Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 5 (vervolg) (terug)
VI.
Indem wir in das Jahr 1728 eintreten, nähern wir uns der Entstehungszeit desjenigen Werkes, welchem allem Anscheine nach Bach unter seinen Kirchencompositionen selbst den höchsten Werth beilegte. Indessen haben wir uns mit ihm, der Matthäuspassion, einstweilen noch nicht zu beschäftigen, sondern werden zunächst die bis um 1734 geschaffenen Kirchencantaten zu mustern fortfahren. Nur darauf soll hier hingewiesen werden, daß die Arbeit an jenem gewaltigen Werke ihm mindestens seit den letzten Monaten des Jahres 1728 die Composition andrer Kirchenmusiken verwehren mußte, um so mehr als er für das Frühjahr 1729 auch noch die große Trauermusik auf die Beisetzung des Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen zu schaffen und in Cöthen selbst aufzuführen hatte. Es wird darnach nicht Wunder nehmen, wenn wir nur eine einzige Cantate bezeichnen, die mit ziemlicher Sicherheit in das Jahr 1728 zu setzen ist: »Wer nur den lieben Gott läßt walten«, für den fünften Trinitatis-Sonntag. In ihr sind wieder einmal deutlich bemerkbare Spuren vorhanden, welche auf Picander als Dichter hinweisen. Zwar in dem Jahrgange von Cantaten-Texten, welchen Picander mit dem unmittelbar vor dem fünften Trinitatis-Sonntage fallen den Johannis-feste 1728 begann, steht ihr Text nicht. Jedoch wurden solche Dichtungen auch keineswegs alle für die Composition allein und noch weniger in der Absicht geschrieben, sie sammt und sonders in einem und demselben Jahres componirt und aufgeführt zu sehen1. Überdies übte Bach auf den Dichter, der lange Zeit sogar in seiner nächsten Nachbarschaft wohnte,2 einen starken Einfluß aus; er dachte nicht daran, alles was jener reimte, schlechtweg in Musik zu setzen, und nicht nur das einzelne mußte er seinen Wünschen gemäß [269] gestalten oder umgestalten, auch für Inhalt und Stimmung des ganzen hat er unzweifelhaft meistens die Grundlinien selbst angedeutet. Die Cantate »Wer nur den lieben Gott« liefert dazu einen Beleg. Sie entbehrt nicht ganz des Zusammenhanges mit dem Sonntagsevangelium, nimmt aber doch im allgemeinen eine Richtung, welche von demselben ziemlich weit hinweg führt. Bach kam es hier einmal darauf an, das trostreiche Lied Neumarks zum Mittelpunkte eines Werkes zu machen. Picander hat alle sieben Strophen für seine Dichtung benutzt, und zwar die erste, vierte und letzte in der Originalgestalt, auch die Worte der fünften und fast durchaus diejenigen der zweiten hat er beibehalten, nur mit madrigalischen Recitativen durchflochten, von Strophe 3 und 6 hat er den Inhalt frei bearbeitet, jedoch unter Wahrung einiger Originalwendungen. Genau analog ist die Stellung, welche Bach in den einzelnen Strophen der Choralmelodie gegenüber einnahm. In der sechsten Strophe, einer Sopranarie werden nur gelegentlich einige Melodiefragmente eingestreut (Takt 23–25, 28–30, 35–37, außerdem 31–32 in der Verkürzung), die Tenorarie, zu welcher die dritte Strophe benutzt worden ist, erinnert im allgemeinen an den Choral durch Beibehaltung der Liedform und bringt außerdem am Anfange des Auf- und Abgesanges Anklänge an die entsprechenden Stellen der Melodie, an ersterer Stelle in einer Versetzung nach Dur. Strophe 3 und 6 werden von einer Solostimme vorgetragen, welche von den getragenen Weisen der Choralmelodiezeilen in das lebhaftere Recitativ hinüber und wieder zurück geht. Die übrigen Strophen zeigen den vollen und reinen Choral: die letzte in einfach vierstimmigem Satze, die vierte in der Form des Pachelbelschen Orgelchorals, indem sämmtliche Streichinstrumente die Melodie spielen, Sopran und Alt mit Motiven der Melodiezeilen contrapunktiren, die erste endlich in einer modificirten Form der Choralfantasie. Eine solche Berücksichtigung derselben Choralmelodie durch das ganze Werk ist uns bis jetzt nur einmal erst vorgekommen, in der Cantate »Christ lag in Todesbanden«. Der große Unterschied aber liegt auf der Hand. Dort begegneten wir nur eigentlich kirchlichen Choralformen, denen mochten sie auch noch so frei und mannigfaltig ausgestaltet sein, doch immer ein wirklicherCantus firmus zu Grunde lag. Hier erscheint der Choral viel mehr nur als allgemeiner Ausgangspunkt der persönlichen Erbauung. [270] Nicht in allen Theilen der Cantate: die vierte und siebente Strophe stehen auf dem Gebiet kirchlicher Empfindung; die übrigen aber enthüllen ein Gemüth, das sich den kirchlichen Trost in eine dem subjectiven Bedürfnisse entsprechende Form zu bringen sucht. Für die beiden Arien gilt der Choral nur als innerlich wirkendes Motiv und Anregung, so zwar, daß dieses Motiv dem Hörer nicht verborgen bleiben, sondern von ihm als solches erfaßt werden soll, damit die Stücke die beabsichtigte Wirkung thuen. In den Recitativen hängen sich an jede Melodiezeile eingehende Betrachtungen, unter denen der Choral als Ganzes sich verliert, denn im Bassrecitative kommt er nicht einmal in allen Theilen zur Erscheinung, im Tenorrecitativ tritt jede Zeile in einer andern Tonart auf. Und selbst im Anfangschor ist dieser Zug deutlich bemerkbar. Wenn die Form der Choralfantasie auf Chor und Orchester übertragen werden sollte, mußte sich das Verhältniß naturgemäß so gestalten, daß die Ausführung des frei erfundenen, die Grundempfindung des Chorals entfaltenden Tonbildes den Instrumenten zufiel, während der Chor die Rolle des Cantus firmus zu übernehmen hatte. Dies letztere konnte in verschiedener Weise bewerkstelligt werden: durch einen einfachen vierstimmigen Satz, aber auch so, daß einige Stimmen in lebhafterer Bewegung die ruhige Melodie umgaben oder trugen, wobei sie sich immerhin den Tonreihen der Instrumente zeitweilig nähern oder anschließen konnten; nur den principiellen Gegensatz galt es fest zu halten. In unserm Falle aber sehen wir, daß abgesehen von dem selbständigen Instrumentenspiel einer jeden Zeile auch durch die Singstimmen ein einleitender Satz vorausgeschickt wird, in welchem sie sich mit einer fugirten Verarbeitung der nachfolgenden Zeile zu schaffen machen. Der Eindruck ist, daß die subjective Empfindung, nachdem sie zuvor den Sinn der einzelnen Zeile zergliedert hat, sich alsdann an der kräftigen kirchlichen Gesammtempfindung aufrichten soll. In eine Form, welche durch die ganze Anlage ihr bereits völlige Genüge thun müßte, drängt sie sich nochmals grübelnd und zersetzend hinein – ich gestehe offen, daß es mir schwer wird, diesen Choralchor als Einheit zu fassen und nachzufühlen, die Absicht aber des Componisten scheint mir zweifellos. Es braucht kaum noch hervorgehoben zu werden, daß der musikalische Charakter der Cantate ein durchaus beschaulicher ist. Die Innigkeit, welche jedes einzelne Stück derselben erfüllt, [271] bekommt dadurch ihre ganz eigne Färbung, am leichtesten und deutlichsten nimmt man sie in der rührend schönen Es dur-Arie wahr. Schon zu Bachs Zeiten fing man an, in größerem Stile Compositionen für häusliche Andachten zu schreiben.3 Wenngleich die Cantate »Wer nur den lieben Gott läßt walten« als Kirchenmusik verwendet wurde, so streift sie doch das Empfindungsgebiet privater Erbauung. Bach veranstaltete, wie sein Brief an Erdmann erzählt4 und die große Anzahl verschiedenartiger Instrumente, welche er im eignen Besitz hatte, beweist, auch in seiner Wohnung musikalische Aufführungen. Es wäre wohl möglich, daß er die Cantate mehr im Hinblick auf eine solche, als zum kirchlichen Zweck concipirt und ausgeführt hätte. –
Aus dem 1728–1729 zuerst erschienenen Jahrgange der Picanderschen Cantaten hat Bach nach dem jetzt vorhandenen Bestande seiner Kirchenmusiken neun Dichtungen componirt. Vier derselben fallen wahrscheinlich in das Jahr 1731. Die übrigen fünf setze ich in die Jahre 1729 und 1730, aus denen, wenn man von einigen Festmusiken absieht, sonst keine Kirchencantaten nachweisbar sind, während für die folgenden Jahre eine beträchtliche Menge vorliegt. Eine Cantate auf den ersten Weihnachtstag »Ehre sei Gott in der Höhe« ist nur als Fragment erhalten.5 Sein Inhalt ist größtentheils in eine spätere Trauungsmusik übergegangen.6 Die Alt-Arie »O du angenehmer Schatz« stellt sich als einer jener holden Wiegengesänge dar, wie wir einen solchen schon in der Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn«7 antrafen. Für den Neujahrstag liegt eine Cantate vor, die sich durch eine stolze, kraftvolle Fuge hervorthut. Sie steht am Anfang und hat dieses Thema:
Indessen scheint Bach diese Cantate zur Zeit unvollendet zurückgelegt, und erst später durch Einarbeitung einer Sopranarie der Cantate »Der zufriedengestellte Aeolus« und Übertragung des Schlußchorals aus der Neujahrsmusik »Jesu nun sei gepreiset« fertig gemacht zu haben.8[272] Voll von Todesernst und Glaubensinnigkeit ist eine Cantate auf den dritten Epiphanias-Sonntag »Ich steh mit einem Fuß im Grabe«. Sie wird durch eine Sinfonie eingeleitet, die sich im Charakter des ersten Adagiosatzes der Kammersonate bewegt. Daran schließt sich in Form eines Choral-Quatuors eine Arie, in welcher zu den madrigalisch gefügten Worten des Tenors der Sopran den Choral »Machs mit mir Gott nach deiner Güt« vorträgt – ein tief poetisches Stück durch die abwärts sinkende Bewegung und die stockenden Rhythmen der contrapunktirenden Stimmen.9 Nicht von geringerem Werthe ist die Cantate auf Estomihi »Sehet, wir gehen hinauf nach Jerusalem«. Ihr merkt man in allen Theilen die Nachbarschaft der Matthäus-Passion an: ganz und gar ist sie erfüllt von der in jener waltenden Empfindung. Für den Anfang dienen ihr so wie der Estomihi-Cantate von 1723 »Jesus nahm zu sich die Zwölfe« die Worte Christi, mit denen er den Jüngern seinen Leidensgang ankündigt. Auch hier sind sie im ausdrucksvollen Arioso componirt, welches durch ein wandelndes Bassmotiv seinen besonderen Charakter erhält; Recitative des Alt spinnen die durch die Bibelworte angeregten Gedanken weiter. Ein sehr schönes, mild dahin fließendes Choraltrio über die sechste Strophe des Gerhardtschen Passionsgesanges »O Haupt voll Blut und Wunden«, eine unbeschreiblich fromme, gefühltstiefe Bassarie »Es ist vollbracht das Leid ist alle« und der einfach gesetzte Choral »Jesu deine Passion« machen mit einen kurzen Tenorrecitativ den übrigen Bestand dieser nicht umfangreichen, aber köstlichen und den vollen Bachschen Genius offenbarenden Composition aus10. Zu den frischesten und heitersten Werken des Meisters gehört die Musik für den dritten Ostertag »Ich lebe, mein Herze, zu deinem Ergötzen«; die schwungvolle Bassarie »Merke, mein Herze, beständig nur dies« hat gar etwas tanzartiges: man meint kräftige, freudige Gestalten zu sehen, welche den Frühlingsreigen schlingen. Wie die beiden vorigen so ist auch diese Cantate [273] nur für Solostimmen gesetzt, den endüblichen vierstimmigen Schlußchoral abgerechnet.11 –
Wir gehen zu den Cantaten der Jahre 1731–1734 über und betrachten zunächst diejenigen Compositionen, welche noch dem Picanderschen Jahrgange angehören. Die Septuagesimae-Cantate »Ich bin vergnügt« (21. Jan. 1731 oder 10 Febr. 1732) erscheint unter Bachs Tönen in einer Umdichtung, die jedenfalls Picander selbst vorgenommen hat. An der fein ausgeführten Composition fällt es auf, daß sie, Bachs sonstigem Verfahren entgegen, ausschließlich für eine und dieselbe Stimme, einen Sopran, gesetzt ist. Die weiter unten zu erwähnende Cantate »Ich habe genug«, welche in dieselbe Zeit gehört, wird uns lehren, daß dieses mit Rücksicht auf Anna Magdalena Bach geschehen und für sie eigentlich das Stück geschrieben sein wird. Es war eben in dieser Zeit, daß Bachs Hauscapelle, dessen Stamm seine Frau und die Kinder erster Ehe ausmachten, im vollen Flor stand. In der Kirche als Sängerin mitzuwirken verwehrte Anna Magdalena die Sitte, und sie ist auch sonst, seitdem sie aus einer fürstlich cöthenischen Hofsängerin12 Sebastians Gemahlin geworden war, nicht mehr öffentlich aufgetreten.13 Wohl aber übte sie ihr Talent im häuslichen Kreise, und der Gatte sorgte durch eigne Compositionen dafür, daß es zur Geltung kam. Die Cantate »Ich bin vergnügt« trägt noch entschiedener als die oben besprochene »Wer nur den lieben Gott läßt walten« den Charakter einer geistlichen Hausmusik. Nur daraus, daß Bach grade eine solche in erster Linie beabsichtigte, läßt sich auch die Umdichtung des Textes erklären. [274] Dieselbe wahrt genau die anfängliche Disposition, verarbeitet fast dieselben Gedanken, thut es in derselben Ausdehnung. Nur ist, abgesehen vom Schlußchoral, der aus der letzten Strophe des Liedes »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende« besteht, alles dasjenige geändert oder ausgemerzt, worin Gott direct angeredet wurde. Das ganze ist jetzt eben nur eine erbauliche Betrachtung, welche in ein Schlußgebet, den Choral, ausläuft.14
Der Cantate für den zweiten Pfingst-Tag »Ich liebe den Höchsten von ganzem Gemüthe« (14. Mai 1731 oder 2. Juni 1732) geht als Sinfonie der erste Satz des dritten brandenburgischen Concerts voran15, den Bach mit großer Kunst durch Hinzufügung von zwei Hörnern und drei Oboen bereichert hat. Die Verwendung von Kammermusikstücken zu kirchlichen Zwecken war bei ihm nicht neu. Wir hatten die Tendenz dahin schon bei den weimarischen Cantaten »Der Himmel lacht« und »Gleichwie der Regen« zu constatiren.16 In dieser Zeit, da er als Dirigent des Telemannschen Musikvereins fungirte, mußte sie ihm besonders nahe liegen; wir werden ihr alsbald noch mehrfach begegnen. Ein ausgeführter Chor kommt auch in dieser Cantate nicht vor. Sie enthält aber in der Bassarie »Greifet zu! Faßt das Heil, ihr Glaubenshände« eine Leistung höchsten Ranges. Die Begleitung wird außer vom Generalbass von den Violinen und Bratschen im Einklange besorgt. Das Ritornell zerfällt in zwei Partien: eine breite viertaktige Melodie:
und einen lebhafteren, energisch rhythmisirten Gedanken von acht Takten. Aus diesem Material, welches einerseits die Segnungen der göttlichen Gnade, andrerseits das eifrige Ergreifen derselben durch den Glauben symbolisch darstellt, entwickelt sich die ganze Arie. Jene viertaktige Melodie geht auch an die Singstimme über, angelegentlicher jedoch beschäftigen sich mit ihr die Instrumente und es ist von herrlicher Wirkung, wie sie mit ihrer strömenden Fülle oft ganz unerwartet auftaucht und sich der Singstimme anschmiegt, oder auch (T. 94 ff.) dieselbe im Canon hinter sich herzieht. An [275] dem vorhergehenden Recitativ bemerkt man, daß Bach drei Zeilen desselben uncomponirt gelassen hat. Da die erste der ausgelassenen Zeilen mit der ersten, welche nach denselben folgt, wörtlich übereinstimmt, so liegt hier vermuthlich nur ein Flüchtigkeits-Versehen vor. In der Anlegung der Recitative und Ariosos ging Bach oft sehr rasch zu Werke. Ein interessantes Beispiel bietet das Arioso der Cantate »Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende«.17 Den Text desselben schrieb Bach unter ein leeres Liniensystem ohne alle Wiederholungen hin. Er war als er dies that über die dazu zu setzende Musik mit sich noch garnicht im klaren, denn als es ans Componiren ging, strich er durch, schrieb unter, verschob und setzte ein Wiederholungszeichen, bis der Text zur Musik paßte.18
Die Michaelismusik »Man singet mit Freuden vom Sieg« (29. Sept. 1731, am Sonnabend vor dem 19. Trinitatis-Sonntag) enthält wieder einen ausgeführten Chor. Aber er ist keine Originalcomposition, sondern stammt aus der weimarischen Cantate »Was mir behagt ist nur die muntre Jagd«, aus jener weltlichen Gelegenheitsmusik, welche Bach für so verschiedene Zwecke benutzt und auch für die Kirchencantate »Also hat Gott die Welt geliebt« ausgebeutet hat.19 Hier bildet er den Schluß, steht in F dur und hat den Text:
Ihr lieblichsten Blicke,
Ihr freudigen Stunden,
Euch bleibe das Glücke
Stets feste verbunden,
Euch kröne der Himmel mit süßester Lust!
Fürst Christian lebe! Ihm bleibe bewußt,
Was Herzen vergnüget,
Was Trauern besieget!
Man muß aber gestehen, daß die Musik auch auf Vers 15. und 16. des 118. Psalms vortrefflich paßt. Der Vergleich der Umarbeitung mit der ersten Gestalt ist, wie immer in solchen Fällen bei Bach, höchst interessant und lehrreich, obgleich man garnicht sagen kann, daß die Umarbeitung eine sehr durchgreifende gewesen ist. Transposition nach D dur, Ersetzung der Hörner durch Trompeten, Hinzufügung [276] einer dritten Trompete nebst Pauke, Ausweitung einiger Partien, lebendigere Führung der Singstimmen und gewisse durch den neuen Text und die neue Tonart bedingte Änderungen, endlich gegen den Schluß hin ein sehr wirkungsreiches Unisono des Chors – das ist so ziemlich alles. Das Geniale liegt mehr in dem Scharfblick, der die Angemessenheit der älteren Musik für den neuen Zweck erkannte. Indessen hatte Bach anfänglich die Absicht, einen ganz neuen Chor über obige Psalmworte zu componiren. Der Anfang desselben steht auf einem Bogen, welchen er dann zur Partitur einer weltlichen Cantate mitbenutzte. Diese Cantate, »Der Streit zwischen Phöbus und Pan« genannt, wurde im Jahre 1731 componirt, und mittelst ihrer kennen wir die Entstehungszeit der Michaelismusik. Offenbar ließ Bach durch andre Arbeiten eingenommen den Chor-Entwurf unvollendet, und griff später, durch die Zeit gedrängt, zu einer alten Arbeit zurück.20 Unter den Sologesängen zeichnet sich die Sopranarie in A dur »Gottes Engel weichen nie« durch ein süß-melodisches, sanft schwebendes Wesen aus. Auch das vorletzte Stück, ein Duett zwischen Alt und Tenor mit obligatem Fagott, ist bei eingänglicher, einfacher Melodieführung eben so kunstreich als ausdrucksvoll. Es steht in G dur und der Schlußchoral in C dur. Da die Cantate, gleich der früher besprochenen Michaelismusik »Es erhub sich ein Streit« sich schließlich zu dem Wunsche hinwendet, daß die Engel die Seele des Gestorbenen in die Wohnung der Seligen geleiten mögen, so ist dies immer tiefere Hinabsinken in der Richtung der Unterdominante von Bach unzweifelhaft in einem poetisch-mystischen Sinne angewendet und es wirkt auch so. Der letzte Choral besteht aus der dritten Strophe des Schallingschen Liedes »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr« (»Ach Herr, laß dein' lieb' Engelein«).21
Der vierte endlich der noch rückständigen Picanderschen Texte: [277] »Ich habe meine Zuversicht« gilt dem einundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis (14. October 1731, vielleicht auch schon 29. Oct. 1730). Die Composition ist dadurch interessant, daß in ihr zum ersten Male unter den Leipziger Cantaten eine obligate Orgel mitwirkt. Möglich war solches erst, nachdem im Jahre 1730 das Rückpositiv der Thomasorgel seine eigne Claviatur erhalten hatte und somit neben der großen Orgel selbständig angewendet werden konnte. Die Cantate »Ich habe meine Zuversicht« sollte durch das Clavier- (oder Violin-) Concert in D moll22 eingeleitet werden, welches zu diesem Zwecke eine besondere Bearbeitung erfahren haben wird. Eine ähnliche Benutzung von Kammermusik, wie sie in der Cantate »Ich liebe den Höchsten« so eben von uns bemerkt worden ist. Daß das vollständige Concert und nicht etwa nur ein Satz desselben vorausgeschickt wird, läßt die Absicht erkennen, der Gemeinde die Vervollkommnung der Orgel recht zum Bewußtsein zu bringen. Man könnte daher annehmen, die Cantate sei schon 1730 unmittelbar nach erfolgter Abänderung des Rückpositivs aufgeführt; doch wissen wir nicht genau, wann letztere vollendet wurde. Zur ersten Arie schweigt die obligate Orgel, verbindet sich aber in der zweiten mit der Altstimme zu einem Trio von hervorragender Schönheit.23
Nachdem Bach die Möglichkeit gegeben war, in der Kirchenmusik die obligate Orgel zu verwenden, finden wir daß er in der ersten Zeit ziemlich häufig von derselben Gebrauch macht. Ältere Cantaten wie »Erschallet ihr Lieder« richtete er darauf ein, componirte aber auch mehre neue mit concertirender Orgelstimme. Für einige derselben hat er, wie in der eben besprochenen, Kammermusikstücke zu Instrumentalsinfonien hergerichtet. Offenbar ist dieses der Fall in der Cantate zum zwölften Trinitatis-Sonntage »Geist und Seele wird verwirret« (wahrscheinlich 12. Aug. 1731).24 Wenn auch die Instrumentalsinfonien des ersten und zweiten Theiles in der Originalgestalt nicht mehr vollständig vorliegen, so erkennt man ihre Übertragung in die Cantate doch daraus daß sie in der Partitur derselben Reinschriften darstellen.25 Ihrer Form nach bilden sie [278] den ersten und dritten Satz eines Concerts, das zugehörige mittlere Adagio dürfte in der A moll-Arie stecken, einem Siciliano, dergleichen Bach nicht hier allein als Mittelsatz eines Concertes angewendet hätte. Ein Clavierconcert aus E dur umschließt mit zwei Allegrosätzen ebenfalls einen Siciliano in Cis moll.26 Auch dieses Concert ist für Kirchenmusik ausgenutzt worden und nachweislich mit allen seinen Sätzen. Die ersten beiden sind in der Cantate auf den 18. Trinitatis-Sonntag »Gott soll allein mein Herze haben« (23. Sept. 1731 oder 12. October 1732) enthalten. Und zwar bildet der erste nach D dur versetzt und durch drei Oboen bereichert die einleitende Sinfonie. Das sich anschließende Gesangstück ist aus Arioso 3/8 und Recitativ gemischt. In der folgenden Arie (D dur ) wirkt die obligate Orgel wieder mit; es ist dies aber eine ganz neue Composition. Dagegen hat in der zweiten Arie (H moll 12/8) der Siciliano des Concerts eine sehr geniale Umarbeitung und Erweiterung (von 37 auf 46 Takte) erfahren. Der Gesang, welcher folgendermaßen beginnt:
ist neu hineincomponirt.27 Ein Recitativ und der Choral »Du süße Lieb schenk uns deine Gunst« (die dritte Strophe von Luthers »Nun bitten wir den heiligen Geist«) machen den Schluß. Es läßt sich um so mehr annehmen, daß in der A moll-Arie der Cantate »Geist und [279] Seele« eine ähnliche Umarbeitung vorliegt, als die ähnliche Gestaltung beider Cantaten in die Augen springt; sie erstreckt sich sogar auf das benutzte Gesangsmaterial, denn beide sind für eine Alt-Stimme gesetzt, nur entbehrt jene des Schlußchorals. Dem letzten Satze des E dur-Concerts begegnen wir in der Cantate auf den zwanzigsten Trinitatis-Sonntag »Ich geh und suche mit Verlangen«,28 welche um deswillen mit der vorigen in demselben Jahre entstanden und nur vierzehn Tage später als sie zur ersten Aufführung gekommen sein wird. Er bildet hier die Einleitungssinfonie und ist durch Hinzufügung einerOboe d'amore klanglich reicher ausgestattet, in Hinsicht auf den Solopart aber einfacher gehalten, was zum Theil dem andersgearteten Wesen der Orgel zugeschrieben werden muß. Im Verlauf des Werkes spielt auch hier die obligate Orgel in neu componirten Stücken ihre Rolle, welche zum Theil Sologesänge des Soprans und Basses, zum Theil Zwiegesänge dieser beiden, die Seele und Jesus repräsentirenden Stimmen sind. Ein Chor kommt in der Cantate nicht vor. Doch läßt im letzten Stücke der Sopran die Schlußstrophe des Chorals »Wie schön leucht't uns der Morgenstern« erklingen, wozu der Bass in fast glühend zu nennenden Weisen die paraphrasirten Bibel-Worte singt:
Dich hab ich je und je geliebet,
Und darum zieh ich dich zu mir.
Ich komme bald
Ich stehe vor der Thür,
Mach auf, mach auf, mein Aufenthalt!
Streichquartett mit Oboe d'amore und concertirende Orgel vollenden das reiche, hochbedeutende Tonbild.
Es ist an einer andern Stelle gezeigt worden, daß Bach seine drei Sonaten für Solovioline, bei deren Conception ihn die Idee des [280] Claviers oder der Orgel mindestens eben so stark beeinflußt hat, wie die der Geige, nachträglich in der That zu Clavier- und Orgelstücken umarbeitete.29 Mit dem Praeludium der E dur-Suite für Violine allein ist er ebenso verfahren: für concertirende Orgel nach D dur transponirt und mit einem begleitenden Orchester von Streichinstrumenten, zwei Oboen, drei Trompeten und Pauken ausgestattet bildet es die Instrumentalsinfonie zu der am Montag dem 27. August 1731 aufgeführten Rathswahlmusik »Wir danken dir Gott, wir danken dir«.30 Nicht eine so eminente Leistung, wie die Umarbeitung eines Solo-Clavierstückes zu einem Concert für Clavier, Violine und Flöte mit Streichorchester31, zeigt doch auch diese Sinfonie Bachs combinatorische Erfindung in hellem Lichte. Wie bei Clavierconcerten mit Orchester noch ein besonderes Generalbass-Instrument mitwirken mußte, so begleitet auch, wenn Bach obligate Orgel in der Kirchenmusik anwendet, in der Regel außerdem die große Orgel, das Ganze stützend und zusammenhaltend. Bei der Cantate »Wir danken dir Gott« kann dieses freilich nicht immer der Fall gewesen sein, da sie später noch zweimal (am 31. August 1739 und im Jahre 1749) in der Nikolai-Kirche während des Rathswahl-Gottesdienstes aufgeführt worden ist, und die Nikolai-Orgel kein selbständiges Rückpositiv besaß.32 Die Sinfonie macht einen festlichen, froh bewegten Eindruck und leitet sehr angemessen in die Cantate ein, welche in schwungvollen Jubelarien und majestätisch feierlichen Chorgesängen den dankbaren Empfindungen gegen Gott einen Ausdruck giebt, dessen Stärke über den äußern Zweck der Composition weit hinausreicht. Der Hauptchor ist über Worte des 75. Psalm gesetzt und von der Grundempfindung dieses Gedichtes, von Worten wie »Ich aber will verkündigen ewiglich und lobsingen dem Gott Jakobs« [281] muß man ausgehen um den Sinn des mächtigen Werkes recht zu fassen. Bach verarbeitet zwei Themen fugenartig nach einander, ohne daß sich dieselben zu einer Doppelfuge vereinigten. Dagegen aber erfolgen die Beantwortungen durchweg in kunstvollen Engführungen, denen unzweifelhaft, ähnlich wie in der Cantate »Sie werden aus Saba alle kommen« (s. S. 217 dieses Bandes), eine poetische Intention zu Grunde liegt.33 Das erste der beiden Themen ist aus einer Formel des altkirchlichen Choralgesanges gebildet, welche auch Händel vielfach verwendet hat.34
Kaum zwei Wochen später, am 9. Sept. 1731, als dem sechzehnten Sonntage nach Trinitatis wird Bach ein Werk aufgeführt haben, in dem wiederum obligate Orgel vorkommt. Die Cantate »Wer weiß, wie nahe mir mein Ende« ist gemeint.35 Ein umgearbeitetes Kammermusikstück finden wir nicht in ihr, die Alt-Arie, zu welcher obligate Orgel und Oboe da caccia begleiten, ist durchaus frei erfunden.36 Täuscht nicht alles, so hat Bach auch an dem Texte Antheil, welcher sich als Umarbeitung folgender Neumeisterschen Ariendichtung herausstellt:
Die metrische Construction des Textes ist ungeschickt und der Gedankenausdruck unbeholfen, denn wenn die Gruft als das friedebringende ersehnte Ziel bezeichnet wird, dürfen die Plagen des Lebens dem Scheidenden dahin nicht folgen: offenbar wünschte der Parodist nur den auf »tritt« passenden Reim beizubehalten. Der formgewandte Picander hätte derartiges wohl kaum geschrieben. Was aber die Composition betrifft so hat in ihr der Bach ganz allein eigne Ausdruck innigster Todessehnsucht eine Stärke erreicht, wie meines Wissens in keiner früheren oder späteren Composition des Meisters. Das Sonntags-Evangelium handelt vom Jüngling zu Nain, und man erinnert sich, daß schon von einer andern Composition für denselben Sonntag die Rede war »Liebster Gott, wann werd ich sterben«). Ein entschiedenerer Contrast als zwischen diesen beiden Werken ist nicht denkbar. Über der älteren Cantate lag eine jugendliche, schmerzlich süße Stimmung, in der späteren Composition redet einer, welcher der »argen falschen Welt Valet gegeben« hat, und sich sehnt abzuscheiden. Sicherlich hat Bach den Contrast absichtlich so scharf hingestellt. Denn daß er die ältere Cantate bei der Composition der jüngeren vor Augen hatte, verräth ihr Schluß. Dort wurde derselbe durch eine Arie Daniel Vetters gebildet, hier besteht er aus einem fünfstimmigen Tonsatz Johann Rosenmüllers »Welt ade! ich bin dein müde«. Beide waren Leipziger Künstler, denen Bach hierdurch gewissermaßen seine Huldigung darbrachte.38 Mit derselben Hingabe wie die Arie ist auch alles übrige componirt; [283] in dieser Stimmung fühlte sich Bach wie in keiner andern wohl. Man suche sich die Grundempfindung der Johannes- und Matthäus-Passion und der Trauerode zu concentriren und man wird sie in dieser Cantate verkörpert finden. Ein Zeichen, daß Bach bei ihrer Composition selbst ganz in dieser Empfindung lebte, sind die Anklänge an jene größeren Werke. Nur auf einiges sei hier hingedeutet: auf den Anfang des Schlußchors der Matthäus-Passion einerseits und andrerseits den Anfang des ersten Satzes der Cantate sowie Takt 66 der Bassarie; auf das Motiv der beiden Flöten im ersten Chore der Trauerode:
und das Motiv der Oboen im ersten Chore der Cantate (von Takt 13 an):
und die Durchführung desselben39; auf den Anfangstakt der Arie »Es ist vollbracht« in der Johannespassion und Takt 35 und 78 der Bassarie in der Cantate. Lauter aber als solche Einzelheiten redet das Ganze.
