Wunden bei ihm auf; hatte er doch mit seinem Rector ähnliche Dinge erlebt. Er schickte das Programm an Schröter in Nordhausen, ein Mitglied der musikalischen Societät, und bat ihn es zu recensiren und zu widerlegen, da er in Leipzig und Umgegend niemanden finden könne, der dazu geschickter wäre. Schröter willfahrte, sandte Bach die Recension zu und überließ ihm, dieselbe in einer periodischen Schrift zum Abdruck zu bringen. Sie entsprach Bachs Wünschen und er schrieb am 10. December [738] 1749 an Einicke in Frankenhausen: »Die schröterische Recension ist wohl abgefaßt, und nach meinem gout, wird auch nächstens gedruckt zum Vorschein kommen ... Herrn Matthesons Mithridat hat eine sehr starke Operation verursachet, wie mir glaubwürdig zugeschrieben worden. Sollten noch einigeRefutationes, wie ich vermuthe, nachfolgen, so zweifle nicht, es werde des Auctoris Dreckohr gereiniget, und zur Anhörung der Musik geschickter gemacht werden«. Die Besorgung zum Druck aber übertrug er einem andern, der eigenmächtiger Weise einige Änderungen vornahm, Zusätze machte und den Ton des mäßig und würdig gehaltenen Schriftstückes verschärfte. In der veränderten Fassung wurde Biedermann zu verstehen gegeben, daß er in der heidnischen Litteratur bewanderter sei, als im Worte Gottes, daher auch die Schrift, wiederum gegen Schröters Absicht, den Titel »Christliche Beurtheilung« erhielt. Schröter war über die Behandlung, die seine Recension erlitten hatte, mehr als billig empfindlich, und ersuchte Einicke am 9. April 1750 schriftlich, Bach davon Mittheilung zu machen. Am 26. Mai 1750 antwortete Bach an Einicke: »An Herrn Schrötern bitte mein Compliment zu machen, bis daß ich selber im Stande bin zu schreiben, da ich mich alsdenn, der Veränderung seiner Recension wegen, entschuldigen will, weil ich gar keine Schuld daran habe; sondern solche einzig demjenigen, der den Druck besorget hat, zu imputiren ist«. Schröter wollte sich hiermit nicht zufrieden geben und verlangte unter anderm eine öffentliche Erklärung Bachs. Aber der Tod machte in seiner Weise der Sache ein Ende. Ganz ohne sein Verschulden war auch der gute Einicke noch in den Streit hineingezogen. Ein Vertheidiger Biedermanns hielt ihn für den Verfasser der »Christlichen Beurtheilung« und nannte ihn »einen gewissen Cantor zu F. [rankenhausen], der vorher ein schlechtes Dorfschulmeisterlein zu H. [ohlstedt] gewesen wäre«. Das veranlaßte ihn denn, Mattheson gegenüber den ganzen Sachverhalt aufzudecken.110
[739] Die Veranlassung einer Recension durch Schröter war aber nicht das einzige, was Bach gegen Biedermann that. Er suchte die Cantate »Der Streit zwischen Phöbus und Pan« wieder hervor, die er 18 Jahre früher zur satirischen Abwehr gegen die Tadler seiner Musik componirt hatte, und brachte sie aufs neue zur Aufführung. Es scheint, daß die Aufführung in einem der studentischen Musikvereine stattgefunden hat, ob gleich Bach in directer Beziehung zu ihnen nicht mehr stand. Seit dem 12. März 1749 studirte in Leipzig Johann Michael Schmidt aus Meiningen, der einige Jahre später ein sinniges und mit großem Beifall aufgenommenes Buch, genannt Musico-Theologia, herausgab.111 In diesem Buche wird Bachs verschiedene Male bewundernd gedacht; an einer Stelle aber (S. 263) heißt es, das Hauptstreben des Componisten solle sein, den auszudrückenden Gemüthszustand und die daher fließenden Handlungen wohl vorzustellen und der Natur nachzuahmen. Je mehr man die Nachahmung in seinen Stücken erkenne, desto mehr Vergnügen brächten sie. Aus dieser Betrachtung seien der musikalische Kalender, »das Bachische Gesprächspiel«, die Leyer, der Kuckuck, die Nachtigall, das Posthorn und andre Sachen hervorgekommen. Mit den übrigen Namen werden offenbar heitere Cantaten bezeichnet, die damals populär waren, uns jetzt aber unbekannt geworden sind. Das »Gesprächspiel« kann nur eine weltliche Cantate Bachs sein. An eine der dramatischen Gelegenheitsmusiken darf man in dem Zusammenhange, in welchem es hier genannt wird, nicht denken. Es bliebe also die Wahl zwischen der Caffee-Cantate und »Phöbus und Pan«. Da aber die Rede von scharfer Charakterisirung und von Nachahmung der Natur ist, was beides im weitesten Verstande in der letzteren Cantate sich findet, so wird man um so weniger zweifeln, daß diese gemeint ist, als wirklich ein geschriebenes Textbuch derselben mit der Jahreszahl 1749 vorliegt. Michael Schmidt dürfte also die Cantate mitgesungen, oder doch bei ihrer Aufführung gegenwärtig gewesen sein.
Das genannte Textbuch enthält außerdem eine Stelle, die den [740] Zweck der wiederholten Aufführung deutlich verräth. Im letzten Recitativ hat Picander ursprünglich gedichtet:
Ergreife, Phöbus, nun die Leyer wieder,
Es ist nichts lieblichers als deine Lieder.
Daraus ist nun gemacht worden.
Verdopple, Phöbus, nun Musik und Lieder,
Tob auch Hortensius und ein Orbil darwider.
Und dann endgültig:
Verdopple, Phöbus, nun Musik und Lieder,
Tobt gleich Birolius und ein Hortens darwider.
Orbilius ist der bekannte Horazische Schulmeister,112 Birolius eine durch Umstellung der Buchstaben gewonnene Form, bei welcher das Bestreben auf den Namen Biedermann anzuspielen unverkennbar scheint. Auch die mit Hortens gemeinte Persönlichkeit glaube ich zu erkennen. Quintus Hortensius war ein Zeitgenosse Ciceros und als Redner der einzig ebenbürtige. Beide galten als Vertreter der classischen lateinischen Diction. Der Mann, welcher diese unter den Gelehrten Deutschlands im 18. Jahrhundert wiederherstellte, war Ernesti, welcher auch 1737 eine Gesammtausgabe der Schriften Ciceros veranstaltet hatte. Ihn mit dem Namen Hortensius zu beehren lag in diesem Falle um so näher, als man schon für Biedermann den Namen einer Persönlichkeit der römischen Litteratur als passend erfunden hatte. Der Rector zu Freiberg und der Rector zu Leipzig bilden hier ein Paar, das der Satire der Bachschen Cantate zur Zielscheibe dienen sollte.113 Bachs Verbitterung gegen Ernesti zeigt sich dadurch als eine unausrottbar eingewurzelte. Biedermann blieb es übrigens keinesfalls unbekannt, in welchem Sinne Bach gegen ihn vorging. Von einer der polemischen Schriften, über deren [741] intellectuellen Urheber er eine unbegründete Vermuthung hatte, sagt er, sie sei »aus dem stinkenden Bach der Dummheit und Lügen geflossen«.114 Bis zu solchen Artigkeiten hatte man sich allmählig gesteigert. Nach seinem Programm konnte man Biedermann der Verachtung der Musik allerdings nicht zeihen. Aber die Vorgeschichte desselben war jedenfalls in Leipzig durch Doles sehr genau bekannt geworden, und sie brachte den Rector in ein ungünstiges Licht. Die Leidenschaftlichkeit, mit welcher der alte Tonmeister die Ehre seiner geliebten Kunst rein zu halten sich bemüht, erhält etwas rührendes, wenn man bemerkt, wie er noch in einer andern Composition, die er in dieser Zeit bei drei verschiedenen Gelegenheiten aufführte, begeistert ihr Lob singt. Ich meine die Cantate »O holder Tag, erwünschte Zeit«, welcher bei ihrer Wiederholung ein Text ausschließlich zum Lobe der Musik untergelegt worden ist. In ihm heißt es unter anderm: »Wiewohl, geliebte Musica, So angenehm dein Spiel So vielen Ohren ist, So bist du doch betrübt Und stehest in Gedanken da; Denn es sind ihrer viel, Denen du verächtlich bist. Mich dünkt, ich höre deine Klagen Selbst also sagen: 'Schweigt, ihr Flöten, schweigt ihr Töne, Klingt ihr mir doch selbst nicht schöne; Geht ihr armen Lieder hin, Weil ich so verlassen bin'. Doch fasse dich, Dein Glanz ist noch nicht ganz verschwunden Und in den Bann gethan«.115 –
Alle diese Vorgänge erscheinen in zweifacher Hinsicht bedeutsam. Sie bekunden Bachs litterarische Interessen und lassen auch einen Charakterzug scharf hervortreten. In Bachs Natur lebte – wir wiesen schon einmal darauf hin116 – eine gewisse Streitfreudigkeit, die ihn in dieser Beziehung als einen Geistesverwandten der lutherischen Orthodoxie erscheinen läßt, wie sie sich beispielsweise in dem Mühlhäuser Pastor Eilmar verkörperte. Wer unsern Auseinandersetzungen über Bachs Compositionen gefolgt ist, wird in ihnen denselben Zug mehrfach bemerkt haben. Ich erinnere hier nur an die Cantaten »Christ lag in Todesbanden« und »Es erhub sich ein Streit«, an den Doppelchor »Nun ist das Heil und die Kraft«. Freilich unterscheidet er sich von den Orthodoxen wieder durch die [742] tiefe Innigkeit seines Empfindens und, wenn nur die rechte Stelle seines Gemüthes getroffen wird, eine rührende Naivetät. Ein voller deutscher Mann, Recke und Kind in einer Person, wild und doch wieder hingebend weich; unter den deutschen Theologen kann ihm ganz doch nur Luther verglichen werden. Auch die Hartnäckigkeit, mit welcher er sein Recht verfocht und von der wir Beispiele genug anzuführen hatten, gehört als wesentlicher Zug in dieses Bild. Reizbar wie diejenige aller Künstler konnte seine kräftige Natur wohl in unbändigem Zorne losbrechen. Der Organist der Thomaskirche, Gräbner oder Görner, soll es bei einer Probe einmal auf der Orgel versehen haben. Da riß sich Bach in Wuth die Perrücke ab, schleuderte sie dem Missethäter an den Kopf und donnerte: »Er hätte lieber sollen ein Schuhflicker werden!«117 Einen ungehorsamen Schüler mitten im Gottesdienst mit Lärmen vom Chor zu treiben, ihn Abends gar noch vom Speisetische kurzer Hand zu verjagen, darauf kam es gelegentlich nicht an. Da er so seiner Lehrerwürde wohl manchmal etwas vergab, wurde es ihm natürlich schwer, die Rotte der Thomaner jederzeit zu bändigen. Aber diese Schwächen konnten bei denen, die ihn näher kannten, doch die hohe Meinung von dem redlichen Ernst seiner Natur nicht vermindern. Bürgen hierfür sind seine Einzelschüler, die ausnahmslos mit unbegränzter Verehrung an ihm hingen. »Von seinem moralischen Charakter«, heißt es im Nekrolog, »mögen diejenigen reden, die seines Umgangs und seiner Freundschaft genossen haben, und Zeugen seiner Redlichkeit gegen Gott und den Nächsten gewesen sind«.118
Bach besaß ein berechtigtes hohes Selbstgefühl, das mußte unter andern der Leipziger Rath mehr als einmal erfahren. Aber er war wie alle großen Naturen frei von Eitelkeit und menschlich nachsichtig gegen andre. Die Schüler sollten sich nur seinen Fleiß zum Muster nehmen, über die größere oder geringere Naturbegabung rechtete er nicht mit ihnen. Lob ließ er sich nur bis zu einem gewissen Grade gefallen. Als einmal jemand seine bewunderungswürdige [743] Fertigkeit auf der Orgel mit vielen Lobsprüchen erhob, sagte er ganz gelassen: »Das ist eben nichts bewunderungswürdiges, man darf nur die rechten Tasten zu rechter Zeit treffen, so spielt das Instrument selbst«.119 Ebenso war es ihm fremd, mit seinen Leistungen affectirt oder hochmüthig zurückzuhalten. Er spielte bereitwillig und gern vor, oder musicirte gemeinsam mit andern. Als eine Eigenthümlichkeit bemerkte man es an ihm, daß er, der Meister der freien Fantasie, doch nicht mit etwas eigenem zu beginnen liebte. Gern ließ er sich zuvor eine ihm fremde Composition vorlegen und spielte diese vom Blatte, dann erst ging er zur eigenen Fantasie über, gleich als ob er eines äußeren Anlasses bedurft hätte, um die Schwingen seiner Erfindungsgabe zu entfalten. Die hierüber erhaltenen Zeugnisse sind merkwürdig genug, um wörtlich mitgetheilt zu werden. Sie rühren von einem gewissen T.L. Pitschel her, der Ende der dreißiger Jahre des Jahrhunderts in Leipzig Theologie studirte, 1740 Magister wurde und 1743 dort 27 Jahre alt starb. Er gehörte zu Gottscheds Anhängern, und veröffentlichte in dem Organe der Gottschedianer »Belustigungen des Verstandes und Witzes« ein Schreiben an einen Freund »von Besuchung des öffentlichen Gottesdienstes«. Hier sagt er: »Sie wissen, der berühmte Mann, welcher in unserer Stadt das größte Lob der Musik, und die Bewunderung der Kenner hat, kömmt, wie man saget, nicht eher in den Stand, durch die Vermischung seiner Töne andere in Entzückung zu setzen, als bis er etwas vom Blatte gespielt, und seine Einbildungskraft in Bewegung gesetzt hat«. Und später noch einmal: »Der geschickte Mann, dessen ich Erwähnung gethan habe, hat ordentlich etwas schlechteres vom Blatte zu spielen, als seine eigenen Einfälle sind. Und dennoch sind diese seine besseren Einfälle Folgen jener schlechteren«.120 Mit dieser Eigenthümlichkeit ist es wohl in Verbindung zu bringen, daß Bach sich auch in der Composition gern durch Gelegenheiten künstlerische Motive zuführen ließ, wovon ja seine Gesangswerke so vielfältig Zeugniß ablegen.
[744] Fremde Musik spielte er auch deshalb, weil es ihm von Interesse war, dasjenige was andre producirt hatten, kennen zu lernen. Ebenso ließ er sich gern fremde Compositionen vormusiciren. Was ihn besonders anzog, schrieb er sich ab und nicht blos in früherer Zeit, wo er sich noch in aufsteigender Entwicklung befand, sondern auch zur Zeit seiner höchsten eigenen Reife. Vocalcompositionen Lottis, Caldaras, Ludwig und Bernhard Bachs, Händels, Telemanns, Keisers, auch Clavierstücke von Grigny, Dieupart, ja selbst von Hurlebusch existiren in seiner Handschrift noch heute. Nicht klein wird auch die Sammlung gedruckter und von andern geschriebener Musikalien gewesen sein, die er besaß. Leider wurden sie von den Söhnen nach seinem Tode so rasch über die Seite gebracht, daß sie nicht in das Inventar seines Nachlasses aufgenommen sind. Wie weit zurück aber sein Interesse sich erstreckte, beweisen Elias Ammerbachs »Orgel oder Instrument Tabulatur« von 1571 und Frescobaldis Fiori musicali von 1635, Werke, die sich beide in seiner Bibliothek befunden haben121: daß er auch Bücher über Musik sammelte, ist oben schon bemerkt. Wenn er auswärts irgendwo über Sonntag verweilte, pflegte er der Kirchenmusik mit besonderer Aufmerksamkeit zu folgen. Kam in derselben eine Fuge vor, und er hatte etwa einen seiner Söhne bei sich, so sagte er nach den ersten Themaeintritten stets vorher, was der Componist von rechtswegen mit dem Thema weiter machen müsse und was er möglicherweise machen könne. Kam es dann so wie er gesagt hatte, so freute er sich und stieß den Sohn an.122 Die Veranlassung zu tadeln war begreiflicherweise viel häufiger vorhanden als zu loben. Seine Söhne wußten aber zu rühmen, wie mild sein Urtheil auch in solchen Fällen stets gewesen sei, und in harten Ausdrücken über ein Werk eines Kunstgenossen zu sprechen habe er sich nie erlaubt, außer gegenüber seinen Schülern, welchen er reine, strenge Wahrheit schuldig zu sein glaubte. Hurlebusch aus Braunschweig, ein unruhiger, eitler Wandervirtuose, stellte sich einmal in Leipzig bei ihm ein, nicht um ihn spielen zu hören, sondern um sich selbst [745] hören zu lassen. Bach erzeigte ihm den Gefallen auch mit aller Geduld. Beim Abschied schenkte Hurlebusch den ältesten Söhnen eine gedruckte Sammlung seiner Claviercompositionen, mit der Ermahnung sie recht fleißig zu studiren. Daß Friedemann und Emanuel schon ganz andern Sachen gewachsen waren, wußte Bach sehr wohl, er lächelte aber nur still in sich hinein und wurde gegen Hurlebusch nicht im mindesten unfreundlicher. Seine eigne Ueberlegenheit über andre Musiker herausfordernd an den Hut zu stecken, war ihm durchaus zuwider. Von seinem Wettstreite mit Marchand, der über Deutschland hinaus das größte Aufsehen gemacht hatte, sprach er nie freiwillig. Schon zu seinen Lebzeiten bildeten sich allerhand Mythen über ihn. Man erzählte sich z.B., daß er bisweilen, als armer Dorfschulmeister verkleidet, in eine Kirche gekommen sei, und den Organisten gebeten habe, ihm seinen Platz einzuräumen. Dann habe er das Staunen der Anwesenden und des Organisten genossen, der erklärt habe, das sei entweder Bach oder der Teufel. Er wollte von solchen Geschichten, kamen sie ihm zu Ohren, nie etwas wissen.123
Er lebte in Musik, wo er ging und stand. Eine Erzählung, die wenigstens in ihrem Kern nicht wohl erfunden sein kann, mag hierfür den Beweis liefern. Er wurde oft von gewissen Bettlern angegangen, in deren sich steigernden Klagetönen er eine Folge von musikalischen Intervallen entdeckt zu haben glaubte. Dann that er anfänglich, als wollte er ihnen etwas geben und fände nichts; nun hob sich die Klage zu eindringlichster Höhe. Darauf gab er ihnen einige Male äußerst wenig, in Folge dessen wurde den Intervallen etwas von ihrer Schärfe genommen. Endlich gab er ihnen ungewöhnlich viel, wodurch dann zu seinem Ergötzen eine vollständige Auflösung und ein vollkommen befriedigender Schluß herbeigeführt wurde.124
Bachs Grundcharakter war übrigens ein ernster, und daher auch sein Auftreten bei aller Höflichkeit und Zuvorkommenheit, die er seinen Mitmenschen bewies, ein würdevoller und respectgebietender. Kann man den Bildern trauen, die von ihm erhalten[746] sind,125 so unterstützte diesen Eindruck auch seine äußere Erscheinung. Nach ihnen war er von kräftiger, bürgerlich breitschultriger Gestalt, hatte ein volles aber energisches Gesicht, bedeutende Stirn, starke, kühngeschwungene Augenbrauen und zwischen ihnen einen Zug von strengem, ja finsterem Wesen. Dagegen scheint in Mund und Nase bequeme Gutmüthigkeit ausgeprägt. Die Augen sind lebhaft, doch wissen wir, daß Bach von Jugend auf etwas kurzsichtig war.126
Sein ganzes Wesen ruhte auf einer Frömmigkeit, die nicht in inneren Kämpfen errungen, sondern angeboren und natürlich war. Er hielt es mit dem Glauben seiner Väter. Theologische und Erbauungsbücher las er gern; seine Bibliothek umfaßte deren bei seinem Tode 81 Bände.127 Die Autoren derselben zeugen klar für Bachs religiöse Ansichten. Allen voran ist Luther zu nennen, dessen Werke Bach sogar in zwei Ausgaben besessen zu haben scheint;128 die Tischreden und eine Haus-Postille sind besonders vorhanden. Die Mehrzahl der übrigen Werke stammt von altlutherischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts. Calovius, der mit drei Bänden in Folio vertreten ist (geb. 1612, gest. als Professor zu Wittenberg 1686), war einer der geharnischtesten Streittheologen und leidenschaftlichsten [747] Vorkämpfer der Orthodoxie. Sanfter geartet ist der Rostocker Superintendent und Professor Heinrich Müller (gestorben 1675), von dessen Werken Bach eine bedeutende Anzahl besaß.129 Unter ihnen sind die »Geistlichen Erquickstunden« und die »Himmlische Liebesflamme« (ursprünglich unter dem Titel »Himmlischer Liebes-Kuß, oder Uebung des wahren Christenthums, fließend aus der Erfahrung göttlicher Liebe«) auch unserer Zeit noch wohl bekannt. Die Schola Pietatis des Johannes Gerhard von Jena (gestorben 1637), welcher Gelehrsamkeit, mannhaften Muth und innige Frömmigkeit in einer Weise vereinigte, die Bachs Charakter besonders zusagen mußte, enthält in fünf Büchern Abhandlungen über die Pflichten des Christen. Auch seines Lehrers und Freundes Johann Arnds, der 1621 als Generalsuperintendent zu Celle starb, weit verbreitetes Buch vom »wahren Christenthum« nannte Bach sein eigen. Mit einer Menge von Werken findet sich ferner August Pfeiffer vor, ein geschätzter Leipziger Professor und Prediger des 17. Jahrhunderts, der von 1681 mehre Jahre Archidiaconus der Thomaskirche war. Die Bücher »Evangelische Christenschule«, »Anticalvinismus« und »Antimelancholicus« erwecken uns ein besonderes Interesse, weil ihre Titel auch vorn in Anna Magdalenas Clavierbüchlein aus dem Jahre 1722 eingezeichnet sind. Diese Einzeichnungen sind also keine freien Spielereien Bachs, sondern enthüllen sich als eine Bezugnahme auf ihm liebgewordene Bücher, deren Inhalt das Clavierbüchlein gleichsam ins Musikalische übersetzt darbieten sollte.130
Neben den Denkmalen orthodox-lutherischer Gesinnung finden wir indessen auch einige Werke mystischer Tendenz. Von besonderm Interesse ist das Vorhandensein der aus der mittelalterlichen Mystik hervorgegangenen Predigten des Dominicaner-Mönches Tauler. Speners Ausgabe von 1703, welche Quartformat hat, kann [748] nicht die gewesen sein, welche Bach besaß; das Exemplar war wohl alt und zerlesen, da es bei der Inventarisation nur auf 4 gr. geschätzt wurde. Von Matthäus Meyfart, dem Verfasser des Liedes »Jerusalem, du hochgebaute Stadt« findet sich die Schrift aus dem Jahre 1636 »Christliche Erinnerung von den aus den hohen Schulen in Deutschland entwichenen Ordnungen und ehrbaren Sitten«. Die Pietisten sind durch Spener und Francke mit je einem Werke vertreten, jener mit dem »Gerechten Eifer wider das Antichristliche Papstthum«,131 dieser mit einer Haus-Postille.132 Es wird hierdurch wieder bewiesen, daß Bach trotz seiner alt-lutherischen Gesinnung doch kein fanatischer Parteigänger der Orthodoxie war, sondern einen höheren unparteiischen Standpunkt einnahm.133 Johann Jakob Rambach, dessen Schriften Bach liebte,134 kann zu den eigentlichen Pietisten nicht gerechnet werden. Die »Betrachtung der Thränen und Seufzer Jesu Christi« erschien 1725 und enthält zwei Predigten zum 10. und 12. Trinitatis-Sonntage. Unter der einen jener andern »Betrachtungen«, welche das Verzeichniß noch aufweist, sind die »Betrachtungen über den Rath Gottes von der Seligkeit der Menschen« gemeint. Das Buch erschien 1737 nach dem Tode des Verfassers.135
Ein merkwürdiges Buch ist der Judaismus des Hamburger [749] Pastors Johann Müller.136 Der Anlaß zu demselben, sagt der Verfasser in der Vorrede, sei der Zustand der Kirche gewesen, an welcher er angestellt sei. »Es wohnen in dieser Stadt viel Jüden, Hispanischer und Teutscher Nation, welche täglich für unsern Augen herum gehen, mit Christen viel conversiren, auch der Religion halber sich mit ihnen bereden ... Es kommen auch unsere Zuhörer zu uns, und fragen um Rath, wie man den Jüden ihre Einwürfe beantworten und was man ihnen im täglichen Gespräche fürhalten solle, denen wir amtshalber Bericht und Antwort zu geben schuldig seyn. Weil auch etliche Jüden sehr triumphiren, als ob sie große Geheimnisse hätten wider unsre christliche Lehre, insonderheit wider das Neue Testament, in vertraulichem Gespräche mit guten Freunden dem christlichen Predigtamt Hohn sprechen, und sich bedünken lassen, daß ihres gleichen an Verstand in Religionssachen nicht sei, als habe ich mich bemühet, solche Geheimnisse zu erforschen und ans Tageslicht zu bringen, damit ihre Thorheit und Blindheit je mehr und mehr bekannt werden möchte: Welches alles ich in diesem Buche zusammengetragen, und auf vieler frommen Christen Begehren und eifriges Vermahnen an Tag geben wollen«. Auf 1490 Seiten in Quart hat Müller seinen Plan ausgeführt. Daß aber Bach sich mit solcher Lecture beschäftigte, zeigt wie ihm als echtem Protestanten sein Christenglaube Gegenstand des Nachdenkens war und er das Bedürfniß hatte, ihn gelegentlich mit stichhaltigen Gründen vertheidigen zu können.
Bachs Bibelkunde muß ein jeder, der seine Kirchencantaten studirt, als eine ebenso gründliche anerkennen, wie seine Kenntniß des Kirchenliedes. Wie er sich aber auch die biblische Geschichte lebendig und anschaulich zu machen suchte, zeigt Büntings (Pintingii) Itinerarium sacrae scripturae.137 In diesem »Reise-Buche« sind alle Reisen der Patriarchen, Richter, Könige, Propheten, Fürsten und Völker, sowie Josephs und der Jungfrau Maria, der Weisen aus dem Morgenlande, Christi und seiner Apostel verfolgt und nach [750] deutschen Meilen ausgerechnet; außerdem enthält es Beschreibungen aller Länder, Städte, Gewässer, Berge und Thäler, die in der Bibel vorkommen. Mag man über den wissenschaftlichen Werth dieses Buches urtheilen wie man will; immerhin ist es ein Zeugniß, daß Bach die Bibel nicht nur als Fundgrube lyrischer Poesie und dogmatische Grundlage seines Christenthums betrachtete, sondern daß er sich in ihrer Welt nach allen Seiten hin heimisch zu machen suchte. Dasselbe bezeugt sein Besitz von Josephus' Geschichte des jüdischen Volks.
Religiöse Dichtung fand sich, außer dem umfassenden, achtbändigen Gesangbuche von Paul Wagner,138 in seinem Nachlasse nicht mehr vor, als zur Inventarisirung desselben geschritten wurde. Auch in dieser Beziehung müssen einige der Erben vorher aufgeräumt haben. Von Neumeister sind zwei Sammlungen mit je 52 Predigten aus den Jahren 1721 und 1729 angemerkt. Ganz sicher waren auch dessen geistliche Dichtungen, ebenso wie diejenigen Francks, Rambachs und Picanders in Bachs Besitz. Was er sonst noch derartiges gehabt haben mag, davon ist uns die Kunde eben so wohl entzogen worden, wie über den etwaigen Bestand seiner Bibliothek weltlicher Litteratur. –
Als Bach in die Cantorwohnung am Thomaskirchhofe zu Leipzig im Jahre 1723 mit seiner zweiten Gattin einzog, folgten ihm vier Kinder erster Ehe.139 Aus zweiter Ehe sind ihm noch sieben Töchter und sechs Söhne geboren worden. Doch nur drei Töchter und drei Söhne sollten den Vater überleben. Von den übrigen wurden drei nur wenige Tage alt, die andern sah der Vater im Sarge liegen, als sie eben begonnen hatten zu einer regeren Theilnahme am Leben sich zu entfalten. Die Mythenbildung ist auch über Bachs Familienleben hergewuchert. Er soll einen blödsinnigen Sohn David besessen haben, der, »in der Musik ganz ununterrichtet, durch seine zwar verworrenen, doch innigen Ausdrucks vollen, melancholischen Phantasien auf dem Claviere die Zuhörer oft bis zu Thränen hingerissen« habe. Man wollte sogar wissen, daß er 14 bis 15 Jahre alt gestorben sei.140 Diesen David hat es nie gegeben, auch ist kein Kind [751] Bachs in diesem Alter gestorben.141 Jedenfalls hat Gottfried Heinrich, der erste Sohn zweiter Ehe, zur Entstehung der Fabel Veranlassung geboten. Er war nach Emanuels Urtheil ein großes Genie, das aber nicht entwickelt wurde. In den Gerichtsverhandlungen über Bachs Nachlaß wird er »blöde« genannt und als nicht verfügungsfähig erkannt. Er starb im Februar 1763 zu Naumburg, wohin ihn sein Schwager Altnikol, wie es scheint, schon vor dem Tode des Vaters, genommen hatte.
Von seinem innig gepflegten Familienleben, den Hausconcerten, welche er mit seinen Söhnen, seiner Gattin und ältesten Tochter auszuführen liebte, hat Bach uns selbst Kunde gegeben.142 Für die Erziehung der Kinder sorgte er gewissenhaft. Ein Hauptgrund, sich zur Übersiedlung von Cöthen nach Leipzig zu entschießen, war für ihn die Aussicht auf die besseren Bildungsmittel, welche die Universitätsstadt bot. Wilhelm Friedemann, seinen Liebling, ließ er schon am 22. Dec. 1723 für die Immatriculation vormerken.143 Dieser sowie sein jüngerer Bruder Emanuel haben sich auch, nach guter damaliger Sitte, eine vollständige akademische Bildung angeeignet. Es lag ursprünglich nicht in des Vaters Absicht, daß auch Emanuel den Musikerberuf wähle; als aber sein großes Talent ihn dennoch hineindrängte, ließ er es sich wohl gefallen. Dem musikalischen Treiben der Söhne folgte er zeitlebens mit liebevoller Theilnahme. Er vertrieb ihre Compositionen wie er die seinigen durch sie vertreiben ließ,144 verlegte mit ihnen bei demselben Verleger,145 schrieb was ihm von ihren Sachen besonders gefiel auch wohl eigenhändig ab.146 Friedemanns Weise stand ihm näher als Emanuels; [752] bei seiner großen Liebe zu diesem ältesten Sohne übersah er es vielleicht, daß derselbe schon während des Vaters Lebzeiten Gefahr lief, nur dessen Carricatur zu werden. Emanuels kleinere Tonformen haben ihre Wurzel freilich auch in Sebastians Werken. Der zweitheilige erste Sonatensatz, mit dessen Ausbildung dieser der Vorgänger Haydns wurde, steckt z.B. in den zweitheiligen Praeludien des Wohltemperirten Claviers, in weiteren Umrißzeichnungen bieten ihn auch viele Arien Sebastians, deren erster Theil nicht in der Haupttonart schließt. Ehe noch Emanuel mit den bekannten sechs Claviersonaten von 1742 hervortrat, hatte schon Krebs in seinen Praeambulen von 1740 ganz dieselbe Form gewählt. Indessen Emanuels Neigung zum Populären, Leichtanmuthigen entfernte ihn doch weiter von des Vaters Bahnen. Galt es den Kindern ihre Lebenswege zu ebnen, so scheute Bach keine Mühe. Als der dritte Sohn erster Ehe, Bernhard, 20 Jahre alt war und grade die Organistenstelle an der Marienkirche in Mühlhausen frei wurde, bemühte sich Bach, dem Sohne das Amt in der Stadt zu verschaffen, wo er selbst 28 Jahre zuvor gewirkt hatte. Der Brief, welchen er in dieser Sache nach Mühlhausen schrieb, ist erhalten:
»Hochedelgebohrner Vest und Hochgelahrter
Besonders Hochgeehrtester Herr Senior
Hochgeschätzter Gönner
Es soll dem Verlaut nach vor kurtzem der StadtOrganist zu Mühlhaußen Herr Hetzehenn daselbst verstorben, und deßen Stelle biß dato noch nicht ersetzet seyn. Nachdem nun mein jüngster Sohn Johann Gottfried Bernhard Bach sich zeither so habil in derMusic gemachet, daß ich gewiß dafür halte wie er zu bestreitung dieses vacant gewordenen Stadt Organisten Dienstes vollkommen geschickt und vermögend sey. Als ersuche Ew: Hochedelgeb. in schuldigster Ehrerbietung, Sie belieben zu Erlangung mehr gemeldten Dienstes meinen Sohne Dero vielgeltende Intercession zu schencken, und mich dadurch bittseelig, meinen Sohn aber zugleich glücklich zu machen, damit ich hierbey noch Dero alt Faveur wie vor, also auch ietzo mich zu vergewißern Ursache finden und dagegen versichern könne, daß mit unveränderter Ergebenheit allstets verharre.
lahrten Herrn, Herrn Tobia Rothschieren, vornehmenJure Consulto und Hochansehnl. MitGliede, wie auch hochmeritirten Seniori E HochEdl. und Hochweisen Raths, bey der Kayserl. freyen Reichs-Stadt Mühlhausen
Nicht ohne Erfolg erinnerte Bach an die wohlwollende Gesinnung, welche ihm der Rath der Stadt seiner Zeit bezeigt hatte. Bernhard wurde gewählt, hat die Stelle jedoch nach kurzer Zeit wieder aufgegeben, um sich einem wissenschaftlichen Berufe zuzuwenden. Er ging nach Jena, dem Wohnorte Nikolaus Bachs, des würdigen Seniors der Familie. 1738 war er schon da und studirte Rechtswissenschaft. Im folgenden Jahre aber ergriff ihn ein hitziges Fieber und raffte ihn am 27. Mai dahin.149 Es waren nun, außer Gottfried Heinrich, nur mehr vier Söhne vorhanden, auf welche der Vater seine Hoffnungen setzen konnte. Er erlebte es noch, daß Johann Christoph Friedrich (geb. 1732) in jungen Jahren als Kammermusicus beim Grafen von der Lippe in Bückeburg angestellt wurde. Als der Instrumentenmacher Hoffmann dem befreundeten Meister [754] ein Clavier seiner Arbeit testamentarisch vermacht hatte, überließ dieser es dem Sohne, wohl um ihn für seine neue Stellung auszustatten.150 In dem kleiner gewordenen häuslichen Kreise scheint sich der Benjamin der Familie, Johann Christian (geb. 1735), dessen große Begabung früh bemerkt worden sein wird, einer besonders zärtlichen Zuneigung des alten Vaters erfreut zu haben. Er schenkte ihm drei Claviere mit Pedal auf einmal – eine so ungewöhnliche Bevorzugung, daß nach dem Tode Bachs die Kinder erster Ehe sie beanstanden wollten.151
Die Töchter blieben unvermählt bis auf Elisabeth Juliane Friederike (geb. 1726), welche am 20. Januar 1749 Altnikols Gattin wurde. Daß die jungen Leute sich ihren Hausstand gründen konnten, brachte wiederum der Vater zuwege. Der Rath von Naumburg hatte 1746 behufs Reparirung der dortigen Orgel Bachs Sachkenntniß in Anspruch genommen. Seitdem war die Organistenstelle daselbst offen geworden. Als Bach dies erfuhr, bewarb er sich um dieselbe für Altnikol unverzüglich, und ohne diesen vorher zu fragen. Er empfahl ihn warm, seinen »ehemaligen lieben Ecolier«, der »bereits ein Orgelwerk geraume Zeit (in Niederwiesa) unter Händen gehabt, und Wissenschaft, solches gut zu spielen und zu dirigiren besitze«, der auch von »ganz besonderer Geschicklichkeit in der Composition, im Singen und auf der Violine« sei. Altnikol wurde denn auch am 30. Juli 1748 für die Stelle ausersehen.152 Der erste Enkel, der aus dem Ehebunde von Bachs Tochter entsproß (4. Oct. 1749), wurde Johann Sebastian genannt.153
Die einzige Hochzeit, welche in seinem Hause ausgerichtet wurde, war natürlich für Bachs Familiensinn ein besonders wichtiges Ereigniß. Es leuchtet davon etwas hervor aus dem letzteren von zwei Briefen, die er Ende des Jahres 1748 an seinen Vetter Elias Bach in [755] Schweinfurt schrieb. Diese Briefe eröffnen auch sonst einen Blick in Bachs hausväterliche und wirthschaftliche Gesinnung. Der erste bezieht sich zumeist auf eine musikalische Angelegenheit:
»Leipzig, d. 6. Octobr
1748.
Hoch-Wohl-Edler
Hochgeehrter Herr Vetter
Ich werde wegen Kürtze der Zeit mit wenigem viel sagen, wenn so wohl zur gesegneten Wein-Lese als bald zu erwartendem Ehe Seegen Gottes Gnade und Beystand herzlich apprecire. Mit dem verlangten exemplar der Preußischen Fuge kan voritzo nicht dienen, indem justement der Verlag heute consumiret worden; sindemahl154 nur 100 habe abdrucken laßen, wovon die meisten an gute Freünde gratis verthan worden. Werde aber zwischen hier und neüen Jahres Meße einige wieder abdrucken laßen; wenn denn der Herr Vetter noch gesonnen ein exemplar zu haben, dürffen Sie mir nur mit Gelegenheit nebst Einsendung eines Thalers davon post geben, so soll das verlangte erfolgen. Schließlich nochmahlen bestens von uns allen salutiret beharre
Ew. HochWohlEdlen
ergebener
J.S. Bach«
[links am Rande quergeschrieben:] »P.S. Mein Sohn in Berlin hat nun schon 2 männliche Erben, der erste ist ohngefehr um die Zeit gebohren, da wir leider! die Preußische Invasion hatten;155 der andere ist etwa 14 Tage alt.«
[756] Elias Bach war seit seiner Studienzeit in Leipzig Sebastian auch persönlich nahe getreten und von Dank und Verehrung gegen ihn erfüllt. Dieser Empfindung gab er durch ein Geschenk Ausdruck, welches die Veranlassung zu Bachs zweitem Briefe wurde.
»Leipzig, d. 2. Novembr.
1748.
Hoch Edler
Hochgeehrter Herr Vetter.