Die Wirkung der concertirenden Orgel muß Bach so sehr gefallen haben, daß sein erfinderischer Geist darauf gerieth sie in noch complicirterer Art zu verwerthen. Zum sechsten Trinitatis-Sonntag, wahrscheinlich des Jahres 1732 (also 20. Juli), schrieb er eine Solo-Cantate für Alt »Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust«, in deren zweiter Arie er einen obligaten Orgelsatz für zwei Manuale einführte. Dieser mußte nunmehr auf der großen Orgel executirt werden; auf den Generalbass wurde ganz verzichtet, Violinen und Bratschen im Einklange stellen die tiefste Stimme her. Die höchst originelle Combination hat nicht nur zu einem sehr kunstvollen sondern auch empfindungstiefen Stücke geführt, das sich übrigens in würdigster Umgebung befindet: die ganze Cantate gehört zu den schönsten ihrer Art.40 –
[284] Es geschah in dieser Zeit, daß Bach der schalen Reimerei der madrigalischen Cantaten, mit welchen er nun gegen zehn Jahre schon fast unaufhörlich zu thun gehabt hatte, überdrüssig wurde und sich nach kräftigerer poetischer Kost umthat. Das ältere protestantische Kirchenlied bot ihm, wonach er verlangte. In Folge dessen hat er eine Anzahl der besten kirchlichen Dichtungen des 16. und 17. Jahrhunderts musikalisch behandelt. Schon zu der Ostercantate »Christ lag in Todesbanden« hatte er den vollständigen Text des Kirchenliedes wörtlich benutzt, zu den Cantaten »O Ewigkeit, du Donnerwort« und »Wer nur den lieben Gott läßt walten« wenigstens einen Theil. Immer war dann aber mit den Worten auch die zugehörige Melodie Hand in Hand gegangen. Hierin nun unterscheidet sich die jetzt zu charakterisirende Cantaten-Gruppe von jenen Werken. Bach faßt in ihnen den Kirchenlied-Text mehr nur als geistliche Dichtung auf, die ihm zur Hervorbringung freier Compositionen dienen soll. Er ignorirt die den Liedern eigne Melodie nicht gänzlich, vielmehr enthält jede dieser Cantaten mindestens einige Stücke in welchen sie vollgewichtig auftritt, immer daneben aber auch solche, in denen sie ganz oder doch fast ganz außer Acht gelassen wird. Johann Adam Hiller, einer der Amtsnachfolger Bachs in Leipzig, sagt: »Auch geistliche alte und neue Lieder sind von einigen Componisten als Cantaten behandelt worden; ich gestehe, daß mir diese Gattung eine der zweckmäßigsten für die Kirche zu sein scheint. Nur sollte man sich des recitativischen Vortrags dabei gänzlich enthalten. Das Recitativ hat von allem, was dem Gesange eigen ist, nichts: keine symmetrischen Perioden, keine durchaus gleich langen Zeilen, keine Klapperei der Reime; es ist daher äußerst beleidigend, wenn man [285] z.B. vierzeilige Strophen, Zeile auf Zeile gereimt, recitativisch absingen hört.«41 Da ihm als Thomas-Cantor Bachs derartige Arbeiten vorlagen, so hat er ohne Zweifel mit diesen Worten auf ihn gezielt. Aber was er tadelt: recitativische Behandlung von Kirchenliedstrophen hat Bach ebensowenig vermieden, wie er sich an die Regeln zu binden für gut fand, welche im Jahre 1754 die Musikalische Societät zu Leipzig über Cantatentexte aufstellt, obgleich er Mitglied der Societät gewesen war. Hillers Bedenken waren gerechtfertigt: hatte doch hauptsächlich dem Recitativ zu Liebe die madrigalische Dichtung in die Kirchenmusik Eintritt erhalten. Man sieht, es war Bach vor allem um gehaltvollere Texte zu thun, von den musikalischen Formen etwas aufzugeben war er aber nicht gesonnen. Da sein Recitativ-Stil sich von dem landläufigen wesentlich unterschied, so brauchte er auch nicht zu besorgen, daß poetische und musikalische Form bei ihm in einen fühlbaren Widerspruch geriethen. Kirchenlieder des 16. Jahrhunderts hat er zwei in der Cantatenform seiner Zeit componirt. Die von Wolfgang Musculus verfaßte Paraphrase des 23. Psalms »Der Herr ist mein getreuer Hirt« dient dem Sonntage Misericordias und wird 1731 (8. April) oder 1732 (27. April) zuerst aufgeführt sein.42 Das Lied »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« ist für den vierten Trinitatis-Sonntag 1732 (6. Juli) verarbeitet.43 Dem Trinitatisfeste 1732 (8. Juni) gehört die Composition der schönen, 1671 erschienenen Dichtung von Johann Olearius »Gelobet sei der Herr, mein Gott, mein Licht, mein Leben«.44. Joachim Neanders aus dem Jahre 1679 stammender Dankgesang »Lobe den Herren, den mächtigen König der Ehren« ist für den 12. Trinitatis-Sonntag componirt und dürfte 1732 (also am 31. August) zuerst aufgeführt sein.45 Paul [286] Flemmings bekanntes Reiselied »In allen meinen Thaten« aus dem Jahre 1633 bearbeitete Bach 1734, man weiß nicht für welche Gelegenheit.46 Die Compositionen von Martin Rinckarts »Nun danket alle Gott« (1644) und Jacob Schützens »Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut« (1673) entbehren ebenfalls der Angabe eines besondern Zweckes. Es läßt sich auch über das Jahr ihrer Entstehung nur sagen, daß dasselbe ungefähr in den Zeitabschnitt fallen muß, mit welchem wir uns hier beschäftigen, während Johann Heermanns »Was willst du dich betrüben« (um 1630) und Rodigasts »Was Gott thut, das ist wohlgethan« (1675) einer etwas späteren Zeit anzugehören scheinen47 Allen diesen Cantaten ist es gemeinsam, daß sie mit einem großen Choralchor beginnen, der in der Form der sogenannten Choralfantasie gehalten ist. Bei »Nun danket alle Gott« hat diese Form nur insofern eine Abwandlung erfahren, als frei erfundene Chorsätze die Durchführung des Chorals einleiten, unterbrechen und beschließen. In der Cantate »In allen meinen Thaten« stellt sich die Choralfantasie als französische Ouverture dar, in deren fugirtes Allegro der Chor mit bewunderungswürdiger Kunst hineingebaut ist. Vernehmlich mahnt dieses Stück an den Anfangschor der Cantate »O Ewigkeit, du Donnerwort«, welchen wir indessen in eine frühere Periode verlegen zu müssen glaubten. Mannigfaltigere Gestaltung weisen die Schlußchoräle auf. Bald erscheinen sie als einfach vierstimmige Tonsätze, bald, wie in »Lobe den Herren« und »In allen meinen Thaten« durch drei selbständige instrumentale Oberstimmen prachtvoll erweitert; dann wieder in Choralfantasieform, oder auch, wie in »Gelobet sei der Herr« und »Was Gott thut, das ist wohlgethan« in einer an Böhm erinnernden Behandlungsart, indem eine gewisse dem Orchester zuertheilte Phrase zwischen den Zeilen und womöglich [287] auch neben denselben unablässig wiederkehrt. Außer im Anfangs- und Schlußsatze wird aber die Melodie des Kirchenliedes vollständig nur noch zweimal, nämlich zur zweiten und vierten Strophe von »Lobe den Herren« durchgeführt; in letzterer ist sie einer concertirenden Trompete zuertheilt. In der Mehrzahl der Fälle wird weiter garkeine Rücksicht auf sie genommen; so durchweg in den Cantaten »Der Herr ist mein getreuer Hirt«, »Ich ruf zu dir«, »In allen meinen Thaten«; hier dienen die übrigen Strophen nur als Texte zu frei erfundenen Arien, Duetten und Recitativen. Manchmal aber treibt auch der Componist mit der Melodie ein launiges Spiel, indem er sie bald stärker bald schwächer anklingen läßt. Hiermit entwickelt Bach eine neue Seite seiner Kirchenmusik; bisher war uns derartiges nur in der Cantate »Wer nur den lieben Gott« flüchtig begegnet und ist dort in seiner ästhetischen Bedeutung gewürdigt worden.48 Vom musikalischen Standpunkte betrachtet bieten die Suiten etwas ähnliches, in denen der Anfang der übrigen Tänze jedesmal wieder an den Anfang der Allemande anknüpft.49 Die Anspielungen beziehen sich gewöhnlich auf die erste, oder die ersten beiden Choralzeilen. Z.B.
In der Cantate »Lobe den Herren« wird einmal die Melodie
nach Moll versetzt und als Duett bearbeitet, nämlich:
Im fünften Vers von »Sei Lob und Ehr«, der als Recitativ beginnt, stößt man plötzlich auf eine Phrase, welche an die vier ersten Töne der Choralmelodie:
anknüpft; der Bass imitirt und es entwickelt sich ein Spiel, das lebhaft an eine Choralarbeit aus Bachs Jugendzeit erinnert.50 Aber auch andre als die Anfangszeilen werden zuweilen flüchtig und wie im Vorübergehen gestreift; in dieser Beziehung ist namentlich Vers 4 von »Was Gott thut, das ist wohlgethan« merkwürdig. Einmal, in Vers 5 von »Was willst du dich betrüben«, der mit einer geistreichen Fantasie über die ersten Zeilen beginnt und sich dann ungebunden als Arie weiter entwickelt, ereignet es sich, daß am Schluß die letzte Choral-Zeile ganz schmucklos und einfach eintritt, gleichsam als sei die Phantasie des Componisten zu ihrer Quelle zurück gekehrt. Auch der zweite Vers von »Nun danket alle Gott« wird mit freier Benutzung der Choralmelodie gebildet, so daß diese nun in allen Theilen der mächtigen und äußerst brillanten Composition theils voll und klar, theils verhüllt dem Hörer entgegentritt.
Daß eine solche Behandlung des Kirchenliedes und der Choralmelodie ihr bedenkliches hat, konnte indessen dem Meister auf die Dauer nicht verborgen bleiben. Wenn er auch durch mehre Jahre [289] von Zeit zu Zeit wieder auf sie zurück kam, so ergiebt ein Blick auf seine spätere Thätigkeit als Cantatencomponist doch, daß wir in den eben beschriebenen Cantaten Übergangs- oder abschweifende Bildungen zu erkennen haben, jenseits deren eine vollkommenere Form lag. Schon während der ersten Leipziger Periode erscheinen einige Werke, in denen diejenige Form, welche für Bach in seiner letzten Lebensperiode Ideal und Typus der Kirchencantate wurde, mit voller Klarheit zu Tage kommt. Es tritt in ihr ebenfalls ein bestimmtes Kirchenlied mit der zugehörigen Melodie in den Mittelpunkt, aber weder wird der kirchliche Text für Arien und Recitative verbraucht, noch die kirchliche Melodie phantastischen Spielen preisgegeben. Vielmehr dienen der persönlicheren, durch das kirchliche angeregten Empfindung nun wieder besondere, aber aus dem Kirchenlied entwickelte Dichtungen und freie Compositionen; dem Choral wird sein unnahbares, unveränderliches Wesen gewahrt, und doch durchdringt er, auch wo weder Originaltext noch Originalmelodie gehört werden, als einheitgebende Macht das Ganze. Sehr nahe dieser Idealform steht die bewunderungswürdige Composition, mit der Bach den 27. Trinitatis-Sonntag des Jahres 1731 (25. Nov.) festlich beging. Der Sonntag kommt bekanntlich im Kirchenjahre sehr selten vor; deshalb und wegen seines hochpoetischen, geheimnißvoll feierlichen Evangeliums sah sich Bach wohl veranlaßt, ihn durch eine Tonschöpfung ersten Ranges zu schmücken. Sinnvoll ist Nicolais dreistrophiges Kirchenlied »Wachet auf, ruft uns die Stimme«, welches an das Evangelium von den zehn Jungfrauen (Matth. 25, 1–13) direct anknüpft, um dann in die Anschauungen des Hohenliedes und der Offenbarung Johannis (Cap. 21) hinüber zu leiten, zur Grundlage des Werkes gewählt worden51. Zwischen die Strophen schieben sich Recitative und Zwiegesänge Christi und seiner Braut, kunstvolle Duette, die eine keusche Innigkeit athmen ohne sich zu weit ins Gebiet persönlicher Leidenschaftlichkeit zu verlieren. Die drei Choralstrophen bilden genau Anfang, Mitte und Ende, und stellen den mystischen Grundton des Werkes her, welchen die Vorstellungen von der feierlichen Stille der Nacht, [290] in welcher der himmlische Bräutigam erwartet wird, und der unsäglichen Freuden in der Herrlichkeit des neuen Jerusalem bedingten. Die erste Strophe ist Choralfantasie: in die majestätischen Rhythmen des Orchesters mischt das mit dem fünften Takte auftretende Motiv
ein heimliches Glück, das manchmal in seligem Ausdrucke überströmt; der Sopran führt die Melodie, deren poetischen Gehalt die andern Singstimmen durch Tonreihen von außerordentlicher Plastik ausdeuten. In der zweiten Strophe, einem Trio für Tenor, Geigen und Bass, klingt der mystische Ton wohl am vollsten aus. Es ist wie ein Reigen seliger Geister, was sich hier in den tiefen Lagen sämmtlicher Geigen mit seltsamem, unerhörtem Ausdruck hin und her wiegt: Zion und die Gläubigen sind mit Christus eingegangen zum Fest in den Freudensaal. Die letzte Strophe, ein »Gloria, mit Menschen und Engel-Zungen« angestimmt, tritt in schmuckloser Einfachheit auf; die herrliche Melodie erhält hier noch einmal Gelegenheit, vorzugsweise durch sich selbst zu wirken.
Die Cantate »Was Gott thut, das ist wohlgethan«, von der oben die Rede war, ist in ihrem Anfangs- und Schlußsatze nur eine erweiterte und bereicherte Bearbeitung älterer Stücke. Der Schlußsatz findet sich schon in der Cantate von 1723 »Die Elenden sollen essen«52. Der Anfangssatz in einfacherer Fassung leitet ein Werk ein, welches um zwei oder drei Jahre früher, also gegen 1733 geschrieben sein mag. Es repräsentirt den Typus der Cantate »Wachet auf« in etwas vereinfachter Gestalt, in dem nur zwei Strophen des Chorals benutzt sind: sie haben am Anfang und Ende ihren Platz und dieselben Formen, die wir dort an diesen Stellen finden; zwischen ihnen steht eine Anzahl madrigalischer Gesangstücke.53 Eine dritte mit demselben Choral anhebende Composition sollte dem 21. Trinitatis-Sonntage dienen, und wird 1731 (21. October) oder 1732 (2. November) die erste Aufführung erlebt haben.54 Sie enthält gar nur eine Strophe des Chorals, welche am Anfange steht und auch die Form der Choralfantasie aufweist: doch will das instrumentale [291] Tonbild sich anfänglich nicht recht zur Einheit zusammenfügen und nähert sich während des Aufgesanges mehr dem Charakter eines Ritornells. Im Verlauf des Werkes wird die Choralmelodie nirgends weiter verwendet, nicht einmal am Schlusse, die Cantate läuft in eine Bassarie aus. Sie ist denmach formell unvollkommen, mehr nur ein Ansatz, dem die entsprechende Weiterführung fehlt; auch der musikalische Gehalt der einzelnen Stücke steht hinter dem der andern beiden Cantaten zurück. Hingegen gewährt eine Cantate auf den sechsten Trinitatis-Sonntag »Es ist das Heil uns kommen her« durch ihre meisterwürdige Formrundung wieder vollste Befriedigung. Wenn Ähnlichkeiten in der Gestaltung des Einzelnen gleiche Entstehungszeit voraussetzen lassen – und dieses ist ja bei Bach der Fall – so muß sie mit der Cantate »Wachet auf« in demselben Jahre (1731) geschrieben sein. Von dem Liede des Paul Speratus wird nur die erste und zwölfte Strophe verwendet, um Ausgangs-und Endpunkt des Werkes festzustellen, zwischen welchen neben andern madrigalischen Stücken ein bewundernswerthes canonisches Duett seinen Platz findet; die Behandlung der ersten Strophe aber gleicht derjenigen der ersten Strophe von »Wachet auf« in auffälligem Grade, namentlich in den zweistimmigen Imitationen und theilweise dem begleitenden Rhythmus des instrumentalen Tonsatzes.55
Einer neuen, tiefsinnigen Composition zum 16. Trinitatis-Sonntage (wahrscheinlich 28. September 1732) »Christus der ist mein Leben« muß an dieser Stelle Erwähnung geschehen, obwohl sie ihrer Form nach nur halb hierher paßt. Sie beginnt mit einem Choralchor über das genannte Lied, verwerthet außerdem aber noch drei andre Choräle, welche sämmtlich zu den schönsten und bekanntesten Sterbeliedern der protestantischen Kirche gehören. Hierdurch gelangt die poetisch-musikalische Grundempfindung der Cantate freilich zu einer mächtigen Intensität. Doch läßt sich ein Mangel an Einheitlichkeit nicht verkennen. Die Bedeutung des Chorals in den Bachschen Cantaten ist eine andre und größere, als nur die welche einem gehaltvollen Gedichte mit einer schönen Melodie zukommt; er soll unter den subjectiveren Arien und Recitativen den gemeinverständlichen Mittelpunkt bilden. Berechtigung hat es noch wenn am Schlusse ein andrer als der einleitende Choral erscheint, in einem solchen [292] Falle entwickelt sich die Empfindung von einem strengkirchlichen Ausgangspunkte derart, daß sie an einer andern Stelle in das engere kirchliche Gebiet wieder einströmt. Statt dieses einen Ausgangspunktes aber deren zwei oder drei zu nehmen, muß beunruhigend wirken. Wir wissen, wie sehr Bach es liebte in der Stimmung von Sterben und Tod zu schwelgen. Er hat dieser Vorliebe hier einmal die Zügel schießen lassen; ist er doch soweit gegangen im ersten Choralchor dem Worte »Sterben« zu Gefallen durch eine lange Dehnung die Proportionen der vier Choralzeilen gänzlich zu zerstören. Sehr fein und sinnig ist es gemacht, wie dieser Chor sich ohne musikalische Unterbrechung in den Sologesang hinein fortsetzt, erst ein Arioso, dann ein Recitativ, an welches sich nun unmittelbar wieder ein neuer, in einfacher Pachelbelscher Form gehaltener Choralchor »Mit Fried und Freud ich fahr dahin« anschließt. Der dritte Choral »Valet will ich dir geben« ist als Trio behandelt und kann seine Verwandtschaft mit dem Choraltrio aus »Wachet auf« nicht verbergen. Am Schlusse steht die vierte Strophe des Liedes »Wenn mein Stündlein vorhanden ist.«56
Wenn die Form der chorischen Choralfantasie für den ersten Satz von nun an mehr und mehr das Feststehende wird, so ist doch einstweilen der Drang nach Mannigfaltigkeit bei Bach immer noch so stark, daß er auch andere Gebilde an die erste Stelle rückt. Solches geschieht in einer Musik zum Sonntag nach Neujahr 1733 (4. Januar). Hier ist der zum Tonbilde des Orchesters sich gesellende Gesang nur zweistimmig: der Sopran singt die erste Strophe des Chorals »Ach Gott, wie manches Herzeleid«, der Bass stellt sich ihm mit einem besondern Charakter entgegen und ermahnt zur Geduld und Standhaftigkeit. Derselbe Gegensatz ist auch im Schlußsatze musikalisch verwerthet, übrigens keiner Choralfantasie sondern einer Bassarie, in die der vom Sopran vorgetragene Choral hineingeflochten ist. Den Text zu diesem Choral bildet die zweite Strophe des Martin Böhmschen Liedes »O Jesu Christ, meins Lebens Licht«, während die Melodie dieselbe ist wie am Anfang. Von dem klagenden und dem tröstenden Charakter, die in dieser Cantate, wenn auch nur in den Hauptsätzen derselben durchgeführt sind, hat das Werk [293] den Namen Dialogus erhalten57 Es ist ebenfalls nicht ohne Seitenstück geblieben. Auch zum 24. Trinitatis-Sonntage (wahr scheinlich 1732, also 23. November) schrieb Bach einen Dialogus; »Furcht« und »Hoffnung« heißen hier die Charaktere, ihren Gegensatz ausgleichend tritt schließlich ein Bass hinzu, unter welchem wir uns die »Stimme vom Himmel« vorstellen dürfen, der in der Offenbarung Johannis (14, 13) die hier gesungenen Worte zuertheilt werden. Der erste Satz ist dem der vorigen Cantate ganz analog gestaltet. Der Alt singt die Melodie »O Ewigkeit, du Donnerwort«. Zum Beschluß kehrt indessen diese nicht wieder, sondern es ertönt Joh. Rudolph Ahles empfindungsvolle Arie »Es ist genug« in vierstimmigem Tonsatz.58 –
Wir verlassen hiermit die Choralcantaten und verweilen abschließend noch mit kurzem Blicke auf einer Gruppe solcher Kirchenmusiken, welche überwiegend oder gänzlich auf freier Erfindung beruhen. In der Mehrzahl derselben bildet ein Bibelspruch den poetischen Grundgedanken, der nach dem allgemein üblichen und auch von Bach durch die That als begründet anerkannten Verfahren gewöhnlich in eine Chorform gekleidet ist. Zwei Werke ragen unter ihnen hervor. Eine Cantate zum zehnten Trinitatis-Sonntag (wahrscheinlich 29. Juli 1731) »Herr deine Augen sehen nach dem Glauben« gehört zur Gattung derjenigen, welche ich mit dem Namen orthodoxe Compositionen (s. S. 255) belegen zu dürfen glaubte.59 Sollte Picander der Verfasser des Textes sein, so müßte er sich angestrengt haben. In den Recitativen herrscht freilich der gewöhnliche Schlendrian, die Arien haben aber eindringlichen metrischen Bau und kräftigen Wortausdruck. Außer dem Bibelspruche für den Hauptchor (Jeremias 5, 3) ist noch eine Stelle aus dem Römerbrief (2, 4 und 5) eingefügt, während Picander sich sonst mit einem Bibelspruch begnügt. Da Bach eine außergewöhnliche künstlerische [294] That plante, könnte er seinen Gehülfen einmal energisch aufgerüttelt haben. Während er in der Cantate »Schauet doch und sehet« in unersättlicher Klage schwelgt, gleich als wolle er dem Prophetenworte Genüge thun »Meine Augen rinnen mit Wasserbächen über dem Jammer der Tochter meines Volks. Meine Augen fließen und können nicht ablassen« (Klagelieder Jeremiae 3, 48 und 49), erscheint er hier als glühender, fast fanatischer Bußprediger. Der erste Chor stellt wie immer die Grundempfindung fest. Seine Disposition ist meisterhaft und durchaus neu. Ein Vorspiel legt die Hauptgedanken im Zusammenhange dar, welche sodann getrennt und in mannigfacher Versetzung die Grundlage des Chors bilden. Dies Verfahren findet man bei Bach öfter. Überraschend aber ist, daß zwei weitausgeführte Fugensätze in die Entwicklung eingewoben werden. Von unerhörter Kühnheit und niederschmetternder Gewalt sind ihre Themen:
Den oratorienhaften Zug in diesem gewaltigen Chore wird man nicht verkennen. Er erhebt sich in den Arien und dem Bass-Arioso manchmal zu fast dramatischer[295] Schärfe. Eine formelle Merkwürdigkeit haftet der Tenor-Arie an. Ihr Text lautet:
Du allzu sichre Seele
Erschrecke doch!
Denk, was dich würdig zähle
Der Sünden Joch!
Die Gottes-Langmuth geht auf einem Fuß von Blei,
Damit ihr Zorn hernach dir desto schwerer sei.
Für die aufgeregte Empfindung, welche Bach in die ser Cantate überall zum Ausdruck bringen wollte, war der Inhalt der ersten Textzeile nicht sprechend genug. Er begann deshalb mit der zweiten und in Tonreihen, welche das »Erschrecken« mit greifbarer Deutlichkeit malen. Die Arie bietet aber einen der bei Bach nicht häufigen Fälle, wo der musikalische Hauptgedanke, der im Ritornell vorgespielt wird, durchgängig nur in dem Jnstrumentalpart verbleibt, in der Singstimme dagegen garnicht auftritt. Die Hauptmelodie desselben scheint nun unter der Vorstellung der Textworte in ihrer richtigen Ordnung erfunden zu sein:
Trifft diese Vermuthung das wahre, so ist die Arie ein lehrreiches Beispiel, wie bei Bach vocale und instrumentale Anschauung zu unlöslicher Einheit in einander griffen.
Die andre Cantate, welche wir dieser als ebenbürtig beiordnen, hat einen Psalmspruch (Ps. 38, 4) zum poetischen Hauptgedanken. Sie paßt auch ihrem Inhalte nach mit der vorigen zusammen. Man kann sich vorstellen, daß die in jener mit feurigen Zungen gepredigte Buße nunmehr die Herzen der Sünder erfüllt hat. »Es ist nichts gesundes an meinem Leibe vor deinem Dräuen und ist kein Friede in meinen Gebeinen vor meiner Sünde«, beten sie.61 Der Chor ist eine in sich abgeschlossene Doppelfuge trüben, zerknirschten Ausdrucks. Er hat aber außerdem complicirte poetische Beziehungen. Von Takt 15 ab klingt in gemessenen Intervallen, von Flöten, Zink und drei Posaunen[296] geblasen, der vierstimmige Choral »Ach Herr mich armen Sünder«62 in die durch Streichinstrumente theilweise mit besondern Tonreihen begleitete Fuge hinein. Der vierstimmige Satz ist gleichfalls in sich abgeschlossen und könnte, wie die Fuge, auch allein mit befriedigender Wirkung zu Gehör gebracht werden. Trotzdem vereinigen sich beide Tonkörper, als seien sie aus einer Wurzel gewachsen. Die Tiefe der Empfindung, welche sich öffnet, wenn das kirchliche Bußlied wie von unsichtbaren Stimmen erklingend über die reuig im Staube betende Menge dahinzieht, ist unsagbar und unergründlich. Vor den beiden Stollen des Aufgesanges erscheint es jedesmal im Instrumentalbass in der Verlängerung. Wir haben noch nicht alles gesagt. Die beiden Fugenthemen sind aus zwei Zeilen des Chorals gebildet, das erste aus der letzten, das zweite aus der ersten. Die Weise, wie dies geschehen ist, mahnt an die Melodieumbildungen der Cantaten, denen der vollständige Text eines Kirchenliedes zu Grunde liegt; es ist mir aus diesem Grunde wahrscheinlich, daß die Cantate »Es ist nichts gesundes« mit jenen in eine und dieselbe engere Zeit gehört. Das aus all diesen musikalischen und poetischen Motiven entwickelte Musikstück ist höchst merkwürdig und in seiner Art einzig. Den Satz »Es ist der alte Bund« aus der Cantate »Gottes Zeit« (s. Band I, S. 453 ff.) kann man deshalb nicht vergleichen, weil dort die Chorsätze mehr nur als Zwischenstücke des Chorals auftreten. Hier aber erblicken wir die auf Chor und Orchester übertragene Form der Choralfantasie in ihrer Umkehrung: die Aufgabe der Instrumente löst der Chor, die des Chors ein Instrumentencomplex. Es ist weder ein freigestalteter biblischer noch ein Choralchor; es ist ein aus beiden gewordenes, höheres, das man staunend zu fassen sich bemüht. Eine schöne Bassarie mit selbständig entwickeltem, charaktervollem Instrumentalbass bringt dem Hörer die übermächtige Erscheinung des ersten Satzes persönlich näher: sie steht noch in jenem Empfindungskreise, leitet aber in eine tröstliche Stimmung hinüber, in welcher das Werk zu Ende geht.
Ein helleres Bild entrollt die Himmelfahrts-Cantate »Wer da [297] glaubet und getauft wird«63 In dem Hauptchor werden eine breite ruhige und eine lebhaft drängende Melodie einander gegenübergestellt und ganz in demselben Verhältniß durchgearbeitet, wie es die schöne Bassarie der Pfingstcantate »Ich liebe den Höchsten« zeigt (s. S. 275). Auch der poetische Inhalt ist derselbe, und beide Cantaten dürften zeitlich zusammengehören. Zu dem sehr sangbar geführten Chor gesellt sich eine reiche sechsstimmige Begleitung, und bewirkt einen herrlichen, gesättigten Gesammtklang, bei dessen in lebendigen Rhythmen fortströmender Fülle man der Worte des Evangeliums gedenkt: »Gehet hin in alle Welt und prediget das Evangelium allen Creaturen«. In der Mitte findet sich ein zweistimmiger Choral (die fünfte Strophe von »Wie schön leuchtet der Morgenstern«), dessen melismatisch zerdehnte Zeilen bald vom Sopran, bald vom Alt unter Imitation der andern Stimme vorgetragen werden, während im Bass ein aus der ersten Choralzeile gebildetes charakteristisches Motiv sich fortspinnt. Ein sehr merkwürdiger Chor steht an der Spitze einer Cantate zum 21. Trinitatis-Sonntage »Ich glaube, lieber Herr, hilf meinem Unglauben« (Marc. 9, 24).64 Er drückt die Empfindung des Schwankens und Zweifelns in ebenso bestimmter als meisterlicher Weise aus, indem die Stimmen vereinzelt und gleichsam haltlos umher irren und sich nur selten und kurze Zeit zu compacten Gebilden zusammenschließen. Mit andern Mitteln wird dieselbe Empfindung dargestellt in der Tenorarie, deren Text uns auch zum Verständniß des Chors den Schlüssel an die Hand giebt. Am Schlusse befindet sich dieses Mal eine Choralfantasie über die siebente Strophe des Liedes »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«. Nicht einem Sonn- oder kirchlichen Festtage sondern einer Trauungsfeierlichkeit ist die Cantate »Dem Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehen« (Psalm 97, 11 und 12) bestimmt. Sie hat etwas überaus festliches und glänzendes, an die Art der Cantate »Lobe den Herrn meine Seele« (von 1724) erinnernd. Ein prachtvolles Fugenpaar ( und 6/8) steht an der Spitze, in welchen wie in einigen Cantaten der ersten Leipziger Jahre die von einem kleineren Chore begonnene [298] Fugirung allmählig an den großen Chor übergeht.65 Der homophoner gehaltene Schlußchor ist breit und kräftig; beide umrahmen eine Bassarie im sogenannten lombardischen Stil,66 die mit einem an italiänische Schönheit mahnenden Melodienflusse ebenfalls einen hervorragend festlichen Charakter verbindet. Ein warmer Hauch lagert über dem ganzen Werke, das aber in dieser Gestalt schwerlich Originalcomposition ist, sondern aus Überarbeitung einer wohl der früheren Leipziger Zeit angehörigen Composition hervorgegangen sein wird.67 Es scheint dieselbe Entstehungsgeschichte zu haben wie die Trauungs-Cantate »Herr Gott, Beherrscher aller Dinge«, die wenigstens zum Theil auf einer älteren Rathswahl-Cantate »Gott, man lobet dich in der Stille«, zum Theil auch auf einem Adagio der G dur-Violinsonate68 beruht. Sehr verschlungen sind oft die Beziehungen, welche durch Überarbeitungen und Übertragungen zwischen den verschiedenen Werken Bachs sich geknüpft haben. Die genannte Rathswahl-Cantate hat allem Anscheine nach auch als zweite Jubelcantate zur Saecularfeier der Augsburgischen Confession (26. Juni 1730) dienen müssen und dürfte endlich so wie sie vorliegt in abermaliger Bearbeitung für ihren anfänglichen Zweck erscheinen. Der Bibelspruch (Ps. 65, 1) ist hier nicht als Chor componirt, was sein Inhalt verwehrt zu haben scheint, sondern als Alt-Solo, dessen blühendes Wesen doch die Feststimmung aufs deutlichste ausdrückt. Der Hauptchor folgt nach und hat madrigalischen Text. Jene Trias von Jubelcantaten, welche Bach 1730 an drei Tagen hintereinander aufführte,69 stellt sich, wie hier beiläufig bemerkt werden soll, auch in ihren beiden andern Theilen als Überarbeitung früherer Werke heraus. Die erste »Singet dem Herrn ein neues Lied« ist die Neujahrscantate von 172470, die dritte »Wünschet Jerusalem Glück« eine Rathswahl-Cantate von 1727 (25. August), welche als solche am 18. August 1741 wiederholt wurde71; sie ist aber sammt ihrem[299] Urbilde verloren gegangen. Und noch eine vierte Umarbeitung dürfen wir wohl auf 1730 verlegen. Die Behauptung wird begründet sein, daß in diesem Jahre auch die Feier des Reformationsfestes eine besondere Bedeutung erhielt und demgemäß begangen wurde. Augenscheinlich sollte die Cantate »Ein feste Burg ist unser Gott« einer solchen außergewöhnlichen Feier dienen.72 Bach suchte die weimarische Musik »Alles was von Gott geboren«, welche er mit ihrer Bestimmung für den Sonntag Oculi in Leipzig doch nicht gebrauchen konnte, wieder hervor und fügte an erster und fünfter Stelle neue Stücke ein. Es sind Choralchöre über die erste und dritte Strophe des Lutherschen Liedes. Der kühne, urkräftige Geist, der die deutsche Reformation ins Leben rief und in Bachs Kunst noch mit voller Stärke weiter wirkte, hat nie einen künstlerischen Ausdruck gefunden, welcher auch nur von ferne an diese beiden kolossalen Gestalten heranreichte. Das erste, 228 Takte zählende Stück hat die Pachelbelsche Form, nur daß der Cantus firmus von der Trompete und den Instrumentalbässen canonisch geführt wird; wie eine unbezwingliche Riesenburg ragt es auf. Das zweite ist eine Choralfantasie mit motivischer Benutzung der ersten Melodiezeile; den Cantus firmus singt der gesammte Chor im Einklange, während das Orchester ein Getümmel grotesker, wild anspringender Gestalten ausbreitet, durch welches der Chor unentwegt hindurchschreitet – eine Illustration der dritten Strophe (»Und wenn die Welt voll Teufel wär«) wie sie großartiger und charakteristischer nicht zu denken ist.73 Im Vorübergehen sei hier noch zweier andrer Überarbeitungen [300] gedacht, von denen wir nur sagen können, daß sie ungefähr in dieser Zeit, also um 1730, ausgeführt zu sein scheinen. Die Cöthener Serenade »Durchlauchtger Leopold« benutzte Bach zu einer Cantate auf den zweiten Pfingsttag (»Erhöhtes Fleisch und Blut«) und machte zu diesem Zwecke aus dem Schluß-Duett einen Chor.74 Der Geburtstags-Cantate auf die Fürstin von Anhalt-Cöthen aber gab er die Bestimmung einer Musik zum ersten Adventsonntage. Als solche wurde sie durch zwei vortreffliche Bearbeitungen des Chorals »Nun komm der Heiden Heiland« und zwei einfache Choräle bereichert. Die eine der Bearbeitungen ist Choralfantasie mit einem vom Tenor vorgetragenen Cantus firmus. In der andern dagegen wird – ein bei Bach seltener Fall – die Choralmelodie motettenartig von einem Sopran und Alt Zeile für Zeile durchgearbeitet. Man wird dabei an den schönen zweistimmigen Choralsatz in der Cantate »Wer da glaubet und getauft wird« erinnert, doch ist in der Advents-Cantate die Durcharbeitung eine ausführlichere.75
Wenn Bibelworte für Sologesang benutzt wurden, so war die feststehende Form das Bass-Arioso. Im allgemeinen ist auch Bach von diesem Brauche nicht abgewichen. Doch hat er ihn manchmal nur äußerlich beobachtet, indem er zwar die Bezeichnung »Arie« vermied, aber doch Musikstücke schrieb, die man als frei gestaltete Arien auffassen muß. Dies gilt für das Solo der Cantate »Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben«, welches den Namen »Arioso«, und das ausnahmsweise einem Alt zugetheilte Solo der Rathswahl-Cantate »Gott man lobet dich in der Stille«, das garkeine Bezeichnung trägt. Es gilt ferner für den Gesang, mit welchem eine Cantate auf den 22. Trinitatis-Sonntag »Was soll ich aus dir machen, Ephraim« (Hosea 11, 8) anhebt. Dagegen ist dem Anfangs-Solo einer Cantate auf den 5. Trinitatis-Sonntag »Siehe, ich will viel Fischer aussenden« (Jerem. 16, 61) schlankweg der Name »Arie« beigefügt. Beide Werke gehören in diese Zeit, doch läßt sich der genauere Termin ihrer Entstehung nur bei der letzteren mit Wahrscheinlichkeit angeben (13. Juli 1732).76[301] Daraus daß die Sologesänge zu den schönsten zählen, welche Bach geschaffen hat, läßt sich aber erkennen, daß er ihnen eine Hingabe widmete, wie sie ihrem geheiligten Texte entsprach. Sie haben formelle Eigenthümlichkeiten, welche sich nicht immer aus dem Bau der Texte erklären lassen. Die durchweg ausgezeichnete Cantate »Siehe, ich will viel Fischer aussenden« enthält gar zwei solcher Solostücke über Bibelworte. Das zweite derselben beginnt mit zwei -Takten in G dur als Einleitung, steht aber übrigens in D dur. Das erste besteht aus zwei großen Sätzen in D dur und G dur. Überhaupt ist die ganze Cantate hinsichtlich der Tonarten-Ordnung und der Disposition des Orchester-Accompagnements sehr merkwürdig. Einen tieferen Sinn in den Merkwürdigkeiten zu finden, will aber dieses Mal nicht gelingen. Die eigenthümliche Empfindung, welche im ersten Satze zum Ausdruck kommt, wird im Zusammenhange mit ähnlichen Erscheinungen bei Gelegenheit eines Stückes aus der Matthäus-Passion die ihr zukommende Würdigung erfahren.