Daß Sie nebst Frauen Liebsten sich noch wohl befinden, versichert mich Dero gestriges Tages erhaltene angenehme Zuschrifft nebst mit geschickten kostbaren Fäßlein Mostes, wofür hiermit meinen schuldigen Danck abstatte. Es ist aber höchlich zu bedauern, daß das Fäßlein entweder durch die Erschütterung im FuhrWerck, oder sonst Noth gelitten; weiln nach deßen Eröffnung im [so!] hiesiges Ohrtes gewöhnlicher visirung, es fast auf den 3ten Theil leer und nach des visitatoris Angebung nicht mehr als 6 Kannen in sich gehalten hat; und also schade, daß von dieser edlen Gabe Gottes das geringste Tröpfflein hat sollen verschüttet werden. Wie nun zu erhaltenem reichen Seegen dem Herrn Vetter herzlichen gratulire; als muß hingegen pro nunc mein Unvermögen bekennen, üm nicht im Stande zu seyn, mich reellement revengiren zu können. Jedoch quod differtur non auffertur, und hoffe occasion zu bekommen in etwas meine Schuld abtragen zu können. Es ist freylich zu bedauern, daß die Entfernung unserer beyden Städte nicht erlaubet persöhnlichen Besuch einander abzustatten; Ich würde mir sonst die Freyheit nehmen, den Herrn Vetter zu meiner Tochter Ließgen EhrenTage, so künfftig Monat Januar. 1749. mit dem neuen Organisten in Naumburg, Herrn Altnickol, vor sich gehen wird, dienstlich zu invitiren. Da aber schon gemeldete Entlegenheit, auch unbeqveme Jahres Zeit es wohl nicht erlauben dörffte den Herrn Vetter persöhnlich bey uns zu sehen; So will mir doch ausbitten, in Abwesenheit mit einem christlichen Wunsche ihnen zuassistiren, wormit mich denn dem Herrn Vetter bestens empfehle, und nebst schönster Begrüßung an Ihnen von uns allen beharre
Ew. HochEdlen
gantz ergebener treüer Vetter
und willigster Diener
Joh. Seb. Bach.
[757] [links am Rande quergeschrieben:] P.S.M. Birnbaum ist bereits vor 6 Wochen beerdiget worden.
[auf der folgenden Seite:] P.M.
Ohnerachtet der Herr Vetter sich geneigt offeriren, fernerhin mit dergleichen liqueur zu assistiren; So muß doch wegen übermäßiger hiesiger Abgaben es depreciren; denn da die Fracht 16 gr. der Überbringer 2 gr. der Visitator 2 gr. die Landaccise 5 gr. 3 Pf. und general accise 3 gr. gekostet hat, als können der Herr Vetter selbsten ermeßen, daß mir jedes Maaß fast 5 gr. zu stehen kömt, welches denn vor ein Geschencke alzu kostbar ist.
Bach war, wie man auch aus diesen Briefen wieder sieht, haushälterisch und genau. Um diesen Zug seines Charakterbildes nicht zu hervortretend werden zu lassen, muß dagegen bemerkt werden, daß die gastliche Aufnahme, die ein jeder, von nah oder fern, in seinem Hause fand, allgemein bekannt und in Folge dessen sein Haus auch fast nie von Besuchern leer war.158 Aber ohne die Eigenschaft der Sparsamkeit wäre es ihm bei seiner zahlreichen Familie unmöglich gewesen, zu jener, wenn auch einfachen, so doch behaglichen, solid ausgerüsteten Häuslichkeit zu gelangen, deren er sich in Wirklichkeit erfreute. Das Inventar seines Nachlasses ermöglicht es, sich in derselben genau zu orientiren.159 Einen gewissen Luxus gestattete sich Bach in Instrumenten. Claviere allein besaß er fünf (oder sechs, wenn man das »Spinettgen« mit zählen will), uneingerechnet die vier Claviere, welche er seinen jüngsten Söhnen schenkte. Außerdem hatte er eine Laute, zwei Lautenclaviere, eine [758] Gambe, und Violinen, Bratschen und Violoncelle in so großer Anzahl, daß er jede einfachere concertirende Musik damit besetzen konnte. Im übrigen bietet das Hauswesen von dem mäßigen Silbergeräth an bis zu den schwarzledernen Stühlen und den mit Auszügen versehenen Schreibtische des arbeitsamen Meisters das Bild bescheidenen bürgerlichen Wohlstandes. Auch kleine Ersparnisse sind gemacht worden. Der altbachische Zug, überall wo es noth that in der Familie zu helfen, offenbart sich darin, daß er diese zum Theil an Verwandte ausgeliehen hatte.160 –
In solchen häuslichen Verhältnissen, menschliche Trübsal fromm ertragend, das Glück deutschen Familienlebens mit ernster Heiterkeit genießend, lebte und wirkte Johann Sebastian Bach dem Tode entgegen. In seinem kräftigen Körper wohnte ein gesunder, bis ins Alter lebens- und schaffensfrischer Geist. Nur eine angeborne Schwäche der Augen war durch rastloses, in der Jugend oft Nächte hindurch fortgesetztes Arbeiten während der letzten Jahre zu einer beschwerlichen Augenkrankheit gesteigert. Im Winter 1749 auf 1750 entschloß er sich, auch dem Rath einiger Freunde folgend, durch einen wohlberufenen englischen Augenarzt, der grade in Leipzig weilte, eine Operation vornehmen zu lassen. Sie mißglückte ein erstes und auch ein zweites Mal, so daß Bach des Gesichtes nunmehr ganz beraubt war. Auch hatte die mit der Operation verbundene allgemeine ärztliche Behandlung einen so üblen Erfolg, daß seine bis dahin unerschütterte Gesundheit einen bedenklichen Stoß erhielt. Am 18. Juli konnte er plötzlich wieder sehen und das Licht vertragen. Aber es war der letzte Gruß des Lebens. Wenige Stunden darauf rührte ihn der Schlag, dem ein hitziges Fieber folgte. Er starb Dienstag den 28. Juli 1750 Abends nach einem Viertel auf neun Uhr.161
Um das Sterbebett standen neben der Gattin und den Töchtern der jüngste Sohn Christian, der Schwiegersohn Altnikol und der letzte Schüler Müthel. Mit Altnikol hatte Bach noch wenige Tage vor seinem Tode gearbeitet. Ein Orgelchoral aus alter Zeit schwebte vor seiner sterbensbereiten Seele, dem er die Vollendung geben wollte. Er dictirte und Altnikol schrieb. »Wenn wir in höchsten [759] Nöthen sein« hatte er den Choral früher bezeichnet; jetzt schöpfte er die Stimmung aus einem andern Liede: er ließ ihn überschreiben »Vor deinen Thron tret ich hiemit«. Johann Michael Schmidt, jener junge Theologe, der Bach noch in seinem letzten Lebensjahre bewundern durfte, meinte später: was auch die Verfechter des Materialismus vorbrächten, bei diesem einzigen Beispiel müsse es alles über den Haufen fallen.162
Die Beerdigung fand Freitag den 31. Juli früh morgens auf dem Johanniskirchhofe statt. Wie es bei Kirchen- und Schulbeamten üblich war, geleitete die ganze Schule den Todten zu Grabe. Auch großes Geläute pflegte in solchen Fällen statt zu finden. Der 31. Juli war der zweite Bußtag des Jahres. In der Kirche, durch welche während 27 Jahren so oft Bachs gewaltige Tonströme hingerauscht waren, verkündigte der Prediger von der Kanzel: »Es ist in Gott sanft und seelig entschlafen der Wohledle und Hochachtbare Herr Johann Sebastian Bach, Seiner Königlichen Majestät in Polen und Churfürstlichen Durchlaucht zu Sachsen Hofcomponist, wie auch Hochfürstlich Anhalt-Cöthenscher Capellmeister und Cantor an der Schule zu St. Thomae allhier am Thomas-Kirchhofe, Dessen entseelter Leichnam ist heutiges Tages christlichem Gebrauche nach zur Erden bestattet worden«.163 Sein Grab war ihm nahe der [760] Johanniskirche bereitet worden. Als in unserm Jahrhundert der Friedhof weiter von der Kirche abgedrängt und der Platz um dieselbe dem Straßenverkehr zugänglich gemacht wurde, hat man Bachs Grab mit den Gräbern vieler andrer zerstört. Genau läßt sich daher die Stätte nicht mehr bestimmen, wo man seine Gebeine zur letzten Ruhe hinabsenkte.164
Die Trauer über Bachs Tod war eine allgemeine, wo es ernste Musiker und Musikfreunde gab. Die musikalische Societät feierte sein Angedenken durch ein Trauergedicht in Cantatenform, und Telemann widmete dem geschiedenen Freunde ein wohlgemeintes Sonnett.165 Auch Bachs College an der Thomasschule, Magister Abraham Kriegel, gedachte seiner in einem kurzen, aber warmen öffentlichen Nachrufe.166 Weniger schien der Rath zu empfinden, was die Stadt an Bach verloren hatte. In den Sitzungen vom 7. und 8. August fielen ironische und anzügliche Bemerkungen: »die Schule brauche einen Cantor und keinen Capellmeister« und »Herr Bach wäre zwar ein großer Musicus, aber kein Schulmann gewesen«.
Ein Testament hatte Bach nicht aufgesetzt. Sein Nachlaß ward, nachdem ihn die ältesten Söhne um den ganzen Musikalienbestand geschmälert hatten, gerichtlich abgeschätzt; dann schlossen Wittwe [761] und Kinder einen Erbvergleich. Anna Magdalena übernahm die Vormundschaft über die Unmündigen, bei Ausmachung des Erbtheils stand ihr Johann Gottlieb Görner, der zu Lebzeiten Bachs sich manchmal angemaßt hatte, sein Rival sein zu können, hülfreich zur Seite. Auch erhielt Anna Magdalena das Gnadengehalt für die Quartale Crucis und Luciae.167 Dann ging die Familie nach allen Richtungen auseinander. Friedemann, der zugleich Emanuels Rechte vertreten hatte, kehrte nach Halle, Friedrich nach Bückeburg zurück; Heinrich fand bei Altnikol in Naumburg ein dauerndes Unterkommen, den 15jährigen Christian nahm Emanuel einstweilen zu sich nach Berlin. Mit großen, theilweise sehr großen Gaben ausgestattet versuchten die Söhne, auf den Ruhm des größeren Vaters gestützt, nunmehr ohne dessen erfahrenen Beistand in der Welt ihr Glück. Ihren Lebenswegen weiter nachzugehen, ihre Kunstleistungen abzuschätzen, liegt nicht im Plane dieses Buches. Aber sie haben es vermocht, daß wenigstens noch eine Generation hindurch der Name Bach in der deutschen Kunstwelt in hellem Glanze leuchtete.
Anna Magdalena, mit drei Töchtern zurückgeblieben, gerieth in Armuth. 1752 erhielt sie eine Geldunterstützung, da sie bedürftig sei und auch einige Musikalien überreicht habe. Wollten die Söhne ihr nicht helfen oder konnten sie es nicht, jedenfalls wurde ihre Lage immer bedrängter, sie existirte zuletzt von der öffentlichen Wohlthätigkeit. Am 27. Februar 1760 starb sie in einem Hause der Hainstraße »eine Almosenfrau«. Ihrem Sarge folgte die Viertelschule wie bei den gänzlich armen Leuten; ihr Grab kennt man nicht. So ließ die Stadt die kunstverständige Gattin eines ihrer größten Bürger zu Grunde gehen. Die zurückgelassenen drei Töchter sahen eine Zeit, welche der Musik ihres Vaters fremd und fremder wurde: Katharina Dorothea lebte noch bis zum 14. Januar 1774, Johanna Carolina bis zum 18. August 1781. Nur das jüngste Kind Regina Johanna erlebte es, daß Deutschland wieder anfing sich auf Sebastian Bach zu besinnen. Auch sie litt Noth in der Einsamkeit; ein Verdienst Rochlitzens ist es, durch einen öffentlichen Aufruf ihr endlich noch einen freundlicheren Lebensabend bereitet zu haben. Sie starb am 14. December 1809, als die letzte der Geschwister.
[762] Wer dem Lebenslaufe eines großen Mannes bis ans Ende nachgegangen ist, dessen Blick soll nicht zu lange bei dem wehmüthigen Bilde verweilen, welches der Verfall alles dessen, was er äußerlich gebaut und zusammengehalten hat, immer darstellt. Es ist der geringste Theil seines Schaffens, was so zu Grunde geht. Freilich wirkte der schöpferische Geist Bachs auch in der Kunstwelt der nächsten Generationen matter fort, als solches sich wohl bei andren großen Genien beobachten läßt. Und grade Bachs Söhne waren es, die uns die nachlassende Kraft eines mehrhundertjährigen Aufstrebens fühlbar machen, welche in ihren Nachkommen endlich ganz erstarb. Aber dafür hat seit bald hundert Jahren das ganze deutsche Volk sich zum Erben seiner Schöpfungen erklärt. Es hat den Zusammenhang mit ihm und in ihm mit fast vergessenen Jahrhunderten seiner eignen Musik-Geschichte wieder gefunden. Was er geschaffen hat als höchster Vollender einer Kunstrichtung echt nationaler Art, die zu den Zeiten der Reformation hinabreicht und an sie anknüpft, ist wie eine edle Saat, die endlich aufgeht, um sich in immer reicheren Garben erndten zu lassen. Fortan wird es unmöglich sein, Bach wieder zu vergessen, so lange überhaupt noch deutsches Wesen ist. In den Thaten nachwachsender Künstler hat er bereits angefangen seine Renaissance zu erleben. Aber auch wir andern haben die Pflicht, ein jeder an seinem Theile daran zu arbeiten, daß das Wesen des Großen immer weiteren Kreisen seines Volkes verständlich und vertraut werde.
Fußnoten
Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).
2 S. Ernestis Schulprogramm zum 20. April 1736, S. 15 (auf der Bibliothek der Thomasschule).
3 Krauses Eingabe ist vom 26. Juli datirt; s. Leipziger Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II.« sign. VIII, B. 6. – Daß bei eigenmächtigem Entweichen eines Alumnen der Hausrath verfiel, war allerdings rechtens und stand in der formula obligationis, die von den Alumnen vor ihrer Aufnahme unterschrieben werden mußte; s. Rathsacten »Schuel zu S. Thomas. Vol: III. Stift. VIII. B. 2.« Fol. 295.
4 S. S. 66 dieses Bandes, und Ernestis Schulprogramm zum 6. Mai 1737 (auf der Bibliothek der Thomasschule).
5 S. S. 66 dieses Bandes, und Ernestis Schulprogramm vom 6. Mai 1737.
6 Bach muß in dieser Woche die Schulinspection gehabt haben, in Folge deren er mit den Alumnen zusammen zu speisen hatte.
7 Staatsarchiv zu Dresden, Abtheilung XVI, Nr. 1507.
8 Staatsarchiv zu Dresden »Die Italiänischen Sänger und Sängerinnen, das Orchestre, die Täntzer und Täntzerinnen, auch andere zur Opera gehörige Persohnen betr. anno 1733. 1739 und 1801. 1802.« Fol. 57.
9 Rathsacten »Die Schule zu St. Thomae betr. Fasc. II«. sign. VIII, B. 6.
12 Beiblatt zu S. 94. – Das Manuscript des nicht gedruckten Werkes auf der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden. Vrgl. S. 88, Anmerk. 73 dieses Bandes.
14 Rathsarchiv, Protokoll »in die Enge« vom 19. Mai 1747 – 28. December 1755. VIII, 65. Fol. 235.
15 »Directorium | musicum, | oder | Gründl. Erörterung | Demjenigen | Streit-Fragen, | Welche bißhero hin und wieder zwischen | denen Schul-Rectoribus und Cantoribus über dem Directorio Musico moviret | worden. | Nebst beygefügten Responsis einiger hochberühmten | Juristen Collegiorum. | Zum Druck übergeben | Von | Joh. Phil. Bendelern, Cant. | zu Quedlinb. | Gedruckt im Jahr 1706.« Königliche Bibliothek zu Berlin, Abtheilung Bibliotheca Dieziana. Quart 2899.
16 Kuhnau, Der Musicalische Qvack-Salber. 1700. S. 12.
17 S. das Gratulationsgedicht am Schlusse von Kuhnaus Jura circa musicos ecclesiasticos. Leipzig, 1688.
18 Genaueres über diesen für Leipzigs Concertwesen wichtigen Mann kann ich nicht beibringen. Der Zehmisch gab es zu jener Zeit mindestens drei; ich habe in den Kirchenregistern gefunden einen Johann Friedrich Zehmisch, einen Gottlieb Benedict Zehmisch, beides Kaufherrn, und einen Johann Gottfried Zehmisch, Doctor juris utriusque.
19 Ich führe diesen Bericht nach dem Programm des Gewandhausconcerts vom 9. März 1843 an, das eine Erinnerungsfeier des hundertjährigen Bestehens war. Als Quelle ist dort angegeben »Continuatio Annalium Lips. VOGELII. Tom. II. pag. 541. anno 1743.« Diese ist bis jetzt nicht wieder aufzufinden gewesen; die Verläßlichkeit der Programm-Mittheilung steht jedoch außer Zweifel.
20 »Continuatio Annalium Lips. Tom. II. pag 565.anno 1744;« s. die vorige Anmerk.
21 »Das jetzt lebende und florirende Leipzig.« 1746, S. 69; 1747, S. 76 f.
23 Historische Erklärungen der Gemälde, welche Gottfried Winkler in Leipzig gesammlet. Leipzig, gedruckt bey B.C. Breitkopf und Sohn 1768. S. VII.
24 Rechnungen der Thomaskirche und Neuen Kirche von 1747 an.
25 Rathsacten »Protocoll in die Enge« vom 19. Mai 1747 – 28. Dec. 1755. VIII, 65. Fol. 2. – Rechnungen der Thomaskirche 1747–1748, S. 54: »6 Thlr. H. Johann Christoph Altnikoln Bassisten daß er in denen beyden Haupt Kirchen dem Choro Musico von Michael. 1745. bis 19. May 1747. assistiret.«
26 Agricola bei Adlung Musica mechanica. S. 251, sagt freilich auch, es sei die strengste Untersuchung gewesen, die vielleicht jemals über eine Orgel ergangen sei.
27 Bachs Gutachten darüber befand sich bis 1872 im Besitz des Generalconsul Clauss in Leipzig. Für seine Bemühung erhielt Bach 5 Thaler 12 gr. Die Einweihung der Orgel fand am 9. Trinitatis – Sonntag (7. August) statt (nach Mittheilungen des Herrn Pastor Mylius zu Zschortau).
28 »Tableau von Leipzig im Jahre 1783.« s.l. 1784.
29 »Bey dem Abblasen vom Thurme, besonders, werden, ausser dem einfachen Choralspiele, eigene dazu componirte Sonaten, mit diesen weittönenden Instrumenten, sämmtlichen Bewohnern eines Orts, einer ganzen Stadt zu hören gegeben«. Ch. C. Rolle, Neue Wahrnehmungen zur Aufnahme der Musik. Berlin, 1784. S. 41. – Auch Friedrich Schneider (1786–1853), ein geborner Sachse, componirte als Jüngling noch zwölf sogenannte Thurmsonaten für zwei Trompeten und drei Posaunen; s. dessen chronologisches Compositionen-Verzeichniß bei Kempe, Friedrich Schneider als Mensch und Künstler. Dessau, 1859.
30 Forkel, Musikalischer Almanach für Deutschland auf das Jahr 1783. Leipzig, im Schwickertschen Verlag. S. 152 f.
31 Sein Geburtsort nach den Inscriptionsbüchern der Leipziger Universität. Im übrigen Mattheson, Ehrenpforte S. 228 ff.
32»Magno quoque cum fructu usus sum Tua, Celeberrime Bachi informatione in Musica practica, et doleo ulterius illa frui mihi non licere.« 1736 er schien eine zweite Auflage der Schrift unter dem Titel »Dissertatio quod musica scientia sit et pars eruditionis philosophicae,« und mit einer andern Vorrede. Ich kannte die erste, sehr selten gewordene Ausgabe noch nicht, als ich, Mattheson folgend, Band I, S. 650, Anmerk. 20 schrieb, daß Mizler, wenn auch nicht Schüler so doch ein guter Bekannter Bachs gewesen sei.
33»Quod autem a vobis petii, ejus particeps factus hie amplissimas habere gratias et debui et volui, cum litteris tum sermonibus vestris musicae scientiae ampliorem accuratioremque notitiam edoctus«. Vorrede zur 2. Aufl. der Dissertatio.
34»Lusus ingenii de praesenti bello augustissimi atque invictissimi imperatoris Caroli VI cum foederatis hostibus ope tonorum musicorum illustrato«. Frankreich ist der Grundton C, Spanien die Quinte G, Sardinien die Terz E, der Kaiser Carl die Octave C. Die drei ersteren wollen durch Ausweichungen aus ihrem ursprünglichen Ton die Octave von C auf H herabziehen; dies gelingt ihnen nicht, durch Hülfe Englands (A) werden sie gezwungen wieder einzulenken.
37 Musikalische Bibliothek. Erster Band. Vierter Theil. S. 74.
38 Im »Musikalischen Staarstecher« (Leipzig, 1740), S. 86 nennt Mizler »praktische Musiker« solche, die nur singen oder spielen, nicht aber componiren. Vielleicht ist der Ausdruck in den Gesetzen der Societät auch nur so zu verstehen.
39 Musikalische Bibliothek. Dritter Band. Zweiter Theil. S. 357.
40 Musikalische Bibliothek. Vierter Band. Erster Theil. S. 107.
3 Hiller, Vierstimmige lateinische und deutsche Chorgesänge. Erster Theil. Leipzig, 1791; Vorrede.
4 Sammlung von Texten zur Leipziger Kirchenmusik, auf der königlichen Bibliothek in Berlin.
5 Man beachte den Sprachgebrauch: »Kyrie cum Gloria, nicht et; schon durch diese Ausdrucksweise wurde das Gloria als Ergänzung des Kyrie bezeichnet.
6 Zwei Messen Knüpffers werden angeführt in Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 11 und 14, eine Messe Kuhnaus in desselben Verzeichniß von Ostern 1769, S. 17.
9 Das Wasserzeichen des Papiers ist M A, was die Periode von etwa 1727–1736 andeutet.
10 Die Handschrift ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Die Überschrift ist abgegriffen und halb erloschen, doch scheint ein d L [di Lotti?] noch erkennbar. Wasserzeichen mit denen der Partitur des Oster-Oratoriums übereinstimmend, woraus sich die ungefähre Entstehungszeit des Manuscripts ergiebt; s. Anhang A, Nr. 48. – Schicht hat die Messe irrthümlich als ein Werk Seb. Bachs bei Breitkopf und Härtel herausgegeben.
16 Eine Zusammenstellung hat Rust gegeben im Vorwort zu B.-G. XI1. Hier ist aber die E moll-Messe (Nr. 3), eine Composition Nikolaus Bachs, auszuscheiden; s. Band I, S. 130 f.; sie ist nicht in Seb. Bachs Autograph vorhanden; s. ebenda S. 565, Anmerk. 1. Breitkopfs Verzeichniß von Ostern 1769 führt, in Übereinstimmung mit dem Michaelisverzeichniß 1761, auf S. 12 und 13 sechs Messen Seb. Bachs auf, von denen aber vier zuverlässig unecht sind; die erste wird Nr. 5 in Rusts Zusammenstellung sein (die C moll-Messe mit dem interpolirten Christe eleison), die vierte Nr. 4 bei Rust, die fünfte Nr. 10 (die obengenannte mehrchörige G dur-Messe), die sechste Nr. 3.
17 Dies ist schon von Mosewius (J.S. Bach in seinen Kirchen-Cantaten und Choralgesängen, S. 11) und nach ihm von M. Hauptmann im Vorwort zu Band VIII der Bach-Gesellschaft, welcher die Messen enthält, bemerkt worden, bis auf den Schlußchor der G dur-Messe, welcher eine Überarbeitung des Anfangschors der Cantate »Wer Dank opfert, der preiset mich« ist.
18 Bisher waren nur der erste Chor und die Arien für Sopran und Alt als Entlehnungen festgestellt, s. Mosewius a.a.O. S. 12. Der Schlußchor ist eine Überarbeitung des Eingangschors der Cantate »Erforsche mich Gott und erfahre mein Herz«.
19 Ein analoges wenngleich weit weniger kunstvolles Gebilde ist das vierstimmige Recitativ am Schluß des Weihnachts-Oratoriums »Was will der Hölle Schrecken nun«.
20 Das Christe führt Kirnberger (Kunst des reinen Satzes II, 3, S. 63 ff.) als canonisches Musterbeispiel an und bemerkt dazu, es sei »gegen alle vorhergewesene Kirchenmusik ganz verschieden, weil man gemeiniglich immer in dem sogenannten schweren Styl geschrieben, in welchem gar keine Verwechslungen der dissonirenden Accorde Statt fanden.«
22 Die ungefähre Originalgestalt dürften bieten Takt 1–28+65–83 als erster und als dritter, Takt 84–118 als zweiter Theil, natürlich nur dem musikalischen Grundstoffe nach. Vrgl. zum Bau den Eingangschor der Cantate »Es erhob sich ein Streit« (B.-G. II, Nr. 19).
27 Eine der beiden (nicht Original-) Handschriften, welche das Werk überliefern, giebt den Choral einer Sopranstimme. Das ist sicherlich nicht Bachs eigentliche Absicht; die eigentümliche Wirkung beruht, wie bei so manchen ähnlichen Stücken seiner Composition, grade auf dem wortlosen Erklingen der bekannten Tonreihen, ganz abgesehen von der störenden Vermischung deutschen und lateinischen Textes.
28 Wie die Vergleichung lehrt hat Bach die Melodie durch einige chromatische und andre vermittelnde Schritte noch charakteristischer gemacht.
31 Wie eine aus Joh. Adam Hillers Besitz stammende, auf der königlichen Bibliothek zu Berlin befindliche Abschrift des Kyrie als einzelnen Stückes beweist.
32 Das Jahr 1737–1738 als Entstehungszeit der G dur- und A dur-Messe deuten deren autographe Partituren an, die durchaus oder theilweise ein Wasserzeichen haben, welches auch in der Partitur des Oster-Oratoriums vorkommt.
34 S. Vorwort zur Ausgabe der H moll-Messe B.-G. VI, S. XV.
35 Die autographe Partitur, eine Reinschrift, welche dem diplomatischen Merkzeichen M A zufolge, wenn nicht im Jahre 1733 selbst, so doch bald nachher gefertigt sein wird, zeigt Kyrie und Gloria in der Weise zusammenhängend, daß auf derselben Seite 20 dasKyrie aufhört und das Gloria anfängt. Beide Sätze werden in der Originalpartitur unter dem NamenMissa als Nr. 1 zusammengefaßt.
37»Festo Nativitatis Christi. Gloria in excelsis Deo.« Das Autograph besitzt Herr Kammersänger Hauser in Carlsruhe, der mir die Kenntniß desselben gütigst vermittelte. Über die Entstehungszeit desselben s. Anhang A, Nr. 47.
39 B.-G. XI1, S. 81 ff. – Die in demselben Bande herausgegebenen Sanctus in D moll und G dur haben geringeren Werth, namentlich letzteres; dem aus D moll kann man trotz seiner Einfachheit und Kürze eine eigenthümliche Stimmung nicht absprechen. Zwei Sanctus in F dur und B dur, die noch unter Bachs Namen vorkommen – auch Breitkopf im Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 8 scheint sie als Originalcompositionen angesetzt zu haben – sind offenbar unecht; dagegen möchte ich ein achtstimmigesSanctus in D dur Bach nicht ohne weiteres aberkennen; s. Rusts Vorwort zu B.-G. XI1, S. XVII, Nr. 7 und 8, S. XVI, Nr. 6.
40 Eine bemerkenswerte Kleinigkeit ist, daß Bach in seinen Sanctus stets componirt: pleni sunt coeli et terra gloria ejus, statt gloria tua; dem Bibelwort gemäß, aber dem kanonischen Messentexte zuwider.
42 S. S. 98 dieses Bandes. – Die Zusammenlegung der Aposteltage mit den Sonntagen scheint in Leipzig schon Ende des 17. Jahrhunderts üblich gewesen zu sein; s. Vopelius, a.a.O. S. 20.
43 S. Zedler, Universal-Lexicon. Band 39. Leipzig und Halle. 1744. – G B. Hanckens Weltliche Gedichte. Dresden und Leipzig, 1727. S. 30 ff.; S. 123 ff. – J. Ch. Günthers Gedichte. Breslau und Leipzig, 1735. S. 137 ff.
51 Eine den Vortrag angehende Bemerkung möge hier Platz haben. Der erste Takt der Flötenstimme ist von Bach so geschrieben:
Später finden sich, wo das Thema wiederkehrt, in der zweiten Takthälfte einfache Sechzehntel, deren je zwei mit einem Bogen versehen sind. Die punktirte Schreibweise deutet nur an, daß die erste Note an die folgende eng gebunden und zugleich mit einem Druck versehen, nicht aber, daß sie an Zeitwerth geringer sein soll, als die zweite. Eine Musiklehre von J.G. Walther aus dem Jahre 1708, die im Autograph des Verfassers in meinem Besitz ist, sagt über diesen Gegenstand: »Punctus serpens, zeiget an, daß die auf folgende Art gesetzten Noten sollen geschleiffet werden. z.B.
Seb. Bach unterscheidet sich hinsichtlich dieser Vortragsart von Emanuel Bach, und darnach wäre auch wohl eine Bemerkung in B.-G. XIII1, S. XVI noch genauer zu fassen.
52 Schon Mosewius hat diesen symbolischen Sinn erkannt; s. bei Lindner, Zur Tonkunst. S. 165 f.
53 Oder Flöte; die autographe Partitur giebt über den Charakter des concertirenden Instruments keine Auskunft.
55 Der ältesten (Nägeli-Simrockschen) Ausgabe kann man dies freilich nicht vorwerfen, da sie die Eintheilung der Messe nach den liturgischen Hauptabschnitten überall unterläßt.
4 Ich kenne die Cantate nur nach einer Abschrift der königlichen Bibliothek zu Berlin. Wo das Autograph sich befindet weiß ich nicht.
5 B.-G. II, wo unter Nr. 14 die Cantate veröffentlicht ist, steht S. 126 »Ja hätt es Gott nicht zugegeben«, offenbar verschrieben, weil sinnlos, aus »Ja hätte Gott es zugegeben«. Ausnahmsweise hat Bach bei dieser Cantate selbst die Jahreszahl 1735 angemerkt. – Das Papier der Stimmen ist dasselbe, wie dasjenige, auf welchem die zum Namenstage des Königs umgearbeitete Cantate »Vereinigte Zwietracht« geschrieben ist. Das Jahr paßt für die Aufführung dieser Musik sehr wohl; s. S. 459, Anmerk. 42 dieses Bandes.
13 S. Band I, S. 558 ff. – Die instrumentale Durcharbeitung des Bassthemas, welche in der autographen Partitur der weltlichen Cantate hinter dem Schlußchore steht, gehört nicht zu der Sopranarie »Wenn die wollenreichen Heerden« und ist auch durch keinen äußerlichen Hinweis mit ihr in Verbindung gebracht. Offenbar hat Bach, als er die Umarbeitung für die Pfingstcantate vornahm, diese zum Nachspiel derselben bestimmte Durchführung auf dem freigebliebenen Raum zuerst flüchtig entworfen.
24 In den Stimmen hat Bach beim ersten Eintritt d in e verwandelt, also aus dem Septimen- einen Sextenschritt gemacht – zuverlässig nur um den Einsatz zu erleichtern. Es dürfte für uns immerhin erlaubt sein, bei der ursprünglichen Lesart zu bleiben. – Über die Chronologie s. Anhang A, Nr. 55.
31 Autographe Partitur und Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin; originale Instrumentalstimmen im Besitz des Herrn Professor Rudorff in Lichterfelde bei Berlin.
35 B.-G. VII, Nr. 34. – S. Anhang A, Nr. 47. – Ich bemerke hier beiläufig, daß im Jahre 1742 wegen Absterbens der Kaiserin-Wittwe Maria Amalia eine vierzehntägige Landestrauer angeordnet, und folglich zu Pfingsten und Trinitatis keine Kirchenmusik gemacht wurde. Schon deshalb kann also die Cantate »O ewiges Feuer« 1742 nicht aufgeführt sein.
50 Nur in unvollständigen Stimmen hat sich eine Cantate erhalten, welche mit dem Chor beginnt »Ihr Pforten zu Zion, ihr Wohnungen Jacobs freuet euch«. Zion soll hier Leipzig vorstellen, und die Bestimmung der Musik war die Rathswahl. Näheres über die Entstehungszeit kann nicht angegeben werden. Die Trümmer dieser Cantate bewahrt die königliche Bibliothek zu Berlin.
52 Originalstimmen auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.
53 »Nun komm der Heiden Heiland«, s. Band I, S. 504; »Tritt auf die Glaubensbahn«, ebenda S. 554.
54 So z.B. noch in den Cantaten »Ihr Menschen, rühmet Gottes Liebe«, »Es wartet alles auf dich«, »Gott ist unsre Zuversicht«, »Am Abend aber desselbigen Sabbaths«, »Ach lieben Christen seid getrost«, »Ich freue mich in dir«.
58 Außer dieser noch »Mein Gott, wie lang ach lange«, und »Ach Gott, wie manches Herzeleid« (A dur).
59 B.-G. XX1, Nr. 90. – Die angewendeten Instrumente sind in der autographen Partitur nicht angegeben. Sie können aber aus Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761 beigebracht werden. Es heißt dort wörtlich: à Tromba, 2 Violini, Viola, 4 Voci, Basso ed Organo.
60 B.-G. X, Nr. 42. In der autographen Partitur ist die Sinfonie und der erste Theil der Arie Reinschrift.
63 Eine junge Handschrift, aus Professor Fischhoffs Nachlasse; ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. – Ich bemerke noch im allgemeinen ausdrücklich, daß alle obigen Solocantaten nur vermuthungsweise in die spätere Leipziger Zeit gestellt werden. Es spricht aber für die Richtigkeit der Vermuthung einmal die negative Thatsache, daß sie keinerlei äußere Merkmale tragen, die sie einer früheren Periode zuzuweisen zwängen, sodann positiv ihre große innere Reife und Empfindungstiefe.
67 Autographe Partitur auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Veröffentlicht bei Winterfeld, Ev. K. III, Notenbeilage S. 145 ff.
68 Vrgl. über die benutzte Melodie Anhang A, Nr. 54. Die dort mitgetheilte Form weicht von der der Cantate nur unerheblich ab. Bedeutender sind die Verschiedenheiten bei der in Königs Harmonischem Liederschatz (Frankfurt a.M. 1738) S. 280 mitgetheilten Form (»O stilles Gotteslamm«).
69 In Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 23, als Communions-Cantate aufgeführt.
70 S. Anhang, Nr. 56. – Von 3, 33 und 34 sind überhaupt die Autographe nicht bekannt, sondern nur spätere Abschriften. Nach den Originalien veröffentlicht sind: 1 B.-G. I, Nr. 2; 2 B.-G. I, Nr. 3; 4 B.-G. XXIV, Nr. 114; 5 B.-G. V1, Nr. 26; 6 B.-G. VII, Nr. 33; 7 B.-G. VII, Nr. 38; 8 B.-G. XXVI, Nr. 121; 9 B.-G. I, Nr. 7; 10 B.-G. XXVI, Nr. 122; 11 B.-G. XXIV, Nr. 116; 12 B.-G. XXVI, Nr. 126; 13 B.-G. XXII, Nr. 91; 14 B.-G. XXII, Nr. 96; 15 B.-G. XXVI, Nr. 130; 16 B.-G. XXIV, Nr. 113; 17 B.-G. XXVI, Nr. 127; 19 B.-G. XXII, Nr. 92; 20 B.-G. XVIII, Nr. 78; 21 B.-G. X, Nr. 41; 22 B.-G. XXVI, Nr. 123; 23 B.-G. XXIV, Nr. 115; 24 B.-G. XXVI, Nr. 124; 25 B.-G. I, Nr. 10; 26 B.-G. XXVI, Nr. 125; 27 B.-G. XXIII, Nr. 101; 28 B.-G. XVI, Nr. 62; 30 B.-G. XXII, Nr. 94; 31 B.-G. XXIV, Nr. 111; 32 B.-G. I, Nr. 1; 35 B.-G. I, Nr. 5. – Die autographe Partitur von 18 besitzt Herr Ernst Mendelssohn-Bartholdy in Berlin, von 29 Trau Pauline Viardot-Garcia in Paris.
71 Hierbei ist freilich dem Dichter in dem auf Strophe 4 und 5 gegründeten Tenor-Recitativ eine arge Ungereimtheit passirt, wenn er in der Sucht Worte zu machen schreibt: »Die nacket, bloß und blind, Die voller Stolz und Hoffart sind, Will seine Hand wie Spreu zerstreun«. Die Armen und Kranken sind aber nicht stolz und hoffärtig, und sie will Gott nicht demüthigen, sondern stärken und erheben.
72 Koch, Geschichte des Kirchenlieds V, S. 500 f. (3. Aufl.) giebt an, daß die Lieder »Bedenke, Mensch, die Ewigkeit«, »Das ist meine Freude, daß, indem ich leide« und »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende, ob heute nicht mein jüngster Tag« noch jetzt gebräuchlich seien. Schon aus den Anfängen, die mit bekannten Kirchengesängen übereinstimmen, geht Picanders Unselbständigkeit hervor.
77 In den aufwärtsdringenden Trompetenbewegungen der Cantate »Herr Gott dich loben alle wir« liegt übrigens auch wohl eine poetische Bedeutung, die aus der vorhergehenden Arie und dem ähnlich ausgestatteten Schlußchorale der Cantate »Es erhub sich ein Streit« klar wird.
78 S. S. 428 ff. dieses Bandes. – Zu den motettenartigen Choralchören gehört auch der herrliche, B.-G. XXIV, Nr. 118 herausgegebene, Satz »O Jesu Christ meins Lebens Licht«, den aber eine selbständigere Begleitung von Blasinstrumenten auszeichnet. Der Satz ist vermuthlich bei einer Begräbnißfeierlichkeit im Freien aufgeführt und erst hernach für den Gebrauch im geschlossenen Raume eingerichtet worden. Entstanden ist er um 1737; s. Anhang A, Nr. 47.
81 Auch dieses Motiv hängt mit der ersten Melodiezeile zusammen, insofern es deren erste beide Töne benutzt. Übrigens fällt auf, daß ganz dasselbe Motiv auch im Hauptchore von »Ach Gott, wie manches Herzeleid« verwendet wird. Ich glaube, daß die Cantate »Wie schön leuchtet der Morgenstern« unmittelbar nach dieser componirt worden ist, da Bach das Motiv noch im Ohre hatte.
83 Dies wurde schon zu Bachs Zeiten von gewisser Seite mißfällig bemerkt; s. Witt, Neues Cantional mit dem General-Bass. Gotha und Leipzig (1715). Vorrede.