Diese beiden letzten Cantaten sind abzüglich der Schlußchoräle nur Solocantaten. Wir haben ihnen noch einige der Art anzuschließen, die indessen nur auf madrigalische Dichtung gesetzt sind: »Ich armer Mensch, ich Sündenknecht« zum 22. Trinitatis-Sonntage (21. October 1731 oder 9. November 1732), »Ich will den Kreuzstab gerne tragen« zum 19. Trinitatissonntage (7. October 1731 oder 26. October 1732)77, »Jauchzet Gott in allen Landen« zum 15. Trinitatissonntage,78 endlich »Ich habe genug« zu Mariä Reinigung (1731 oder 1732)79. Die Cantate »Jauchzet Gott«, ein feuriges Jubellied für Solosopran, das in eine Choralfantasie über »Nun lob, mein Seel, den Herren« ausläuft und diese mit einem fugirten Hallelujah-Satze beschließt, steht mit dem Evangelium oder der Epistel ihres Sonntags in keinem Zusammenhang. Ihre eigentliche Bestimmung wird eine andre gewesen sein, die wir nicht einmal mehr muthmaßen können.80 Den andern drei Cantaten ist eine dunkle Stimmung gemeinsam. [302] Alle tragen sie es an der Stirne, daß Bach sie in seiner glücklichsten Zeit männlicher Schaffenskraft und – Freudigkeit schrieb. Steht eine von ihnen etwas zurück, so ist es »Ich armer Mensch«: der ersten Arie voll inbrünstig zerknirschter Empfindung sind die nachfolgenden Stücke nicht ganz ebenbürtig. Rühmend verdient bei den andern beiden Cantaten die Wärme und durchgängige Würde der Dichtungen hervorgehoben zu werden. Die am Schluß der ersten Arie von »Ich will den Kreuzstab« melodisch und rhythmisch sich schön heraushebende und wie ein tiefglückliches Aufathmen nach endlicher Erleichterung ansprechende Stelle kehrt mit wunderbarer Wirkung am Schlusse des letzten Recitativs wieder. Absicht des Dichters war dies offenbar nicht, Bach hat hier wieder einmal als Poet eingegriffen. Auch darin, daß das Werk – mit der sechsten Strophe des Chorals »Du o schönes Weltgebäude« – in der Unterdominante der Haupttonart ausklingt, liegt eine unverkennbare poetische Absicht. Die Musik zu Mariä Reinigung nimmt von den Empfindungen des alten Simeon ihren Ausgangspunkt. Sie mit der älteren Cantate »Erfreute Zeit im neuen Bunde« (S. 218 ff. dieses Bandes) zu vergleichen, ist interessant, da man sieht, wie Bach demselben kirchlichen Gegenstande zwei so ganz verschiedene Seiten abzugewinnen wußte. Dort ist die Grundempfindung heiter, lebensmuthig, hier lebensmüde in der Erwartung baldigen Todes still beseligt. Unaussprechlich schön giebt die Arie »Schlummert ein, ihr matten Augen« diese Empfindung wieder.
Diese Cantate war anfänglich für Anna Magdalena Bach componirt. Dann richtete sie der Meister für eine Mezzosopran – oder Alt – Stimme, endlich für einen Bass ein. Im Hinblick auf den kirchlichen Gebrauch mußte ihm dieses das angemessenste erscheinen, weil der Text eine Paraphrase der Worte Simeons ist, und die Anknüpfung an das Evangelium auf diese Weise auch musikalisch am augenfälligsten wurde.81 Eigentlich gedacht aber war sie als geistliche Kammer- oder Hausmusik. Es ist bedeutungsvoll, daß er [303] ihr ausdrücklich den Namen Cantata beilegt, was er bei seinen wirklichen Kirchenmusikstücken nicht zu thun pflegt. Ich komme hiermit auf einen oben berührten Gegenstand zurück. Eine Art der Empfindung, welche mehr auf häusliche als kirchliche Erbauung hinweist, tritt in gewissen Werken der mittleren Leipziger Periode hervor. Sie sprach aus der Cantate »Wer nur den lieben Gott läßt walten«; nur sie konnte es sein, welche den Meister antrieb ganz gegen die Gewohnheiten seines früheren und späteren Lebens in einer Anzahl von Cantaten zwar echte Kirchenlieder durchzucomponiren, aber die Theile der Choralmelodien auf allerhand geistreiche Art umzubilden und ihnen andre musikalische Zusammenhänge zu geben. Sonst galt ihm der Choral wie ein Dogma, an dessen unveränderliche Größe sich der einzelne anlehnt – das war kirchlich; hier löste er ihn in die subjective Empfindung auf – das entsprach dem Wesen privater Andacht. Naturgemäß wird eine solche sich vorzugsweise in den Formen des Sologesanges äußern. Solocantaten hatte Bach auch in früheren Zeiten schon manche geschrieben. Aber mit einziger Ausnahme der weimarischen Cantate »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt« trägt in keiner von allen die wir nachweisen konnten eine und dieselbe Stimme das ganze vor. Darin beruht ein wesentlicher Unterschied. Denn durch die Theilnahme mehrer Stimmen an demselben Gegenstande – sei es auch nur nach einander – wird doch dem Empfindungsausdruck das subjective genommen. In den Cantaten der mittleren Periode wird das zum Theil anders. Die erste, welche man im engsten Verstande Solocantate nennen kann, indem nur eine einzige Stimme in ihr wirkt, war die Septuagesimae-Musik »Ich bin vergnügt« und daß eben sie zunächst für einen häuslichen Zweck gedacht worden ist, scheint aus der Umdichtung des Textes klar hervorzugehen. Ihr schlossen sich nach und nach noch sieben andre an, von denen die Composition »Ich will den Kreuzstab gerne tragen« ebenfalls von Bach selbst mit der Bezeichnung Cantata à Voce sola è stromenti versehen ist. Auffallen muß, daß ein bedeutender Theil derselben: »Geist und Seele«, »Gott soll allein mein Herze haben«, »Vergnügte Ruh«, für eine Alt- oder Mezzosopranstimme geschrieben ist. Soprancantaten fanden wir ebenfalls drei: »Ich bin vergnügt«, »Jauchzet Gott«, »Ich habe genug«, von welchen die letzte jedoch auch für Alt und sodann für Bass eingerichtet wurde. Wenn [304] wir uns die Soprancantaten zunächst wohl für Bachs Gattin componirt denken dürfen, so war bei den Alt-Cantaten vielleicht die Tochter Katharina gemeint, deren Gesangstüchtigkeit ja der Vater selbst ein günstiges Zeugniß ausstellte. Tenor- und Bass-Cantaten begegneten uns abgesehen von der genannten Bearbeitung nur je eine: »Ich armer Mensch«, »Ich will den Kreuzstab«. Daß die Reihe derartiger in eben dieser Zeit geschaffener Compositionen hiermit beendigt wäre glaube ich nicht. Eine Composition für Sopran auf den 23. Trinitatissonntag, (»Falsche Welt, dir trau ich nicht«), welcher der erste Satz des ersten brandenburgischen Concerts in derselben Weise als Einleitung vorhergeht, wie der Cantate »Ich liebe den Höchsten« der erste Satz des dritten82, gehört gewiß eben so wohl in diesen Zusammenhang, wie eine Alt-Cantate ohne besondere Bestimmung (»Widerstehe doch der Sünde«)83 und wie jene allbekannte schöne Arie für Alt »Schlage doch, gewünschte Stunde«, in deren Textworten ich Francksche Poesie zu erkennen glaube.84 Es liegt auf der Hand, daß diese Arie nicht für die Kirche bestimmt gewesen sein kann, da keine Stelle des Cultus auffindbar ist, wo man sie hätte anbringen können; für eine reguläre Kirchenmusik, welche ihre 25 bis 30 Minuten dauern mußte, ist sie zu kurz, für eine außergewöhnliche Trauerfeierlichkeit paßt ihr Text nicht. Man darf sich auch wohl versichert halten, daß Bach, wie geneigt auch immer, das Glockenläuten musikalisch nachzuahmen, eine wirkliche Campanella in der Kirche doch nicht hätte mitwirken lassen, während im häuslichen Kreise niemand daran wird Anstoß genommen haben.85 Die andern Cantaten für eine Solostimme mögen sämmtlich auch beim Gottesdienst gebraucht worden sein. Eine Stilwidrigkeit hat sich Bach hierdurch ebensowenig zu Schulden kommen lassen, [305] wie dadurch, daß er weltliche Cantaten für die Kirchenmusik verwendete. Es ist schon früher einmal gesagt, daß seine Schreibweise überhaupt von einem kirchlichen Geiste durchdrungen war und daß er in gewissem Sinne kirchlich blieb, auch wenn er weltlich sein wollte.86 Aber innerhalb dieser weitesten Gränzen lassen sich wieder feinere Unterschiede denken. Durch solche hebt sich allerdings Bachs weltliche Musik von seiner original-kirchlichen ab, und solche bestehen auch zwischen letzterer und denjenigen Compositionen, die zu dieser Auseinandersetzung den Anlaß gaben.
Im übrigen erweist sich die zeitlich mittlere Periode in Bachs Cantaten-Production auch innerlich als eine mittlere dadurch, daß in ihr Richtungen zusammentreffen, denen wir den Meister vorher und nachher mit merklicherer Einseitigkeit folgen sehen. Alle derartige Gränzbestimmungen haben freilich wie überhaupt im Leben so auch in einer Künstlerentwicklung nur dann etwas zutreffendes, wenn man ihnen eine gewisse Beweglichkeit und Verschiebbarkeit zugesteht. Ihr Werth wird dadurch nicht beeinträchtigt. Cantaten mit freien Chören über biblische und madrigalische Texte, sowie Solocantaten für mehre Stimmen finden wir in der mittleren Periode noch in ziemlicher Anzahl und in Exemplaren, welche an Großartigkeit und Tiefe früheren ähnlichen Werken um nichts nachstehen. Daneben aber macht sich die eigentliche Choralcantate schon sehr entschieden bemerkbar, welche dann in Bachs letztem Lebensabschnitte immer mehr das Übergewicht erhält. Die Zeit von 1727 bis gegen 1734 ist in Bachs Leben die reichste und blühendste. Das merkt man schon bei der Betrachtung der Kirchencantaten allein. Es wird sich bestätigen, wenn wir den andern Gebieten näher treten, auf welchen sein reicher Geist sich gleichzeitig schöpferisch erwies.
Fußnoten
VII.
Um die Passionen Bachs historisch zu begründen, pflegt man sich mit einem Hinweis auf die dramatisirten Evangelienlectionen und allenfalls einem Seitenblick auf das Oratorium und die Oper zu [306] begnügen. Die Sache ist jedoch so einfach nicht. Es mußten viele und verschiedenartige Elemente zusammenwirken, damit diejenigen Schöpfungen entstehen konnten, welche wir als höchste Spitzen protestantischer Kirchenmusik bewundern.
Der Brauch, die Passionsgeschichte nach den vier Evangelisten an je vier Tagen der stillen Woche mit vertheilten Rollen abzusingen, hat sich ziemlich früh in der Kirche des Mittelalters festgesetzt. Der Zweck war, die Dinge um welche es sich handelte für die Anschauung des Volkes möglichst deutlich zu machen, da die lateinischen Worte von den wenigsten verstanden wurden. Ein Geistlicher sang die erzählenden Partien, ein zweiter die Worte Christi, ein dritter die der übrigen einzelnen Personen, gleichzeitige Äußerungen mehrer (der ganze Haufe, turba) wurden vom Chor wiedergegeben. Die protestantische Kirche behielt diese Besonderheit des Passionscultus bei. Zwar erachtete es Luther für unnöthig, daß alle vier Passionen abgesungen würden, und legte überhaupt auf die Sache kein großes Gewicht.1 Doch hatte Johann Walther schon 1530 die Passionsgeschichte nach Matthäus und Johannes mit deutschem Text für den kirchlichen Gebrauch hergerichtet, von welchen die erstere dem Palmsonntage, die letztere dem Charfreitage bestimmt wurde.2 Derselbe Künstler verfertigte 1552 eine aus den vier Evangelisten zusammengestellte Passionsmusik zu vier Stimmen mit deutschem Text3. Im Verlaufe des 16. Jahrhunderts kam die deutsche Passion im protestantischen Gebiete allgemein in Aufnahme. Schon im Jahre 1559 begegnen wir abermals einer Matthäuspassion in Meißen;4 das Jahr 1570 bringt, soviel bis jetzt bekannt ist, die erste gedruckte,5 andere folgten 1573 und 1587.6 Darnach sind auch [307] das 17. Jahrhundert hindurch diese Passionsaufführungen in den protestantischen Kirchen gebräuchlich geblieben: Melchior Vulpius ließ 1613 eine Matthäuspassion erscheinen, zwei Passionen des Thomas Mancinus nach Matthäus und Johannes gingen 1620 im Druck aus, 1653 ließ Christoph Schultz, Cantor zu Delitzsch eine Lucaspassion zu Leipzig drucken, desgleichen finden sich in Vopelius Neuem Leipziger Gesangbuch von 1682 die Passionen nach Matthäus und Johannes.7 Und kein geringerer als Heinrich Schütz war es, welcher in vier allerdings nur handschriftlich vorhandenen Tonwerken die Leidensgeschichte je nach den vier Evangelisten in dieser Form behandelte.8 Bis tief ins 18. Jahrhundert hinein hat diese alte Sitte Bestand gehabt. In Leipzig wurden, wie schon früher erzählt worden ist (S. 103 f.), die Passionsabsingungen erst 1766 abgeschafft. 1735 componirte noch der Cantor Kramer zu Dosdorf bei Arnstadt ein Werk in diesem Stile, welches genau übereinstimmt mit dem im Arnstädter Gesangbuch von 1745 abgedruckten Passionstexte, und über diesem steht, daß er »an den meisten hierher gehörigen Landen und Orten, jährlich am Charfreitage pflegestylo recitativo abgesungen zu werden«.9
Die musikalische Form dieser Passionen ist eine so stereotype, daß man es nicht begreifen würde, wie sie so oft haben gedruckt, und, soweit sich der Ausdruck überhaupt anwenden läßt, neu componirt werden können, wenn eben nicht der Brauch im kirchlichen Leben tiefe Wurzeln geschlagen hätte. Fast durchweg stehen sie in der transponirten ionischen Tonart (F dur). Die Einzelstimmen recitiren [308] im Choralton, die melodisch sehr wenig bewegten Tonreihen gleichen sich meist bis auf unbedeutende Abweichungen. Der Erzähler (Evangelist) hält die Tenorlage, Christus singt Bass, die übrigen Personen werden durch eine Altstimme vertreten, auch das Weib des Pilatus und die beiden Mägde, obwohl in der Regel der Alt im 16. und 17. Jahrhundert von Männern gesungen wurde. Vereinzelt findet sich für diese Personen auch ein Solo-Discant, z.B. in den Passionen von Walther (1552), Schultz und Kramer10. Etwas mehr Entwicklung und Mannigfaltigkeit thut sich in den figuralen Partien hervor. Zum Theil sind auch die turbae so einfach und recitirend gehalten, daß sie kaum den Namen Figuralmusik beanspruchen könnten, wenn nicht hier und da eine ausgebildetere melodische Wendung, eine charakteristische Harmonienfolge sich bemerkbar machte. Manchmal indessen stößt man auch auf reichere, kunstvollere und im 17. Jahrhundert auf dramatisch belebtere Tonbilder. Melchior Vulpius läßt die zwei falschen Zeugen, deren Worte gemeiniglich auch vom vierstimmigen Chor vorgetragen wurden, wirklich zweistimmig und gar in Imitationen singen. Er läßt in sehr affectvollen Situationen die Worte mehrfach wiederholen. Als das Volk den Barrabas fordert, muß der Chor das Wort »Barrabam« sechsmal in syncopirten, leidenschaftlichen Rhythmen ausstoßen; als es zum zweiten Male ruft »Laß ihn kreuzigen«, theilt sich der Chor in zwei Gruppen, die tieferen Stimmen rufen es den höheren nach, dann vereinigen sie sich. Während im übrigen Vierstimmigkeit herrscht, ist hier sechsstimmiger Satz angewendet. Ähnliches findet sich an denselben Stellen bei Schultz. Den Schluß der Passion pflegte ein kurzer Dankgesang zu machen, auch Gratiarum actio genannt, wie man denn überhaupt – ein Kennzeichen des altkirchlichen Ursprungs – selbst die lateinischen Personenbezeichnungen (ancilla, servus, Pilati uxor, latro, centurio oder miles) in diesen Passionsmusiken fast beständig beibehalten hat. Die Worte der Danksagung waren: »Dank sei unserm Herrn Jesu Christo, der uns erlöset hat durch sein Leiden von der Hölle«. Wenngleich man sie in entsprechender Kürze componirte, so war hier doch Gelegenheit [309] einer rein lyrischen Empfindung Ausdruck zu geben, was dann auch zur Entfaltung reicherer Tonmittel trieb. Im 17. Jahrhundert genügten oft jene schlichten Worte für die Innigkeit und Lebendigkeit der Empfindung nicht mehr. Man findet an ihrer Statt Strophen von Kirchenliedern in motettenartiger Composition, wie bei Schütz, auch wohl freie Dichtung in Liedform componirt, wie in sehr ansprechender Weise bei Schultz. Entsprechend dem Beschluß wurde der Anfang ebenfalls durch einen betrachtenden Chor gemacht. Hier dienten als Text nur die ankündigenden Worte »Das Leiden unsers Herren Jesu Christi, wie uns das beschreibet der heilige Evangelist«, oder »Das Leiden« (auch »das bittere Leiden«) »und Sterben unsers Herren Jesu Christi nach dem heiligen Evangelisten« oder ähnlich. Durch den Chorgesang sollte die Bedeutsamkeit der Ankündigung ausgedrückt werden. Durchaus feststehend war aber die Einführung eines Chors weder am Anfang noch am Schluß: es kam auch vor, wie in der Leipziger Matthäuspassion bei Vopelius, daß im einstimmigen Choralton begonnen und geendigt wurde.
Wenn überhaupt die Musik herbeigezogen wurde, um den Cultus der Passionswoche zu schmücken und die ihn bedingenden Ereignisse aus dem Leben Christi in ihrem Spiegel aufzufangen, so konnte ihr diese Form nicht mehr genügen, sobald sich die Musik zu ihrer vollen Kraft entfaltet hatte. Neben der alten choralischen Passion entstanden daher schon während des Beginns der Blütheperiode des mehrstimmigen Gesanges Compositionen der lateinischen Passionstexte, die durchweg im figuralen Stile und motettenartig gehalten waren. Auch diese Gattung wurde von den protestantischen Tonsetzern mit Anwendung des verdeutschten Bibelwortes gepflegt. Die älteste mir bekannte deutsche Passionsmusik der Art ist von Johann Machold und 1593 zu Erfurt herausgekommen.11 In der Vorrede weist der Componist auf eine Passion Joachims von Burck hin, die »vor etlichen Jahren« entstanden sei und ihm als Muster gedient habe; demnach wird auch sie eine motettenartige Musik gewesen sein.12 Machold [310] hat, was Burck nicht gethan hatte, die Erzählung des Matthäus componirt, und lebte der Hoffnung, man werde zuweilen mit der seinigen abwechseln und »nicht stets auf einer Saite geigen«. Es geht hieraus hervor, daß solche Passionsmusiken ebenso wie die Choralpassionen im Cultus ihren festen Platz hatten. Den Anfang bildet, wie in den Choral-Passionen, der ankündigende Chor, am Schlusse steht ein liedartiger Satz über die Worte: »O Jesu Christe, Gottes Sohn, Wir bitten dich in deinem Thron, Laß uns das bittre Leiden dein Zu Trost und Heil geschehen sein«. Höheren Kunstwerth kann man dem schlicht und anspruchslos auftretenden Werke nicht beimessen, wohl dagegen einer sechsstimmigen Johannes-Passion gleicher Gattung von Christoph Demantius, welche 1631 zu Freiberg in Sachsen herauskam.13 Auch sie beginnt mit den ankündigenden Worten »Höret das Leiden unsers Herrn Jesu Christi aus dem Evangelisten Johannes«, und läßt hieraus deutlich erkennen, daß Demantius nicht etwa nur eine Composition des Evangeliums im allgemeinen, sondern gradezu eine musikalische Umgestaltung der alten Choral-Passion beabsichtigte; auch die Überschrift »mit sechs Stimmen aufs neue componirt« giebt dieses kund. Breitere motettenhafte Ausführungen verwehrte natürlich die Fülle des Textes, in den erzählenden Partien wird rasch fortgeschritten, die Reden der Personen heben sich durch dramatisch bewegte Tonreihen hervor, zu welchen auch Wort- und Satz-Wiederholungen statt finden; Einzelgesang ist indessen ganz ausgeschlossen: die Personen werden durch kleinere Stimmen-Gruppen, in welche sich die gesammte Chormasse theilt, angedeutet. Den Schluß macht auch hier wieder eine allgemeine Betrachtung mit den auf Joh. 19,35 Bezug nehmenden Worten »Wir glauben, lieber Herr, mehre unsern Glauben. Amen.« Es existirt eine lateinische achtstimmige Johannes-Passion von Gallus aus dem Jahre 158714; sie ist in der nämlichen Weise componirt [311] und die Betrachtung der Werke von Machold und Demantius führt wie von selbst zu ihr zurück. Sie bietet den Stoff in drei Abschnitte gegliedert dar, dasselbe thut die Passion des Demantius und zwar finden die Eintheilungen ziemlich genau an den gleichen Stellen statt: der erste Theil schließt hier mit den Worten Christi »Warum schlägst du mich«, der zweite beginnt mit Christi Hinführung vor Caiphas und endigt mit den Worten der Hohenpriester »Wir haben keinen König denn den Kaiser«, der dritte enthält Christi Kreuzigung und Tod. Bemerkt man nun, daß auch Macholds Passion dreitheilig ist, und soweit bei der Verschiedenheit des Evangelium-Textes dieses angeht, an ungefähr denselben Stellen seine Theile abschließt, so erscheint die Annahme begründet, daß hierin eine durch die Praxis hergestellte festere Form vorliegt, und sind der bekannten deutschen Passionen in Motettenform einstweilen auch nur wenige, so dürfen wir doch schließen, daß die Gattung zeitweilig eifriger gepflegt wurde. Demantius Passion beweist, daß dieses keineswegs nur im 16. Jahrhundert geschah. Es ist die erste Art die Leidensgeschichte durch die gesammten Mittel der damaligen Tonkunst zu bewältigen. Sie hat als solche ein bedeutendes geschichtliches Interesse sowohl im Hinblick auf die spätere Kirchenmusik als auf das Oratorium.
Als Mittelbildungen zwischen der choralischen und der motettenartigen Passion sind diejenigen Compositionen anzusehen, in welchen die Erzählung des Evangelisten und auch wohl die Reden Christi im Choralton recitirt werden, während alles übrige mehrstimmig gesetzt ist. Auch diese Form, welche unter den katholischen Tonmeistern z.B. Orlando Lasso und Jakob Reiner angewendet haben, ist von protestantischen Componisten nachgeahmt. Es gehört hierher die bekannte Passionsmusik von Bartholomäus Gese aus dem Jahre 1588.15
Drei Formen also lagen vor, als von Italien aus die concertirende Kirchenmusik in Deutschland Eingang fand. Ihre Elemente lassen sich in den Werken von Heinrich Schütz, des größten protestantisch-deutschen Musikers des 17. Jahrhunderts leicht wieder erkennen. [312] Dessen »Sieben Worte Christi am Kreuz« behandeln freilich nur einen Ausschnitt der Leidensgeschichte, man muß das Werk aber doch zur Gattung der Passionen rechnen.16 Es hat von der choralischen Passion die einstimmige Recitation des Evangelisten und der redend eingetührten Personen, von der motettenartigen Passion dagegen die zweimalige Anwendung des vierstimmigen Gesanges zu erzählenden Worten. Es theilt mit den Passionsmusiken älteren Zuschnittes auch die betrachtenden Chöre am Anfang und Ende. Daß diese sich über besonderen, sinnreich ausgewählten Texten aufbauen, ist wenigstens hinsichtlich des Schlußchores nichts neues, wie die obigen Auseinandersetzungen beweisen; hier ist zu diesem Zwecke das protestantische Kirchenlied »Da Jesus an dem Kreuze stund« mit je einer Strophe für Anfangs- und Schlußchor benutzt, doch ohne Berücksichtigung der zugehörigen Melodie nur als angemessene Dichtung. Neu dagegen erscheint, und zwar durch den concertirenden Stil bedingt, die Instrumentalbegleitung und die nach dem ersten, sowie vor dem letzten Chore ertönenden stimmungsvollen Instrumentalsinfonien, neu auch, und zwar durch die dramatische Musik bewirkt, die Beseitigung des Choraltons und dessen Ersetzung durch das gegen 1600 erfundene Recitativ. Es war diesem Werke, welches demnach sehr verschiedene Elemente zu einer neuen Form vereinigt, schon ein wenn auch nicht dem Stoffe so doch der künstlerischen Behandlung nach ähnliches voraufgegangen. In der »Historie der fröhlichen und siegreichen Auferstehung unsers einigen Erlösers und Seligmachers Jesu Christi« (1623) ist für den Evangelisten noch der Choralton beibehalten, obgleich derselbe schon eine merkliche Neigung zeigt, in die Weise der neu erfundenen Monodie hinüberzugehen. Anfangs- und Schlußchor sind nach alter Art, desgleichen ein dramatischer Chor der Jünger, der Gesang der Personen ist zum Theil mehrstimmig ohne dramatische Veranlassung, wie in den motettenartigen Passionen, während die Generalbassbegleitung dem Boden der neuen Kunst entsprossen ist.
Nur für den ersten Blick scheinen Schützens vier Passionen sich noch ganz in der alten liturgischen Form zu bewegen. Der Evangelist recitirt, bei den Reden gewisser Personen oder Personen-Mehrheiten[313] fallen besondere Sänger ein, betrachtende Chöre umschließen das Ganze, Instrumentalbegleitung fehlt. Aber bei genauerer Prüfung ergiebt sich, daß in der Matthäuspassion wenigstens die Einzelsänger sich nicht mehr des Choraltones sondern thatsächlich schon des neuen Recitativs bedienen, und daß nur äußerlich die alte Schreibweise noch beibehalten ist. Dem Choraltone ist ein sehr geringes Maß melodischer Bewegung eigen, nur am Beginn und Schluß eines Kolons pflegen einige melodische Schritte gemacht zu werden, diese bestehen aus wenigen immer wiederkehrenden Formeln, die Redeschlüsse finden fast ausnahmslos auf dem Grundtone oder der Quinte statt. In den zu recitirenden Partien der Matthäuspassion bemerkt man eine unausgesetzte, mannigfaltige melodische Bewegung, welche fast eine Generalbassbegleitung zu fordern scheint, und der eben nur noch einige an den Choralton erinnernde Wendungen eingemischt sind. Nicht mehr die gleichmäßige kirchliche Ruhe, sondern eine lebendige persönliche Empfindung beherrscht sie. Das zeigt sich auch in den beim Choralgesange gänzlich ungebräuchlichen Wort- und Satzwiederholungen. So z.B. singt Judas:
Oder:
In der Lucas- und Johannespassion findet sich ebenfalls das unter der Choralmaske versteckte moderne Recitativ, doch ist es merklich alterthümlicher gefärbt, während in der Marcus-Passion die alte Choralweise in ihrer ganzen Einfachheit beibehalten ist. Matthäus- und Johannespassion weisen auch nicht mehr die übliche Tonart auf: erstere steht in der transponirten dorischen, letztere in der phrygischen. Sieht man von dem Sologesange auf die dramatischen Chöre, so macht sich hier eine Lebhaftigkeit und Schärfe des Ausdrucks [314] bemerkbar, wie sie eben nur durch die Entwicklung der concertirenden Musik möglich gemacht war. In der Marcuspassion, welche an leidenschaftlichen Chören am reichsten ist, contrastirt mit diesen seltsam die eintönige Psalmodie des Einzelgesanges, in den andern Werken und am vollkommensten in der Matthäuspassion ist der Gegensatz durch die Verlebendigung des alten Choralgesanges zur neueren Monodie ausgeglichen. Auch die betrachtenden Chöre am Anfang und Ende zeigen jene freiere und kühnere Art der Stimmenführung, welche durch den concertirenden Stil herbeigeführt wurde. An der Anfangsstelle sind in allen vier Passionen die ankündigenden Worte componirt. Die üblichen Danksagungsworte finden sich aber nur am Schluß der Marcuspassion, welche auch hierdurch sich enger an die alte Form anschließt. Für die andern hat sich Schütz Kirchenliedstrophen gewählt: für die Matthäuspassion die letzte Strophe von »Ach wir armen Sünder«, für diejenige nach Lucas die neunte Strophe von »Da Jesus an dem Kreuze stund« mit etwas abgeändertem Text, für die Johannespassion die letzte Strophe von »Christus der uns selig macht«. Den Zweck einer engeren Anknüpfung an, den Gemeindegesang verfolgte Schütz aber hiermit nicht oder kaum. Nur in dem letzten dieser drei Fälle hat er die Choralmelodie benutzt und motettenartig durchgearbeitet; die andern Texte hat er mit einer ganz frei erfundenen Musik versehen, wie wir ähnliches auch in den »Sieben Worten« und andern seiner Werke finden. Die geistlichen Lieder boten außer dem Bibelwort damals immer noch die brauchbarste Poesie für deutsche Kirchenmusik; aber schon Schützens Streben richtete sich darauf, die madrigalische Dichtung der Italiäner in Deutschland einzuführen und mit großer Freude bewillkommnete er Caspar Zieglers erste dahin gehende Versuche.17 In diesen Passionen ist eine eigenthümliche Mischung von alt und neu, doch das neue überwiegt und dieses war, wie Schütz es verstand, nicht kirchlich, sondern theils geistlich, theils weltlich; es war das Oratorium.