1 »Bachs, J.S. Vollständiges Choralbuch mit in Noten aufgesetzten Generalbasse an 240 in Leipzig gewöhnlichen Melodien. 10 thl.« Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 29.
2 Herr W. Kraukling in Dresden besitzt ein Choralbuch mit beziffertem Bass in klein Querquart; auf dem schweinsledernen Rücken steht: »Sebastian Bachs Choral-Buch«. Das Büchlein zeigt aber weder Bachs Handschrift, noch auch im Satze der Choräle eine Spur Bachschen Stiles und Geistes.
3 Man findet sie P.S. V, C. 5, Nr. 53; ebenda im Anhang hinter Nr. 7; ferner C, 6, Nr. 16; endlich ebenda Nr. 29. Die Quellennachweise in den betreffenden Vorworten.
4 Diese Weihnachtschoräle stehen in einem der Krebs'schen Orgelbücher, welche Herr F.A. Roitzsch in Leipzig besitzt, S. 241 f. Vermuthlich stammt auch noch der S. 253 befindliche Satz »Jesu der du meine Seele« von Bach. – Den Choral »Gelobet seist du« theile ich als Musikbeilage 4, A mit. Man wird aus der Vergleichung desselben mit dem Band I, S. 585 ff. besprochenen sehen, daß er dieselbe Harmonisirung hat, und auch die Zwischenspiele übereinstimmen.
6 Schemelli der Vater, geb. 1676, zählte bereits 60 Jahre als das Gesangbuch erschien: Schemelli der Sohn, geb. 1712, folgte ihm, als er emeritirt wurde, im Amte (Archiv der Schloßkirche zu Zeitz).
7 »Musicalisches | Gesang-Buch, | Darinnen | 954 geistreiche, sowohl alte als neue | Lieder und Arien, mit wohlgesetzten | Melodien, in Discant und Baß | befindlich sind | Vornemlich denen Evangelischen Gemeinen | im Stifte Naumburg-Zeitz gewidmet, | .... von | George Christian Schemelli, | Schloß-Cantore daselbst. | ... Leipzig, 1736. | Verlegts Bernhard Christoph Breitkopf, Buchdr.« | – Exemplare des selten gewordenen Werkes auf der gräflich stolbergischen Bibliothek zu Wernigerode und der königlichen Bibliothek zu Berlin.
8 Es ist Winterfelds (Ev. K. III, S. 270 ff.) dauerndes Verdienst, diesen Gegenstand gründlich zuerst untersucht zu haben, wenn er auch theilweise zu unrichtigen Resultaten gelangte. Da, wie ich Band I, S. 365 ff. erwiesen zu haben glaube, von einer Betheiligung Bachs an Freylinghausens Gesangbuch nicht die Rede sein kann, so schmilzt die Zahl der in Schemellis Gesangbuche Bach zuzuschreibenden Tonstücke erheblich zusammen. Sämmtliche in demselben enthaltene Tonsätze hat C.F. Becker bei Breitkopf und Härtel in Leipzig zum zweiten Male herausgegeben. Nach dieser Ausgabe sind die von Bach componirten Lieder NNr. 4, 7, 8, 10, 11, 14, 19, 21, 24, 26, 30, 31, 32, 42, 44, 46, 47, 51, 52, 53, 56, 57, 59, 62, 63, 64, 66, 67, 68.
9 Die NNr. 31, 32, 47, 59, 64, 67, 68. Für Anfertigung der Stichvorlagen sind zwei verschiedene Schreiberhände thätig gewesen. Außer obigen NNr. zeigen noch 40, 194 und 281 dieselbe Hand. Sie unterscheiden sich von den übrigen durch die Form der Schlussel und die Anwendung der Accolade. Der Sopranschlüssel läßt ziemlich deutlich die Form erkennen, welche Bach in jener Zeit die geläufigste war. Außerdem bemerkt man hier eine größere, flüssigere Notenschrift, obgleich der Stich vieles egalisirt hat. Es liegt nahe, daß Bach die Tonstücke, welche er eigens für das Schemellische Gesangbuch concipirt hatte, auch selbst abschrieb.
10 Winterfeld, sagt (a.a.O. S. 278 f.), in J.B. Königs Harmonischem Liederschatz (Frankfurt a.M. 1738) seien nur die NNr. 4 und 63 unverändert aufgenommen, zu den Liedern 24, 56 und 57 fänden sich dort nur anklingende Weisen. Hier hat er sich geirrt. Auch Nr. 8 findet sich bei König unverändert, Nr. 57 in vereinfachter Form, Nr. 24 mit umcomponirtem Aufgesange (S. 490 bei König); Nr. 56 aber hat bei König eine ganz andre Melodie.
11 König hat sie auf S. 340 in seinen Harmonischen Liederschatz aufgenommen.
12 Vrgl. Band I, S. 757 f. – Das Lied »Gedenke doch, mein Geist« hat Bitter (Bd. I, Musikbeilage) veröffentlicht.
13 S. S. 487 dieses Bandes. – Im Musikverein begleitete er auf dem Cembalo; s. Gerber, I, Sp. 756.
14 Diese fünf Lieder, beziehungsweise Melodien, außerdem das Lied »Warum betrübst du dich« theile ich als Musikbeilage 4, B mit. – Weiteres über die Echtheit Anhang A, Nr. 57.
15 In dem gedruckten Verzeichnisse von Em. Bachs Nachlasse (Hamburg, 1790) S. 73 wird unter Seb. Bachs Compositionen angeführt: »Naumburgisches Gesangbuch mit gedruckten und 88 vollstimmig geschriebenen Chorälen«.
16 Das erste in Anna Magdalenas Buch, die andern in den von Ph. Em. Bach herausgegebenen vierstimmigen Choralgesängen seines Vaters (Leipzig, Breitkopf 1784–1787). In »So giebst du nun, mein Jesu«, (Nr. 206 daselbst) fehlt übrigens hinter Takt 7 ein voller Takt.
17 S. S. 416 dieses Bandes. Eine derselben bildet als Chor den Schluß, die andre tritt mit vierstimmiger Instrumentalbegleitung und contrapunktirendem Recitativ-Bass auf.
22 S. Band I, S. 548. Ich bin jetzt bei dieser sonst nirgends vorkommenden Melodie von Bachs Urheberschaft durchaus überzeugt. Erk hält sie (s. Choralgesänge II, Nr. 159) für eine einfache Nachbildung der Melodie »Jesu, der du meine Seele«. Mir scheint jedoch auch die melodische Verwandtschaft mit »Herr, ich habe mißgehandelt« (s. Choralgesänge von 1784, Nr. 35) unverkennbar. – Die übrigen Bach noch zuzuschreibenden vierstimmigen Liedsätze sind »Nicht so traurig, nicht so sehr« (C moll). »Ich bin ja Herrin deiner Macht«, »Was betrübst du dich, mein Herze«, »Für Freuden laßt uns springen«, »Gottlob es geht nunmehr zu Ende« und »O Herzensangst, o Bangigkeit«. Winterfeld (a.a.O. S. 282 ff.) glaubte noch eine Anzahl andre für Bach in Anspruch nehmen zu müssen. Für die Lieder »Ist Gott mein Schild«, »Schwing dich auf zu deinem Gott«, »O Mensch, schau Jesum Christum an« und »Auf, auf mein Herz und du mein ganzer Sinn« hat Erk in seiner mustergültigen Ausgabe der Bachschen Choralgesänge die Unrichtigkeit der Annahme nachgewiesen. Bei den Liedern »Meinen Jesum laß ich nicht«, »Das walt Gott Vater und Gott Sohn« und »Herr nun laß in Friede« hat Winterfeld selbst seine Behauptung halb wieder zurückgenommen. Die Lieder aber »Dank sei Gott in der Höhe«, »O Jesu du mein Bräutigam« und »Alles ist an Gottes Segen« erscheinen bei König in Formen, die deutlich beweisen, daß sowohl Bachs wie Königs Lesarten nur Varianten älterer Urformen sind.
23 Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 7: »Bach, J.S. Capellmeisters und Musikdirectors in Leipzig, 150 Choräle, mit 4 Stimmen, a 6 Thlr.«
24 Kirnberger, Gedanken über die verschiedenen Lehrarten in der Komposition. Berlin, 1782. S. 4 f.
25 Erster Theil 1774; Zweiter Theil, Erste bis dritte Abtheilung 1776–1779.
26 Grundsätze des Generalbasses als erste Linien zur Composition. 1781.
27 Marpurg, Versuch über die musikalische Temperatur, nebst einem Anhang über den Rameau- und Kirnbergerschen Grundbaß. 1776. S. 239.
28 Kirnberger, Kunst des reinen Satzes. II, 3, S. 188: »Daß meine und meines seeligen Vaters Grundsätze antirameauisch sind, können Sie laut sagen«.
30 Gedanken über die verschiedenen Lehrarten. S. 4.
31 Das in Anhang B unter XII vollständig abgedruckte Manuscript befindet sich jetzt im Besitze des Herrn Professor Wagener zu Marburg, welchem ich für die bereitwilligst gegebene Erlaubniß zur Veröffentlichung hiermit verbindlichsten Dank sage.
36 S. Band I, S. 843 (zum Gis moll-Praeludium des Wohltemperirten Claviers) und Kirnberger, Kunst des reinen Satzes I, S. 159. Weniger unduldsam gegen Quinten und Octaven ist Bach bei Durchgangstönen und Verzierungen. Aber hier bedient er sich nur eines Rechtes, das längst von seinen Vorgängern usurpirt war. Eingehend handelt über diesen Gegenstand J.G. Walther in seiner Musiklehre Fol. 116 f.
37 Grundsätze des Generalbasses S. 83. Die gemeinte Stelle ist B.-G. III, S. 194, Takt 5. – Vrgl. Kunst des reinen Satzes I, Nachtrag zu S. 37.
38 Kunst des reinen Satzes II, 3, S. 41: »Regula Joh. Seb. Bachii: In Compositione quinque partibus instructa non sunt duplicandae, , 5b, , 7 et 9«.
39 Trotzdem ist dieses in der Generalbasslehre Cap. 8, Reg. 4, Beispiel, Takt 1, letztes Viertel geschehen und nicht als stehengebliebener Fehler des Schülers zu betrachten. Kirnberger (Grundsätze des Generalbasses S. 57 Anmerk.) giebt die Interpretation dieser in ihrer Allgemeinheit zu strengen Regel: die Verdopplung darf mir dann nicht stattfinden, wenn die Sexte als Leitton auftritt.
41 Crüger, Synopsis Musices. Berlin, 1624. pag. 57:»nos incipientibus gratificaturi compendiosissimam illam et facillimam ingrediamur componendi viam, qua nimirum ad Fundamentum prius substratum et positum reliquae superiores modulationes adjici possint. Hoc enim qui poterit, facillime postmodum melodiae regali Tenoris et Cantus reliquas adjunget voces«.
42 J.G. Walther sagt in seiner handschriftlichen Musiklehre von 1708, mit offenbarer Bezugnahme auf Crügers Synopsis: »Auch ist dieses die compendiöseste und leichteste Art zu componiren, wenn man über einen Bass als das Fundament die andern Stimmen bauet ... Derowegen wollen wir bemeldte leichte Art behalten, und den Anfang zu componiren mit 4 Stimmen (als woran gar viel gelegen) machen«.
43 Schröter, Deutliche Anweisung zum General-Bass. 1772. S. X.
44 Vor allem also auch wohl der von Rameau auf der Unterdominante mit hinzugefügter großer Sexte construirte und für einen Grundaccord ausgegebene Quintsext-Accord, sowie die Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Dissonanzen. – Kirnberger hat die von Rameau aufgebrachte Art, den Grundbass eines zusammenhängenden Tonstückes auszuziehen, d.h. diejenige Reihe von Tönen anzugeben, auf welche die Harmonien eines Stückes als auf ihre eigentlichen Grundtöne zu beziehen sind, auch auf zwei Bachsche Compositionen, allerdings in nicht ganz unanfechtbarer Weise, angewandt (Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie, S. 55 ff. und 107 ff.). Demselben Verfahren begegnen wir aber schon in dem Hauptautograph der französischen Suiten bei Sarabande und beiden Menuetts der D moll- Suite, sowie im Fischhoffschen Autograph des Wohltemperirten Claviers bei der C moll-Fuge und dem D moll-Praeludium. Ich wage nicht mit Bestimmtheit zu behaupten, daß die zu diesem Zwecke eingetragenen Zahlen und Buchstaben von Bachs eigner Hand sind. Der Möglichkeit aber widerstreitet nichts, daß Bach an einigen seiner Compositionen das Wesen des Rameauschen Grundbasses selbst explicirt habe.
45 S. Vorrede der Mizlerschen Übersetzung des Gradus. Leipzig, 1742.
46 Bach selbst nannte einmal gesprächsweise die Fugen eines »alten mühsamen Contrapunktisten« trocken und hölzern, und gewisse Fugen eines »neuern nicht weniger großen Contrapunktisten« in der Gestalt, in welcher sie für Clavier eingerichtet waren, pedantisch, weil jener unveränderlich immer bei seinem Hauptsatze geblieben war, dieser nicht Erfindung genug gezeigt hatte, das Thema durch Zwischenspiele neu zu beleben (Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst. I, S. 266). Welche Componisten er gemeint hat, ist nicht nachzuweisen.
49 Vorrede zu J.S. Bachs vierstimmigen Choralgesängen. Die Fassung des Gedankens in obigem Satze ist nicht hinlänglich scharf, da sie die Deutung zuläßt, die gemeinte Methode ersetze nur die langüblichen möglichst ein fachen Cantus firmi der contrapunktischen Studien durch die lebendigeren und interessanteren Choralmelodien, wodurch nicht ausgeschlossen wäre, daß auch sie mit dem zweistimmigen Contrapunkt begonnen habe. So hat in der That Vogler (Choralsystem, S. 61) den Satz aufgefaßt. Das wäre denn aber keine eigentlich verschiedene Methode gewesen, und eine solche will doch Em. Bach jedenfalls der Fuxschen gegenüber kennzeichnen.
51 Ebenda S. 215. – Übereinstimmend stellt Forkel (S. 39 f.) Bachs Compositionsunterricht dar, der allerdings zumeist aus Kirnberger geschöpft hat, aber sich doch auch durch Bachs Söhne mündlich über den Gegenstand hat belehren lassen können.
52 Lingke, Die Sitze der musikalischen Haupt-Sätze. Leipzig, 1766. Vorbericht. Er sagt mit Bezug auf den oben angeführten Ausspruch Emanuel Bachs: »über welchen gründlichen Lehrsatz nicht leicht was gründlicheres seyn wird«. – Von Kirnberger erzählte man später, er habe seine Schüler drei Jahre lang Choräle arbeiten lassen; s. Vogler, Choralsystem. S. 24.
54 Schulz, J.A.P., Gedanken über den Einfluß der Musik auf die Bildung eines Volks, und über deren Einführung in den Schulen der Königlich Dänischen Staaten. Kopenhagen, 1790.
55 [Fuhrmann,] Musicalischer Trichter. 1706. S. 40 f.
59 Clavierbuch Anna M. Bachs. 1725. S. 123: »dieScala der 3 min: ist, tonus, 2 de ein gantzer Ton, 3 ein halber, 4 ein gantzer, 5 ein gantzer, 6 ein halber, 7 ein gantzer, 8 va ein gantzer Ton; hieraus fließet folgende Regull: die 2te ist in beyden Scalis groß; die 4 allezeit klein, die 5 und 8 va völlig, und wie die 3. ist so sind auch 6. und 7«.
60 Lingke, Die Sitze der Musicalischen Haupt-Sätze. S. 16 ff. – Lingke hatte diese von ihm aufgestellte Stammleiter im Jahre 1744 der Societät der musikalischen Wissenschaften zu Leipzig vorgelegt und alle Mitglieder hatten sie gebilligt (s. Mizler, Musikalische Bibliothek. Dritter Band, S. 360). Bach war damals noch nicht Mitglied.
61 In Folge dessen sagt Kirnberger, Kunst des reinen Satzes I, S. 103: »Wir haben in der heutigen Musik nicht nur 24 verschiedene Tonleitern, deren jede ihren bestimmten Charakter hat, sondern wir können dabey auch noch die Tonarten der Alten beybehalten. Dadurch entsteht eine ungemein große Mannigfaltigkeit der Harmonie und der Modulation«.
62 In den Choralgesängen von 1785 Nr. 187; Nr. 255 bei L. Erk. Vrgl. Kirnberger, a.a.O. II, 63.
63 Der angehende praktische Organist. Dritte Abtheilung. S. 37 ff.
73 Ich darf diesen Abschnitt wohl nicht ohne eine Erwähnung Voglers schließen, welcher theils selbst in seinem »Choral-System« S. 53 ff., theils durch seinen Schüler C.M. v. Weber (Zwölf Choräle von Sebastian Bach umgearbeitet von Vogler, zergliedert von C.M. v. Weber. Leipzig, C.F. Peters) die vermeintliche Fehlerhaftigkeit und Unschönheit des Bachschen vierstimmigen Choralsatzes nachzuweisen gesucht hat. Daß diese Lächerlichkeit möglich gewesen ist, davon trägt freilich einen Theil der Schuld der Herausgeber Emanuel Bach. Da Vogler Zweck, Stellung, Besetzung, ja in vielen Fällen selbst den eigentlichen Text dieser Choräle nicht kannte, und da dieselben für ein vierstimmiges Choralbuch gelten sollten, so mußte er mit ganz falschen Voraussetzungen an sie herantreten. Daß er das Verhältniß Bachs zu den Kirchentonarten nicht erkannte, darf man ihm auch nicht verargen, da hierzu ein viel umfassenderer Überblick über die gesammte Thätigkeit und historische Bedeutung des Meisters gehörte, als ihn damals irgendwer besaß. Was die angeblichen Unschönheiten im übrigen betrifft, so verrathen Voglers Ausstellungen eine ebenso große Unfähigkeit, das Geniale in Bachs harmonischen und melodischen Folgen nachzuempfinden, als seine »Verbesserungen« lahm und geschmacklos sind.
4 Die eigentlich zur Composition von Violinconcerten auffordernde Zeit war für ihn in Cöthen; s. Band I, S. 734 f. – Wenn die Originalstimmen des A moll-Concerts und zwei autographe Stimmen des D moll-Concerts das Wasserzeichen M A tragen, so folgt hieraus mit Sicherheit nur die Aufführung der Concerte zwischen 1727 und 1736, nicht auch ihre Composition während dieser Zeit.
6 S. Rusts Auseinandersetzungen im Vorwort zu B.-G. XVII. – Auch davon, daß das andre der beiden C moll-Concerte für zwei Claviere aus einem Concert für zwei Violinen hervorgegangen ist, hat mich Rust (Vorwort zu B.-G. XXI1, S. XIII) vollkommen überzeugt. Hiernach ist Band I, S. 734, Z. 19 zu berichtigen.
8 S. S. 278 f. dieses Bandes. – Daß sich unter den Cantaten-Sinfonien auch sonst noch Bestandtheile verloren gegangener Violin- und Clavierconcerte befinden, ist sehr wahrscheinlich. Eine solche Sinfonie ist, da ihre Cantate nicht mehr existirt, von Rust B.-G. XX1, Nr. 4 unter den Violinconcerten herausgegeben. Auf eine andre Erscheinung dieser Art habe ich S. 564 dieses Bandes hingewiesen. Forkel (S. 60) sagt, Bach habe Instrumentalstücke während der Communion zu spielen geschrieben, und immer so eingerichtet, daß sie für die Spieler instructiv gewesen wären; sie seien aber meistens verloren gegangen. Das dürften theils ebenfalls arrangirte Sätze aus Instrumentalconcerten, theils auch Stücke gewesen sein, wie sie sich am Anfang des zweiten Theils zweitheiliger Kirchencantaten finden; vrgl. »Die Elenden sollen essen« und »Die Himmel erzählen die Ehre Gottes«.