Im weiteren Verlaufe des 17. Jahrhunderts geht nun die musikalische Umbildung der deutschen Passion der allmähligen Veränderung der gesammten protestantischen Kirchenmusik durch ihre [315] verschiedenen Phasen fortwährend parallel. Der recitirende Gesang behält den ariosen Charakter, den er bei Schütz hat, im wesentlichen bei; auch in den Kirchencantaten bis um 1700 kommt ja das eigentliche Recitativ noch nicht vor. Die Instrumentalbegleitung wird stehend, bescheidene Versuche sie selbständiger zu gestalten werden bemerkbar, an passenden Stellen treten kurze Sinfonien ein. In den Chören, die mit Vorliebe fünfstimmig gesetzt werden, herrscht dasselbe schwächliche und engbrüstige Wesen, das wir bei den Cantaten zu constatiren hatten: viel Homophonie, hier und da kurze Imitationen, kleine Abschnitte, häufige Ritornelle. Die bezeichnende Form dieser Zeit ist die geistliche Arie: sie tritt jetzt auch in die Passionen ein. Ich finde sie unter ihrem Namen zuerst angewandt in einer Lucas-Passion des Lüneburger Cantors Funcke vom Jahre 168318. Eine Rudolstädter Passionsharmonie von 1688, die aber nur etwas schon länger gebräuchliches fixirt, ist mit mehrstrophigen Arien schon sehr reich versehen19. Das gleichzeitige Auftreten derselben Erscheinung an zwei ziemlich weit von einander entfernten Orten gestattet den Schluß, daß die Sitte, geistliche Arien in die Passionsmusik einzulegen, schon seit geraumer Zeit verbreitet war. Zu den Arien darf auch das »Danksagungs-Liedchen für das bittre Leiden Jesu Christi« gerechnet werden, welches den Beschluß der Matthäus-Passion des Johannes Sebastiani aus dem Jahre 1672 bildet20. Denn wenngleich die Gratiarum actio in liedartiger Form längst nichts neues mehr war, so fehlte ihr früher doch die der Arie eigenthümliche Instrumentalbegleitung. Außerdem sind in Sebastianis Werk »zu Erweckung mehrer Devotion« eine Anzahl Choräle eingelegt. Sie sollen ebensowohl wie das Danklied bis auf seine letzte Strophe nur von einer Singstimme, dem Discant, zur Begleitung von vier »tiefen Violen« und Generalbass, also auf Arienweise gesungen werden. Dies ist eine neue Erscheinung in der Entwicklung [316] der deutschen Passionsmusiken. Man hat sich bisher begnügt sie nur zu constatiren anstatt zu erklären. Wir müssen daher einen Augenblick bei ihr verweilen. Die Weise, wie Sebastiani den Choral in seiner Passion verwendet, kann selbstverständlich nicht das anfängliche gewesen sein. Sie setzt bereits eine Phase der Entwicklung voraus, in welcher die hier als Arien behandelten Choräle von der ganzen Gemeinde gesungen wurden, wie solches das Wesen derselben ursprünglich fordert. Eine derartige Theilnahme der Gemeinde hat bei der alten choralischen Passion in der That stattgefunden. Daß die Gemeinde vor der Passion und mit Anschluß an sie auch nach derselben ein Lied sang, war schon durch die Ordnung des Gottesdienstes gegeben, denn die Absingung der Passion in der Charwoche stand ja an Stelle der sonntäglichen Evangelienlection. Aber hiermit begnügte man sich nicht. Weil die Absingung lange dauerte, wurden um die Theilnahme der Gemeinde frisch zu erhalten und die erbauliche Wirkung zu erhöhen an passenden Stellen Ruhepunkte gemacht, an welchen die versammelte Christenheit mit einem bezüglichen Liede eintrat. Wir haben hierfür Zeugnisse, deren Werth dadurch, daß sie aus späterer Zeit als die Sebastianische Passion stammen, eher erhöht als vermindert wird. Denn was sich unter den revolutionären Bewegungen des beginnenden 18. Jahrhunderts, welche alle echte Kirchenmusik zu vernichten drohten, kräftig erhalten konnte, ruhte gewiß auf altem erprobtem Fundamente. In einem 1709 zu Merseburg erschienenen Passionsbüchlein21 sind die Erzählungen der Leidensgeschichte nach den vier Evangelisten in der Form abgedruckt, wie man sie damals zu Merseburg noch aufführte. Man sieht sogleich, daß es in der alten choralischen Form geschah, man könnte auch sagen in der ältesten, denn die Danksagung am Schlusse fehlt und der nur bei der Matthäuspassion angebrachte Introitus »Höret das Leiden« wird nicht vom Chor gesungen, sondern vom Evangelisten choraliter recitirt.22 Arien sind gänzlich [317] ausgeschlossen, nicht so Choräle. Diese aber finden sich nicht mit abgedruckt, sondern es wird durch eine eingeklammerte Angabe des Anfangs der Strophen und meistens auch der Seite im Passionsbuche auf sie verwiesen mit den Worten »Hier wird gesungen aus dem Liede« u.s.w. Gewöhnlich sind es eine oder einige Strophen des Stockmannschen »Jesu Leiden, Pein und Tod«, in welchem bekanntlich die gesammte Passionsgeschichte versificirt ist; mit ihnen begleitete die Gemeinde den Verlauf der ganzen Handlung. Es werden aber auch andre fünf-, sechs-, sieben- und zehn-strophige Lieder gelegentlich angemerkt, welche vollständig gesungen werden sollen, gegen Schluß der Johannespassion ist gar das einundzwanzig Strophen zählende Lied »Nun giebt mein Jesus gute Nacht« vorgeschrieben. Außer diesen Chorälen findet man dann noch an gewissen Stellen eine oder zwei Liedstrophen vollständig hingedruckt; vermuthlich sollte diese der Abwechslung halber der Chor allein vortragen. Auch von andrer Seite wird eine derartige Theilnahme der Gemeinde bezeugt. Bei der erstmaligen Aufführung einer madrigalischen Passionsmusik in einer Stadt Sachsens sang ein Theil der Anwesenden den ersten Choral ganz ruhig und andächtig mit, war aber hernach sehr unangenehm verwundert, da es so ganz anders kam, als sie es gewohnt waren.23 Sebastiani selbst gab 1686 ein Büchlein heraus »Kurze Nachricht, wie die Passion ... in einer recitirenden Harmonie abgehandelt und nebst den darin befindlichen Liedern gesungen wird«, aus welchem hervorgeht, daß er es der Gemeinde freistellte die Lieder mitzusingen.24 Und auch als die Passion sich musikalisch reicher und reicher gestaltete, hielt man hier und dort noch an der Sitte fest und ließ bei den Chorälen die Gemeinde einstimmen.25 Aber je mehr die geistliche Arie eindrang, desto mehr mußte man hiervon abkommen. Sebastiani steht schon auf der Gränze. Seine Choräle sind freilich sämmtlich älteren [318] Ursprungs, aber die Art wie sie vorgetragen werden sollten, ist keine alt-choralmäßige mehr. Arienhaft wurde jetzt der ganze Choralgesang; die neuen Melodien, die in reicher Anzahl und hervorragender Schönheit in dieser Periode noch geschaffen wurden, waren Arien, und man nahm keinen Anstand auch Choräle wie Paul Gerhardts »Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld« mit der alten Melodie »An Wasserflüssen Babylon« ebenso zu nennen.26 Wie in Sebastianis Passion finden sich auch in den Kirchencantaten jener Zeit, z.B. denjenigen Buxtehudes, Choräle für eine Sopranstimme mit Instrumentalbegleitung, hier aber in einem Zusammenhange, der den Gedanken an eine Mitwirkung der Gemeinde völlig ausschließt. Daß dies immer mehr geschah, war naturgemäß, denn die Arie drückt Einzelempfindung aus. So sollen endlich in Seebachs unten genauer charakterisirter Passion gar die einzelnen dramatischen Personen Jesus, Johannes, die Mutter Gottes, die Braut Christi bald Recitative, bald Arien, bald Choräle singen. Unleugbar nimmt der Choral im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts einen beträchtlichen Raum innerhalb der Passionsmusiken ein. Das beweist aber nicht etwa eine innigere Theilnahme der Gemeinde an ihnen, nicht etwa eine entschiedenere Verschmelzung derselben mit dem Cultus. Im Gegentheil, es bezeugt eben so wie das Aufkommen der Arie selbst, welche dem Choral seinen breiten Platz in den Kirchenmusiken behaupten half, eine Verflüchtigung des lebendigen kirchlichen Gemeinsinnes. Weisen, in die man früher begeistert eingestimmt hatte, ließ man sich jetzt vorsingen und begnügte sich mit der blassen Nachempfindung. Es ist dieselbe Zeit, ad der protestantische Choral in der Orgelmusik sich die Heimath suchte, welche er im Gesange zu verlieren begann. Wo der Choral in diesen Passionen mehrstimmig gesetzt ist, zeigt er sich in der denkbarst einfachen Form. Wenn Eccard und Hassler Choräle »auf den contrapunctum simplicem« setzten und die Melodie in die Oberstimme legten, so war in den übrigen Stimmen doch immer noch ausdrucksvolle Bewegung und kräftige, originelle Harmoniebildung genug vorhanden. Jetzt begnügte man sich mit der schlichtesten Stimmführung und den nächstliegenden [319] Harmonien. Hierbei mag anfänglich noch die Nebenabsicht gewaltet haben, der Gemeinde das Mitsingen bequem zu machen. Aber wie wenig man bald hernach hieran noch dachte, beweisen die Partituren sowohl, wie die gedruckten Texte, indem die Choräle ebenso wie die Gesänge des jüdischen Volkes, der Jünger, der Hohenpriester ganz einfach mit Chorus bezeichnet werden. Für die Passionen galt in der Folge genau nur das, was für die Kirchencantaten galt; bei deren Chorälen fiel es keinem Componisten ein, auf die Mitwirkung der Gemeinde zu reflectiren, sie werden vielmehr immer in einem entschiedenen Gegensatze zum Gemeindegesang gedacht.27 Der Choral trat nun auch an Stelle der alten ankündigenden und danksagenden Worte, oder wenn man diese pietätvoll beibehielt, so gab es meistens einen Choral in den Kauf. Für die Danksagung wurde die letzte Strophe des Liedes »Jesu meines Lebens Leben« (»Nun wir danken dir von Herzen«) fast allgemein üblich. Zur Einleitung wurde nach freier Wahl irgend ein Passionslied benutzt. Die Instrumente verstärken den Gesang und wagen sich höchstens mit kleinen wenig sagenden Zwischenspielen hervor. Selten findet sich einmal eine Paraphrase eines Kirchenlieds mit freier Composition, so am Schlusse einer Matthäus-Passion von J.C. Rothe aus dem Jahre 1697.28 Die vollendeteste aller dieser im Stil der älteren Kirchencantate gehaltenen Passionen ist wohl die Kuhnausche nach dem Evangelisten Marcus. Sie entstand zum Charfreitag 1721 und kam demnach ungefähr zwanzig Jahre zu spät, wußte sich aber trotzdem noch den Beifall der Kenner zu erwerben (s. S. 166). Die 18 in ihr enthaltenen Arien sind für eine, zwei, drei und vier Stimmen gesetzt; sie haben sämmtlich den Zuschnitt des Strophenliedes und mit einer [320] Ausnahme Ritornelle. Diese eine Ausnahme bildet die vierstimmige Arie »O theures Blut, du dienst zum Leben«, an welcher die nahe Verwandtschaft der geistlichen Arie mit dem Choral, wie man ihn damals sang, recht evident wird: sie hat nichts, was sie zur Aufnahme unter die Gemeindelieder weniger geeignet erscheinen ließe, als z.B. das Lied »O Traurigkeit, o Herzeleid«. Außer den 18 Arien kommen 20 Choräle vor. Der letzte von ihnen ist der eben genannte »O Traurigkeit«; er gehört schon eigentlich nicht mehr zum Werke selbst, welches mit »Nun ich danke dir von Herzen« endigt. Kuhnau, der mit seiner Marcuspassion die Aufführungen von figuralen Passionen in Leipzig eröffnete, hatte offenbar die Absicht, sie in enge innere Verbindung mit den dortigen Cultusgebräuchen zu bringen, und im Charfreitags-Gottesdienst hatte ja das genannte Lied seinen bestimmten Platz (s. S. 103). Aus demselben Grunde hat er nach der auf die Worte »Aber Jesus schrie laut und verschied« folgenden Alt-Arie das Ecce quomodo von Gallus eingelegt – ein sinniger Einfall, den vor ihm niemand gehabt zu haben scheint; ich habe wenigstens diese Motette in keiner andern Passionsmusik verwendet gefunden.
Mit dem Jahre 1700 begann die Zeit, wo die theatralische Musik der Italiäner in immer breiterem Strome in die Kirchenräume eindrang. Unter dem Namen »theatralische Musik« verstehe ich hier das italiänische Oratorium mit, welches nunmehr außer durch die Stoffe und ein paar breitgewachsene Chöre sich von der Oper höchstens dadurch unterschied, daß bei ihm die Bühnenaufführung nicht zur stehenden Gewohnheit geworden war. Daß die Passionsgeschichte einen vortrefflichen Stoff für ein nach italiänischem Muster zugeschnittenes deutsches Oratorium abgeben müsse, lag natürlich auf der Hand. Alsbald machte sich denn Ch. F. Hunold ans Werk und dichtete den »blutigen und sterbenden Jesus«, worin nicht nur der recitirende Evangelist, sondern überhaupt das Bibelwort und selbst der Choral gänzlich ausgemerzt wurden um das ganze wie ein italiänisches Oratorium aus einem Gusse hinfließen zu lassen. Keiser setzte das Poem in Musik und in der Charwoche 1704 wurde es zu Hamburg aufgeführt. Man thut aber Unrecht, Hunold als Bahnbrecher in dieser neuen Richtung zu bezeichnen. Auch hier wurde auf die Passion nur einfach übertragen, was an der Kirchencantate zuvor mit gutem Erfolge erprobt war. Der intellectuelle Urheber [321] der neuen Form ist demnach nicht Hunold sondern Neumeister, welcher 1700 seinen ersten Jahrgang madrigalischer Cantatendichtungen herausgegeben hatte. Da Hunold ein großer Verehrer Neumeisters war und 1707 sogar dessen Collegium poeticum »Die allerneueste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen« eigenmächtiger Weise drucken ließ29, so kann kein Zweifel sein, daß er ihn hier einfach nachahmte. Neumeisters erster Jahrgang und auch noch der zweite, 1708 erschienene, lassen gleichfalls Bibelwort und Choral beiseite und bewegen sich gänzlich nur in freier Dichtung. Wir wissen, eine wie scharfe Verurtheilung dies Verfahren als eine Entweihung der Kirche von verschiedenen Seiten fand. Derselbe heftige Widerspruch richtete sich auch gegen die neue Art der Passionen, aber hier wie dort ohne nennenswerthen Erfolg. Es ist zwar richtig, daß neben den in italiänischer Oratorienform auftretenden fortdauernd auch viele Passionstexte componirt wurden, in denen der recitirende Evangelist und das Bibelwort sowie auch die Choräle beibehalten waren. Aber ein Zugeständniß an die Gegner der neuen Form dürfte dieses im allgemeinen kaum bedeuten. Unter den Poeten jener Zeit gab es doch nicht allzu viele, welche eine solche Aufgabe halbwegs genügend zu lösen vermochten. Der Drang nach neuen und aber neuen Passionscompositionen war ein sehr starker, und zum Theil wurde nur aus Bequemlichkeit in der älteren Form weiter componirt. Respect vor dem Bibelwort als etwas würdigerem und heiligem war es keinesfalls, was sich seiner gänzlichen Verdrängung hindernd entgegen stellte. Sonst hätte man für dasselbe im Einzelgesang das traditionelle Arioso beibehalten, wie solches in der Kirchencantate auch wirklich geschah. Niemand wird behaupten wollen, daß die durchaus weltliche, ja leichtfertige Art, wie die meisten Componisten von nun ab den Evangelisten die inhaltsschwere Leidensgeschichte recitativisch heruntersingen liessen, ein Gefühl für die Erhabenheit der biblischen Rede verrathe. Andererseits aber boten Bibelwort und Choral ganz unzweifelhafte rein musikalische Vortheile. Die Rücksicht auf sie hatte Neumeister bewogen im dritten und vierten Jahrgange seiner Cantaten wieder davon Gebrauch zu machen, und es [322] würde diese Mischung von Bibelwort, Choral und freier Dichtung nicht von nun ab unerschütterliche Norm geworden sein, hätten nicht die Musiker darin das Formideal ihrer Zeit erkannt. Im Grunde aber blieb einstweilen für einen jeden, der einen Passionstext verfertigte, wenn er als Dichter etwas bedeuten wollte, das italiänische Oratorium Vorbild. Postels Johannes-Passion, welche Händel componirte, steht noch auf dem Übergange, wie sie denn auch keinesfalls später als Hunolds Werk und wahrscheinlich ein oder zwei Jahre früher entstand.30 Ganz im italiänischen Fahrwasser segeln einige Jahre später Benjamin Neukirch und Johann Ulrich König. Neukirch hat in seinem »Weinenden Petrus« nicht eigentlich die Passionsgeschichte, sondern gleichsam nur den Reflex derselben behandelt. Petrus und Judas Ischarioth haben sich beide an Christo versündigt. Gewissensqualen foltern sie: Judas wird durch sie zum Selbstmorde getrieben. Auch den Petrus wollen Belial und die Höllengeister mit Verzweiflung umgarnen, aber der tröstende Zuspruch des Johannes und der Maria Magdalena und ihr Hinweis auf Gottes unendliche Liebe giebt ihm endlich neuen Muth zu leiden, zu streiten und zu siegen. Der »Weinende Petrus« ist eigentlich nichts als eine geistliche Oper. Er zerfällt sogar in drei Acte (»Abhandlungen«) wie die Opern, während die Oratorien nur zwei Abtheilungen zu haben pflegten; jeder Act hat wieder verschiedene Auftritte. Auf scenische Eindrücke ist überall gerechnet, so heißt es z.B. gleich am Anfange: »Petrus gehet auf einem öden Platze in betrübten Gedanken, und endlich fängt er an«, oder am Schlusse des ersten Actes: »Petrus gehet betrübt auf einer Seite, und Judas voll Verzweiflung auf der andern ab.« Außer den genannten treten noch folgende Personen auf: der Jünger Philippus, Zion, Belial und die allegorischen Personen Verzweiflung und Glaube. Der erste Act schließt mit einem Chor der Jünger, der zweite mit einem Chor der höllischen Geister, der dritte mit einem Chor der Engel und Frommen. Sonst enthält das Werk Recitative, Arien und ein Duett. Choräle fehlen, alles ist freie Dichtung. Von wem dieser Text componirt wurde und ob überhaupt, weiß ich nicht; auf dem Titel steht [323] »zur Passions-Andacht«.31 Ulrich nannte seine Dichtung gradezu Oratorium und schmückte sie außerdem durch die Bezeichnung »Thränen unter dem Kreuze Jesu«. Wir erfahren, daß dieser Text von Keiser componirt und 1711 »Montags, Dienstags und Mittwochs zur Vesper-Zeit in der stillen Woche musikalisch aufgeführt« wurde. Den Inhalt bildet die wirkliche Passionsgeschichte. Es finden sich Choräle eingemischt, zum Theil sind auch die Worte der biblischen Erzählung beibehalten, freilich in einer merkwürdigen Verwendung. Sie stehen als scenische Notizen zwischen den Gesangstexten. Nach einer Arie der Maria Cleophas ist beispielsweise in Klammern bemerkt: »Die aber vorübergingen, lästerten ihn«, worauf Maria recitativisch fortfährt um den gedruckten Text ihrer Worte bald in ähnlicher Weise unterbrechen zu lassen:
Doch, Himmel, kann es möglich sein
Soll auch dem Abschaum ärgster Erden
Mein Jesus ein Gespötte werden?
(Und der Übelthäter einer lästert ihn)
Ein Übelthäter selbst fängt an,
Und lästert den, so nichts gethan.
(Da antwortet ihm der andre.)
u.s.w.
Die Bemerkungen waren für diejenigen bestimmt, welche während der Aufführung im Textbuche nachlasen und sollten die fehlende Bühnenaction ergänzen; diesen untergeordneten Dienst zu leisten hielt König das Bibelwort für gut genug.32 Er fand Nachfolger.[324] Im Jahre 1719 gab Joachim Beccau eine Passionsdichtung nach den vier Evangelisten heraus, in welcher alle Vorgänge in dieser Weise zwischengedruckt sind. Es heißt da z.B.:
Judas zu den Schaaren.
Der, den ich werde küssen,
Der ist's, den könnt ihr in Fesseln schließen.
Jesus.
Wen suchet ihr?
Die Schaar.
Den, der sich Jesum nennet.
Jesus.
Ich bins. (und sie fielen zu Boden.)
Oder:
(Simon Petrus aber stund und wärmete sich etc.)
Erste Magd.
Bist du nicht von der Schaar,
Die Jesum Herr und Meister nennen?
Petrus.
Wie sollt ich diesen Menschen kennen?
Auch bei Beccau ist, wie aus obigem schon hervor geht, alles dramatisirt. Petrus, Jesus, Maria, Judas singen Arien; dazwischen bewegter Dialog mit Chören aller Art; außerdem lyrisch betrachtende Gesänge der Sulamith, die oft aber auch lebhaft in die Handlung und zwischen die Äußerungen der andern hineinspricht. Das Stück beginnt mit einer Canzonetta der Jünger auf das Abendmahl und schließt mit einem Choral der Gläubigen »O hilf Christe, Gottes Sohn.«33 In der Hauptsache übereinstimmend ist das Passionsoratorium von Johann Georg Seebach, dem Schwiegersohne Erlebachs, eingerichtet; es erschien 1714.34 Die Reden der handelnden Personen sind Umdichtungen des evangelischen Textes, die Erzählung ist zum Theil wie bei Ulrich und Beccau als scenische Notiz beigegeben, zum Theil wird sie als bekannt vorausgesetzt. Außerdem aber singen die Personen auch frei erfundene Arien und – als ob das ganz gleich wäre – Choräle, deren eine große Anzahl sich eingestreut findet. Die Handlung knüpft an die Einsetzung des Abendmahls an; mit einem arienhaften Lobgesang der Jünger auf dasselbe beginnt das Oratorium, wie bei Beccau.
[325] Unverkennbar standen übrigens Beccau und Seebach unter dem Einflusse einer älteren Dichtung, die hier mit Absicht zuletzt genannt wird. 1712 verfertigte der Hamburger Rathsherr Barthold Heinrich Brockes »Den für die Sünden der Welt gemarterten und sterbenden Jesus, aus den vier Evangelisten in gebundener Rede vorgestellt«, eine Musterdichtung nach dem Urtheile der damaligen Zeit. Keiser setzte sie zuerst in Musik und führte sie sowohl 1712 als 1713 in der Charwoche auf. Ihm folgten Telemann und Händel (1716), Mattheson (1718); auch von Stölzel ist eine bemerkenswerthe Composition des bewunderten Gedichtes vorhanden35, endlich blieb ihr, wie wir gleich sehen werden, sogar Seb. Bach nicht fern. Was Brockes als Dichter zu leisten vermochte, hat er später durch sein »Irdisches Vergnügen in Gott« gezeigt. Der Passionsdichtung ist geschickte Anordnung und musikalisches Wesen nicht abzusprechen. Die mit grellen Bildern überladene schwülstige Sprache aber, durch welche er den erhabenen Gegenstand sinnlich erniedrigte, machen das Gedicht ungenießbar, so sehr auch grade der letztere Umstand die Zeitgenossen entzückte. Es ist längst in seinem wahren Werthe gewürdigt36 und ich kann mich auf diese wenigen Worte beschränken. Brockes bekannte sich zu der freien oratorienhafte Gestaltung des Stoffes, wie sie seit einigen Jahren beliebt geworden war, wollte aber, vielleicht durch die Gegner eingeschüchtert, mit der alten Sitte nicht vollständig brechen. So ließ er den recitirenden Evangelisten bestehen, legte ihm aber eine Umdichtung der Bibelworte in den Mund – ein vermittelndes Verfahren, das keiner von beiden Parteien genügen konnte. Eine einzige, unten zu erwähnende Ausnahme abgerechnet, fand er meines Wissens keinen Nachahmer. Die Bewunderung, welche man der Dichtung zollte, gründete sich auf andre Eigenschaften derselben. Mehrfach kam es vor, daß eine Auswahl aus den Arientexten in biblische Passionen eingefügt wurden: eine Marcus-Passion Telemanns, welche vor 1729 componirt wurde, enthält neben den Worten des Evangeliums, einer Anzahl [326] von Chorälen und einigen Arien eines unbekannten Dichters sieben daher genommene Texte37.
Die deutsche Passion war durch die Einwirkung des italiänischen Oratoriums zu einem sonderbaren Amalgam verschiedenartigster Bestandtheile geworden. Neben dem neuesten stand das älteste, neben dem reich entwickelten das einfache, neben dem weltlichen das kirchliche. Die Möglichkeit mit den gesammten Mitteln hochgesteigerter Kunst zu wirken, die Empfindung von den entgegengesetztesten Seiten aufzurühren, war gegeben. Aber unter einem höheren Gesichtspunkte diese elementare Masse zu ordnen und zu einigen hatte noch niemand vermocht. Selbst Händel nicht, und indem er später das beste aus seiner Passionsmusik für andre Werke benutzte, zeigte er, daß er sich dessen bewußt war. Die verlegenste Rolle spielte der Choral. Seine poetisch-musikalische Brauchbarkeit unterschätzte man nicht. Sehr treffend sagt Seebach in der Vorrede seines Passionsoratoriums: »ein bekanntes geistreiches Lied hat in Wahrheit keine geringe Wirkung. Es macht einen recht lebendig, und erquicket den verborgenen Menschen des Herzens als ein stärckender Balsam. Da holet unser Glaube gleichsam einmal Athem, die Liebe wird brünstig, und unsere Hoffnung geräth in eine heilige Verwunderung über Gottes Herrlichkeit, Gnade, Erbarmung, Langmuth und Freundlichkeit. Ja, wofern der Choral mit des Poeten seinen Gedanken wohl zusammenhänget, so zwingen oft wohlgesetzte Oratorien und Cantaten Thränen und Seufzer aus dem Herzen eines Kindes Gottes, vornehmlich wenn die Musik den Worten der Poesie ein rechtes Gewicht machet«. Aber eben dieses letztere, die musikalische Behandlung war es, was den Componisten nicht gelingen wollte. Sie hatten den Choral aus der vor 1700 entstandenen Passionsform überkommen. Die schlichte Art, in welcher er dort auftrat, war dem Wesen der ihn umgebenden Musikstücke angemessen. Zu dem bunten und leidenschaftlichen Charakter der neuen Passionsform paßte sie nicht mehr. Weil aber die Tonsetzer aus dem Choral nichts zu machen verstanden, mußten sie ihn wohl lassen, wie sie ihn vorgefunden hatten. Stillestand ist Rückgang und man erschrickt förmlich[327] über das immer liederlichere Gewand, welches die edle Gestalt des Chorals in ihren Werken zu tragen gezwungen wird. Verkümmerte so das kirchliche Element, welches trotz allem in der neuern Passionsform noch vorhanden war, so ging es mit ihren oratorienhaften Bestandtheilen nicht besser. Wenn Scheibe die Kuhnausche Marcus-Passion, die ganz und gar noch in einer älteren und andersgearteten Periode wurzelt, ein Oratorium nennt, so zeigt dieses, daß kaum ein Schatten der Vorstellung von dem, worauf es beim Oratorium allein ankommen kann, bei ihm vorhanden war. Und doch gehörte er immer noch zu den einsichtsvollsten. Der Menge ging der Begriff des Oratorienhaften alsbald so vollständig verloren, daß sie zum Theil nicht einmal den Namen der Kunstform mehr verstanden. Der Graf Heinrich XII. von Reuß richtete zu Schleitz eine Kirchenmusik ein, in welcher allsonntäglich erst ein Choral gesungen, dann das Evangelium (wahrscheinlich im Collectenton) verlesen, dann eine Arie vorgetragen und endlich wieder mit einem Choral abgeschlossen wurde. Die Sammlung der zu diesem Zwecke gedruckten Texte nannte er Oratorium38. Gottfried Behrndt gab 1731 eine Sammlung von geistlichen Dichtungen heraus, die aber theilweise schon viel früher verfaßt waren, »sogenannte Oratorien« wie es auf dem Titel heißt. Diese »sogenannten Oratorien« sind ganz einfache Kirchencantaten in Neumeisters Art. Die Einheitsform bildet Behrndt nicht Oratorium oder italiänisch Oratorio, sondern Oratorie; er bringt also das Wort mit orator, dem Redner oder Prediger, in Zusammenhang.39[328] Die Passion mußte demnach mit Nothwendigkeit in die religiöse Cantate auslaufen, wenngleich sie einige äußerliche Gemeinsamkeiten mit der älteren, echteren Form noch längere Weile festhielt. »Der Tod Jesu« von Ramler und Graun, ein Werk welches, 1756 geschrieben, für die protestantischen Charfreitagsmusiken der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schlechthin maßgebend wurde, ist eine solche Cantate. Die Choräle in ihr, unverstandene Zeichen einer früheren Zeit, können wohl noch erbaulich anregen, kirchliche Bedeutung haben sie nicht mehr. 1759 führte Doles in der Thomaskirche zu Leipzig eine frei nach Ramler gearbeitete Passion auf; ich vermuthe sogar, daß einige Stücke der Graunschen Musik leibhaftig in derselben vorgekommen sind.40 1766 wurden die uralten Choralpassionen in Leipzig für immer eingestellt, und mit Recht. Wo Grauns Kunst zu herrschen anfing, mußte das Verständniß für sie bis auf die letzte Spur geschwunden sein.
In der altkirchlichen Passionsform steckte von ihrem Anbeginn ein entwicklungsfähiger dramatischer Keim. Im Mittelalter entstanden aus ihr die Passionsschauspiele, ohne daß darum sie selbst in ihrer Einfachheit zu existiren aufgehört hätte. Die Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen, und zwar nicht nur die der Passionsgeschichte, überdauerten den Verfall, welchen die sogenannten Mysterien vom 16. Jahrhundert an zu erleben hatten, und haben das ihrige beigetragen, diese soweit es unter gänzlich veränderten Verhältnissen möglich war, zu einer zweiten Blüthe zu bringen. Daß der dramatisch-musikalische Stil der Italiäner des 17. Jahrhunderts nicht außer Zusammenhang mit ihnen blieb, macht der lateinische Text der Oratorien Carissimis und mehr noch der in denselben auftretende Historicus klar. Was im 17. Jahrhundert in Deutschland ähnliches versucht wurde, braucht in dieser Beziehung nicht als Nachahmung der Italiäner angesehen zu werden. Bekanntlich wurden die italiänischen Oratorien nicht selten scenisch aufgeführt. Lange aber bevor es überhaupt ein italiänisches Oratorium gab, existirten in Deutschland Aufführungen der Passion mit Action in der [329] Kirche. Ich meine natürlich nicht die mittelalterlichen Passionsschauspiele, welche anfänglich auch einen liturgischen Zweck hatten und in der Kirche dargestellt wurden, bis sie sich als selbständige Kunstorganismen aus derselben loslösten und nun freilich rasch verweltlichten und ausarteten, sondern die einfachen Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen. Daß dramatische Aufführungen derselben nach der Reformation in protestantischen Gegenden stattgefunden haben, ist eine erst vor kurzem bekannt gewordene Thatsache. Zu Zittau ereignete sich auf Sonntag Judica 1571 eine solche Aufführung. Die Composition war von einem gewissen Paurbach und existirte schon längere Zeit; bereits zehn Jahre zuvor hatte Christoph Bornmann, Weinschenk im Freiberger Keller zu Dresden, sie der Johanneskirche zu Zittau zum Geschenk gemacht. Unweit des Altars war eine Bühne errichtet, als agirende Personen traten die drei untersten Schulcollegen und zwei Discantisten auf.41 Es wird nicht gesagt, ob die Aufführung während des Gottesdienstes oder nach demselben vor sich ging. Hierauf kommt aber nicht viel an. Die Wichtigkeit der Sache beruht darin, daß offenbar die Empfindung für den Zusammenhang der alten dramatisirten Evangelienlectionen mit den Passionsschauspielen noch fortbestand. Denn nur wenn man dieses voraussetzt, wird ein solches Unterfangen erklärlich. Weil die geistlichen Volksschauspiele des 16. und 17. Jahrhunderts für die Entwicklung der dramatischen Kunst in Deutschland von nur geringer Bedeutung sind, hat man ihnen mit Ausnahme des Oberammergauer Passionsspieles keine sonderliche Aufmerksamkeit geschenkt. Für das volle Verständniß der deutschen Passionsmusiken und verwandten Kunstformen ist ihre Berücksichtigung aber doch unerläßlich, ebenso wie auch die Anfänge der deutschen Oper in eine gewisse Beziehung zu ihnen unzweifelhaft gebracht werden müssen.42 In Thüringen, Obersachsen, Schlesien waren während des 17. Jahrhunderts die geistlichen Volksschauspiele, wenn ihr Gedeihen auch durch das Schuldrama eingeengt wurde, doch noch allgemein [330] beliebt. Man respectirte sie nicht nur als ehrwürdige Antiquitäten und ließ sie als solche fortbestehen, sondern bildete sie auch jetzt noch den Zeitbedürfnissen gemäß weiter. Eine Christ-Comödie aus Thüringen (Arnstadt), die mir in einer um 1700 gefertigten Handschrift vorliegt, trägt zwar die den meisten volksthümlichen Weihnachtspielen gemeinsamen Grundzüge, verräth sich aber in Sprache, Versbau und Musik als eine neue Bearbeitung allbekannter Motive, welche kaum viel früher als 1700 stattgefunden haben kann, und die doch ihre volksthümliche Haltung auf das deutlichste dadurch zu erkennen giebt, daß zwei Bauern und zwei Hirten darin im thüringischen Dialect reden.43 Ebenso liegt in dem Zuckmantler Passionsspiel eine dem 17. Jahrhundert gehörige Überarbeitung eines älteren Werkes vor; außer an der Sprache sieht man dieses aufs deutlichste auch an der Musik: sieben Arien, welche sich ganz in den um die Mitte des Jahrhunderts gebräuchlichen Ausdrucksformen bewegen.44 Was die Passionsmusiken und verwandten Kunstformen zur Zeit ihrer höchsten Blüthe aus den gleichzeitigen geistlichen Volksschauspielen sich aneigneten waren freilich weniger die speciell dramatischen Elemente, als gewisse allgemeine volksthümliche Anschauungen. Zur Entwicklung einer neuen dramatischen Poesie war eine Zeit ungeeignet, in welcher der rein musikalische Productionsdrang alle andern Kunstbestrebungen überfluthete und niederhielt; was von Keimen einer solchen vorhanden war, konnte einstweilen nur in Händels Oratorien und Bachs Kirchenmusiken zu Kunstformen von höchster Schönheit aufgehen, mußte sich also den Ausschluß scenischer Darstellung und eine starke Verallgemeinerung ins Lyrische gefallen lassen. Aber das Verhältniß, in welchem die Mysterien des Mittelalters zum Volksleben standen, ist, wenn man die inzwischen in den Künsten erfolgten Veränderungen und Fortschritte berücksichtigt, im allgemeinen ziemlich gleich mit demjenigen, welches zwischen dem Volksleben und den Passionsmusiken im 17. und 18. Jahrhunderte herrschte. Hier wie dort der[331] offenliegende Zusammenhang mit der Kirche; als hauptsächliche, beziehungsweise alleinige Quelle für den poetischen Stoff das Leben Christi; die Aufführungen nur an bestimmten Kirchenfesten. Hier wie dort zu den liturgischen, streng kirchlichen Bestandtheilen stärkere und stärkere Beimischungen von weltlichen Elementen: wie in den Mysterien erst nur deutsche Erläuterungen neben dem lateinischen Bibel- und Kirchenwort, dann aber mehr und mehr selbständige Dichtung und endlich vollständige Erstickung des Kirchlichen und Verweltlichung zu bemerken ist, so stellt sich in den Passionsmusiken neben die Evangeliums-Worte zuerst gleichsam erläuternd das Gemeindelied, sodann als erste freikünstlerische Zuthat die geistliche Arie, darauf immer mehre und immer reichere Formen moderner Kunst, bis die kirchlichen Elemente nur noch als störend empfunden und möglichst beseitigt werden. Aber dadurch unterscheidet sich der jüngere Entwicklungsgang von dem älteren, daß sich jetzt eine Persönlichkeit fand, die es verstand im richtigen Augenblicke Kirchliches und Weltliches auf einen gemeinsamen Ausdruck zu bringen, die das Kirchliche in seiner vollen Macht wieder zur Geltung brachte, ohne deshalb die Fülle, den Glanz und den Reichthum des Weltlichen irgendwie zu beeinträchtigen. Wenn oben gesagt wurde, daß vom 17. Jahrhundert an die Entwicklung der deutschen Passionen der Entwicklung der protestantischen Kirchenmusik parallel gegangen ist, so gilt dies auch für Bach. Der musikalische Stil seiner Passionsmusiken ist kein anderer, als der seiner Kirchencantaten. Dieser aber war ein neuer, aus der Orgelkunst und dem Choral hervorgegangener, daher wahrhaft kirchlicher, in welchem zugleich sämmtliche damalige Musikformen ihre Läuterung und Erneuerung gefunden hatten. Indem er ihn auf die Passion übertrug, vollzog er die Einigung und natürliche Verschmelzung all der disparaten Elemente, welche mit der Zeit unter diesem Titel zusammengeschüttet waren. Der Stil war zugleich im eminenten Sinne ein deutscher, denn wenn irgend etwas, so war die Orgelmusik des 17. und 18. Jahrhunderts und das protestantisch-geistliche Volkslied ein nationales Erzeugniß. So steht es denn im innigen leicht verständlichen Zusammenhange, wenn Einwirkungen der deutschen geistlichen Schauspiele auf die Passionsmusiken und verwandten Formen eigentlich auch nur bei Bach deutlich hervortreten. Je mehr seine Zeitgenossen der italiänischen Oper und [332] dem italiänischen Oratorium nachgingen, desto fremder mußte ihnen das Volksthümliche werden. Bach verschloß sich keineswegs den Anregungen ausländischer Kunst, aber er ließ sich von ihnen nicht bemeistern. Wovon er überall ausging, was ihn überall leitetete waren speciell deutsche Kunstanschauungen. Daß diese eine so unbesiegbare Macht über ihn besaßen, ist eine unverkennbare Folge seiner altkünstlerischen Herkunft, und hier tritt es wieder einmal zu Tage, welch eine durchgreifende Bedeutung für das Verständniß seiner künstlerischen Persönlichkeit die richtige Würdigung seiner Vorfahren hat. Nur wer sich auf eine mehr als hundertjährige im unausgesetzten, ausschließlichen Verkehr mit dem Leben des Volkes gegründete und gefestigte Tradition stützen konnte und sich daher mit dem Empfinden, Thun und Denken des Volkes auf das innigste verwachsen fühlen mußte, konnte in der Zeit allgemeiner Verwälschung und an einer so gänzlich haltlos gewordenen Kunstform, wie der deutschen Passion, am Beginn des 18. Jahrhunderts den deutschen Geist wieder zu Ehren und zur Herrschaft bringen. Bachs Passionen und übrige gleichgestaltete Werke sind eine Erneuerung der mittelalterlichen geistlichen Schauspiele aus deren bester Periode auf einer unvergleichlich höheren Kunststufe, man könnte auch sagen, sie seien die endliche Vollendung derselben. Wie sie sich in den Anschauungen der Volksschauspiele bewegen, wird hernach im einzelnen aufgezeigt werden. Ihnen den Namen Oratorium zu geben hat Bach sich bei den Passionen wenigstens gehütet. Seine für Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt bestimmten derartigen Werke haben allerdings diese Bezeichnung erhalten: es war eben damals keine andre und treffendere im Gebrauch. Ich werde mir im folgenden erlauben, für die Passionen Bachs sowie für sein Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrts – Oratorium die zusammenfassende Benennung »Mysterien« wieder in Anwendung zu bringen.
Nach der Angabe des Mizlerschen Nekrologs45 hat Bach fünf Passionsmusiken hinterlassen. Wir dürfen diese aus bester Quelle stammende Nachricht um so weniger bezweifeln, als die Zahl mit derjenigen der Cantaten-Jahrgänge (s. S. 179) stimmt. Die Jahrgänge vertheilten nach des Vater Tode Friedemänn und Emanuel [333] Bach unter sich46 und werden die Passionen in sie einbegriffen haben. Emanuel besaß die Originalpartituren der Matthäus- und Johannes-Passion. Er hütete sie treulich, und sie existiren heute noch. Die Originalmanuscripte der andern drei kamen demnach in die Hände des zerfahrenen, mehr und mehr verwildernden Friedemann. Sie wurden verschleudert und zwei derselben sind gänzlich verloren gegangen. Eine Lucas-Passion, welche in Bachs Handschrift erhalten ist, könnte die dritte sein. Ob aber diese wirklich eine Bachsche Composition sei, war eine bisher ungelöste Frage. Ich hoffe sie ihrer Lösung um ein Theil näher bringen zu können, habe jedoch zuvor einiges über die beiden verloren gegangenen Passionen zu sagen.
Am Charfreitage 1731 wurde in der Thomaskirche eine Passionsmusik nach dem Evangelisten Marcus aufgeführt; Picander, welcher zum Jahre 1729 für Bach die Matthäuspassion gedichtet hatte, war der Verfertiger auch dieses Textes gewesen.47 Er zerfällt in zwei Theile, von denen der erste vor, der andre nach der Predigt gesungen werden sollte. Außer der das 14. und 15. Capitel des Evangeliums umfassenden recitativischen Erzählung, in welcher zwölf dramatische Chöre eingeschlossen sind, enthält die Dichtung einen lyrischen Anfangs- und Schlußchor, sechs Arien und sechzehn Choräle. Daß, wenn Picander einen Passionstext für die Thomaskirche dichtete, wenn derselbe gedruckt und auch wirklich zur Musik benutzt wurde, nur Bach die Musik dazu gesetzt haben kann, ist bei Bachs amtlicher Stellung und seinem Verhältniß zu Picander nahezu selbstverständlich. Zur Gewißheit erhoben wird die Sache durch die Übereinstimmung, welche zwischen dem Text des Einleitungs- und Schlußchores, sowie der zweiten, ersten und vierten Arie, und den entsprechenden Chören und den drei Arien der Trauerode auf die Königin Christiane Eberhardine (1727) besteht. Wenngleich der Gedankeninhalt dort ein andrer ist, so herrscht doch hinsichtlich des metrischen Baues eine Gleichmäßigkeit, die es unzweifelhaft [334] macht, daß Picander seine Texte der bereits vorhandenen Bachschen Musik anpaßte. Ganz besonders augenfällig tritt dieses hervor bei den drei letzten Zeilen des Schlußchors.48 Picander hat hier seine zu ähnlichen Zwecken häufig in Ansprüche genommene Gewandtheit in löblichster Weise bethätigt. Völlig verloren gegangen ist demnach die Marcuspassion wenigstens nach ihrem musikalischen Inhalte nicht. Fünf lyrische Stücke derselben sind in und mit der Trauerode erhalten, ein dürftiger Ersatz freilich für das ganze an Recitativen, dramatischen Chören und Chorälen reiche Werk.
Außerdem besteht aber noch eine dritte bisher unbekannte Passion Picanders, der Zeitfolge nach die erste, da sie zum Charfreitag 1725 gedichtet wurde.49 Ihr galt eine oben gemachte Bemerkung: sie ist ganz nach dem Brockesschen Vorbilde zugeschnitten und hierin steht Picander meines Wissens allein da. Das erzählende Bibelwort ist in madrigalische Form gebracht und soll von dem Evangelisten recitirt werden. Als biblische Personen werden dramatisch eingeführt Johannes, Petrus, Jesus, Maria. Doch nur Petrus hat eine etwas größere Partie; Jesus ist verhältnißmäßig am kärglichsten bedacht, von all den wichtigen und ergreifenden Momenten, in denen ihn die evangelische Erzählung darstellt, ist kaum einer würdig ausgenutzt. Auch der gereimte Bericht des Evangelisten geht über die bedeutendsten Vorgänge mit unbegreiflicher Oberflächlichkeit hinweg, und hat z.B. für die Ereignisse zwischen dem Eingreifen des Petrus am Ölberg und seiner Verleugnung im Hofe des Hohenpriesters nur die nichtssagenden Zeilen »Und Jesus ging gelassen fort Und kam zum Hohenpriester Caipha«. Dramatische Chöre fehlen ganz, dagegen nehmen die lyrischen Betrachtungen der Allegorien Zion und Seele einen breiten Raum ein. Choräle sind nur [335] zwei darin, also weniger noch als in Brockes' Dichtung, der zweite ist von Picander selbst gedichtet und flach genug, geschickt eingefügt sind beide nicht. Das Ganze nennt er Oratorium. Der Vergleich mit seinem Vorbilde fällt sehr zu Ungunsten Picanders aus. Bei Brockes muß man anerkennen, daß alle musikalischen Momente geschickt hervorgehoben und die einzelnen Vorgänge zu lebendigen, wenn auch oft mit beleidigend crassen Farben gemalten Bildern gestaltet sind. Die matte lyrische Einförmigkeit von Picanders Dichtung steht schon der religiösen Passions-Cantate späterer Zeiten sehr nahe. Merkenswerth, allerdings in einer ganz andern Beziehung, sind die mannigfachen Anklänge an den Text der Matthäuspassion; die Worte des Schlußchores stimmen in beiden fast ganz überein. Hat Bach diesen Text componirt? Eine sichere Antwort läßt sich nicht geben, aber unwahrscheinlich ist es nicht, sobald man annimmt, daß er überhaupt bestimmt war in Musik gesetzt zu werden. Die Leipziger Tonkünstler jener Zeit, welche dies hätten thun können, waren Görner, Schott und Bach. Von ihnen kann Görner nicht in Frage kommen, da er erst von 1728 an Charfreitags-Aufführungen veranstaltete (s. S. 105). Zu Schott hat, soviel man weiß, Picander niemals in Beziehung gestanden. Für Bach aber dichtete er nachweislich schon in dem Jahre, als er obige Passionsmusik verfaßte. Zudem wolle man folgenden merkwürdigen Umstand beachten. Bachs Johannespassion ist wahrscheinlich in den letzten Monaten der Cöthener Periode entworfen und jedenfalls zum Charfreitag 1724 zuerst aufgeführt, wie hernach ausführlicher nachgewiesen werden soll. Sie begann ursprünglich mit jenem großartigen Choralchor »O Mensch, bewein dein Sünde groß«, den Bach später an den Schluß des ersten Theiles der Matthäuspassion stellte, als er dieselbe einer Überarbeitung unterzog. Diese fand nach dem Jahre 1740 statt. Man hat bisher, soweit überhaupt von den verschiedenfachen Verwendungen jenes Chors Notiz genommen wurde, geglaubt, er sei direct aus der Johannespassion in die Matthäuspassion übertragen. Eine genaue Untersuchung des handschriftlichen Materials lehrt, daß dem nicht so ist. Vielmehr hat Bach schon um 1727 die Johannespassion mit ihrem jetzigen Einleitungschore aufgeführt und den Choralchor »O Mensch, bewein« schon vor diesem Jahre aus derselben entfernt, zu einer Zeit also, da an die Matthäuspassion (1729)[336] noch garnicht gedacht wurde. Sicherlich ersetzte er den Choralchor, welcher zu seinen größten künstlerischen Leistungen gehört, nicht deshalb durch einen andern, weil er ihm ungeeignet erschien, sondern weil er ihn für einen andern Zweck in Ansprach genommen hatte. Der Choral »O Mensch bewein« ist ein Passionslied und kann nur in der Passionszeit kirchlichen Gebrauch gefunden haben.50 Die einzige concertirende Kirchenmusik aber, die zur Leidenszeit aufgeführt wurde, war die Passionsmusik in der Charfreitags-Vesper. Der Choralchor muß also nothwendig in einer solchen seine Stelle gefunden, und folglich Bach zwischen den Jahren 1724 und 1727 noch eine Passion geschrieben haben, in welcher dies geschehen konnte. Dieses Ergebniß paßt auf die älteste Picandersche Passionsdichtung, welche wie gesagt 1725 entstand. Es ist sehr wohl denkbar, daß Bach, durch den geringen kirchlichen Gehalt der Dichtung unbefriedigt, ihr ein stilvolleres Gepräge geben wollte, indem er sie durch ein solches Meisterwerk der Choralkunst einleitete. Er kann in dem Falle den Picanderschen Chortext »Sammelt euch, getreue Seelen« einfach beseitigt haben, doch war es bei Passionsmusiken nicht ungebräuchlich, am Anfange dem Choral noch eine Composition auf madrigalischen Text folgen zu lassen, ebenso wie dem Schlußchoral nicht selten noch ein Grabgesang als Chor-Arie vorausging. Daß die poetische Form dieser Passion von derjenigen der übrigen Bachschen abweicht, darf ebenfalls kein Bedenken erregen. Sicher war die Brockessche Form mit der Umdichtung und Modernisirung des Bibelworts nicht Bachs Ideal; daß er sich trotzdem zu ihr herablassen konnte beweist sein Oster-Oratorium. Erinnern wir uns dazu, daß er grade in den ersten Leipziger Jahren seinem Publicum zu Gefallen sich der Hamburger Richtung hier und da anbequemte, so vereinigt sich mancherlei um es wahrscheinlich zu machen, daß Bach den Picanderschen Text von 1725 mit seiner Musik versah, und wir in ihr eine der verloren gegangenen Passionen zu bezeichnen haben.
Wenn ich den Fortgang der Darstellung hier ausnahmsweise durch kritische Untersuchungen unterbrochen habe, so durfte es in der Voraussetzung geschehen, daß der Frage über die Anzahl der [337] Bachschen Passionen, ihre Entstehungszeit und Schicksale ein eingehenderes Interesse sicher ist. Vier Passionen sind mit größerer oder geringerer Sicherheit nachgewiesen. Als fünfte ist die oben erwähnte Lucas-Passion übrig, an deren Echtheit bisher gezweifelt worden ist. Ich darf auch diese Frage hier ausführlicher erörtern. Wie gesagt ist Bachs Autograph der Lucas-Passion vorhanden.51 Es trägt nicht den ausdrücklichen Vermerk, daß es seine eigne Composition sei, dagegen aber in der Überschrift die Buchstaben J.J. [Jesu Juva], welche Bach nur bei eignen Compositionen, nicht bei Abschriften fremder Werke hinzusetzen pflegt. Außerdem wird in einem Verzeichniß geschriebener Musicalien, welches Immanuel Breitkopf zu Michaelis 1761 drucken ließ, auf S. 25 angeführt: Bach, J.S. Capellmeisters und Musicdirectors in Leipzig, Paßion unsers Herrn Jesu Christi, nach dem Evangelisten Lucas, »à 2 Traversi, 2 Oboi, Taille, Bassono, 2 Violini, Viola, 5 Voci ed Organo.« Die Angabe der Instrumente stimmt genau auf die vorliegende Passion, die der Singstimmen nicht – es sind deren durchgängig nur vier –, wer aber die mancherlei Druckfehler des Breitkopfschen Verzeichnisses bemerkt hat52, wird keinen Anstand nehmen auch in obiger 5 einen solchen zu erkennen. Auf diese Dinge kann sich ein Zweifel an der Echtheit des Werkes nicht wohl gründen. Befremden dagegen erregt die Musik selbst, deren in sehr einfachen Formen zu Tage tretender Ausdruck zwar weich und gefühlvoll, aber von der Kraft, Innigkeit und dem großartigen Ernst der Johannes- und Matthäus-Passion weit entfernt ist. Wer von diesen aus urtheilt, wird immer geneigt sein die Lucas-Passion für unecht zu halten. Wir haben aber eine Reihe von Kirchencompositionen aus Bachs Jugendzeit kennen gelernt, und mit diesen verglichen erscheint die Lucas-Passion in einem andern Licht. Wenngleich die erhaltene Partitur derselben unzweifelhaft in Leipzig geschrieben ist, so zwingt doch nichts zu der Annahme, daß Bach sie auch in Leipzig componirt haben müsse. Schon in Weimar, wo er ja als [338] Cantatencomponist eine nicht unbeträchtliche Thätigkeit entfaltete, hat er sich eifrig auch mit der Gattung der Passionsmusiken beschäftigt. Von einer Marcus-Passion Keisers »Jesus Christus ist um unsrer Missethat willen verwundet« schrieb er in Weimar eigenhändig die Stimmen aus und muß sie demnach auch dort zur Aufführung gebracht haben.53 In die erste Hälfte der weimarischen Periode müßte man die Lucas-Passion unbedingt verlegen. Erscheint sie auch so den Cantaten »Nach dir Herr verlanget mich«, »Aus der Tiefe rufe ich«, »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« noch in mancher Hinsicht nachstehend, so muß man bedenken, daß Bach in diesem seinem frühsten derartigen Werke naturgemäß sich enger noch an die Passionsmusiken jener Zeit anschließen mußte, während er auf dem Gebiete der Cantate sich schon freier bewegte. Richtig würdigen kann man die Lucaspassion nur dann, wenn man sie zwischen jene und seine früheren weimarischen Cantaten gewissermaßen in die Mitte stellt. Dann wird man sowohl ihre Schwächen erklärlich finden, als auch für die hervorragenden Seiten das Verständniß sich erschließen sehen.
Was den Text betrifft, so trägt er die frühe Zeit seiner Entstehung an der Stirn geschrieben. Die freie lyrische Dichtung darin beschränkt sich auf acht Nummern: zwei Arien für Sopran, eine für Alt, drei für Tenor, einen betrachtenden Einleitungschor und einen Chor der Weiber, welche Jesu zur Kreuzigung nachfolgen. Die Erzählung des Evangeliums (Luc. Cap. 22 und 23, v. 1–53) ist vollständig benutzt, Choräle sind nicht weniger als einunddreißig eingeflochten. Ein derartiger reichlicher Gebrauch des Chorals findet sich in den älteren mitteldeutschen Passionen, die noch nicht unter der Herrschaft des italiänischen Oratoriums entstanden, fast überall. Er wurde auch später an denjenigen Orten beibehalten, wo man an dem neuen Stile kein Gefallen fand. In der Rudolstädter Passion von 1688 finden sich achtundzwanzig, in der geraischen fünfundzwanzig, in der gothaischen von 1707 neunzehn, in der Schleizer Passion von 1729 siebenundzwanzig, in der Weißenfelser von 1733 dreißig Choräle; Seebach (1714), der doch schon von Brockes stark beeinflußt war, hat ihrer nicht weniger als neunundvierzig angebracht. [339] Zu ihrer Zahl steht die der freigedichteten Texte im umgekehrten Verhältniß, zuweilen fehlen sie ganz, werden mit der Zeit immer mehre und drängen schließlich den Choral zurück. Bachs Lucaspassion, mit eigner lyrischer Dichtung sparsam bedacht, zeigt doch an einer Stelle schon deutliche Spuren italiänischer Einwirkung, wenn nach den Bibelworten »Es folgte ihm aber ein großer Haufen Volks und Weiber, die klagten und beweinten ihn« (23, v. 27) ein Chor von Sopranen und Alten singt:
Weh und Schmerz in dem Gebären
Ist nichts gegen deine Noth.
Ach wir armen Sünderinnen
Werden dein Gericht jetzt innen,
Und wir trügen mit Geduld
Unsre letzte Mutterschuld,
Retteten dich unsre Zähren
Nur von deinem bittren Tod.
Hier werden also die Weiber dramatisch eingeführt mit frei erfundenen Worten, während sonst alles dramatische nur in der Form des Bibelwortes eintritt. Nach diesen Merkmalen zu schließen dürfte der Text etwa um 1710 verfaßt sein. Gewisse Hauptpassionslieder finden sich natürlich mehr oder weniger in allen Passionsmusiken wieder. Daneben scheinen in bestimmten Gegenden Liebhabereien für besondere Choräle geherrscht zu haben. Die Einführung der Litanei und des Ambrosianischen Lobgesanges sind solche. In der genannten Rudolstädter Passion folgen auf die Erzählung von Judas' Erhenkung die Litanei-Zeilen: »Für des Teufels Trug und List, Für bösem, schnellem Tod, Für dem ewigen Tod Behüt uns lieber Herre Gott!« Ferner auf die Erzählung, wie Johannes die Mutter Jesu zu sich nimmt, die Zeilen: »Alle Wittwen und Waisen vertheidigen und versorgen, Erhör uns lieber Herre Gott! Aller Menschen dich erbarmen, Erhör uns lieber Herre Gott!« Ferner nach Pilatus Worten: Was ist Wahrheit? aus dem Te Deum »Du König der Ehren Jesu Christ« und noch zwei andre daher genommene passende Verse. In der gothaischen Matthäuspassion von 1707 fällt nach der Erzählung der Kreuzigung (27, v. 38) der Chor mit den Litaneizeilen ein: »Durch dein Kreuz und Tod In unsrer letzten Noth Hilf uns lieber Herre Gott«. Ebenso finden sich in der Lucas-Passion zweimal Stücke der Litanei, und dreimal Fragmente aus dem Te Deum eingefügt – [340] letztere, beiläufig gesagt, ganz genau in der Melodieführung, welche der Orgelsatz zeigt, den wir von Bach zu diesem Gesange besitzen. Den Dichter der lyrischen Stücke ausfindig zu machen, hat nicht gelingen wollen. Franck ist es nicht trotz einigen Anklängen an Passionsdichtungen aus seinen geist- und weltlichen Poesien. Texte so einförmigen Metrums und schalen Inhalts waren nicht seine Sache. Wohl aber besteht eine erkennbare Verwandtschaft zwischen ihnen und den Arientexten der Cantate »Nach dir Herr verlanget mich«, die ja gleichfalls in die früheren weimarischen Jahre gehört.
Wer sich mit der erregten Melodik, die Bachs Recitativen eigen ist, vertraut gemacht hat, wird in den Recitativen der Lucas-Passion diese Weise sogleich wieder erkennen, ohne daß er die Augen zu schließen braucht gegen manches was darin fremdartig berührt. Unleugbar sind die Harmonienfolgen, über denen sich die recitirende Singstimme fortbewegt, zuweilen etwas lahm, statt der gewöhnlichen Recitativ-Cadenzen treten häufiger als sonst Schlüsse ariosen Charakters ein, ohne daß sich doch der Gesang schon länger vorher zum Arioso gefestigt hätte. Man empfängt den Eindruck eines im Recitativ-Schreiben noch wenig geübten Componisten, und dies stimmt zu der Sachlage, denn in der älteren Kirchencantate, mit welcher sich Bach bisher beschäftigt hatte, gab es bekanntlich kein Recitativ. Unfertig erscheint auch der Stil der biblischen dramatischen Chöre. In einigen herrscht noch jene allgemeinere kirchliche Stimmung, wie in den Passionen älteren Stiles aus dem 17. Jahrhundert; andere, und zwar die Mehrzahl, zeichnet sich dagegen durch eine dramatische Lebendigkeit aus, die an Wucht freilich noch nicht die Chöre der Johannes-und Matthäuspassion erreicht, aber doch diejenigen gleichzeitiger Componisten beträchtlich überragt. Der über freie Dichtung gesetzte Klagechor der Weiber ist nicht bedeutend aber sinnig und deutet in seiner aparten Instrumentirung – zwei Flöten, Violinen, Bratsche, kein Bass – schon auf spätere Meisterwerke hin, wie die Sopranarien im Himmelfahrts-Oratorium und der Cantate »Herr, gehe nicht ins Gericht«. An letztere wird man auch durch den Eingangschor erinnert. Niemand erwarte unter ihm etwas den mächtigen Chorbildern der späteren Passionen ähnliches. Aber wer sich die vierstimmige Arie der Cantate »Denn du wirst meine Seele« und den C dur-Chor der Cantate »Uns ist ein Kind [341] geboren« als ein Bachsches Werk gefallen läßt, darf auch ihn nicht ablehnen. Wie in den beiden Chören so herrscht auch in den Arien die Da capo-Form, die Dimensionen sind klein aber doch nicht kleiner als in den Cantaten »Nach dir, Herr, verlanget mich« und »Uns ist ein Kind geboren«. Es ist wahr, die ersten beiden zeigen kaum etwas von dem eigentlich Bachischen Wesen, sie erinnern eher an Händels früheste Werke. Auch die Tenor-Arie »Selbst der Bau der Welt erschüttert« muß man unbedeutend und dürftig nennen. Dagegen sind die übrigen Arien so gehaltvoll und eigenthümlich, daß außer Bach niemand zu nennen wäre, der sie gemacht haben könnte. Bemerkenswerth ist hier noch der Gebrauch des obligaten Fagott. Bach zeigt für dieses Instrument in der weimarischen Zeit eine entschiedene Vorliebe; vielleicht stand ihm damals ein besonders tüchtiger Fagottist zur Verfügung. Auch in der Cantate »Nach dir Herr« ist es obligat eingeführt, kunstvoller noch in der späteren »Mein Gott wie lang, ach lange«. Die Choräle sind durchweg viel einfacher harmonisirt, als man es von Bach gewohnt ist. Aber zeigt nicht auch der Schlußchoral in »Denn du wirst meine Seele« die größte harmonische Simplicität? Und Sorgfältigkeit des Satzes kann man ihnen nicht absprechen. Übrigens offenbart sich in der Art, wie die Choräle eingefügt sind, der Bachsche Tiefsinn so entschieden, daß dieser Erscheinung gegenüber jeder noch übrige Zweifel an der Echtheit des Werkes schwinden muß. Wie in der Matthäus-Passion die Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden«, in der Johannes-Passion das Stockmannsche »Jesu Leiden, Pein und Tod« an den bedeutsamsten Stellen in immer neuen Bearbeitungen wiederkehrt, so bildet in der Lucas-Passion Johann Flittners Lied »Jesu meines Herzens Freud« gleichsam den kirchlichen Mittelpunkt. Nicht weniger als viermal tritt es auf, zuerst nach den Worten Christi: »Wo ist die Herberge, darinnen ich das Osterlamm essen möge mit meinen Jüngern« (22, 11) mit der dritten Strophe »Weide mich und mach mich satt«, dann nach den Worten: »Mich hat herzlich verlanget das Osterlamm mit euch zu essen, ehe denn ich leide« (22, 15) mit der vierten Strophe »Nichts ist lieblichers als du«, ferner nach der höhnischen Aufforderung der Kriegsknechte: »Bist du der Juden König, so hilf dir selber« (23, 37) mit der fünften Strophe »Ich bin krank, komm stärke mich«, endlich nach der Bitte des reuigen [342] Schächers: »Herr, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst« (23, 42) mit der zweiten Strophe »Tausendmal gedenk ich dein«. Die weiche Anmuth dieses Gesanges, den man kaum einen Choral nennen mag, ist für den Geist der damaligen Passionsmusiken54 und im besonderen auch der Lucas-Passion bezeichnend. Man kannte und liebte ihn an vielen Orten, aber zu einem eigentlichen Kirchenliede konnte er sich schon deshalb nicht verallgemeinern, weil kaum von einer andern Melodie so zahlreiche Varianten bestanden, wie von ihr. Ursprünglich in Moll componirt erfuhr sie bald eine Umbildung nach Dur. Beide Gestalten, die sich in verschiedenen Gegenden Deutschlands neben einander behaupteten, zeigen eine jede wieder vielfache melodische und rhythmische Abweichungen im einzelnen.55 Bach gebraucht in der Lucas-Passion nur die Dur-Melodie. Er hat ihr, wie man voraussetzen wird, alle vier Male eine verschiedene Form gegeben. Während er aber in ähnlichen Fällen späterer Zeit mehr nur die Harmonie zu verändern pflegt, sind hier die Veränderungen vorzugsweise melodischer und rhythmischer Art. Dieses Verfahren erklärt sich einfach aus der frühen Entstehungszeit des Werkes. Bach stand, als er die Lucas-Passion componirte, noch nicht ganz frei von dem Einflusse der willkürlich colorirenden Organisten, namentlich der nordländischen, da, welche mehr ihren vorübergehenden musikalischen Eingebungen, als dem beständigen Bedürfnisse der Gemeinde folgten.56 Melodische und rhythmische Veränderungen desselben Chorals zeigen sich nicht nur [343] bei der Melodie des Flittnerschen Liedes. Der Passionsgesang »Herzliebster Jesu« tritt im zweiten Theile der Lucas-Passion im -Takt und der gebräuchlichen melodischen Form auf, im ersten aber im Dreiviertel-Takt und mit zwei melodischen Veränderungen. Willkürliche Abweichungen von den üblichen Melodieformen finden sich auch bei andern Chorälen des Werkes. Je tiefer Bach allmählig in das kirchliche Wesen des Chorals eindrang, desto strenger wahrte er die einmal gewählte Gestalt der Melodien. Nur ganz ausnahmsweise erlaubte er sich dann, wie in der siebenten Zeile der siebenten Strophe seiner Choralcantate »Christ lag in Todesbanden« einen Ton des Cantus firmus zu ändern57 – Mustern wir die Stellen weiter, an denen Bach in der Lucas-Passion Choräle eingesetzt hat, so fällt zunächst der Schluß des ersten Theiles auf. Petrus hat den Herrn verleugnet; er geht hinaus und »weinet bitterlich«. Eine betrachtende Tenor-Arie spinnt die angeregte Empfindung aus, dann kommt als Schluß-Choral die sechste Strophe des Schwämmleinschen Liedes »Aus der Tiefe rufe ich«. Sie wird aber nicht vierstimmig, sondern als einstimmige Arie vorgetragen, und der sie singt ist Petrus. Offenbar ist dieses ein sinniger, von tiefer Empfindung zeugender Zug. Man wird aber auch hier wieder die Verbindung erkennen, welche zwischen dem Werke Bachs und den im Stile der älteren Kirchencantate gehaltenen Passionen besteht, und sich an ähnliches aus der Passion des Weimaraner Sebastiani erinnern. Der subjective Charakter tritt auch darin hervor, daß die beiden letzten Zeilen des Textes frei umgestaltet sind. Hier wird die Hand des Dichters thätig gewesen sein, welcher für Bach den Passions-Text zusammenstellte, und auf den jedenfalls auch einige der andern Choraltexte zurückzuführen sind, die bekannteren Kirchenliedern nicht angehören. Seinen religiösen Tiefsinn in noch überraschenderer Weise zu zeigen, erhielt Bach durch die Erzählung von Petri Verleugnung an jener Stelle Gelegenheit, wo erzählt wird, wie Petrus, der zuvor versichert hat, er sei bereit mit seinem Herrn in das Gefängniß und den Tod zu gehen, dem gefangenen Jesus in den Palast des Hohenpriesters folgt. Hier soll es sich offenbaren, ob er stark ist seine Versicherung [344] wahr zu machen. Da ertönen vom Chor einstimmig im kirchlichen Collectenton gesungen die Worte des Vaterunsers »Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Übel«. Die feierliche, ergreifende Wirkung des kurzen Satzes wird verstärkt, wenn man an eine Stelle aus dem Marcus-Evangelium (14, 38) denkt, die Bach zuverlässig hierbei im Sinne hatte: Christus hat in Gethsemane gebetet, kommt und findet seine Jünger schlafend. An Petrus wendet er sich vor den andern: »Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung fallet. Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach«. Das bedeutendste aber an sinnreicher Verwendung des Chorals hat Bach gegen den Schluß des Werkes geleistet. Der Evangelist singt »Und als er das gesagt, verschied er«. Nun ertönt, von Oboen und Fagott vierstimmig geblasen, der Choral »Ich hab mein Sach Gott heimgestellt«. Nachdem diese Sinfonia verklungen, tritt der vierstimmige Chor ein mit der zwölften Strophe desselben Chorals:
Derselbe mein Herr Jesu Christ
Für all mein Sünd gestorben ist,
Und auferstanden mir zu gut,
Der Höllen Gluth
Gelöscht mit seinem theuren Blut.