9 B.-G. XXI1, Nr. 1 und 3. – P.S. II, C. 10. – Beide C moll.
10 G moll B.-G. XVII, Nr. 7; P.S. II, C. 2. – D dur B.-G. XVII, Nr. 3; P.S. II, C. 4. – D moll B.-G. XVII, Nr. 1; P.S. II, C. 7. – F moll B.-G. Nr. 5; P.S. II, C. 3. – E dur B.-G, XVII, Nr. 2; P.S. II, C. 6. – A dur B.-G. XVII, Nr. 4.; P.S. II, C. 5. – D moll s.B.-G. XVII, S. XX und VII, Nr. 35.
14 B.-G. XXI2, Nr. 3. – S. Anhang A, Nr. 33 gegen Ende.
15 Das auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindliche Autograph enthält deren sieben und außerdem das Fragment des zweiten D moll-Concerts. Eines derselben (F dur) ist aber ein Concerto grosso mit Clavier, worüber weiter unten.
17 Forkel nennt (S. 57) die Bachschen Concerte für ein Clavier mit Begleitung kurzweg veraltet. Das werden sie nie sein, solange man ihnen mit den richtigen Ansprüchen gegenüber tritt. Ein Künstler darf verlangen, daß man seine Gaben so annimmt, wie sie gemeint sind. Durch Forkels Urtheil hat sich dann Hilgenfeldt (S. 127) verleiten lassen, die ihm bekannten »etwas altfränkischen« vier Clavierconcerte in die erste Zeit der Cöthener Periode zu versetzen, und Bitter (II, 292) hat es ihm nachgethan. Wie unbegründet diese Angabe ist, ergiebt sich daraus, daß unter ihnen eines der brandenburgischen Concerte sich befindet, und eines welches aus einem brandenburgischen Con certe überarbeitet wurde. Diese entstanden aber bekanntlich 1721.
19 Breitkopfs Verzeichniß zu Neujahr 1764, S. 52: »Bach, G.S. I. Concerto, a Oboe Concert. Violino Conc. 2 Violini, Viola, Basso. 1 thl.« Hiernach scheint es gar, als hätte es mehre Oboen-Concerte von Bach gegeben.
23 Nach den allerdings nicht originalen aber doch sehr glaubwürdigen handschriftlichen Vorlagen scheint in diesem Concerte das Soloclavier die Aufgabe des Generalbassinstrumentes zugleich mit übernommen zu haben. Herausgegeben ist es B.-G. XVII, Nr. 8.
24 S.F.K. Griepenkerl in der Vorrede zum D moll-Concert für drei Claviere; P.S. II, C. 11.
25 Die autographen Clavier-Stimmen tragen das diplomatische Zeichen M A. Herausgegeben B.-G. XXI2, Nr. 2 und P.S. II, C. 9.
26 Forkel sagt (S. 58), das gemeinte C moll-Concert sei im Vergleich zu demjenigen aus C dur »sehr alt«. Indessen scheint er nur haben sagen zu wollen, es sei veraltet.
27 Eine Annahme, der sich Rust (B.-G. XXI2, S VI) zuneigt.
28 S. Couperins Werke, herausgegeben von J. Brahms (Denkmäler der Tonkunst IV), S. 160.
29 Der Anfang der Tutti-Periode erinnert an den Anfang des ersten Satzes der Cantate »Wer mich liebet«. Ich erwähne das, weil auch dem Cantatensatze die Concertform zu Grunde liegt; s. Band I, S. 505 f.
32 Rust vermuthet (B.-G. XXI2, S. VI und VIII) auf Grund einer älteren Vorlage, welche nur den ersten Satz und zwar ohne Orchesterbegleitung enthält, daß der erste Satz vereinzelt entstanden und die Orchesterbegleitung demselben erst später zugefügt worden sei. Aus der Art der Begleitung selbst läßt sich dies nicht schließen, denn daß dieselbe zum ersten Satze eine andre sei als zum letzten kann ich, abgesehen von dem was die verschiedene Form der Sätze an sich verlangte, nicht einsehen. Organisch nothwendig ist sie weder hier noch dort; schon Forkel bemerkt (S. 58), das Concert könne ganz ohne Begleitung von Bogeninstrumenten bestehen und nehme sich sodann ganz vortrefflich aus. Man mag es also auch schon früh so gespielt haben. Dagegen hat Rust scharfsinnig geschlossen, daß Bach wohl eine vollständige Partitur des Concerts garnicht angelegt, sondern die Streichinstrumente gleich in Stimmen niedergeschrieben haben dürfte.
34 P.S. II, C 12. – Dieses Werk, von welchem, wie auch von dem D moll-Concerte, das Autograph fehlt, kommt handschriftlich auch in D dur vor. Ich halte, Griepenkerls Ansicht entgegen, diese Tonart für die ursprüngliche, wegen Takt 33 des Adagios. – Die Ausgabe enthält mancherlei Fehler: so muß in dem genannten Takte nach f die Bratsche wieder mit den Violinen im Einklänge gehen, in Takt 48 des letzten Satzes, erstes Clavier linke Hand, muß es im zweiten Viertel statt f e heißen f g.
35 Als Streichbass dürfte sich Bach nur ein Violoncell gedacht haben. Wenigstens schließen Stellen, wie Takt 22 und 116 des ersten Satzes, die Mitwirkung des Contrabasses aus.
37 Daß das vierclavierige Concert aus Vivaldischem Stoffe geformt sei, hat zuerst Hilgenfeldt (S. 128) gezeigt. Ihm lag auch das Vivaldische Original vor; wo dasselbe geblieben ist, habe ich trotz vieler Bemühungen nicht erfahren können. In der Ausgabe von Roitzsch (P.S. II, C. 13) ist übrigens gleich zu Anfang ein Fehler: die zweite Violine setzt offenbar vier Takte zu früh ein, und in Takt 8, der also für die zweite Violinstimme Takt 12 sein muß, wird das dritte Viertel statt Q heißen sollen.
39 S. Band I, S. 415 ff. – Ein Concert im G dur für Clavier allein, das von Zelters Hand S. Bachs Namen trägt, ist seither noch in alter Handschrift aus dem Grasnickschen Nachlasse zum Vorschein gekommen. Ich kann aber diese dürre, bocksteife Composition nicht für Bachisch halten.
41 Critischer Musikus, S. 637 f. – Die großen deutschen Componisten haben Bach nicht nachgeeifert, wohl aber die kleinen, z.B. Michael Scheuenstuhl, Stadt-Organist in Hof, der 1738 ein G moll-Concert für Clavier allein bei Balthasar Schmidt in Nürnberg herausgab.
43 S. Band I, S. 688 und 691 ff. – Von der Sonate in Kuhnaus Stile (s. Band I, S. 239 ff.) sehe ich hier ab.
44 S. Band I, S. 767 f.; auch den Nachtrag zu dieser Stelle am Schlusse des zweiten Bandes. – Daß die E moll-Suite ursprünglich vielleicht eine besondre Bestimmung gehabt haben könnte, darüber s. weiter unten.
46 So berichtet Forkel S. 56, der es von Bachs Söhnen gehört haben wird. In Johann Christian Bachs Handschrift der englischen Suiten steht auf dem Titel der A dur-Suite »fait pour les Anglois«.
49 Die Gigue der D moll-Suite hat ihr Vorbild bei Buxtehude (s. meine Ausgabe der Buxtehudeschen Orgelcompositionen I, S. 94 f.). Forkel (S. 28) führt sie als Beispiel kühner Harmonienfolgen an.
50 Es stimmt hierzu, daß Johann Christian Bach in seiner Abschrift der G moll-Suite die verzierte Sarabande weggelassen hat. Ohne dieselbe ist auch die Handschrift Nr. 50 aus der Bibliothek der Prinzessin Amalia von Preußen.
55 S. Burneys Tagebuch seiner musikalischen Reisen. III, S. 203. – Über den Preis werden wir ungefähr durch das Breitkopfsche Verzeichniß von Neujahr 1760 unterrichtet: Breitkopf nahm für das ganze, sechs Partiten (5 im Verzeichniß ist jedenfalls Druckfehler) umfassende Werk fünf Thaler; für die zweite Partite allein nahm er 8 gr.
58 Verzeichniß aller ... Musikalien ... welche zu Berlin beim ... J.C.F. Rellstab zu haben sind (1790), S. 67: »Bach, J.S., 6 Partite ou Suites francoises 4 Thlr.
– – 6 dito Tedesche 6 Thlr. 12 gr.
– – 6 dito Anglaises 5 Thlr. 12 gr.«
Nach gefälliger Mittheilung des Herrn G. Nottebohm in Wien.
63 In den späteren Ausgaben und leider selbst in derjenigen der B.-G. ist gegen Bachs ausdrückliche Vorschrift überall die Bezeichnung Courante gesetzt. Auch bei andern Tänzen ist der wichtige Unterschied zwischen den italiänischen und französischen Bezeichnungen von den Herausgebern nicht in Acht genommen.
64 Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst II, S, 26: ... »die eigentliche Tactart der Couranten nach französischer Art, welche zwar zu dem schweren Dreyzweytheil gehöret, aber der äußerlichen Form des Metri nach an verschiedenen Oertern, sehr vieles von dem Sechsviertheil entlehnet. Der Unterschied ist nur, daß diese Sechsviertheilpassagen im ordentlichen Dreyzweytheil gespielet werden müssen. Der seel. Herr Capellmeister Bach hat gnugsam ächte Muster von diesem eigentlichen Courantentact hinterlassen.«
66 Merkwürdig ist in dieser Gigue, daß in Takt 17–19 des zweiten Theils nach der Höhe hin ein größerer Umfang des Claviers ideell angenommen worden ist, als er damals vorhanden war. Das Hauptthema müßte hier eigentlich mit dem dreigestrichenen e einsetzen, die Noth zwang Bach, eine Octave tiefer zu beginnen. Solche Fälle sind bei ihm selten, da er sich sonst streng und ungezwungen in den Gränzen seines Materials zu bewegen pflegt. Zwei derartige Stellen kommen noch im Wohltemperirten Clavier vor, s. Band I, S. 770.
67 Die muthwilligen Decimensprünge des Themas erinnern stark an den ersten Satz des D moll-Concerts für zwei Violinen.
68 Wir wissen allerdings nicht, daß D. Scarlatti schon vor 1726 Claviercompositionen durch Stich veröffentlicht hat. Unzweifelhaft aber waren die Werke dieses, 1683 geborenen, Meisters bereits damals abschriftlich in der musikalischen Welt verbreitet.
69 Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen, I, S. 35 f.
70 Schon J.A.P. Schulz machte darauf aufmerksam, daß diese Giga Gluck bei Composition der Arie Je t'implore aus Iphigenia in Tauris vorgeschwebt habe (s. Jahn, Mozart IV, S. 715). Wie Marx entdeckt hat (Gluck und die Oper I, S. 201), kommt diese Arie mit allen ihren wesentlichen Bestandtheilen schon in Glucks Oper Telemacco vor, welche gegen 1750 entstand. Daß die Übereinstimmung keine zufällige ist, muß als unzweifelhaft gelten.
71Minuetta in der Original-Ausgabe dürfte ein Stichfehler sein.
72 S. die Allemanden auf S. 90 f., 99, 102 f., 110 f., 219 f. der Ausgabe von J. Joachim (Denkmäler der Tonkunst III.).
73 Eine Sarabande mit Auftakt findet sich bei Bach sonst nur noch in der Orchesterpartie aus H moll, der Claviersonate aus A moll und der Violinsuite aus A dur.
74 Forkel, S. 50. – Mizler sagt in einer Anzeige des »Wegweisers zu der Kunst, die Orgel recht zu schlagen« (Musikalische Bibliothek I, 5, S. 75): »Wer die Finger nicht besser zu versetzen weiß, wird schwehrlich unsers berühmten Herrn Bachens zu Leipzig Partien auf das Clavier spielen lernen können«. – Als die leichteste galt die C moll-Partita (Breitkopfs Verzeichniß zu Neujahr 1760, S. 18: »die leichteste unter allen«).
75 Forkel, welcher berichtet, daß »man noch nie so vortreffliche Claviercompositionen gesehen und gehört« hatte, ist als Beförderer der Mittheilungen der Söhne Bachs kein ganz unparteiischer Zeuge, falls Bachs Söhne ihm solches wirklich als das allgemeine Urtheil der Zeitgenossen angegeben haben.
77 Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition. Dritter Theil. Lobenstein (1747). S. 338 ff., 404, 416, 425.
78 Von Ausgaben des ersten Theils der »Clavierübung« nenne ich hier nur P.S. I, C. 5 und B.-G. III, S. 46–136.
79 P.S. I, C. 6, Nr. 2. – B.-G. III, S. 154–170. – Eine von Anna Magdalena Bach gefertigte Abschrift, welche die königliche Bibliothek zu Berlin aufbewahrt, giebt das Stück in C moll. – S. Anhang A, Nr. 33.
81 Es würde hier für mich der Ort sein, rückblickend auf die Rhythmik Bachs und die in ihr sich offenbarenden Grundanschauungen noch tiefer einzugehen, und dadurch ein Band I, S. 781 Anmerk. 58 halb gegebenes Versprechen zu erfüllen. Seit ich jene Anmerkung schrieb, hat indessen Rudolf Westphal selbst den Gegenstand erneuten eindringenden Untersuchungen unterzogen, deren Erscheinen bevorsteht. Ich glaube, daß ich durch diese der Erfüllung meines Versprechens einstweilen überhoben sein werde.
82 Breitkopfs Verzeichniß zu Michaelis 1761, S. 56: »Bach, J.S. Direttore della Musica in Lipsia, III. Partite à Liuto solo. Raccolta I. 2 thl.«
83»Prelude pour le Luth ou Cembal«, P.S. I, C. 3, Nr. 4. – Das Autograph besitzt jetzt Mr. Henry Huth Esq. in London. – Ein alleinstehendes Praeludium für Laute oder Clavier hat J.P. Kellner überliefert; s.P.S. I, C. 9, Nr. 16, III.
98 S. 76 und 77. Sie steht zwischen Auf- und Abgesang des Liedes »Bistu bey mir«; die Schreiberin hatte aus Versehen zwei Seiten überschlagen und hat den leeren Raum dann durch das Clavierstück ausgefüllt. Es trägt keine Überschrift; die BezeichnungAria hat ihr Bach erst behufs der Variationen gegeben.
103 Die Überlieferung ist durch Pölchau auf uns gekommen, welcher eine hierauf bezügliche Notiz seinem Exemplar der Originalausgabe der Variationen einfügte. Das Exemplar befindet sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin.
109 Die übrige Dichtung ist dialektfrei, doch kommen noch einzelne Ausdrücke der Volkssprache vor, wie Guschel = Mund, Dahlen = Kosen u.s.w.
110 S. Band I, S. 224, Anmerk. 19.– Fürstenau, Geschichte der Musik am Hofe zu Dresden. II, S. 158 f.
111 S. Marpurg, Kritische Briefe II, S. 45. – Der Text dieses Liedes, der in Bachs Composition etwas anders lautet als bei Picander (s. dessen Gedichte, Theil V, S. 285), scheint sich auf Ausgaben zu beziehen, welche gelegentlich des Huldigungsfestes von dem Gutsherrn gemacht waren.
112 S. Gregorio Lambranzi, Neue und Curieuse Theatralische Tantz-Schul. Nürnberg, 1716. I. Theil, Blatt 4. – Der Text der Paysanne hat etwas von echtem Trinkerhumor und ist für Picander entschieden zu gut. Mir scheint es, daß er hier irgend ein Studentenlied benutzt hat; im Umarbeiten fremder Erfindungen war er ja stark.
113 S. Gottfried Benjamin Hanckens Weltliche Gedichte. Dreßden und Leipzig, 1727. S. 144. – Poetischer Staar-Stecher, In welchem sowohl Die schlesische Poesie überhaupt, als auch Der Herr v. Lohenstein ... verthaydiget ... wird. Breßlau und Leipzig. 1730. S. 70. – Der Nachweis des Ursprungs wird Hoffmann von Fallersleben verdankt; s. dessen Horae Belgicae. Pars secunda. Vratislaviae. MDCCCXXXIII. S. 100. – Das Gedicht beginnt ursprünglich: »Auf, auf! auf, auf zum Jagen! Auf in die grüne Heyd!« und zählt 12 Strophen. In neueren Sammlungen erscheint es auf 6 Strophen reducirt und auch im Einzelnen geändert. Die Melodie s. bei Erk und Irmer, Die deutschen Volkslieder mit ihren Singweisen. Leipzig, 1843. Erstes Heft, S. 47.
115 Eine ältere Quelle für die Melodie und deren ursprünglichen Text aufzufinden ist mir nicht gelungen. Vielleicht sind Forscher wie L. Erk oder F.M. Böhme glücklicher.
117 Die Bauern-Cantate ist zuerst herausgegeben von S.W. Dehn bei Gustav Crantz in Berlin. Eine zweite Ausgabe erschien bei C.A. Klemm in Leipzig. – Es ist, wie hier noch erwähnt werden mag, eine Andeutung vorhanden, daß Seb. Bach der Componist des um die Mitte des Jahrhunderts verbreiteten scherzhaften Liedes sei »Ihr Schönen, höret an.« Ich halte dafür, daß die Melodie nicht von Bach, stammt, muß mich hier aber darauf beschränken, meine Meinung einfach auszusprechen, und werde den Gegenstand, der sich in allerhand andre Fragen weitläufig verzweigt, demnächst an einem andern Orte behandeln.
121 Eines der Vivaldischen Concerte, welche Bach für Orgel arrangirte, hat ein Adagio im Recitativstil. S. P S. V, C. 8, Nr. 3; außerdem Band I, S. 414.
122 Das Autograph ist im Jahre 1876 durch Moritz Fürstenau in Dresden wiederaufgefunden worden und gehört der Musikaliensammlung des Königs von Sachsen. Es trägt die Wasserzeichen des Oster-Oratoriums; s. Anhang A, Nr. 48. – Forkel und Griepenkerl sind in der Beurtheilung des Werkes unglücklich gewesen, da sie meinen, die Fuge gehöre weder ursprünglich zu der Fantasie, noch sei mehr von ihr als die ersten 29 oder 30 Takte authentisch. Beides ist durch das Autograph als unrichtig erwiesen worden. Griepenkerl glaubt außerdem noch, die Fantasie werde 1725 schon da gewesen sein. S. Forkel S. 56 und Griepenkerl in der Vorrede zu P.S. I, C. 9, woselbst unter Nr. 7 die Fantasie und unter Nr. 18 die Fuge veröffentlicht ist.
123 Autograph fehlt. – Herausgegeben P.S. I, C. 4, Nr. 6.
124 Einstweilen kennt man nur von der As dur-Fuge ein Autograph; es ist auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – Fragmente einer gleichzeitigen, werthvollen Handschrift besitzt Professor Wagener in Marburg. Sie haben bis jetzt fälschlich für Autographe gegolten; auch Kroll hielt sie dafür (s. B.-G. XIV, S. XVIII, Nr. 14a). Ergänzungen zu dieser Handschrift hat 1876 Fürstenau in der Musikaliensammlung des Königs von Sachsen aufgefunden. Durch sie wird die Handschrift vollständig, bis auf Praeludium und Fuge in G dur und Fuge in H dur.
125 Das Jahr 1744 giebt die Schwenckesche Handschrift an, welche sich auf der königlichen Bibliothek in Berlin befindet (s. B.-G. XIV, S. XVI, Nr. 11). Hilgenfeldt (S. 123) will ein Autograph aus dem Nachlasse Em. Bachs mit der Jahreszahl 1740 in Händen gehabt haben.
126 Als 17 taktiges Stück steht das Praeludium in einem mit dem Datum »3. Juli 1726« versehenen Clavierbuche J.P. Kellners, das Herr Roitzsch in Leipzig besitzt und Kroll unbekannt geblieben ist. In seiner zweiten Gestalt bietet es die Fürstenausche Handschrift und die offenbar mit dieser zusammenhängenden Nr. 2, 3, 9, 16, 18 bei Kroll.
127 Die Fuge in ihrer ersten Gestalt und die beiden beseitigten Praeludien hat Roitzsch herausgegeben P.S. I, C 3, Nr. 10 und 11. Von letzteren ist das zweite besonders schön, aber für die Fuge wohl zu gehaltvoll erschienen. Das erste nebst Fuge ist ebenfalls von Kellner in dem genannten Buche überliefert.
129 Eine Handschrift Johann Christoph Bachs zeigt es noch in C dur. Dieser Sohn Sebastians war 1732 geboren; das Stück muß also auch nach Vollendung des 2. Theils des Wohltemperirten Claviers – denn vor derselben kann es von Johann Christoph nicht abgeschrieben sein – noch seine eigne Existenz weitergeführt haben. – S. B.-G. XIV, S. 243.
131 Bach überschreitet auch im zweiten Theil nicht den Tonumfang von C zu ; nur im As dur-Praeludium findet sich einmal , im H dur-Praeludium zweimal Contra-H und am Schluß der A moll-Fuge Contra-A. Letztere hat allerdings auch mehr Cembalo-Charakter.
133 Den ersten Theil des sehr eigenthümlichen, harmonisch reichen A moll-Praeludiums versuchte Kirnberger auf seine Grundharmonien zurückzuführen; s. Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie. S. 107 ff.
135 Ebenso in der F-moll-Fuge des ersten Theils, T. 19.
136 S.W. Dehn hat, wie hier gelegentlich erwähnt werden möge, entdeckt, daß eine Fuge von Froberger in phrygischer Tonart fast über dasselbe Thema und denselben Contrapunkt gebaut ist (s. Analysen dreier Fugen Joh. Seb. Bachs. Leipzig, Peters. 1858. S. 31). Da Bach mit Frobergers Compositionen vertraut war (s. Band I, S. 321), wird die Übereinstimmung kein Zufall sein.
138 Im ersten Theile ist nur die G dur-Fuge gigueartig.
139 Von der F dur-Fuge sagt Kirnberger (Kunst des reinen Satzes II, 1, S. 120: »Soll diese Fuge auf dem Clavier richtig vorgetragen werden, so müßen die Töne in einer flüchtigen Bewegung leicht, und ohne den geringsten Druck angeschlagen werden.
140 S. den Contrapunkt der Duodecime in der Fis dur-Fuge T. 15–16 und 32–33.
141 In der C moll-Fuge des zweiten Theils tritt die vierte Stimme erst gegen das Ende, und zwar sofort mit der Vergrößerung ein. Denselben Effect hat Bach in der großen C dur-Orgelfuge (B.-G. XV, S. 234), deren Construction auch sonst mit der C moll-Fuge viel Ähnlichkeit hat. Wahrscheinlich gehören also beide Fugen zeitlich zusammen, und auch die C moll-Fuge ist vielleicht ursprünglich für Orgel componirt gewesen.
144 Marpurg, Abhandlung von der Fuge. II. Theil. Berlin, 1754. In der Zueignung. – Eine Art von Nachahmung des Wohltemperirten Claviers lieferte Gottfried Kirchhoff (s. Band I, S. 516) mit seinem A.B.C. musical, vierundzwanzig Fugen aus allen Tonarten enthaltend. – Desgleichen Sorge mit seiner »Clavir Ubung, in sich haltend das I. und II. halbe Dutzend Von 24. melodieusen, vollstimmigen und nach modernen Gustu durch den gantzen Circulum Modorum Musicorum gesetzten Praeludiis«. Herausgegeben um 1738 bei Balthasar Schmidt in Nürnberg.
145 P.S. I, C. 12. – Ausgabe Breitkopf und Härtel in Querfolio. – Ein Autograph des sechsstimmigen Ricercars auf der königl. Bibliothek zu Berlin; es stammt aus Emanuel Bachs Nachlasse. – Über die Originalausgabe s. Anhang A, Nr. 61.
146 In der Originalausgabe hat Bach das sechsstimmige Ricercar in Partitur stechen lassen, um dem Auge das kunstvolle Gewebe klarer vorzulegen. Im Autograph ist es auf zwei Systeme zusammengezogen.
147 Kirnberger hat (Kunst des reinen Satzes II, 3, S. 47 ff.) drei dieser Canons aufgelöst. In dem Canonper motum contrarium kann aber Takt 3 unmöglich richtig sein. In Bachs Dedications-Exemplar ist das vierte Sechzehntel h mit rother Tinte in b corrigirt, vermuthlich auch von Kirnberger, da das Exemplar in den Besitz der Prinzessin Amalie überging. Dann müßte aber auch a in as verwandelt werden und somit wäre freilich alles in schönster Ordnung, wenn nur nicht beide Quadrate des Originalstichs dadurch eine kräftige Beglaubigung erhielten, daß vor dem letzten a des Taktes wieder ausdrücklich ein ~ steht.
149 Eine von Agricola gefertigte Abschrift eines Theils des Musikalischen Opfers, die sich auf der Amalienbibliothek befindet, enthält auch diesen Canon und darunter die ersten beiden Auflösungen. Über die Auflösung, welche mit dem Basse beginnt, hat Kirnberger geschrieben: »Diese Auflösung ist nicht nach des Autors Sinn«, über die andre: »Die wahre Auflösung«. Die dritte wird durch einen Ungenannten angedeutet in der Allgem. Musik. Zeitung von 1806, S. 496 Anmerkung.
150 Die Generalbassbegleitung zu der Sonate ist von Kirnberger vierstimmig ausgesetzt. Herausgegeben P.S. III, C. 8, Nr. 3.
151 In unserm Jahrhundert ist die Kunst der Fuge zuerst wieder von Nägeli in Zürich herausgegeben, dann von Czerny bei Peters in Leipzig (P.S. I, C. 11) und neuerdings von W. Rust (B.-G. XXV1); letzteres eine vortreffliche, an werthvollen kritischen Resultaten reiche Leistung. Die unzugehörigen Theile auszuscheiden hat Rust noch nicht gewagt. Das Verhältniß zwischen der dreistimmigen umzukehrenden Fuge und den Fugen für zwei Claviere ist merkwürdigerweise sowohl ihm entgangen, wie M. Hauptmann, dem wir eine gediegene Analyse des Werkes verdanken (Leipzig, C.F. Peters). Aus diesem Verhältniß erklären sich aber sehr leicht die in den zweiclavierigen Fugen befindlichen Fehler, welche Rust durch zum Theil sehr kühne Conjecturen zu heben sucht: sie sind beim Zusetzen der füllenden vierten Stimme aus Flüchtigkeit entstanden, wie sie denn auch nur durch sie herbeigeführt werden.
152 Hauptmann, Erläuterungen zur Kunst der Fuge. S. 10.
153 Dies ist auch die Ansicht Rusts, s. B.-G. XXV1, S. XXVIII.
155 Rust vermuthet als Stecher J. Gr. Schübler in Zella bei Suhl. Das auf S. 25 befindliche Monogramm, aus dem ein A als Hauptbuchstabe hervortritt, scheint gegen diese Vermuthung zu sprechen. Sicher aber ist nach Rusts Untersuchungen, daß einer der Söhne Bachs den Stich nicht ausgeführt hat, was bis her als ausgemacht galt. Auch daß Bachs Söhne nur indirect an der Herstellung des Stiches sich betheiligt hätten, läßt sich durch nichts beweisen. Die Notiz auf Beilage I des Berliner Autographs (s. B.-G. XXV1, S. 115), aus welcher man dergleichen schließen könnte, ist meiner Überzeugung nach nicht von Em. Bachs Hand.
156 Die Schlüsse, welche Rust aus der vermeintlichen Veranstaltung von zwei Auflagen der Kunst der Fuge auf die Aufnahme des Werkes in der Öffentlichkeit zieht, sind unhaltbar. Er hat übersehen, daß Forkel, dem er Opposition macht, hier nicht auf Grund mündlicher Überlieferung berichtet, sondern nach einer sehr zuverlässigen, gedruckten Quelle: Emanuel Bachs eigner Bekanntmachung vom 14. Sept. 1756 in Marpurgs Historisch-Kritischen Beyträgen II, S. 575 f. An der sogenannten zweiten Auflage sind nur Titel und Vorbericht neu.
157 Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1760. S. 7.
158 Mattheson, Philologisches Tresespiel. Hamburg, 1752. S. 98. – Das Buch erschien laut Zueignung und Vorbericht Ostern 1752, ist also 1751 geschrieben.
164 S. Band I, S. 654. Ich vergesse nicht, daß die Echtheit dieses Werkchens nicht hinreichend beglaubigt ist. Aber es Bach abzusprechen, fehlt es auch an Grund.
165 Nr. XVII des ersten Bandes meiner Ausgabe der Buxtehudeschen Orgelcompositionen. – Die citirte, anonyme Fuge stammt aus Schelbles Nachlaß; ich verdanke die Bekanntschaft mit ihr Herrn Roitzsch.
166 Die Fugen haben schon Band I, S. 581 f. Berücksichtigung gefunden.
168 P.S. V, C. 2, Nr. 2 und 1. – B.-G. XV, S. 169 ff. und 212 ff. – Die Zeitbestimmung gründet sich auf die Beschaffenheit der Autographe. Das der G dur-Composition hat dasselbe diplomatische Merkzeichen, wie die älteren Stimmen der Pfingstcantate »Erschallet ihr Lieder«; s. Anhang A, Nr. 21. Das der C dur-Composition hat M A; s Anhang A, Nr. 33. – Über die allmähligen Umgestaltungen der Werke s. Rusts Vorwort zu B.-G. XV.
170 P.S. V, C. 2, Nr. 8. – B.-G. XV, S. 189 ff. S. dazu das Vorwort.
171 P.S. V, C. 2, Nr. 7, Nr. 10, Nr. 9 und C. 3, Nr. 1. – B.-G. XV, S. 228, 199, 236 ff., und III, S. 173 und 254 ff. – Die drei ersteren sind mit den Fugen aus A moll (P.S. V, C. 2, Nr. 8), C dur (P.S. V, C. 2, Nr. 1) und C moll (P.S. V, C. 2, Nr. 6) unter dem Titel der Sechs großen Praeludien und Fugen bekannt. Da sie auch handschriftlich vereinigt vorkommen, so ist es möglich, daß Bach sie in seiner letzten Periode selbst zu einem Sammelwerke zusammengestellt hat.
172 Nach dem Zeichen MA der Originalhandschrift, welche bis zum 20. Takte der Fuge (einschließlich) Autograph ist.
173 S. Griepenkerls Vorrede zu P.S. V, C. 3. Nr. 1.
176 Eine schöne fünfstimmige Fantasie mit Fuge aus C moll ist leider nur fragmentarisch erhalten, insofern die Fuge nur bis Takt 27 reicht. Griepenkerls Vermuthung, der ich Band I, S. 582 gefolgt bin, es möchte die Fantasie ursprünglich zu der Fuge P.S. V, C. 2, Nr. 6 gehört haben, wird sich nachdem das Autograph zu Tage gekommen ist, kaum mehr halten lassen. Das sehr große und kräftige Züge auf schönem, starkem Papier aufweisende Autograph war früher im Besitz von Professor Wagener in Marburg und ist jetzt auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.
178 Beide vorhandene Originalmanuscripte tragen das Zeichen M A; s. darüber Anhang A, Nr. 33. Autograph ist aber nur eines; das andre hat bis S. 48 incl. Friedemann Bach geschrieben, von da ab Anna Magdalena, Sebastian selbst hat nur einige wenige Zusätze gemacht. Im übrigen s. Vorwort zu B. -G. XV, in welchem Bande die Sonaten herausgegeben sind und P.S. V, C. 1, mit dem Vorworte Griepenkerls.
179 Forkel, S. 60, redet noch von mehren Sonaten, die Bach außer den sechsen geschrieben habe. Solche giebt es indessen jetzt nicht mehr, nur zwei einzelne dreistimmige Sätze aus D moll und C moll sind noch vollständig vor handen. Ersteren findet man P.S. V, C. 4, Nr. 14; letzterer ist handschriftlich auf der königl. Bibliothek zu Berlin, und umfaßt neben einem Adagio noch ein fragmentarisches Allegro. Vielleicht hat indessen Forkel auch an das Pastorale für zwei Claviere und Pedal gedacht, das mit drei nachfolgen den kleinen Clavierstücken, welche offenbar garnicht dazu gehören, von Griepenkerl auf Forkels Autorität hin als ein Ganzes herausgegeben ist (P.S. V, C. 1, Nr. 3). Auch das Pastorale selbst, das jetzt in F dur beginnt und sehr unbefriedigend in A moll schließt, ist sicher nur ein Fragment.
180 B.-G. III, S. 184–241. – Die Originalausgabe, welche 1739 oder spätestens Ostern 1740 erschien, kostete 3 Thaler; s. Mizler, Musikalische Bibliothek II, S. 156. – Die Bemerkungen Kirnbergers zu diesen Choralbearbeitungen (s. S. 613 dieses Bandes) findet man Anhang B, XIV.
195 Kirnberger (Kunst des reinen Satzes II, 2, S. 173) scheint die Form gänzlich verkannt zu haben; er ließ sich wohl durch den Namen »Variation« verleiten und dadurch, daß in der Mehrzahl der Partiten derCantus firmus im Bass liegt.
1 Forkel ist also bis zu einem gewissen Grade im Irrthum, wenn er S. 48 meint: »Wenn er hätte reisen wollen, so würde er, wie sogar einer seiner Feinde gesagt hat, die Bewunderung der ganzen Welt auf sich gezogen haben«. Der Feind soll wohl Scheibe sein, der aber diesen Ausspruch in anderem Zusammenhange thut; s. Critischer Musikus, S. 62.
6 Die Existenz dieses Autographs wurde erst im Februar dieses Jahres vermittelst der Magdeburger Zeitung bekannt, in welcher der Besitzer eine Beschreibung desselben nebst Widmung und Widmungsgedicht veröffentlichte. Die Veröffentlichung ging dann auch in das Berliner Fremdenblatt vom 20. Februar dieses Jahres über. Die Schritte, welche ich sofort that, um mir Einsicht in das Autograph zu verschaffen, blieben erfolglos: ich erhielt auf meine Anfrage keine Antwort. Für völlige Genauigkeit der Mittheilungen kann ich daher nicht einstehen. Die Bedenken indessen, ob es unter solchen Umständen gestattet sei, hier überhaupt auf sie Bezug zu nehmen, schwanden bei genauer Erwägung von Form und Inhalt derselben, welche die Gewähr ihrer Echtheit, glaub' ich, in sich tragen.
16 Bachs Hamburger Reise von 1727 war mir, als ich Band I, S. 632 schrieb, entgangen. Sie ergiebt sich aber aus Marpurg, Kritische Briefe II, S. 470, wo selbst Lustig seine Lebensgeschichte erzählt. Lustig berichtet über seine Erlebnisse chronologisch. Kunze der Sohn war im September 1720 geboren, Lustig unterrichtete ihn also 1724 und 1725. Dann folgte der Compositionsunterricht bei seinem Vater und Telemann. 1728 ging er nach Gröningen. Zuvor aber hatte er Bach in Hamburg gehört; 1727 dedicirte dieser den gegannten Canon an Hudemann. Also ist er jedenfalls in diesem Jahre in Hamburg gewesen und hat den Canon dort componirt. Derselbe ist außer bei Mattheson (S. 412 und 413) auch zu finden bei Mizler, Musikalische Bibliothek III, S. 482 und Marpurg, Abhandlung von der Fuge. Zweiter Theil, S. 99 f. (Tab. XXXIII, Fig. 2). Unaufgelöst hat ihn Hilgenfeldt als letzte Notenbeilage wieder abdrucken lassen.
17 S. die Mittheilungen aus den Memoiren des Baron von Pöllnitz bei v. Beaulieu Marconnay, Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. Leipzig, Hirzel. 1872. S 143 und 144. S. auch S. 104 daselbst.
20 Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. S. 691: »Als Herr Bach zu einer gewissen Zeit bey uns in Erfurt war« u.s.w. Daß die »gewisse Zeit« nach 1727 fällt ergiebt sich daraus, daß erst Ende dieses Jahres Adlung von Jena wieder nach Erfurt kam. Die Worte »bey uns« deuten auf nahe Beziehungen Adlungs zu Bachs Erfurter Verwandten. – S. ferner ebenda S. 716, Anmerk. g.
26 Ob hier Friedemann Bach seiner Phantasie nicht hat die Zügel schießen lassen, mag dahin gestellt bleiben. Die Spenersche Zeitung berichtet – worauf zuerst Bitter hingewiesen hat – unter dem 11. Mai 1747 über die Vorgänge ebenfalls. Hier heißt es aber nur: ... »ward Sr. Majestät berichtet, daß der Capellmeister Bach in Potsdam angelangt sey, und daß er sich jetzo in Dero Vor-Cammer aufhalte, allwo er Dero allergnädigste Erlaubniß erwarte, der Music zu hören zu dürfen. Höchstdieselben ertheilten sogleich Befehl, ihn herein kommen zu lassen«.
28 S. Marpurg, Historisch-Kritische Beyträge. I, S. 75. – Brachvogel erzählt in seiner Geschichte des Königl. Theaters zu Berlin (Berlin, Janke 1877) Bd. I, S. 129. Bach habe in einem Hofconcerte zusammen mit der Signora Astrua musicirt. In Wahrheit aber trat die Astrua zum ersten Male im August 1747 in einem zu Charlottenburg aufgeführten Schäferspiele auf; s. Marpurg a.a.O. S. 82.
31 S. Sonnett Telemanns auf S. Bach in »Neueröffnetes Historisches Curiositäten-Cabinet. Dresden, 1751. S. 13. – Wiederabgedruckt ist das Sonnett bei Marpurg, Historisch-Kritische Beyträge I, S. 561.
32 Gespräch von der Musik, zwischen einem Organisten und Adjuvanten. Erfurt, 1742. S. 2.
37 Mizler, Musikalische Bibliothek. Erster Band. Vierter Theil, S. 83.
38 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst. Vierter Band. S. 185 (3. Aufl.). Rochlitz schöpfte aus Mittheilungen von Doles, Emanuels Jugendfreunde. Die vornehme Familie wird doch nicht die des Freiherrn von Kayserling gewesen sein?
39 Die Autographensammlung des Herrn Ott-Usteri in Zürich enthielt 1869 ein Blatt folgenden Inhalts:
»Quittung.