Hierdurch wird dem Instrumentalsatze, der nach dem Gesange wiederholt wird, erst die deutliche Beziehung gegeben. Dann geht die Erzählung, nur einmal noch durch einen Choral unterbrochen, weiter bis zur Abnahme vom Kreuz. Eine Tenor-Arie voll schmerzlicher, durchaus Bachischer Innigkeit setzt ein:
Laßt mich ihn nur noch einmal küssen,
Und legt dann meine Freud ins Grab.
Nach neun Takten aber beginnen zu derselben wieder die Oboen und das Fagott den genannten Choral und führen ihn mit angemessenen Unterbrechungen bis zum Ende durch. Diese Combination zwischen gesungener freier Dichtung und einem gespielten Choral, der schon an sich durch seine Beziehungen auf Vorhergegangenes in das eigenthümlichste poetische Helldunkel gesetzt ist, konnte – man darf es getrost behaupten – unter allen Componisten des 18. Jahrhunderts nur Bach ersinnen. Als gewichtiger weiterer Beweis für seine Urheberschaft tritt hinzu, daß eine ganz ähnliche Verbindung [345] in der Cantate »Gottes Zeit« vorliegt, und daß es sich beide Male sogar um denselben Choral handelt. Man erinnert sich aber, daß diese Cantate gleichfalls in die früheren weimarischen Jahre fällt.58 Da sie durchweg reifer erscheint, so dürfte ihr die Lucas-Passion vorausgegangen sein. Dem vergleichenden Blicke wird auffallen, daß die Form der Choralmelodie hier eine andre ist als dort. Beide Male weicht sie von der Originalmelodie ab; beide Formen aber waren neben der ursprünglichen in jenen Gegenden gebräuchlich. Die in der Cantate vorkommende Melodie stimmt anfänglich ganz überein mit der Melodie »Warum betrübst du dich, mein Herz« und ich vermuthe, daß Bach sie aus diesem Grunde dort vorgezogen hat.59 Die innere Verbindung, welche sich auf diese Weise zwischen Lucas-Passion und Actus tragicus herausstellt, ist nicht die einzige. Die berühmte Behandlung der schließenden Worte »Ja komm, Herr Jesu!« in letzterem Werke hat in der Lucas-Passion ein Gegenstück an dem Schlusse des Chorals »Stille, stille! ist die Losung«. Auch hier verstummen endlich alle übrigen Stimmen und lassen den Sopran die Worte »stille, stille!« über dem Basse ganz allein vortragen, mit denen er in derselben Weise den Choral begonnen hatte.
Mit der Anerkennung der Lucas-Passion als eines wirklich von Bach componirten Werkes wäre die Zahl der Passionen, welche ihm der Nekrolog zuschreibt, vollständig gemacht. Denn wenn in dem 1790 ausgegebenen Verzeichniß der Compositionen Seb. Bachs, welche sein Sohn Philipp Emanuel hinterlassen hatte, auf S. 81 zu lesen ist: »Eine Passion nach dem Matthäus, incomplet«, so wird man hierin nur die erste Niederschrift der großen Picanderschen Matthäus-Passion sehen dürfen. Es würde sonst Emanuel Bach drei Passionen, und Friedemann nur zwei besessen haben, was dem zuverlässigen Bericht über die Art, wie sich beide in den Nachlaß des [346] Vaters getheilt haben, widerspricht. Dabei mag unentschieden bleiben, ob dieses Manuscript wirklich nur noch unvollständig vorlag, oder ob dasselbe, da in ihm der große Schlußchor des ersten Theiles noch nicht vorhanden war, dem Verfertiger des Verzeichnisses nur irrthümlicher Weise so erschien. Die Lucas-Passion haben wir als den ersten Versuch eines genialen Anfängers in Ehren zu halten. Erachtete doch Bach selber sie einer Auffrischung für würdig, als er schon sein größtes Werk der Art geschrieben hatte. Er mag bei ihrer Erneuerung, die während der Jahre 1732–1734 vor sich gegangen sein wird, im einzelnen gebessert haben; daß er keine durchgreifende Änderungen vorgenommen hat, lehrt der Stil des ganzen Werkes, aus dem man freilich die Höhe kaum ahnen kann, zu welcher sich Bach der Passionscomponist in der Leipziger Zeit erheben sollte. Sie zeigen uns seine Johannes-und Matthäus-Passion, zu deren Betrachtung wir jetzt übergehen. Es ist ein eigenthümlicher glücklicher Zufall, daß grade diese drei Passionen uns erhalten sind, in denen Bachs allmählige Entwicklung so unvergleichlich scharf sich ausprägt. Wie früher berichtet worden ist, fanden die Erzählungen der Evangelisten Marcus und Lucas in der Liturgie des Leipziger Gottesdiensts keine Verwendung. Bach, der seine Kirchenmusik in so innige Verbindung mit dem Gottesdienst zu setzen liebte, wird diesen Umstand nicht übersehen haben. Ist es demnach äußerst wahrscheinlich, daß er selbst diesen beiden Werken die größte Wichtigkeit beimaß, so dürfen wir uns dem Glauben hingeben, daß in ihnen uns das vorzüglichste erhalten ist, was er auf diesem Gebiete hervorbringen zu können meinte. Die übrigen beiden Passionen scheinen ihren Schöpfer selbst an dem Orte seines Wirkens kaum lange überlebt zu haben. In den achtziger Jahren ließ der Cantor Doles nur noch drei singen: die Matthäus-, Johannes- und wahrscheinlich die Lucas-Passion60.
[347] Wenn die Vermuthung zutrifft, daß Bach Picanders Passionsdichtung von 1725 wirklich componirt hat, so kann die Passionsmusik, welche er am Charfreitag (7. April) 1724 aufführte, und die natürlich sein eigenes Werk war, nur die Johannes-Passion gewesen sein. Diese Annahme wird durch die Beschaffenheit des Manuscriptes derselben in einer Weise bestätigt, daß sie die Sicherheit einer Thatsache gewinnt. Es war das vierte Jahr, daß in den Leipziger Hauptkirchen überhaupt concertirende Passionsmusiken zu Gehör gebracht wurden. Als Kuhnau 1721 damit in der Thomaskirche begann, wurde vom Rathe verfügt, es sollte mit diesen Passionsmusiken jahrweise in beiden Kirchen umgewechselt werden. 1724 war also die Reihe an der Nikolaikirche. Da aber der Raum ihres Orgelchors ein sehr beschränkter war, zog Bach es vor in der Thomaskirche zu bleiben, hatte demgemäß seine Anstalten getroffen und mittelst der gedruckten Textbücher die Einladungen ergehen lassen. Der Vorsteher der Nikolaikirche wollte indessen auf die Ehre nicht verzichten, legte beim Rathe Verwahrung ein und Bach mußte sich vier Tage vor der Aufführung noch bequemen, in die Nikolaikirche überzusiedeln, eiligst dort die nöthigen Vorkehrungen treffen und neue Anzeigen drucken zu lassen.61 Die Gestalt, in welcher Bach die Johannes-Passion zum ersten male vorführte, war nicht die jetzt allgemein bekannte. Ehe es diese erhielt, hatte das Werk noch mancherlei Wandlungen durchzumachen. Bach schrieb, wie wir allen Grund haben anzunehmen, die Johannes-Passion noch in Cöthen und zwar als er beschlossen hatte sich um das Thomascantorat zu bewerben, und voraussetzte, er werde die Stelle erhalten. Seine Bewerbung erfolgte am Ausgange des Jahres 1722. Er berechnete wohl, daß er zum Charfreitag 1723 schon zu Leipzig im Amte sein werde, und wollte für diesen Fall gerüstet sein. Die Composition würde demnach größtentheils in die ersten Monate des Jahres 1723 fallen. Wie wir wissen verzögerte sich aber Bachs Berufung bis in den Mai, er konnte nun also sein Werk erst zum Charfreitage 1724 gebrauchen. Eine Anzahl von Eigenthümlichkeiten der Passion erklärt sich aus dieser ihrer Entstehung. Wollte der Componist recht zeitig fertig sein, so war Eile nöthig, und da ein geeigneter Dichter in Cöthen [348] nicht existirte, so mußte er sich bezüglich des Textes selbst zu helfen suchen. Die biblische Erzählung lag vor, für die richtigen Stellen passende Choräle zu finden war er wie nur einer befähigt. Schwierigkeiten machten allein die madrigalischen Stücke. Um sie zu beschaffen, griff er zunächst nach der beliebten Brockesschen Passionsdichtung. Sie verhalf ihm zu den Arientexten »Von den Stricken meiner Sünden«, »Eilt, ihr angefochtnen Seelen«, »Mein theurer Heiland, laß dich fragen«, »Mein Herz, indem die ganze Welt« (Arioso, mit nachfolgender Arie »Zerfließe, mein Herze«), und dem Text des Schlußchors »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«. Keinen dieser Texte hat Bach wörtlich aus Brockes entlehnt; die drei letzten sind freie Umgestaltungen, die ersten beiden wenigstens in Einzelheiten verändert. Nicht immer erscheinen die Aenderungen als Verbesserungen: wenn in der Arie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen« die »Mörderhöhlen Assaphs«62 durch die »Marterhöhlen« der angefochtnen Seelen ersetzt werden, so ist mit Beseitigung der allerdings entlegenen biblischen Beziehung auch der Gedanke des Dichters verdunkelt; wenn Brockes sagt: »Nehmt des Glaubens Taubenflügel« und Bach dies verändert in »Nehmet an des Glaubens Flügel«, so ist die Dichtung ebenfalls um ein schönes biblisches Bild ärmer.63 Dagegen hat er wieder einige crasse Ausdrücke des Originals taktvoll gemildert. Die Umdichtungen lassen das Lob, welches in späteren Jahren der Magister Birnbaum ihm spendete64, nicht unbegründet erscheinen: in Bezug auf Gewandheit der Satzfügung und Prägnanz des Wortausdrucks genügen sie zwar höheren Anforderungen nicht, zeigen aber doch manchmal einen feinen poetisch-musikalischen Sinn. Eine Gegenüberstellung von Urbild und Nachbildung wird dies deutlich machen. Als Jesus gestorben ist, heißt es bei Brockes:
Hieraus hat Bach eine directe Anrede an den Erlöser gemacht:
Mein theurer Heiland laß dich fragen,
Da du nunmehr ans Kreuz geschlagen
Und selbst gesagt: Es ist vollbracht!
Bin ich vom Sterben frei gemacht?
Kann ich durch deine Pein und Sterben
Das Himmelreich ererben?
Ist aller Welt Erlösung da?
Du kannst vor Schmerzen zwar nichts sagen,
Doch neigest du dein Haupt und sprichst stillschweigend Ja.
Der Schlußgesang stützt sich nur in seiner zweiten Hälfte auf Brockes' Vorbild; die erste bewegt sich in den für diese Schlußgesänge üblichen Wendungen, die Bach wohl aus früheren Zeiten in der Erinnerung lagen.65 Für die übrigen fünf Arientexte ist eine Anlehnung an fremde Poesie nicht mit Sicherheit nachzuweisen. Hier mag Bach größtentheils selbstschöpferisch aufgetreten sein.66 Der stricte Beweis ist freilich nicht zu erbringen, wie auch dafür nicht, daß er die Umdichtungen nach Brockes vorgenommen habe. Aber man findet [350] hier ganz jenes sprachliche Ungeschick, von dem wir schon früher ein Beispiel anführten (S. 283), und einen Inhalt wie von jemandem, dem eine Anzahl von Bibelstellen und Gesangbuchversen im Kopfe lag, welche er nun zu einem Ganzen nothdürftig zusammensetzte. Ein der Versfügung auch nur einigermaßen kundiger Mann kann diese Texte nicht gemacht haben. Da ich später den auf Bachs eigne Handschrift gestützten Beweis beibringen werde, daß er sich bei einer andern Veranlassung wirklich selber in einer Umdichtung versuchte,67 und diese ganz von der gleichen Beschaffenheit ist wie obige, so darf man mit Grund auch hier seine Arbeit vermuthen.
An der Composition der Bibelworte und größtentheils auch der Choräle hat Bach später nichts sehr wesentliches mehr zu ändern gefunden. Wohl aber unter den madrigalischen Stücken, in deren eiligst zusammengeschweißten Texten die Sprache gleichsam mit ihm davon gelaufen war. Drei derselben entfernte er gänzlich, sicherlich nicht weil sie musikalisch zu geringwerthig gewesen wären: aber ihr Charakter mußte ihm an den betreffenden Stellen ungeeignet erscheinen. An zweien dieser Stellen fügte er neue Solostücke andern Charakters ein, deren eines (»Betrachte meine Seel« mit der nachfolgenden Arie »Erwäge«) sich wieder als eine Umdichtung nach Brockes darstellt. Er scheint diese freilich auch hier selber geleistet zu haben und besser geglückt als bei früheren Gelegenheiten ist der Versuch wahrlich nicht. Man kann die Brockesschen Worte:
Dem Himmel gleicht sein buntgestriemter Rücken,
Den Regenbögen ohne Zahl
Als lauter Gnadenzeichen schmücken,
Die, da die Sündfluth unsrer Schuld verseiget,
Der holden Liebe Sonnenstrahl
In seines Blutes Wolken zeiget
im hohen Grade geschmacklos finden, aber sie enthalten klar geschaute, richtig durchgeführte Bilder. Wenn dagegen in der Johannes-Passion folgendes zu lesen ist:
so wird man hart an die Gränze des blühenden Unsinns geführt.68 Eine andre madrigalische Partie (»Mein Herz! indem die ganze Welt« und Arie »Zerfließe« nebst dem einleitenden biblischen Recitativ) hat Bach später gestrichen und durch eine Instrumentalsinfonie ersetzt, hernach aber doch die ursprüngliche Anlage wieder hergestellt. Freilich auch an Anfangs- und Schlußchor legte er die umgestaltende Hand. Beides waren großartige Choralchöre. Der letztere »Christe, du Lamm Gottes« bildet jetzt den Schluß der Estomihi-Cantate »Du wahrer Gott« (s. S. 181 ff.). Er hat auch sicherlich von Anfang an dahin gehört und wurde vom Componisten, da er diese Cantate als zu wenig zweckdienlich einstweilen zurücklegte, in die Passion nur herübergenommen; nachdem nun auch sie im Jahre 1723 nicht zur Aufführung gelangt war, wird der Chor auf seinen ursprünglichen Platz zurückversetzt sein und ist als Bestandtheil der Passion vielleicht überhaupt nicht zu Gehör gebracht. Den Eingangschor »O Mensch, bewein dein Sünde groß« benutzte Bach, wie vermuthet werden durfte, für die um 1725 componirte dritte Passion, und verleibte ihn endlich als Schlußchor des ersten Theils der umgearbeiteten Matthäuspassion ein, indem er ihn von Es dur nach E dur versetzte. An seine Stelle kam in der Johannespassion ein neuer Chor »Herr unser Herrscher«, an das Ende des ganzen Werkes ein einfacher Choral »Ach Herr, laß dein lieb Engelein«. Die hier aufgezählten Umgestaltungen sind zu ihrem größeren Theile für eine wiederholte Aufführung der Passion vorgenommen, welche am Charfreitage 1727 stattgefunden zu haben scheint. Später hat Bach die Passion wenigstens noch zweimal aufgeführt und zu diesem Zwecke jedesmal wieder mit einigen Abänderungen versehen. Die Zeit dieser [352] Aufführungen läßt sich nicht genauer angeben; doch wird wenigstens eine derselben in den dreißiger Jahren vor sich gegangen sein.69
Der alte Brauch, die Erzählung des Evangelisten und die Reden einzelner Personen recitativisch, die Äußerungen mehrer aber durch Figuralchöre singen zu lassen, stellte dem Bestreben ein gutgegliedertes, harmonisches Kunstwerk zu schaffen nicht unerhebliche Schwierigkeiten entgegen. Der Componist sah sich von einem Texte abhängig, der nicht für musikalische Behandlung geschrieben war und an dem er doch nichts wesentliches ändern durfte. Manche Theile desselben zwangen ihn, reiche musikalische Mittel aufzuwenden, bei andren, deren Gehalt vielleicht nicht weniger schwer wog, mußte er sich auf das einfache Recitativ beschränken. Kurze manchmal nebensächliche Stellen traten dadurch, daß sie als Chor behandelt werden mußten, unverhältnißmäßig hervor, während tief bedeutsame Äußerungen Gefahr liefen, in dem schlichten Fortgange des Sologesanges nicht genügend beachtet zu werden. Hier einen Ausgleich herzustellen war eine Hauptbestimmung der eingeflochtenen Choräle und madrigalischen Gesangstücke. Sie sollten die Aufmerksamkeit des Hörers bei den Hauptmomenten festhalten, die einzelnen Situationen der Handlung abgränzen und abrunden, Licht und Schatten im Fortgange des Ganzen und der einzelnen Theile richtig vertheilen. Es darf nicht verschwiegen werden, daß Bachs Johannes-Passion nach dieser Richtung hin manches vermissen läßt. An mehr als einer Stelle fließen die Bilder ungesondert zusammen, so Christi Verhör vor Hannas mit Petri Verleugnung, Christi Verurtheilung durch Pilatus mit seiner Kreuzigung; die Episode, wie Christus vom Kreuz herab seine Mutter dem Johannes anempfiehlt, hebt sich nicht scharf hervor.70 Die Stellen, an denen madrigalische Stücke eingesetzt sind, kann man nicht immer als wohl gewählt bezeichnen. Das Recitativ »Simon Petrus aber folgete Jesu nach und ein andrer Jünger« führt in die Schilderung von Petri Verleugnung ein. Wenn hier sich eine glaubensfreudige Arie anschließt: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, Ich lasse dich nicht, Mein Leben, mein [353] Licht«,71 und die Sache endlich doch nur auf schmähliche Schwäche und feiges Zurückweichen hinaus führt, so bedarf es keines besonderen Feingefühls um zu merken, daß ein beiläufiges Moment zum Schaden des Total-Eindrucks hervorgehoben ist, vollends da auf diese Weise zwei Arien fast unmittelbar neben einander zu stehen kommen. Wo die Stelle als solche für eine lyrische Form angemessen genannt werden muß, ist es zuweilen doch nicht die Art des Inhalts derselben. Nachdem Jesus von einem Diener des Hannas geschlagen worden ist, sammelt sich die Empfindung zunächst sehr schön in dem Choral »Wer hat dich so geschlagen?« Dann aber folgte sofort noch ein zweites Choralstück über die siebenzehnte Strophe von »Jesu Leiden, Pein und Tod«: zum Cantus firmus des Soprans singt der Bass einen madrigalischen Text, der allenfalls auf den gegeißelten und dorngekrönten Heiland, aber durchaus nicht an diese Stelle paßt.72 Den Worten »ging hinaus und weinete bitterlich« folgte ursprünglich eine leidenschaftliche Arie: »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel«, welche der Empfindung eine ganz andre Wendung gab, als man nach der Art, wie die vorhergehenden Bibelworte componirt sind, erwartet.73 Alle diese Dinge lassen die Verlegenheit erkennen, in der sich Bach, da er die Johannespassion in Angriff nahm, wegen der erforderlichen madrigalischen Dichtungen befand. Für wichtige Stellen fehlten ihm solche ganz, für andre verfügte er nicht über die richtigen. Die zahlreichen Veränderungen, denen er das Werk immer wieder unterzog, bekunden, daß es ihm selbst nicht genügen wollte. Manches hat er mit der Zeit wirklich gebessert: die erstere der beiden zuletzt genannten Arien hat er trotz ihres bedeutenden musikalischen Werthes später ganz gestrichen, die zweite taktvoll durch einen getragenen Klagegesang ersetzt. Nichtsdestoweniger blieben immer noch manche Unvollkommenheiten bestehen.
Augenscheinlich war es auch jene Verlegenheit um lyrische Gegensätze, welche Bach zu einer besonderen Behandlung der dramatischen Chöre trieb. Die Johan nes-Passion enthält deren eine beträchtliche Zahl, kunstreiche, markige und charaktervolle Tonbilder.[354] Auffallend ist die Gründlichkeit und Breite, mit welcher die Mehrzahl derselben ausgeführt ist, fast als ob es Oratorienchöre wären. Daß die betreffenden Worte im Zusammenhange der Erzählung eine solche Behandlung eigentlich nicht vertragen, da sie Momente nicht der Ruhe, sondern der Bewegung darstellen, bedarf keines ausführlichen Beweises. Man braucht auch nur in die Matthäus-Passion zu blicken und weiß, daß Bach sich hierüber klar war. Aber das Bedürfniß nach breiteren lyrischen Formen ließ sich nicht abweisen und mußte mit den vorhandenen Mitteln so gut es ging befriedigt werden. Unter diesem Gesichtspunkt ist es erklärlich, daß über verhältnißmäßig unbedeutende und affectlose Worte, wie »Wir dürfen niemand tödten« oder »Lasset uns den nicht zertheilen, sondern darum losen, weß er sein soll«, jene musikalisch so gehaltvollen Chöre gesetzt sind. Es liegt noch ein andrer Beweis dafür vor, daß es Bach bei den Judenchören in erster Linie nicht auf lebendige dramatische Massenäußerungen, sondern auf bedeutende musikalische Formen ankam, die dem Ganzen Ansehen und Größe geben sollten. Er hat nämlich fast einen jeden dieser Tonsätze mit geringen Abänderungen und durch den Text gebotenen Kürzungen oder Erweiterungen zu andern Worten ein oder mehre male wiederholt: den Chor »Wäre dieser nicht ein Übelthäter« u.s.w. zu den Worten »Wir dürfen niemand tödten«, den Chor »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig« zu den Worten »Schreibe nicht: der Juden König« u.s.w., den Chor »Wir haben ein Gesetz« u.s.w. zu den Worten »Lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht« u.s.w. Außerdem hat Bach sich ein kurzes viertaktiges Sätzchen gebildet, welches er für nicht weniger als vier Chorstellen in Anwendung bringt und das nach einander von den Häschern, die Jesus gefangen nehmen, von dem Volk vor dem Palast des Pilatus und endlich von den Hohenpriestern unter sehr verschiedenen Umständen abgesungen wird. Die hierzu von den oberen Instrumenten ausgeführte Sechzehntelbegleitung wird sogar auch dem größeren Chore »Wir dürfen niemand tödten« in motivischer Fortspinnung hinzugefügt. Man kann nicht behaupten, daß die Musik zu den verschiedenen Texten immer gleich gut paßt. Ist die Wiederholung desselben Tonsatzes zu dem erneuten Rufe »Kreuzige ihn« innerlich wohl begründet, und in andern Fällen dem poetischen Sinne nicht gradezu [355] widerstreitend, so schickt es sich doch übel, wenn die Tonreihen der Worte »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig« später zu dem Texte »Schreibe nicht: der Judenkönig, sondern daß er gesagt habe: der Juden König« abermals erklingen. Denn diesesmal sind die Empfindungen grundverschieden, dort schadenfroher Hohn, den die Musik, soweit ihre Mittel reichen, auch vortrefflich wiedergiebt, hier Unwille oder heimliche Besorgniß. Bach hat dem Wunsche nach musikalischer Festigung und Abrundung die feinere Charakterisirung geopfert.
Unter den vier evangelischen Berichten über Christi Leiden und Tod ist derjenige des Johannes der am wenigsten ausführliche und lebendige. Eine Reihe von bedeutsamen und für musikalische Behandlung geeigneten Momenten ist mit Stillschweigen übergangen, so namentlich die Einsetzung des Abendmahls, Christi Leiden in Gethsemane und die bei seinem Tode eintretenden Naturereignisse. Bach empfand dies sehr wohl als einen Mangel. Um wenigstens etwas abzuhelfen setzte er an den betreffenden Stellen aus dem Matthäus-Evangelium die Schilderung des Erdbebens ein und die Worte mit welchen die Episode von Petri Verleugnung so echt musikalisch abschließt »Da gedachte Petrus an die Worte Jesu, und ging hinaus und weinete bitterlich«74. Im großen und ganzen konnte er freilich die Dürftigkeit des Berichtes nicht heben. Es muß auch dieser Umstand in Betracht gezogen werden, um die Thatsache zu erklären, daß die Johannes-Passion an Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit so fühlbar hinter der Passion nach Matthäus, ja selbst hinter der nach Lucas zurücksteht. Ihr hoher, bleiben der Werth liegt nicht in der Gesammtgestaltung. Als Ganzes hat sie etwas trüb – einförmiges und nahezu verschwommenes. Dies muß man sagen, auch wenn man sich voll bewußt ist, daß ein solches Werk von einem ganz andern Standpunkte angesehen sein will, als ein Oratorium oder ein wirkliches musikalisches Drama. Es ist richtig: man darf einer Passion gegenüber nie vergessen, daß sie eine Kirchenmusik ist, daß in der Behandlung ihrer epischen, lyrischen und dramatischen Elemente [356] eine principielle Verschiedenheit nicht besteht, vielmehr alles was sie ausdrückt, und sei es das gegensätzlichste, in den Kreis einer unpersönlichen Allgemeinempfindung gebannt ist. Niemand darf es von vorn herein als stilwidrig tadeln wollen, wenn die Recitative der redend eingeführten Personen sich von denen des Evangelisten nicht durch eine größere Lebhaftigkeit scharf unterscheiden, wenn der Evangelist selbst sich von dem Inhalte dessen was er erzählt ergriffen zeigt: das Bibelwort behält dieselbe Wichtigkeit, gleichviel, wem es in den Mund gelegt wird. Es mußte dem Componisten unverwehrt sein, die Äußerungen der Häscher, Kriegsknechte und Hohenpriester ebensowohl durch den vollen Chor auszudrücken, wie die des ganzen Volks: den Gegensatz zwischen Einzelnen und Vielen im allgemeinen markirt zu haben war genügend. Auch ist an sich nichts dagegen einzuwenden, wenn über einen kurzen Satz wie »Kreuzige ihn« ein großer Chor gebaut wird, da derselbe eben vom kirchlichen Standpunkte aus eine hohe symbolische Bedeutung haben kann. Alles was an dramatischen Elementen im Passionstexte steckt, darf sich dem wahrhaft dramatischen Ausdrucke nur nähern, nicht aber die volle Schärfe und Natürlichkeit desselben annehmen. Indessen wenn auch alles dieses zugegeben wird, so bleiben innerhalb der gezogenen Gränzen für feinere Unterscheidungen und Abstufungen doch noch Möglichkeiten genug; das hat Bach in der Matthäuspassion unübertrefflich bewiesen. Der Johannes-Passion muß man den höchsten Grad von Vollkommenheit in dieser Beziehung absprechen.