Daß mir Endes Gefertigtem von des Tit: Herrn Gravens von Werben [so] Herrn Hoffmeister Ignatz Ratsch für das Clavier vor [ein Wort unleserlich] anwiederumb seynd bezahlt worden, ein Rthlr acht Groschen thue hiermit gebührend bescheinigen.
44 S. Chrysander, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. Erster Band. S. 285.
45 Marpurg. Historisch-Kritische Beyträge I, S. 441. – Eine Composition desselben bewahrt die Bibliothek des königlichen akademischen Instituts für Kirchenmusik zu Berlin.
47 Vermuthlich Johann Wolfgang Georg Schübler, Sohn eines Büchsenschäfters Johann Nikolaus Schübler daselbst (aus Acten des Pfarr-Archivs mitgetheilt von Herrn Pfarrer Buddeus in Zella). Eine Composition von Schübler in einem handschriftlichen Sammelband auf der königl. Bibliothek zu Berlin (s. Buxtehude, Orgelcompositionen. Band I, Vorwort S. IV, Nr. 10).
48 Den Canon ohne die Um- und Überschriften überliefert als eine Composition Seb. Bachs Marpurg, Abhandlung von der Fuge. Zweyter Theil. Tab. XXXVII, Fig. 6 und 7; vergl. ebenda S. 67. – Vollständig fand ich ihn in einer schönen Abschrift aus dem vorigen Jahrhundert im Grasnickschen Nachlasse, aus welchem er nun der königlichen Bibliothek zu Berlin einverleibt ist. – Die Auflösung ist mitgetheilt als Musikbeilage 5.
49 S. Band I, S. 12 und die Inscriptionsbücher der Leipziger Universität vom Jahre 1732.
66 Marpurg, Kritische Briefe. II, S. 461. – Mattheson, Sieben Gespräche der Weisheit und Musik. Hamburg, 1751. S. 189 f.
67 Marpurg, Historisch-Kritische Beyträge. I, S. 148 ff. – Burney, Tagebuch III, S. 58 ff. – Ein Verzeichniß seiner Werke bei Gerber, L. I, Sp. 17.
68 Ich folge mit diesen Angaben einer von Doles selbstverfaßten lateinischen Vita, welche ich in den Leipziger Consistorialacten fand (Acta die Besetzung des Cantoramts bei der Schule zu St. Thomä zu Leipzig bet. L. 127). – Die ergötzlichen Geschichten, welche zwischen Friedemann Bach und Doles, der in Bachs Hause gewohnt habe, vorgefallen sein sollen (s. Bitter, Bachs Söhne II, S. 156 f.), gründen sich auf die falsche Voraussetzung, daß Friedemann damals noch in Leipzig geweilt habe. Er war aber schon seit 1733 in Dresden.
69 S. die Vorerinnerung zu seiner Cantate »Ich komme vor dein Angesicht«. Leipzig 1790.
71 Inscriptionsbücher der Leipziger Universität. – Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. S. 722. – Gerber, L. II, Sp. 599.
72 Inscriptionsbücher der Leipziger Universität. – Gerber, L. II, Sp. 671 f. und N.L. IV, Sp. 382. – Transchel schrieb 6 Polonaisen für Clavier, welche Forkel nach den Friedemann Bachschen Polonaisen für die besten der Welt halten möchte. Eine Composition von ihm enthält auch ein Sammelmanuscript auf der königlichen Bibliothek zu Berlin (s. Buxtehudes Orgelcompositionen, Band I, Vorwort S. IV, Nr. 10).
73 Forkel, S. 43. – Reichardt (Musikalischer Almanach. 1796; unter 20. April) läßt ihn in Danzig geboren sein.
76 Handschriftlich auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – Daselbst auch eine Kirchencantate seiner Composition.
77 Er erhielt sechs Thaler, weil er »in denen beyden Haupt Kirchen dem Choro Musico von Michael. 1745 bis 19. May 1747. assistiret«. S. Rechnungen der Thomaskirche von Lichtmeß 1747–1748, S. 54.
78 S. das von Bitter, Bachs Söhne II, S. 356 mitgetheilte Actenstück. Vrgl. ebenda, S. 171.
79 Nach den Todten-Registern der Wenceslaus-Kirche unter dem 25. Juli. – S. noch Forkel, S. 43.
80 Genau habe ich es nicht ermitteln können, wenn Kittel nach Langensalza kam. 1751 befand er sich jedenfalls schon da, weil er sich im Februar 1752 mit Dorothea Fröhmer daselbst verheirathete. Er war Organist an der Bonifacius-Kirche und »Mägdlein-Schulmeister«. Sein Nachfolger, der zu hohen Jahren kam, erzählte, er habe sich in der Mädchenschule auf die Länge nicht wohl gefühlt, sein Eifer für Componiren und Notenschreiben habe ihn öfter verleitet, dieses in der Schule zu treiben, und dadurch sei er mehrfach in Conflict mit seiner Behörde gekommen. Deshalb habe er auch endlich die Stelle aufgegeben (Mittheilung des Herrn Kirchner Stein in Langensalza). Im übrigen s. Gerber L. I, Sp. 728 und N.L. III, Sp. 57 ff.
81 Was bei Burney III, S. 268 ff. über Müthel zu lesen ist, habe ich nach Acten des großherzoglichen Archivs zu Schwerin prüfen und ergänzen können. Den Geleitsbrief des Herzogs wird man hier mit Interesse lesen:
»Demnach Vorzeiger dieses, Unser Organist Johann Gottfried Müthel zu dem berühmten Capellmeister und Music-Director Bachen nach Leipzig, um sich in seinem Metier daselbst zu perfectioniren, und auf ein Jahr dahin zu reisen Vorhabens; So gelanget an jedes Ohrts hohe Landes- und Stadt-Obrigkeiten, dero hohen und niedrigen Civil- und Militair-Befehligs-Habern, auch gemeine Soldatesca zu Roß und Fuß, und sonst jedermänniglichen Unser respectivé freündlich Gunst- und Gnädiges ersuchen, gesinnen und Begehren, Sie wollen bemeldten Unsern Organisten aller ohrten frey, sicher und ungehindertpassiren lassen, welches wir um einen jeden Standes erheischung nach .... zu erkennen und ... wieder also zu halten geneigt seyn. Uhrkundlich .... Schwerin den May 1750.«
Die Anwesenheit Müthels in Naumburg constatiren die Taufregister der Wenceslaus-Kirche unter dem 2. Juni 1751.
82 Marpurg, Historisch-Kritische Beyträge. I, S. 431 ff.
84 Nach Acten des Pfarr-Archivs zu Themar und des Raths- und Kirchen-Archivs zu Zittau. – Daß Trier Bachs Schüler gewesen sei, wußte Friedrich Schneider nach Überlieferung der Seinigen zu sagen; s. Kempe, Friedrich Schneider. Dessau 1859, S. 9.
85 S. S. 51 dieses Bandes. – Bitter, Bachs Söhne II, S. 159.
87 Aus den Anstellungsacten der Torgauer Organisten zuerst veröffentlicht von Dr. Otto Taubert, Die Pflege der Musik in Torgau. Torgau, 1868. S. 36. – Als Bachsche Schüler erwähnte Emanuel Bach gegen Forkel noch Schubert und Voigt in Anspach. Unter Schubert ist wohl Johann Martin Schubart, der weimarische Organist, zu verstehen. Johann Georg Vogt in Anspach blies aber Oboe und Flöte (s. Walther, Lexicon S. 640); auch der Waldenburgische Organist J.C. Voigt kann wohl nicht gemeint sein; s. Bd. I, S. 350, Anm. 25.
88 S. Taufregister der Thomaskirche unter dem 23. Sept. 1725.
91 Sein Freund Hudemann in Hamburg trat 1732 Gottsched mit einer Vertheidigung der Oper entgegen; s. Mizler, Musikalische Bibliothek II, 3, S. 120 ff.
92 S. Leben der Gottschedinn vor ihren sämmtlichen kleineren Gedichten, herausgegeben von Gottsched. Leipzig, 1763.
93 Ein Exemplar dieses Werkes besitzt die königliche Bibliothek zu Berlin.
94 [Johann Joachim Schwabe], Belustigungen des Verstandes und Witzes. Erster Band. Leipzig, 1741. S. 499 und 501.
95 Sicul, Leipziger Jahr-Geschichte. 1721. S. 199 und 236.
96 Leipziger Neue Zeitungen von gelehrten Sachen. 1735. S. 603. – Eine der in der Gesellschaft gehaltenen Reden, über »den Hohen Geist des erblaßten Thomasius« erschien schon 1729. Die gräfliche Bibliothek zu Wernigerode besitzt ein Exemplar derselben.
109 Ein Exemplar des gedruckten und von Biedermann mit einem Vorberichte versehenen Textes, 2 Bogen in Folio, bewahrt die Bibliothek des Freiberger Alterthumsvereines. – Übrigens s. Beyträge zur Historie und Aufnahme des Theaters. Stuttgart, 1750. S. 596.
110 Mattheson, Sieben Gespräche der Weisheit und Musik. Hamburg, 1751. S. 181 ff. – Ausführliches berichten über den Streit im allgemeinen Adlung, Anleitung zu der musikalischen Gelahrtheit. S. 10 ff.; Marpurg, Kritische Briefe. I, S. 253; neuerdings Lindner, Zur Tonkunst. S. 64 ff. – Die »Christliche Beurtheilung« hat Bitter, J.S. Bach II, S. 340 ff. vollständig abdrucken lassen.
111MUSICO-THEOLOGIA, Oder Erbauliche Anwendung Musikalischer Wahrheiten; Bayreuth und Hof. 1754. – Vrgl. Marpurg, Historisch-Kritische Beyträge. I, S. 346 ff.
113 Wenn Dehn in der S. 479, Anmerk. erwähnten Abhandlung sagt, daß einige unter dem Hortensius einen gewissen Gärtner verstehen wollen der Bach gelegentlich den Vorwurf machte, daß er die Thomaner zu viel mit Musik beschäftige, so weiß ich nicht, worauf sich diese Vermuthung gründet. Karl Christian Gärtner, der spätere Herausgeber der Bremer Beiträge, war allerdings ein geborener Freiberger und lebte auch zeitweilig in Leipzig, aber nur bis 1745, und daß er überhaupt zu Bach je in Beziehung getreten wäre, ist unbekannt.
117 Diese Geschichte berichtet Hilgenfeldt S. 172. Ich kann ihre Quelle nicht nachweisen. Hilgenfeldt pflegte aber in seine Compilation nichts aufzunehmen, wofür er nicht einen glaubwürdigen Gewährsmann hatte.
124 Reichardt, Musikalischer Almanach. Berlin, 1796. Bogen L 2 und 3.
125 Oelbilder gab es vier, darunter zwei von dem sächsischen Hofmaler Hausmann. Eines derselben besitzt die Thomasschule zu Leipzig; es ist mit dem Canon versehen, welchen Bach der musikalischen Societät einreichte (dessen Auflösung s. bei Hilgenfeldt, Notenbeilage Nr. 3). Das andre der Hausmannschen Bilder gehörte später Emanuel Bach. Ein drittes Oelbild besaß Kittel, ein viertes die Prinzessin Amalie; letzteres wird noch jetzt auf der Amalienbibliothek des Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin aufbewahrt.
127 S. die Anhang B, XVI mitgetheilten Hinterlassenschaftsacten. Den Hinweis auf diese werthvolle archivalische Quelle verdanke ich meinem Freunde Herrn Dr. Wustmann zu Leipzig, welcher dieselbe bei seinen Forschungen im Archiv des dortigen Bezirksgerichts entdeckte.
128 Die siebenbändige wird die Wittenberger von 1539 ff., die achtbändige die Jenaer von 1556 ff. gewesen sein. – Im Inventar steht nach den »Tischreden«: Ejusdem Examen Concilii Tridentini. Hier liegt ein Schreibfehler vor: das genannte Buch ist vonMartinus Chemnitzius, geb. 1522, von 1547–1553 in Königsberg, dann in Wittenberg und Braunschweig, seit 1568 in Rostock. Von demselben Verfasser werden auch die beiden folgenden Bücher sein. Ich habe das Verzeichniß natürlich so abdrucken lassen, wie ich es geschrieben fand.
129 Die Folio-Ausgabe von »Evangelische Schluß Kett und Krafft-Kern« erschien 1734 zu Frankfurt a.M., kann also von Bach erst in seinen späteren Lebensjahren angeschafft sein. Unter »Schaden Josephs« ist gemeint »Evangelisches Praeservativ wider den Schaden Josephs in allen dreyen Ständen, herausgezogen aus denen Sonn- und Fest-Tags-Evangelien«. Erschien in neuer Ausgabe in 4. zu Erfurt 1741. Der Schaden Josephs ist die Hoffart, s. Amos 6, 6.
131 Aus seinen Schriften zusammengetragen von Johann Georg Pritius. Frankfurt a.M. 1714. Enthält acht Predigten, zwei Gebete und ein »Christliches Glückwunsch- und Ermunterungs-Schreiben an einen Teutschen Printzen.«
132 Wahrscheinlich die »Kurtzen Sonn- und Fest-Tags-Predigten«, die zuerst 1718 erschienen.
135 Einige der im Verzeichniß angezeigten Werke habe ich nicht constatiren können. »Scheubleri Gold-Grube« ist wohl die Aurifodina theologica oder »Glaubens-, Sitten- und Trostlehre« von Christoph Scheibler, geb. 1589 zu Armsfeld im Waldeckischen, gest. 1653 als Superintendent zu Dortmund. Johann Gottlob Pfeiffer gab 1727 in Leipzig das Buch in Folio neu heraus Nikolaus Stenger (1609–1680), ein Erfurter Theolog, schrieb eine Postilla evangelica und eine Postilla credendorum et faciendorum; eine von beiden wird also wohl die im Verzeichniß befindliche sein. Aegidius Hunnius, von welchem die »Reinigkeit der Glaubenslehre« angeführt wird, war ein Würtemberger und starb 1603 als Professor der Theologie in Wittenberg.
136Judaismus oder Jüdenthumb, Das ist Außführlicher Bericht von des Jüdischen Volckes Unglauben, Blindheit und Verstockung. Hamburg, 1644.
137 Erschien 1579, wurde häufig aufgelegt, im Jahre 1718 von Leuckfeld, auch 1752 noch. Heinrich Bünting, 1545 zu Hannover geboren, war Superintendent zu Goslar, und starb 1606 in Hannover.
140 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst. IV, S. 182 (3. Aufl.). Ihm ist es dann bis in die neueste Zeit nachgeschrieben worden.
141 S. Anhang B, XV. Dreizehn Kinder zweiter Ehe, wie sie dort nachgewiesen werden, giebt auch der Nekrolog (S. 170) an. Die Genealogie des Bachschen Geschlechtes weiß ebenfalls von einem David nichts.
144 Friedemanns Claviersonate von 1744 »in Verlag zu haben 1. bey dem Autore in Dresden, 2. bey dessen Herrn Vater in Leipzig und 3. dessen Bruder in Berlin.« – Sebastians sechs dreistimmige Choräle »sind zu haben in Leipzig bey Herr Capellmeister Bachen, bey dessen Herrn Söhnen in Berlin und Halle, und bey dem Verleger zu Zella.«
148 Siegel: Rosette mit Krone darüber. – Rathsarchiv zu Mühlhausen i. Th. Actenfascikel mit der Aufschrift: »Organista D. Blasij de Anno 1604 usque 1677.« S. 47.
149 Walther, Handschriftliche Zusätze zum Lexicon: »lebet jetzo (1738) in Jena; woselbst er den 30. May 1739 am hitzigen Fieber verstorben.« Das Datum ist falsch; die Jenaer Kirchenregister sagen: »Am 27. Mai 1739 starb Herr Gottfried Bernhard Bach, der Rechtsgelahrtheit Beflissener aus Leipzig.«
152 Die auf diese Vorgänge sich beziehenden beiden Briefe Bachs vom 24. und 31. Juli 1748 vollständig hier mitzutheilen, schien unnöthig, da sie neue Seiten von Bachs Wesen nicht hervortreten lassen. Sie wurden nach den Originalen veröffentlicht von Friedrich Brauer in der Musik-Zeitschrift Euterpe (Leipzig, Merseburger), Jahrgang 1864. S. 41 f.
153 Geburts-Register der Wenceslaus-Kirche zu Naumburg.
163 Den Abkündigungs-Zettel, ein querbeschriebenes Quartblatt, fand ich in der Bibliothek des Vereins für die Geschichte Leipzigs. Unter den oben mitgetheilten Worten befindet sich noch die Notiz: »Ist am andren Buß-Tage als den 31 Julii. 1750 abgekündiget worden.« Zu dem Ausdruck »andern Buß-Tage« bemerke ich, daß damals alljährlich drei Bußtage in Leipzig begangen zu werden pflegten. – Im Leichenbuch Tom XXVIII. Fol. 292b steht: »1750. Freytag den 31.Julii. Ein Mann 67. Jahr, Hr. Johann Sebastian Bach,Cantor, an der Thomas Schule, starb S. 4. K.« Nebengeschrieben: »accid. 2 Thlr. 14 gr.« Das Lebensalter ist falsch angegeben; wenn die Notiz: »4. K.[inder]« richtig ist, so würde daraus wohl hervorgehen, daß Heinrich beim Tode des Vaters schon in Naumburg war. Die Leichengebühren, welche sich gewöhnlich bei ganzer Schule auf ungefähr 20 Thaler beliefen, sind hier auf 2 Thlr. 14 gr. ermäßigt, wie das bei Kirchen- und Schulbeamten immer der Fall war. Sie summirten sich aus diesen Posten: 12 gr. ins Almosenamt, 6 gr. den Todtengräbern, 12 gr. dem Leichenschreiber, 1 Thlr. 8 gr. den beiden Thürmern. – Ein auf der Leipziger Stadtbibliothek befindlicher Zettel meldet: »Ein Mann 67. J. Hr. Johann Sebastian Bach Capellmeister, und Cantor, der Schule zu St. Thomas, auf der Thomas-Schule, wurde mit dem Leichenwagen begraben den 30ten July 1750.« Er stammt ebenfalls aus der Leichenschreiberei. Der Leichenwagen (im Gegensatz zur Leichenkutsche) wurde bei solennen Beerdigungen gebraucht. Wenn man das Datum »30. Juli« nicht für einen Schreibfehler halten will, so ließe sich wohl annehmen, die Leiche sei schon am Donnerstag Abend nach dem Leichenhause des Johanniskirchhofs übergeführt.
164 Die annähernde Bestimmung der Grabstätte giebt der Nekrolog S. 172. Keine Auskunft gewähren die Begräbnißbücher des Johanniskirchhofs. Sie wurden wohl nur nachlässig geführt, möglich ist aber auch, daß einzelne Blätter jener Listen, die erst der jetzige Inspector Heyne in dauerhafte Bände vereinigt hat, vorher verloren gegangen sind. H. Heinlein (Der Friedhof zu Leipzig in seiner jetzigen Gestalt. Leipzig, 1844. S. 202) äußert sich, als ob er ein Bach betreffendes Blatt gesehen hätte, das ihm aber unleserlich gewesen wäre.
165 Nekrolog, S. 173 ff. – Neueröffnetes Historisches Curiositäten-Cabinet. 1751, S. 13.
166 Nützliche Nachrichten von denen Bemühungen derer Gelehrten, und andern Begebenheiten in Leipzig. 1750. S. 680.
167 Ersezung Derer Schul-Dienste in beyden Schulen zu St. Thomae und St. Nicolai. Vol. III. VII B. 118. Fol. 43.