Durch die Benutzung der Brockes'schen Dichtung ist in die Johannes-Passion ein Anklang an das italiänische Oratorium gekommen, insofern die Arie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen« einen Wechselgesang darstellen soll zwischen der Tochter Zion und den gläubigen Seelen. Auch die Zweitheiligkeit, die sich übrigens in der Lucas-Passion ebenfalls findet, muß man auf das italiänische Oratorium zurückführen, da der erste Theil eines solchen vor, der zweite nach der Predigt aufgeführt zu werden pflegte. Dem Gebrauch der protestantischen Kirche entsprach dies nicht; wenn man hier die Passionsgeschichte überhaupt theilte, so machte man sechs Abschnitte, für die sechs Tage der Marterwoche (Palmsonntag bis Charfreitag) je einen, zuweilen auch noch mehre, indem man die [357] vorhergehenden Sonntage der Fastenzeit ebenfalls bedachte.75 Bei der Art wie der Text der Johannes-Passion zu Stande kam, konnte von einer durchgreifenden Einwirkung des italiänischen Oratoriums auf seine Gestaltung natürlich keine Rede sein; viel stärker tritt sie in der Matthäus-Passion hervor. Ich erwähne dies um das frühere Werk dem späteren gegenüber zu charakterisiren, nicht als ob darin ein Vorzug oder Mangel desselben beruhe. Die Johannes-Passion trägt aber in Folge hiervon einen weniger modernen Anstrich im Sinne der damaligen Zeit. Dies macht sich auch positiv fühlbar durch die für beide Theile einführend und abschließend verwendeten Choräle, welche mit Ausnahme des ersten: »O Mensch, bewein dein Sünde groß«, der später entfernt wurde, einfach vierstimmig gesetzt sind. Hätte Bach ganz nach älterem Brauch verfahren wollen, so würde er am Schluß des ganzen Werkes entweder das übliche Danksagungslied » Nun ich danke dir von Herzen«, oder mit engerer Beziehung auf die Grablegung den Ristschen Choral »O Traurigkeit, o Herzeleid!« haben singen lassen. Die Chorarie am Grabe Jesu, welche dem Schlußchoral vorauf geht, und die in ähnlicher Gestalt in sehr vielen mitteldeutschen Passionen am Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts sich findet, verdankt ihr Dasein einer altkirchlichen Ceremonie, der Repräsentation der Grablegung auf dem Chor vor dem Altar, bei welcher Gelegenheit eine Motette oder der Choral »O Traurigkeit« gesungen zu werden pflegte. Ich habe nicht gefunden, daß zu Bachs Zeit in Leipzig noch diese Sitte herrschte; daß aber die Ceremonie in dem üblichen Abschluß der Passionsmusiken nachklang ist sicher. In Leipzig muß schon deshalb die Erinnerung an sie lebendig gewesen sein, weil es feststehend war, daß nach der Passionsmusik eben das Lied »O Traurigkeit« von der Gemeinde gesungen wurde und dies war offenbar auch der Grund, warum es Bach am Schluß der Johannes-Passion nicht noch einmal besonders anbringen wollte. Noch viel später, zu einer Zeit, da [358] man die Passionen schon im Concertsaale aufführte, war es gebräuchlich den Schluß derselben mit dem Namen »bei dem Grabe Christi« zu bezeichnen76. Wo man nun einen solchen Grabgesang nicht missen, und doch zugleich den abschließenden Choral beibehalten wollte, mußten zwei Chorsätze auf einander folgen, wie es bei Bach in der Johannes-Passion geschieht, und in vielen andern Passionen aus der Zeit der älteren Kirchen-Cantate ebenfalls zu bemerken ist. Die nähere Beziehung, in welcher die Johannes-Passion zu dieser steht, zeigt sich auch noch in der Recitation des Bibeltextes, welche darauf verzichtet die Reden der einzelnen Personen namentlich Christi, durch reichere Begleitungsmittel hervorzuheben, und sich durchaus mit dem einfachen Generalbass begnügt.
Nur aber durch diese Zurückhaltung schließt sich Bach noch der älteren Praxis an, nicht in der Gestaltung der recitativischen Tonreihen selber. Nachdem diejenigen Eigenschaften der Johannes-Passion bezeichnet sind, welche den höchsten Ansprüchen nicht vollkommen genügen können, muß es nun um so stärker betont werden, daß in allem was den musikalischen Stil, die Erfindung, die Ausgestaltung der einzelnen Tonsätze betrifft, sich Bach auf der vollen Höhe gereifter Meisterschaft zeigt. Die Recitativ-Behandlung ist wie in den Cantaten aus Bachs bester Zeit. Wer mit Rücksicht darauf, daß es sich hier um Betrachtung, dort um Erzählung oder dramatische Rede handelt, einen Unterschied erwarten wollte, würde sich getäuscht sehen. Die Gelegenheiten zu eindringlicheren Wendungen und schärferen Accenten, welche der Text des Evangeliums bietet, hat der Componist nicht ungenutzt gelassen. Abgesehen davon, daß er affectvolle Worte manchmal durch besondere melodische und harmonische Mittel stark hervorhebt, malt er auch gern Bewegungsvorstellungen wie zurückweichen, zu Boden fallen, ausziehen und einstecken des Schwerts, begraben, schlagen, geißeln, kämpfen durch entsprechende Tonreihen, und zwar meistens der Singstimme, selten des begleitenden Basses. Auch Gefühlsbewegungen, welche nur mittelbar mit einem Begriffe oder Satze zusammenhängen, werden gelegentlich ausgedrückt. Das Wort »sterben« erhält ein düsterahnungsvolles, [359] die Worte »kreuzigen« und »Golgatha« ein schmerzlich verrenktes Melisma. Wenn die Knechte sich am Feuer »wärmten«, setzt Bach auf dieses Wort eine Tonfigur, welche offenbar die Empfindung des Behagens versinnlichen soll; man würde eine Absicht vielleicht nicht vermuthen, kehrte nicht dieselbe Tonfigur bei der Stelle, wo Petrus sich »wärmt«, wieder. Manches derart muß man gradezu errathen. Wenn Jesus bei den Worten »Wer aus der Wahrheit ist, der höret meine Stimme« ein tieftrauriges Melisma hören läßt77, so liegt in dem Texte unmittelbar hierzu nicht die geringste Veranlassung. Schwebte vielleicht dem Componisten jener Vers des Lucas-Evangeliums vor (19, 42), wo Christus über Jerusalem weinend sagt: »Wenn du es wüßtest, so würdest du auch bedenken zu dieser deiner Zeit, was zu deinem Frieden dienet. Aber nun ist es vor deinen Augen verborgen«? Einige Male schweift Bach sogar ins theatralisch-dramatische Gebiet hinüber und bringt Declamations-Bildungen, die zu ihrer vollen Wirkung den Hinzutritt von Gebärdenspiel zu verlangen scheinen; so Petri wiederholter Ausruf »Ich bins nicht!«, die Stelle »Barrabas aber war ein Mörder« und das mehrmals vorkommende a parte-Singen, welches sorglich durch die Vorschriften piano und forte angedeutet wird.78 Ein Princip der Behandlung läßt sich aber aus allen diesen Beispielen nicht gewinnen. Denn eben so häufig läßt Bach auch Worte und Sätze, die charakterisirende Accente und Melismen sehr wohl vertrügen, ja herauszufordern scheinen, in gewöhnlicher Recitativ-Manier absingen. Das oberste und einzig durchgehende Gestaltungsprincip wird durch den ihm innewohnenden Trieb nach starker melodischer Bewegung bedingt. Alles übrige ist nur Mittel zu diesem Zweck. Wäre es anders, so ließe sich garnicht begreifen, warum Bach zuweilen auch Malereien anbringt, die durchaus keine poetisch-musikalische Bedeutung haben und für sich betrachtet einfach als Spielereien erscheinen z.B. wenn er das Wort »Hochpflaster« so declamirt, daß auf die erste Silbe das durch einen aufwärts führenden Sextensprung erreichte gesungen wird, auf die beiden andern aber , und somit der Begriff »hoch« auffällig hervortritt.79 Eine stärkere Ausbildung des melodischen Elementes entsprach [360] dem Stil des Kirchenrecitativs, besonders liebte man die Schlußfälle in ariose Wendungen ausgehen zu lassen, wobei eine Anknüpfung an die Art der Cadenzirung im gregorianischen Choralgesang unverkennbar ist. Aus solchen Cadenzen sind die weit, ja etwas zu weit ausgeführten Melismen hervorgegangen, welche Bach bei den Sätzen »und ging hinaus und weinete bitterlich« und »da nahm Pilatus Jesum und geißelte ihn« angebracht hat.80 Aber selbst die Berufung auf den Stil des Kirchen-Recitativs genügt noch nicht zur Erklärung der hier vorliegenden Erscheinung. Dem Bachschen Recitativ ist – ich muß einen früher gebrauchten Ausdruck wiederholen, denn ich finde keinen treffenderen – etwas vom Charakter des Praeludiums oder der freien Fantasie eigen81. Fessellos ergeht sich der Componist im Bereiche der melodischen Gestalten, läßt sich zu ihrer Bildung bald von hier bald von dort her, jetzt durch wichtige, dann wieder durch ganz unwichtige Dinge anregen, ohne jedoch dem Rechte des souveränen Beliebens je zu entsagen. Daß es einem bedeutsamen Worte sich das eine mal ganz hingiebt und es mit allen Mitteln seiner Kunst erschöpfend illustrirt, bei andern Gelegenheiten aber gleichgültig darüber hinweggeht – ein Grund dafür läßt sich aus der Sache nicht entwickeln: es gefiel ihm so und er that es.
Auf den oratorienhaften Zug in den dramatischen Chören der Johannes-Passion ist oben schon hingedeutet worden. Es steckt in ihnen aber außerdem noch etwas, das nicht das Gepräge des Oratoriums trägt. Eine Polyphonie von seltener Dichtigkeit und ein gewisses compactes Wesen ist allen eigen, sofern sie überhaupt breiter ausgeführt sind. Man kann zugeben, daß hierdurch die fanatischen, in ihrer Mordlust, ihren wilden Beschuldigungen und Drohungen sich überstürzenden Juden gut charakterisirt werden. Aber der eigentliche Grund, welcher Bach zu dieser besonderen Schreibart veranlaßte, liegt nicht hier, denn der Chor der Kriegsknechte, welche um Christi Rock loosen, ist ganz ebenso gebaut. Wenn Bach aus Mangel an lyrischen Texten getrieben wurde, in der musikalischen Vertiefung der dramatischen Chöre einen Ersatz zu bieten, so mußte ihm andrerseits doch klar sein, daß er sich nicht [361] zum Schaden des Ganzen allzuweit von der knappen Form entfernen dürfe, welche diesen Chören ihrem poetischen Wesen nach eigentlich zukam. Die Mischung von Breite und Gedrungenheit, welche durch eine Vermittlung zwischen oratorienhaften und dramatischen Stil entstand, ist es welche die biblischen Chöre der Johannes-Passion zu einer so eigenartigen Erscheinung macht. Diese großen Formen, die mit bedeutendem musikalischen Inhalt bis zum Zerspringen gefüllt sind, bezeugen eine imponirende Schöpferkraft, haben aber auch etwas unheimliches und schwüles. Durch den großen Raum, den sie im Werke einnehmen, bestimmen sie zugleich zu einem wesentlichen Theile den Gesammtcharakter desselben.
Die Choräle sind fast alle im einfachen vierstimmigen Satz, d.h. wie Bach ihn auf der Höhe seiner Entwicklung zu schreiben pflegte. Mittelst einer wunderbaren Geschmeidigkeit der Stimmführung und eines unerschöpflichen harmonischen Reichthums vermag er es durch tiefempfundene Ausdeutung des Einzelnen überall blühendes mannigfaltiges Leben zu verbreiten und ebensosehr die ganzen Choräle unter einander in wirksamsten Contrast zu bringen. Die schönsten Beispiele für letzteres bieten der Choral »Ach großer König«, durch welchen ein Strom überschwänglicher Liebe hinwogt, und jener in rührender Schlichtheit auftretende wundervolle Gesang »In meines Herzens Grunde.«82 Auch die Auswahl der Choräle sowohl hinsichtlich des Textes als auch der Melodien ist eine des großen Meisters würdige. Das Stockmannsche Passionslied »Jesu Leiden, Pein und Tod« bildet den Mittelpunkt der kirchlichen Empfindung. Ursprünglich kehrte es viermal mit verschiedenen Strophen wieder. Eine Strophe hat Bach später mit der Arie »Himmel reiße« gestrichen. Es erklingt nun zweimal im einfachen Satze, und zuletzt, nach den Worten »Und neigete das Haupt und verschied« als Choralfantasie, indem der Bass zur Orgel eine Arie singt, durch deren feines Geflecht der leise und andächtig ertönende vierstimmige Choral getragen wird. Was die Sologesänge als solche betrifft, so gehören sie vielleicht nur mit Ausnahme der Arie »Ach windet euch nicht so« und der später an ihre Stelle getretenen »Erwäge« zu den vorzüglichsten die Bach geschrieben. Wie man an ihnen einen mehr [362] älteren Zuschnitt hat entdecken können83, ist nicht recht zu begreifen, da sie fast alle durch ihre große, freie und neue Form von dem herkömmlichen Arientypus mehr oder weniger abweichen. Gleich die erste, von Wehmuth und demüthiger Dankbarkeit gesättigte Arie »Von den Stricken meiner Sünden« ist formell interessant und bedeutend durch die motivische Überleitung vom zweiten in den dritten Theil. Der Arie »Zerschmettert mich« giebt der häufige Tempowechsel und der kühne Schluß des Gesanges auf der Dominante einen leidenschaftlich-persönlichen, aller Convention ledigen Charakter. An Neuheit und packender Erfindung übertrifft sie noch die Arie »Ach mein Sinn«, durch welche sie später ersetzt wurde. Aber auch diese zeichnet sich, von ihren übrigen Vorzügen abgesehen, durch eine geistreiche Form aus: unmerklich werden wir vom zweiten in den dritten Theil hinübergeführt, welcher dieses Mal nur aus dem Anfangsritornell besteht, neben welchem der Gesang seinen Weg selbständig fortsetzt. Eigenartig ist ferner der Bau der Arie »Es ist vollbracht«, ihr nur von Orgel und Viola da gamba begleiteter Adagiosatz, dem ein Allegro mit dem vollen Streichorchester entgegen tritt, und das schließlich mit ergreifender Wirkung zurückkehrende Adagio. Der Bassarie »Eilt ihr angefochtnen Seelen« mit ihren drängenden Rhythmen und den einfallenden Fragen des Chors ist an dramatischer Lebendigkeit kaum ein Solostück aus den Mysterien Bachs an die Seite zu setzen. Auch die beiden Ariosos »Betrachte meine Seel« und »Mein Herz, indem die ganze Welt« sind Gebilde eigenster Art und tiefster musikalischer Bedeutung84. Der kunstvolle manchmals bis ans Gekünstelte getriebene Satz, welcher den meisten dieser Stücke eigen ist, verwehrt ihnen freilich einen so unmittelbaren Reiz und eine so populäre Wirkung auszuüben, wie dieses fast sämmtliche Sologesänge der Matthäuspassion thun. Der Eindruck, welchen sie machen, ist schwer und tief, die in ihnen [363] herrschende Stimmung düster; sie erweisen sich dem Duett der Cantate »Du wahrer Gott und Davidssohn«, die ja um dieselbe Zeit geschaffen wurde, innerlich nahe verwandt. Es kann kaum noch ein Interesse haben, die über Brockes'sche Texte gesetzten Stücke mit denen andrer Componisten derselben zu vergleichen. Sie überragen diese nicht nur unermeßlich an Reichthum und Tiefe, sondern erscheinen vermöge der tiefinneren Kirchlichkeit ihres Stiles gegenüber der opernhaften Religiosität der übrigen deutschen Meister als etwas gänzlich verschiedenes. Die einsame Größe, in welcher Bach als Kirchencomponist dasteht, wird durch eine Zusammenstellung mit den betreffenden Tonsätzen eines Keiser, Telemann, Mattheson, Stölzel, ja selbst Händeis eben nur von neuem klar.85
Madrigalische Chöre enthält die Johannes-Passion nur zwei. Der dem Schlußchoral unmittelbar vorhergehende Grabgesang ist eine Chorarie, die jedoch nicht strophische Bildung sondern die italiänische Da capo-Form hat. Eine ganz einfache Construction war hier Stilgesetz: die Oberstimme trägt die Melodie vor, von den Unterstimmen in freier, schöner Bewegung begleitet; an den üblichen Stellen treten Ritornelle ein. Um so mehr fällt die Länge dieses Chores auf. Er hat nicht drei sondern fünf Theile, indem der zweite noch einmal als vierter in einer andern Tonart wiederholt wird; so erreicht das Stück die enorme Anzahl von 172 Takten. Es ist ein unersättliches Grüßen und Abschiednehmen über dem Grabe. In die thränenvolle Innigkeit des Gesanges mischen sich sanft abwärts bis in die Tiefe fließende Achtelgänge der Saiteninstrumente, als rollten die Erdschollen langsam über den Sarg. Daß Christi Begräbniß nach anderer als unserer Art geschah, hat Bach augenscheinlich nicht gekümmert, denn die Vorstellung des Hinabsenkens wollte er unzweifelhaft versinnlichen. Ein höchst merkwürdiges Stück steht uns in dem Eingangschore gegenüber, welchen Bach zur zweiten Aufführung der Johannes-Passion schrieb. Der Text:
dessen erste Zeilen an den Anfang des achten Psalms anklingen, dürfte wohl ebenfalls von ihm selber herrühren. Die Tonart ist G moll. Bald in imposanten Ausrufen und massig in Sechzehntelfiguren sich aufthürmenden homophonen Sätzen, bald in stolz aufsteigenden oder breithinfließenden Themen, die canonisch, fugenartig oder frei nachgeahmt werden, entrollen die Singstimmen über langen Orgelpunkten ein gewaltiges Bild göttlicher Macht und Grösse. Anderes wirkt der Chor der Instrumente. Durch das ganze Stück hindurch tönt, meist in den Geigen und Bratschen dreistimmig und stets in tiefer oder mittlerer Lage, auf Strecken abwechselnd auch in den Bässen, rasch vorübergehend nur in den tiefliegenden Flöten und Oboen, eine düster rauschende unablässige Sechzehntelbewegung. Darüber hin ziehen fast ohne Unterbrechung sich fortspinnend lange Klagetöne der Blasinstrumente. Was Bach beabsichtigte, ist im allgemeinen auf den ersten Blick klar. Er wollte die Majestät und Gewalt des Gottessohnes und zugleich seine tiefe Erniedrigung bis zum bittersten menschlichen Leiden in ein Bild zusammenfassen. Und auch in der Deutung jener instrumentalen Sechzehntelbewegung glauben wir nicht zu irren. Es war den geistlichen Dichtern jener Zeit ein geläufiges Bild, die Trübsal des Menschenlebens als Meereswogen darzustellen, welche den Menschen zu überfluthen und hinabzuziehen drohen. Die Erzählung von Christi Meerfahrt bot hierzu wohl die nächste Veranlaßung. Ein großer Theil der früher besprochenen Cantate »Jesu schläft«86 beruht auf dieser Vorstellung; auch befindet sich in der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« eine Arie solchen Inalts.87 Die Bewegung der Wellen musikalisch auszudrücken, war natürlich eine willkommene Aufgabe; in der letztgenannten Arie geschieht es durch eine Violinfigur, welche der im ersten Chor der Johannes-Passion herrschenden ziemlich ähnlich ist. Man [365] kann demnach nicht zweifeln welchen Sinn dieses düster wogende Instrumentalbild in sich birgt. Bach hat die entgegengesetzten Vorstellungen und Empfindungen, die es galt auszudrücken, auch entgegengesetzten Tonkörpern zugetheilt: der göttlichen Herrlichkeit sollen die Singstimmen, dem menschlichen Leid die Instrumente Ausdruck verleihen. Es wiederspricht dieser Deutung nicht, wenn die Singstimmen ihre Gänge bisweilen mit denen der Streichinstrumente vereinigen. Denn gesungen bekommen jene Sechzehntelfiguren eben einen andern Charakter, umsomehr wenn sie wie hier, nur vorüber gehend und von einem reichen Wechsel andrer Tongestalten abgelöst auftreten. Wir begegnen auch einer solchen Combination bei Bach nicht zum ersten Male; schon im Schluschorale der Cantate »Herr, gehe nicht ins Gericht« waltete dieselbe Idee.88 Selbstverständlich laufen nicht zwei verschiedenartige Conceptionen äußerlich neben einander her, beide sind aus einer Gesammtvorstellung entsprungen und nur zu größerer Wirksamkeit in der Erscheinung auseinander gelegt. Die Kraft der Phantasie, welche es Bach ermöglichte, zwei derartige Gegensätzein eins zu bilden, ist staunenswürdig. Aber noch ein anderes erregt unsere Bewunderung in nicht geringerem Grade. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, wie Bach es liebt und versteht in den Anfangschören seiner Cantaten deren Empfindungsgehalt zusammenzudrängen und so das Gebiet zu umgränzen, auf welchem die Entfaltung des Kunstwerks vor sich gehen soll. Demselben Zwecke dient auch der Einleitungschor der Johannes-Passion, er bildet gleichsam den Prolog derselben. Es ist sicherlich mit tiefer Überlegung geschehen, daß Bach sich grade für einen solchen Text entschied, der nirgends dem Gefühl der Klage, der Theilnahme an Christi Leiden, der Beseligung durch seinen Opfertod Raum giebt, sondern nur den Gegensatz zwischen der ewigen Macht des Gottessohnes und seiner zeitlichen Erniedrigung hervor hebt. In der That findet auch in dem Chorbilde die warme Mitempfindung nirgends einen Ausdruck. Es ist von einer finstern, unnahbaren Größe und in dieser Eigenschaft unter Bachs Werken einzig.89 Aber es faßt mit imponirender Sicherheit [366] die Grundstimmung des ganzen Werkes zusammen, eines Werkes, das nicht immer klar gegliedert, nicht mit dem vollen Reize der Mannigfaltigkeit geschmückt ist, das aber in mächtigen Umrissen und in einer trüben, unheimlichen Beleuchtung dasteht, welche so seltsam contrastirt gegen die Vorstellung der Milde und Liebe, die wir mit dem Verfasser des Johannes-Evangelium zu verbinden gewohnt sind. –
Als Bach den Entschluß faßte eine Passion nach dem Matthäus zu componiren, besaß er was ihm bei der Johannespassion in empfindlicher Weise gefehlt hatte: die Hülfe eines gewandten, willigen und durch mehrjähriges Zusammenarbeiten erprobten Dichters. Picander war ein weniger als mittelmäßiges Talent, aber Bach verlangte nur Leichtigkeit in der äußerlichsten poetischen Gestaltung, und diese stand jenem zu Gebote. Die Grundzüge der Passionsform standen von Alters her fest; daß an dem biblischen Fundament nicht getastet werden dürfe, wenn es gelten sollte, die kirchliche Bedeutung des Leidens Christi in höchster und umfassendster Gestalt zur Erscheinung zu bringen, davon war Bach trotz der entgegengesetzten Zeitströmung überzeugt. Er besaß auch jenes Wissen und Feingefühl in hinreichendem Maße, das nöthig war um durch Einflechtung geeigneter Choräle an den passenden Stellen den protestantisch-kirchlichen Grundton des Werkes bis zur größtmöglichen Intensität zu bringen. Er lebte ferner noch zur Genüge in den Anschauungen der geistlichen Volksschauspiele um seinen Dichter zur thunlichsten Berücksichtigung derselben anzuhalten. Wie viel von der Gestaltung des Textes zur Matthäuspassion auf Bachs, wie viel auf Picanders Rechnung kommt, wird sich bis ins einzelste hinein kaum jemals nachweisen lassen. Daß aber Bach einen sehr bedeutenden Antheil an ihr hatte, darf als unzweifelhaft angesehen werden. Schon indem Picander seine Dichtung nicht nur ohne den biblischen Text, sondern auch ohne die Choräle drucken und wieder abdrucken ließ, zeigte er, daß er an der Form, welche derselben durch die Choräle [367] gegeben wurde, sich nicht betheiligt fühlte.90 Aber auch auf die Gestaltung der madrigalischen Partien wirkte Bach maßgebend ein. Er nur kann es gewesen sein, der die Benutzung des Franckschen Gedichtes »Auf Christi-Begräbniß gegen Abend« veranlaßte,91 und es scheint als ob er sich an dieser Verwerthung Franckscher Poesie für den Passionstext nicht einmal habe genügen lassen. Denn auch das Recitativ »Du lieber Heiland du« stimmt im Gedankengang und zum Theil auch in den einzelnen Wendungen mit einem Franckschen Madrigal in ähnlicher Weise überein, wie das Recitativ »Am Abend da es kühle war« mit dem obengenannten Begräbnißliede.92 Unbestreitbar ist, daß durch beider Zusammenwirken ein Text entstand, der Bachs Wünsche in jeder Beziehung befriedigte und den auch wir [368] als zweckentsprechend gelten lassen müssen, mag man sonst über Picanders Reimereien so gering denken, wie man will.
Der Passionsbericht nach Matthäus wurde in Leipzig alljährlich am Palmsonntage choralisch abgesungen. Die enge Beziehung, in welche er hierdurch zu dem Gottesdienste gesetzt war, mußte auch Bach zu einer eindringlichen künstlerischen Behandlung desselben besonders antreiben. Aber schon in der Sache selbst lag die Veranlassung hierzu, weil der Bericht des Matthäus an Reichthum und Anschaulichkeit auch die Berichte des Marcus und Lucas noch erheblich überragt. Er füllt das 26. und 27. Capitel des Evangeliums. Wiederum hat Bach seinen Stoff in zwei Abschnitte getheilt, doch nicht nach Maßgabe der Capitel. Er schließt den ersten Theil mit der Gefangennahme Jesu und der Flucht der Jünger (Cap. 26, v. 56), das Verhör vor Caiphas, Petri Verleugnung, das Gericht des Pontius Pilatus und sein Urtheilsspruch nebst den Episoden von dem Ende des Judas und der Sendung des Weibes des Pilatus, der Zug nach Golgatha, Kreuzigung, Tod und Begräbniß – alles dieses ist in den zweiten Theil zusammengefaßt, während der erste nur die Anschläge der Hohenpriester und Schriftgelehrten, die Einsetzung des Abendmahls mit Christi Salbung, das Gebet am Oelberg und Judä Verrath enthält. Schon in dieser Vertheilung des Stoffes tritt die Weisheit der Disposition hervor. Bei einem Werke, das in den größesten Verhältnissen angelegt war und sich durchaus nur mit der Darstellung trüber Affecte zu thun machte, war es geboten alle Möglichkeiten der Gegensätze auszunutzen. Der erste Theil steht dem zweiten gegenüber wie Vorbereitung der Erfüllung, hier überwiegt eine feierliche Ruhe, dort leidenschaftliche Bewegung, hier das lyrische, dort das dramatische Element. Die Zahl der madrigalischen Texte ist eine beträchtliche, sie beläuft sich auf 28, wenn man wie billig die madrigalischen Recitative als selbständige Stücke ansieht. Hierzu kommen 15 Choräle. Mit so reichen Mitteln lyrischer Dichtung ausgestattet sah sich Bach in ganz andrer Weise als bei der Composition der Johannes-Passion in der Lage alle die einzelnen Handlungen von einander abzugränzen und befriedigend abzurunden. Nur an zwei Stellen steht am Ende einer solchen nicht auch ein abschließendes lyrisches Tonstück. Bei der Erzählung vom Tode des Judas knüpft die Arie »Gebt mir meinen Jesum wieder« an die Rückgabe [369] des Verrätherlohnes an, da die noch folgenden Bibelverse zu einer Überleitung in eine angemessene Betrachtung weniger geeignet erscheinen mußten. Die Schilderung von Christi Tod aber schließt Bach sehr sinnvoll mit dem Bekenntniß der wachthabenden Heiden ab »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« und zieht die Erwähnung der bei der Kreuzigung anwesenden Frauen mit der Begräbniß-Handlung zusammen, was deshalb recht wohl anging, weil die beiden Marien auch bei der Auferstehungs-Geschichte eine Rolle zu spielen hatten.
Der Größe und Weite der poetischen Objecte entsprechen die aufgewendeten Tonmittel.93 Bach hat zwei Chöre aufgestellt und einem jeden sein eignes Orchester und seine eigne Orgelbegleitung gesellt. Von diesen beiden Hauptmassen hat er einen bewundernswerthen Gebrauch zu machen gewußt, sowohl um das poetisch bedeutungsvolle nach Seite des lyrischen wie auch des dramatischen zu accentuiren, als auch überhaupt das mächtige Gesammtbild musikalisch fein zu gliedern. Bei den dramatischen Massenäußerungen, wo das leidenschaftliche Wesen der fanatischen Verfolger Christi charakterisirt werden soll, concertiren die Chöre meistens mit einander und ballen sich nur auf den Höhepunkten der Leidenschaft zur gedrungenen Vierstimmigkeit. Weniger affectvolle Sätze begnügt sich Bach einem Chore allein zuzutheilen: wenn Caiphas' Diener den Petrus anreden: »Wahrlich, du bist auch einer von denen, denn deine Sprache verräth dich«, läßt er den zweiten Chor allein singen, die höhnenden Worte unter dem Kreuz »Der rufet den Elias« hat der erste, die gleich folgenden »Halt, laß sehen, ob Elias komme und ihm helfe« der zweite Chor. Die Jünger Jesu werden nur durch den ersten Chor vertreten. In allen Chorälen, wofern sie nicht durch madrigalisches Beiwerk umflochten sind, außerdem aber auch in dem bedeutungstiefen dramatischen Chorsatze »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen« fließen beide Chöre zu einer Tonmasse zusammen. In den großen madrigalischen Tonbildern am Anfang und Schluß, sowie gegen Ende des ersten Theils concertiren sie in grandioser Entwicklung, in der Einleitungs-Nummer gesellt sich ihnen [370] sogar noch ein dritter einstimmiger Chor hinzu. Den Einzelgesang anlangend, so werden alle biblischen Rollen, mit Ausnahme der falschen Zeugen, vom ersten Chore gestellt. Die madrigalischen Recitative und Arien sind zwischen beide Chöre, unter geringer Mehrberücksichtigung des ersten, ziemlich gleich vertheilt. Dieser Umstand, der bei jetzigen Aufführungen unbeachtet gelassen zu werden pflegt, ist gleichwohl von nicht geringer Bedeutung, da die Chöre natürlich getrennt – auf dem rechten und linken Flügel des Orgelchors – aufgestellt waren. Bach kannte keine Solosänger als solche, welche dem Chor gegenübergestellt gewesen wären. Seine Concertisten sangen auch im Chor mit und traten nur wenn die Reihe an sie kam vorübergehend aus demselben hervor. Mußte schon das von eigenthümlicher Wirkung sein, wenn die Sologesänge bald aus dieser, bald aus jener Richtung in den Kirchenraum hineinschallten, so wurde der Eindruck vollends ein frappanter, wenn mit einer aus den Reihen des einen Chors hervortönenden und von seiner eignen Begleitung umsponnenen Solostimme von der andern Seite her der volle Chor mit dem zugehörigen Orchester concertirte. Wenn z.B. in der Scene am Ölberg eine Stimme des ersten Chors klagt: »O Schmerz! Hier zittert das gequälte Herz«, und von der andern Seite wie das leise Gebet einer reuig niederknieenden Gemeinde der Choral ertönt: »Was ist die Ursach aller solcher Plagen«, so muß sich hieraus eine ans dramatische streifende Wirkung ergeben haben.
Die verschiedenen poetischen Bestandtheile, welche mit der Zeit in die Form der Passionsmusik eingegangen waren, hat Bach ohne die Grundeinheit des Stils je zu verletzen, feinfühlig als solche zu charakterisiren gewußt. Er hat kein Bedenken getragen, neben dem biblischen auch madrigalisches Recitativ in ziemlicher Menge einzuführen. Er hat jenes sogar noch durch instrumentale Zuthaten colorirt und es doch ermöglicht, daß ein jedes für sich sofort erkannt wird. Der Evangelist und die übrigen redend eingeführten Personen singen Secco-Recitativ; zu Jesu Reden tritt, um sie von den andern auszuzeichnen, Streichquartett hinzu, dessen Begleitung sich meist auf ausgehaltene Accorde beschränkt, einzelne Stellen jedoch mit feinsinnigen Illustrationen schmückt, und bei der Einsetzung des Abendmahls den zu einem langen Arioso sich festigenden Gesang durch einen kunstreichen vierstimmigen Satz einhüllt. Die Begleitung [371] der Reden Jesu soll vorzugsweise coloristisch wirken. Dagegen haben die madrigalischen Recitative ein obligates Accompagnement, in welchem ein Motiv durchgeführt zu werden pflegt, das irgend eine bedeutsame Vorstellung des Textes musikalisch versinnlicht. Diese Recitative stehen also fest organisirten Tonstücken noch um einen Schritt näher, und bilden den natürlichsten Übergang zu der abgeschlossenen Form der Arien, welche ihnen folgen. Gern theilt Bach die Begleitung Blasinstrumenten zu, um zu den Recitativen Christi auch einen klanglichen Gegensatz zu erzielen. So erreicht er Mannigfaltigkeit genug und eine der verschiedenen Bedeutung der Recitative entsprechende musikalische Gegensätzlichkeit. Was von den Sologesängen, gilt nicht weniger von den Chorstücken. Bach, dem eine unermeßliche Fülle von Choralformen zu Gebote stand, hat sich doch in der Mat thäus-Passion jeder andern als der chorischen Behandlung des Chorals weise enthalten. Bei weitem die Mehrzahl der Choräle ist im einfachen Stil gesetzt und bringt die Gemeinde-Empfindung in ihrer ganzen Schlichtheit und Kraft zur Geltung. Zweimal aber, in den Chören am Anfang und Schluß des ersten Theils, erweitert er die einfache Form zur Choralfantasie, gewährt somit der persönlichen Empfindung freien Eintritt. Jedoch auch diese beiden Stücke sind wieder von einander abgestuft, indem im Sclußchore des ersten Theils das subjective mehr nur im Instrumentalbild seinen Ausdruck findet, in der Einleitungs-Nummer dagegen durch die beiden mit ihrem eignen Texte versehenen Haupt-Chormassen. Schlägt Bach so die Brücke zwischen den streng kirchlichen und frei madrigalischen Chören, so weiß er durch Combination von madrigalischem Sologesang und einfachem Choralchor (»O Schmerz! hier zittert das gequälte Herz«) auch zwischen diesen gegensätzlichen Elementen, und durch das Eingangsstück »Ach! wo ist mein Jesus hin?« zwischen der Arie und dem chorisch componirten Bibelwort überhaupt eine Verbindung herzustellen, ohne das eigenartige ihres Wesens zu verwischen. Die rein madrigalischen Chöre läßt er mit breitestem Wogenschlag aber in den einfachsten Formen vorüberrollen, bei den dramatischen Chören liebt er die dem Bibelwort angemessene contrapunktische Vertiefung, faßt sie jedoch geflissentlich zu dem knappsten Ausdruck zusammen. Abgesehen von einigen allerdings ganz neuen und eigenartigen Erscheinungen sind die musikalischen Formen [372] in der Matthäus-Passion keine andern, als in den Cantaten. Staunenswürdig aber ist die in ihrer Verwendung sich offenbarende künstlerische Ökonomie. Überall herrscht eine klare Gliederung, und zugleich eine weiche Linienführung und milde Abtönung der Gegensätze, wie wir es der Johannes-Passion in solchem Grade nicht nachrühmen können. Für den Gesammteindruck ist dieser Umstand in erster Linie bestimmend.
Über die biblischen Recitative der Matthäus-Passion wäre im besonderen kaum etwas hinzuzufügen; die bei Besprechung der Johannes-Passion gemachten Bemerkungen gelten auch für sie. Da man aber in ihnen eine scharfe Charakterisirung der verschiedenen biblischen Individuen hat entdecken wollen,94 so sei hier noch ausdrücklich betont, daß derartiges von Bach weder gegeben ist noch überhaupt hat beabsichtigt sein können. Die Passion entlehnt wohl einige Züge vom Drama, aber ein wirkliches Drama ist sie darum nicht. Was zur Hervorhebung der Personen geschehen soll, wird durch die Vertheilung der Reden an verschiedene Stimmen und bei den Reden Christi allenfalls durch eine besonders colorirte und zuweilen etwas selbständiger geführte Begleitung bewirkt. Von hier bis zu einer dramatischen Charakterisirung ist noch ein weiter Weg. Eine solche kann nur darin bestehen, daß für die verschiedenen Persönlichkeiten je eine besondere sich stets gleichbleibende Grundweise des Empfindungsausdrucks geschaffen wird, nach welcher sich der Ausdruck im einzelnen zu modificiren hat. Läßt sich diese nicht aufzeigen, so läuft alle vermeintliche Charakteristik auf angemessene Betonung der einzelnen Worte und Sätze hinaus. Und selbst diese ist bei Bach keineswegs so durchgehend vorhanden, daß man sagen könnte, sie habe ihm als oberstes Gestaltungsprincip vorgeschwebt. Vollständig zu begreifen dürfte das Wesen seiner Recitative nur sein, wenn man sie betrachtet als musikalische Improvisationen unter poetischen Anregungen und zwar als Improvisationen innerhalb einer bestimmten Form des kirchlichen Stiles. Denn nur aus der kirchlichen Anschauung erklärt es sich, wie Bach der Erzählung des Evangelisten den gleich innigen Gefühlsausdruck hat geben können, wie den Reden [373] der einzelnen Personen – eine Thatsache, die allein hinreicht um allen Behauptungen von dramatischer Charakteristik den Boden zu entziehen. Überall ist auch in der Partie des Evangelisten eine schwellende Gefühlsbewegung merkbar, welche oft eben weiter nichts ist, als eine solche, sehr oft aber auch zu einer bestimmten Empfindung sich concentrirt. Das Trauern und Zagen Christi in Gethsemane, die bittern Reuethränen Petri, Christi Kreuzigung erzählt der Evangelist nicht, sondern er erlebt sie mit der ganzen Inbrunst des nachempfindenden Christen. Er übersetzt den Ausruf »Eli, eli, lama asabthani« nicht, wie es bei Händel in der Passion nach Brockes der Evangelist thun muß,95 sondern läßt die Empfindung dieses Ausrufs aus seiner Brust heraus widertönen, wobei es offenbar wird, daß die Melodie eigentlich mehr zu den deutschen Worten erfunden ist als zu den hebräischen, mit deren Betonung sie sich nicht vollständig deckt. Als Petrus den Herrn zum dritten Male verleugnet, wiederholt der Evangelist die recitativische Phrase desselben um eine Quinte höher zu den Worten »Und alsbald krähete der Hahn«, mit der Mahnung an Christi Vorhersagung ihm den Spiegel seiner kläglichen Schwäche vorhaltend. Solche Dinge waren nur möglich, weil Bach den Worten des Evangelisten ebenso wie denen der redend eingeführten Personen zunächst als gläubiger Protestant und nicht als charakterisirender Dramatiker gegenübertrat. Auch jene Saitenquartettbegleitung, welche wie man es schön ausgedrückt hat die Reden Christi wie ein Heiligenschein umfließt,96 ist nicht aus einer dramatisirenden Tendenz hervorgegangen. Den unerforschlichen Gott mit seinen menschlichen Mitteln charakterisiren zu wollen, diesen Gedanken würde Bach sicherlich wie eine Blasphemie von sich gewiesen haben. Überdies ist der Gesang Christi genau von derselben Art, wie der der andern Personen. Aber wie in früherer Zeit Christi Worte wohl mehrstimmig vorgetragen wurden, damit durch die Anwendung reicherer Kunst ihnen ein höherer musikalischer Werth verliehen würde, so hat hier den Componisten die gläubige Ehrfurcht vor der Person des Heilandes getrieben, bei dessen Reden die Gemüther der Hörer zu besonderer Andacht zu stimmen. Übrigens war das Verfahren an sich nicht neu. Auf die »Sieben Worte« von [374] Schütz, die Bach schwerlich gekannt hat, braucht man nicht zurückzugreifen, um das Muster aufzuzeigen. Wenn Bach ein solches vor Augen gehabt hat, so könnte er es eher in der Marcus-Passion (B dur) von Telemann gefunden haben. Doch hat Telemann die Reden Jesu sehr häufig arios behandelt, wogegen Bach durch dieses Mittel nur die bei der Einsetzung des Abendmahls gesprochenen Worte stark hervorhebt. Beide Componisten haben an einer, jedoch verschiedenen Stellen die Streichquartett-Begleitung aussetzen lassen: Telemann bei der auf die Frage des Pilatus gegebenen kargen Antwort des still leidenden Gottessohnes: »Du sagst's«, eine Stelle bei welcher Bach zwar auch die ausgehaltene Begleitung aufgiebt, aber doch kurze Accorde vorher und nachher einfallen läßt; Bach dagegen bei den auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung gesprochenen Worten »Eli, eli, lama asabthani«. Beides ist sinnvoll, aber das Verfahren Bachs, der in diesem Momente den Heiligenschein um das Haupt des Erlösers gleichsam erlöschen läßt, unvergleichlich tiefsinniger.97 Natürlich kann sich Telemann auch hinsichtlich der Ausführung der Begleitung im allgemeinen nicht entfernt mit Bach messen, sie bleibt ihm ein Mittel äußerlicher Auszeichnung, während sie hier wirklich die Empfindung erhöhter Andacht erweckt.98 War daher Bach in Bezug auf den Gedanken vielleicht nicht original, so war er es sicher doch in der Ausführung desselben.
Ist die Behandlung des biblischen Recitativs in der Matthäus- und Johannes-Passion wesentlich dieselbe, so zeigt sich dagegen bei den Chorsätzen über biblischen Text eine augenfällige Verschiedenheit. [375] An keiner andern Form läßt es sich überzeugender nachweisen, daß Bachs Mysterien eine Kunstgattung für sich bilden, als an den – der Kürze wegen so genannten – dramatischen Chören der Matthäus-Passion. Man betrachte die Stelle wo das jüdische Volk auf Anstiften der Hohenpriester und Ältesten die Losgebung des Barrabas verlangt. Der Evangelist läßt es auf die Frage des Pilatus nur mit dem einzigen Worte »Barrabam« antworten. Die Situation ist unzweifelhaft sehr affectvoll. Auch der Oratoriencomponist würde deshalb veranlaßt sein können, die gespannte Empfindung sich in einem Chor entladen zu lassen. Das müßte dann aber in einer Form geschehen, in welcher der Chor als musikalisches Organ seine volle Wirkung thun könnte, also in einem breit ausgeführten Stücke, und auch wohl über etwas zahlreichere Textworte. Der Dramatiker – der Operncomponist, wenn man will – würde sich kürzer zu fassen haben, da wir inmitten der Entwicklung einer Handlung stehen. Er hätte außer dem Empfindungsausdruck auch den sichtbaren Vorgang zu berücksichtigen: einen aufgeregten Volkshaufen, der ungestüm und tumultuarisch den Landpfleger umdrängt. Ein im wilden Durcheinander der Stimmen rasch vorüberbrausender Satz wäre das richtige gewesen für seinen Zweck. Bach, der Passionscomponist, läßt die vereinigten Chöre den Namen Barrabas auf einem mittelst Trugschlusses erreichten verminderten Septimenaccord ein einziges Mal herausstoßen. Oratorienhaft ist das natürlich nicht, aber auch im Drama wäre eine solche Knappheit des Ausdrucks in diesem Momente unmöglich. Bach braucht keine Rücksicht auf einen scenischen Vorgang zu nehmen, eine Freiheit, welche er im gegebenen Falle dazu benutzen darf, den Ausdruck noch über das dramatische Maß hinaus zu concentriren. Er zeichnet in erschöpfender Weise die Wildheit der Empfindung, zeichnet das Volk als dramatische Person und zeichnet den jähen Schrecken, der das Gemüth des gläubigen Christen bei der Antwort desselben ergreift. Es ist ein Meisterzug, gleich bewunderungswürdig durch die Sicherheit des Formgefühls, welche in ihm zu Tage kommt, wie durch die niederschmetternde Kraft des Ausdrucks. Obgleich die Fassung des evangelischen Textes ihn gleichsam an die Hand giebt, ist er doch keinem bedeutenden Componisten vor Bach eingefallen: sie bilden alle durch mehrmalige Wiederholung des Wortes »Barrabam« ein längeres Chorsätzchen. [376] Der nach wenigen Takten Recitativ auf jenen erschütternden Schrei folgende Chor »Laß ihn kreuzigen« mit seiner späteren Wiederholung bietet ein neues Beispiel des eigenthümlichen Passionsstiles. Er ist ein achttaktiger Fugensatz, in welchem die Stimmen vom Bass aufwärts jedesmal auf dem Schlußtone des Themas strengordentlich eintreten; wir erhalten also den Eindruck eines nach musikalischen Gesetzen kunstvoll entwickelten Organismus.99 Indessen schon die Kürze des Stückes läßt das Gemüth zu keiner rechten Ruhe kommen, noch entschiedener der Umstand, daß die Beantwortung des Themas keine regelrechte ist, und man in der mit A moll anhebenden Bewegung endlich auf der Dominante von E moll gewaltsam herausgeschleudert wird. Hier macht sich bereits ein dramatisches Element geltend, das in voller Stärke bei der Wiederholung des Chors hervortritt. Die Worte des Evangelisten »Sie schrieen aber noch mehr und sprachen« fordern eine Steigerung. Im Oratorienstil, wo das musikalische Princip überwiegt, müßte diese innerlich, durch complicirtere, intensiver wirkende Tonmittel zu Stande gebracht werden. Bach wiederholt einfach den Chor, aber um eine Tonstufe höher. Er schildert wirklich das Volk in seiner natürlichen Erregtheit: der Inhalt ihrer Äußerungen bleibt derselbe, sie schreien nur in gellenderem Tone; mit H anhebend, über dem das erste Mal geendigt war, schließt nun der Chor auf Cis (Dominante von Fis moll). Für diese Stelle ist die Vergleichung mit der Johannes-Passion besonders lehrreich. Auch in ihr kommt der Chor »Kreuzige ihn« zweimal vor. Der Tonsatz ist beide Male ziemlich der gleiche, aber das erste Mal steht er in G moll, das zweite Mal einen halben Ton tiefer in Fis moll. Von einer Steigerung ist hier in jeder Beziehung abgesehen. Der Grund des befremdenden Verfahrens liegt in der Modulationsordnung des gesammten zweiten Theils der Johannespassion. Einem allgemeinsten musikalischen Gestaltungsgesetz zu Liebe hat Bach nicht nur auf die dramatische Verschärfung ganz verzichtet, sondern ihr sogar entgegen gearbeitet, ebenso wie er kurz vorher auch den Chor »Wir haben ein Gesetz« zu andern Worten um eine halbe Tonstufe tiefer wiederholt. [377] Der Einfluß der dramatischen Anschauung läßt sich in einer gewissen Art der Chorschlüsse an noch andern Stellen der Matthäus- Passion außer den Kreuzigungschören wahrnehmen. Ziemlich häufig endigen sie ohne daß der Text eine Frage enthielte auf der Dominante ihrer Tonart und bringen dadurch den Eindruck des Unvollendeten, nach einer Fortsetzung Drängenden hervor. Dieses Mittels hat sich allerdings Bach auch in der Johannes-Passion schon fast durchgehends bedient. Darüber hinaus aber finden sich in der Matthäus-Passion Chöre, in welchen die Modulations-Entwicklung nicht in sich zurück, sondern einem neuen Ziele zuführt, in welchen also nicht die in sich ruhende Empfindung, sondern ein psychologischer Process dargestellt wird. Der Chor »Sein Blut komme über uns und unsre Kinder« führt aus den trüb wogenden Affecten des Hasses und der blinden Mordgier endlich zur frechen Überhebung über das Gesetz göttlicher Wiedervergeltung. In dem Chorsatze »Herr, wir haben gedacht« hat die Vorstellung der sich in immer größeren Eifer hineinredenden Hohenpriester und Pharisäer Bach veranlaßt, sich aus der unzweifelhaft festgestellten Grundtonart Es-dur endlich ganz hinauszucomponiren. Jene Mischung von Breite und Gedrängtheit, welche den Chören der Johannes-Passion eigen ist, mußten wir als eine nicht völlig gelungene Ausgleichung des oratorienhaften und dramatischen Stiles bezeichnen. In der Matthäuspassion ist die schwierige Aufgabe überall siegreich gelöst. Breite musikalische Anlage ist in den dramatischen Chören nirgends bemerkbar. Wo sie eine gewisse Länge haben, wird sie durch die Fülle der Textworte bedingt. Größeste Concentrirtheit, aber gepaart mit einer Strenge und Kunst der musikalischen Textur, welche zu der Wichtigkeit des poetischen Inhalts stets im richtigen Verhältniß steht, und beides getragen durch eine kirchliche Grundempfindung, das sind überall ihre Charakterzeichen. Was die besonderen nach Personen und Situationen verschiedenen Empfindungsäußerungen betrifft, so muß man sie, um sie recht zu würdigen, durch das doppelte Medium der kirchlichen und einer zwischen Oratorienhaftem und Dramatischem die Mitte haltenden Anschauung betrachten. Sie erscheinen auch so noch in einer sehr bestimmt wahrnehmbaren Abtönung. Die Chöre der Jünger zeichnen sich mehrfach durch ein Gefühl demüthiger Hingebung aus, das an der Stelle wo sie ihrem [378] Herrn das Osterlamm bereiten wollen, einen Beisatz von Feierlichkeit, als sie erfahren, daß ein Verräther unter ihnen sei, einen Zug ängstlicher Betrübniß erhält. In den Chören der Verfolger waltet der fanatische Haß in seinen verschiedenfachsten Schattirungen. Er steigert sich zu entsetzlicher Wuth, wenn sie Christi Kreuzigung fordern, nur ein übermächtiges Genie vermochte es, der Naturwahrheit so nahe zu kommen ohne doch aus den Gränzen, welche der Stil des ganzen Werkes zog, herauszutreten.100 Als die Juden ihres Opfers gewiß sind, schlägt die Wuth in eine dämonische Wildheit um. Eine feierliche Überzeugtheit redet aus dem kurzen Chorsatz der Heiden »Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen«.
Wie in den Passionen nach Lucas und Johannes so hat Bach auch in derjenigen nach Matthäus einen der eingefügten Choräle durch besonders häufige Wiederholung vor den übrigen hervorgehoben und in den Mittelpunkt des kirchlichen Empfindens gestellt. Unter den vierzehn einfach gesetzten Chorälen des Werkes in seiner ursprünglichen Fassung kommt die Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« fünfmal vor, eine Lieblingsmelodie Bachs, denn keine andre hat er während seines langen Lebens gleich häufig und mit [379] gründlicherer Erschöpfung aller harmonischen Möglichkeiten für die verschiedenartigsten Zwecke gesetzt. Dreimal tritt sie im zweiten Theile auf, zuerst als Jesus im Verhör des Pilatus sich seinem Schicksal schweigend unterwirft. Hier verbindet sie sich aber mit der ersten Strophe des Gerhardtschen Liedes »Befiehl du deine Wege« – eine der wenigen Stellen des unvergleichlichen Werkes, gegen die vielleicht ein Bedenken erhoben werden könnte. Es ist ein schöner Gedanke, an die fromme Ergebung Jesu die Gemeinde ihre Betrachtung anknüpfen zu lassen. Allein der milde und gemüthvolle Ton des Gerhardtschen Liedes, seine Ermahnung zur Geduld in menschlicher Trübsal will zu dem tiefen Ernst der Lage und dem Ungeheuren was der Gottessohn erleiden soll, nicht recht passen. Wahrscheinlich kam es Bach vor allem darauf an, die Melodie wieder zu bringen. In dem Gedichte »O Haupt voll Blut und Wunden« fand sich keine geeignete Strophe und er griff, nicht ganz glücklich, zu einem andern allbekannten Liede desselben Verfassers. Das zweite Mal erscheint die Melodie im zweiten Theile unmittelbar vor dem Beginn des Kreuzesganges, als die Kriegsknechte des Erlösers Haupt mit Dornen gekrönt, verunehrt und zerschlagen haben, und zwar mit den ersten beiden Strophen des an das Haupt Jesu gerichteten Liedes. Angemesseneres konnte hier gar nicht gefunden werden und so ist auch die Wirkung eine volle und herzergreifende. Zum dritten Male und zugleich als der letzte Choralgesang des Werkes überhaupt ertönt sie dann nach den Worten »Aber Jesus schriee abermal laut, und verschied« mit der neunten Strophe: »Wenn ich einmal soll scheiden, So scheide nicht von mir«. Von jeher gilt dieser Moment mit Recht als einer der erschütterndsten des Werkes. Durch nichts konnte die unermeßliche Bedeutung des Opfertodes einfacher, umfassender und überzeugender ausgesprochen werden, als durch dieses wunderbare Gebet. Bach hat für dasselbe eine besonders tiefe Tonlage gewählt, und während er die Weise sonst als eine ionische auffaßte, was sie auch ursprünglich war, behandelt er sie hier, sicherlich mit vollem Bedacht, in der ernsten, verdämmernden phrygischen Tonart.101 Es [380] sind drei einschneidende Momente in der Handlung des zweiten Theils, welche durch den Eintritt und die Wiederkehr dieser Melodie markirt werden. Die Stellen des ersten Theils, an denen sie eingesetzt ist, befinden sich in der Scene am Ölberg. Jesus sagt: »In dieser Nacht werdet ihr euch alle ärgern an mir. Denn es stehet geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen, und die Schafe der Heerde werden sich zerstreuen«. Anknüpfend an das Gleichniß vom Hirten heißt es nun mit der fünften Strophe: »Erkenne mich, mein Hüter, Mein Hirte nimm mich an«. Dann folgt die Vorhersagung von Petri Verleugnung und Petri sowie der übrigen Jünger Verwahrung dagegen. Hieran schließt sich sofort die sechste Strophe: »Ich will hier bei dir stehen, Verachte mich doch nicht, Von dir will ich nicht gehen, Wenn dir dein Herze bricht«. In der Johannes-Passion wird an die Erzählung, daß Petrus dem gefangenen Jesu in den Palast des Hohenpriesters nachfolgte, wo er ihn hernach schmählich verleugnen sollte, die Arie geknüpft: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten, Ich lasse dich nicht, Mein Leben, mein Licht.« Was an dieser Combination nicht befriedigen kann, ist oben auseinander gesetzt. Aus der Vergleichung mit der analogen Partie der Matthäus- Passion scheint aber hervorzugehen, was Bach schon dort vorschwebte und aus Mangel an geeigneter Dichtung von ihm nur nicht durchgeführt werden konnte. Nicht die an den einzelnen Vorgang sich hängende, sondern die über dem Verlauf der ganzen Handlung schwebende Betrachtung soll ausgedrückt werden. Ganz klar wird die Absicht durch den ursprünglichen Schlußchoral des ersten Theils, der nach der Erzählung: »Da verließen ihn alle Jünger und flohen« mit den Zeilen anhebt: »Jesum laß ich nicht von mir, Geh ihm ewig an der Seiten«.102 Die christliche Gemeinde tritt mit Bewußtsein zu [381] den Jüngern in Gegensatz: diese werden abtrünnig, sie bleibt unentwegt bei Jesu stehen. Durch die gesammte Ölberg-Scene zieht sich so der versöhnende Gedanke, daß selbst dasjenige, was Jesus bitteres erfahren mußte von denen die ihn liebten und verehrten, seine Gemeinde nur um so inniger an ihn bindet. Nun erst wird auch verständlich, was es bedeuten soll, wenn der Choral beim zweiten Eintritt genau denselben Tonsatz aufweist, wie beim ersten, und nur um eine halbe Stufe tiefer (Es dur nach E dur) ertönt. Die Voraussicht der an den Jüngern sich offenbarenden menschlichen Schwäche stimmt die Gemeinde selbst zur Demuth. Aber auch demüthig bleibt sie fest.
Nächst dem Choral »O Haupt voll Blut und Wunden« spielt die hervortretendste Rolle Johannes Heermanns Lied »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen?« Es kommt dreimal vor, mit der ersten, dritten und vierten Strophe, daneben noch Gerhardts Gesang »O Welt, sieh hier dein Leben« zweimal, mit der fünften und dritten Strophe. Die übrigen drei Choräle sind ebenso wie der ursprüngliche Schlußchoral des ersten Theils keine Passionslieder, sondern allgemeineren Inhalts, aber sämmtlich mit Feinfühligkeit gewählt.103 Ans Ende des ersten Theils setzte Bach später den anfänglichen Einleitungschor der Johannes-Passion. Der Zweck der im ersten Theile vorkommenden beiden Strophen des Chorales »O Haupt voll Blut und Wunden« wird dadurch freilich etwas weniger augenscheinlich. Indessen mußten die gewaltigen Verhältnisse des ganzen Werkes einen nachdrücklicheren Schlußsatz fordern, und Bach überhaupt wohl daran gelegen sein, in einer Composition so erschöpfenden Charakters an einem der bekanntesten und monumentalsten Passionsgesänge nicht vorüberzugehen. Ein solcher aber war Sebaldus Heydens »O Mensch bewein dein Sünde groß«, er wurde vielerwärts sogar an Stelle der alten choralischen Passionen gesungen, wenn er gleich zu Bachs Zeit in den Leipziger Hauptkirchen am Charfreitage als Gemeindelied nicht im festen Gebrauch war. Das Tonstück, welches Bach über die erste Strophe desselben gesetzt hat, ist kein einfach [382] vierstimmiger Choral mehr, sondern eine Choralfantasie größter Ausdehnung und reichsten Inhalts. Das instrumentale Tonbild ist aus einem Motiv gewoben, welches der Vorstellung des »Weinens« sein Dasein zu verdanken scheint. Während es mehr die allgemeine Empfindungsphäre feststellt, beschäftigen sich Alt, Tenor und Bass der vereinigten Chöre mit der Ausführung der einzelnen Empfindungsnuancen; der Cantus firmus liegt im Sopran. Das gewaltige, mit intensivster Passionsstimmung gesättigte Stück als einen integrirenden Theil der Matthäuspassion zu betrachten, hat sich die Welt so sehr gewöhnt, und es paßt musikalisch auch so wohl zu dem Werke, rundet insbesondere den ersten Theil so herrlich ab, daß man es kaum gewahr wird, wie es doch in einer Beziehung seinen ursprünglichen Zweck nicht verleugnen kann. Der poetische Inhalt bezieht sich nämlich durchaus nur auf Dinge, welche der eigentlichen Passionsgeschichte vorhergehen. Die Strophe soll zu einer versificirten Darstellung derselben die Einleitung bilden, und insofern ist ihre Benutzung hier, wo wir uns schon im Verlaufe der Geschichte sehen, nicht am Platze. Der Widerspruch mußte in jener Zeit, wo jedermann Bestimmung und Inhalt des Heydenschen Liedes kannte, noch fühlbarer sein als jetzt. Bach hat den Chor auch nicht direct aus der Johannespassion herübergenommen, sondern ihn zuvor wahrscheinlich für seine fünfte, gänzlich verloren gegangene Passion benutzt. Erst gegen Ende seiner Laufbahn verlieh er seinem größten protestantisch-kirchlichen Werke durch denselben noch einen neuen Schmuck und umrahmte somit dessen ersten Theil durch zwei Choralchöre allergrößesten Stiles. Denn auch der Eingangschor ist auf seine musikalische Gestalt angesehen nichts anderes als eine Bearbeitung des Chorals »O Lamm Gottes unschuldig«. Freilich eine Bearbeitung, in welcher die Contrapunctirung durch zwei Chöre mit eignem Text und zwei Orchester ausgeführt wird, während ein einstimmiger dritter Chor den Cantus firmus singt. Wenn man gegen sie den über dieselbe Melodie gebauten 27 Takte langen Choral des Orgelbüchleins hält, so ist kein Wort der Bewunderung zu stark für die kolossale Kraft, der eine solche Formerweiterung möglich war, und die innerhalb des eignen Entwicklungslaufes vollbrachte, wozu es in andern Fällen – man denke an die Entwicklung der Sinfonie – der Arbeit von Generationen bedurfte. Dieser Chor wird noch [383] einer eingehenderen Betrachtung unterzogen werden. Zunächst möge er uns von den Choral-Sätzen zu den madrigalischen hinüberführen, da er beide Elemente in sich vereinigt.
Die madrigalische Dichtung hat Picander der Tochter Zion und den Gläubigen in den Mund gelegt. Es mag hierin noch eine Anlehnung an Brockes zu erkennen sein. Durchgeführt indessen wie bei diesem und auch noch in Picanders eigner Passion von 1725 ist die Vorstellung nicht. Nur in sechs allerdings hervorragenden Abschnitten bleibt sie deutlich; sie würde hier für das Tonwerk einen bestimmt hervortretenden oratorienhaften Zug zur Folge gehabt haben, wenn Bach, wie Händel in der Brockes-Passion, die Worte der Tochter Zion, dieser allegorisch-biblischen Figur, immer auch einer Solostimme zuertheilt hätte. Aber er bildet aus ihnen nicht nur Gesänge für eine Stimme, sondern behandelt sie auch in Chor- und Duettform, und in den Einzelgesängen läßt er die Stimmen abwechseln; er verallgemeinert also das persönlich gedachte. Aus ein paar kleinen Änderungen, die er sonst noch im Texte vornahm, läßt sich erkennen, wie er überall geneigter war, aus der Mitte der Gemeinde heraus zu empfinden.104 Poetisch angesehen besteht auch keine Trennung oder Gegensatz zwischen den Gläubigen und der christlichen Kirche,105 denn die Gläubigen haben neben freier Poesie auch Kirchenlied (»O Lamm Gottes, unschuldig«, »Herzliebster Jesu«) zu singen; nur musikalisch ist ein solcher vorhanden. Über den Stil der madrigalischen Chöre ist oben schon eine allgemeine Bemerkung gemacht. Während in den dramatischen Chorstücken Knappheit und complicirte Setzkunst sich vereinigen, haben hier Breite und Einfachheit einen Bund geschlossen. Diese Chöre sollen geistliche Arien sein und werden im Texte auch so genannt. Sie strophisch zu gestalten war freilich in einem solchen Werke unmöglich und deshalb hat schon der Dichter hiervon ganz abgesehen; sie zeigen die italiänische Arienform auf. Den formellen Zusammenhang mit der älteren [384] geistlichen Arie hat Bach dennoch festzuhalten gewußt durch Anwendung des homophonen Tonsatzes und einfachste Periodisirung. So ist auch auf diesem Gebiete ein neuer Stil entstanden, der wiederum von Bachs unermeßlicher Begabung Zeugniß ablegt. Auf dem Gebiete der Kirchenmusik giebt es nichts, was mit diesen Chören verglichen werden könnte, welche die weiten Dimensionen der Bachschen Cantatenchöre haben, und zugleich eine fast liedhafte Schlichtheit und Verständlichkeit. Zum ersten Male begegnen wir einem solchen Chore als Jesus in Gethsemane betet. Ihm geht als Einleitung ein Tenor-Recitativ des ersten Chores vorauf, das Jesu Herzensangst tief mitempfindet und unterbrochen wird durch die vom zweiten Chor gesungenen Choralzeilen: »Was ist die Ursach aller solcher Plagen? Ach meine Sünden haben dich geschlagen! Ich, ach Herr Jesu, habe dies verschuldet, Was du erduldet.« Dann löst sich der herbe Schmerz in den frommen Vorsatz, allzeit an Jesu festhalten zu wollen, um dadurch von dem quälenden Sündenbewußtsein Ruhe zu finden. Auch hier concertirt ein Tenor mit den mild wiegenden, vom »Einschlafen der Sünden« hergenommenen Gängen des zweiten Chors. Entzückt lauscht man den strömenden, langathmigen Melodien der Oberstimme und wird es kaum gewahr, wie derselbe melodische Zauber auch allen übrigen Stimmen eigen ist. Sie könnten ebensowohl Oberstimmen sein, und durch mehrfache Versetzungen im doppelten Contrapunct werden sie es wirklich. Als Jesus gefangen genommen ist, tritt abermals ein großes madrigalisches Chorstück ein. Zwei Stimmen des ersten Chors beginnen zu klagen: »So ist mein Jesus nun gefangen«. Es trägt sie eine Unterstimme der vereinigten Geigen und Bratschen, welche durch Syncopen und alsdann langsam wandelnde Achtelgänge ihren Zusammenhang mit den Vorstellungen der Fesselung und Fortführung bekundet – eines der zahlreichen Beispiele für Bachs Manier, aus irgend einem hervortretenden Moment einer innerlich geschauten Handlung einen musikalischen Gedanken zu gewinnen, sich dann aber von der Einwirkung derselben frei zu machen und nur seinem lyrischen Zuge folgend weiter zu gestalten. In die tiefe Traurigkeit der vereinsamten beiden Stimmen tönen kurze, heftige Rufe des vollen zweiten Chors: »Laßt ihn, haltet, bindet nicht!« Dann brechen beide Chöre in einem Vivace los, und fordern in heiliger Empörung des Himmels Blitz und Donner [385] auf den Verräther und seine Mordgesellen herab. Wie in Sturm und Gewitter tobt es und braust; dennoch ist die Form eine ganz einfache, eine Arie, deren zweiter und dritter Theil in eins zusammen gedrängt sind; die Chorbehandlung abgesehen von dem fugirten Anfang durchaus homophon; die Chöre concertiren als compacte Massen gegeneinander und vereinigen sich am Schluß. Wer Bach nur aus seinen Cantaten kennt, würde es ihm nicht zutrauen, daß er mit solch einfachen Combinationen eine Wirkung hervorzubringen vermocht hätte, die zu den erschütterndsten gehört, welche es im Bereich der Tonkunst giebt. Und welch eine Rolle spielt das unwürdige Geschelte, das in andern Passionsmusiken an derselben Stelle eine Solostimme auszuführen hat, gegen dieses mit Flammenzügen entworfene Bild!106 Das dritte madrigalische Chorstück der Matthäus-Passion ist der Schlußgesang »am Grabe Christi«. Auch er hat seine Einleitung: kurze Recitative der einander ablösenden Solostimmen, dazwischen kurze Chorsätze, liebetief und jener Empfindung voll, die am Grabe nur gedämpfte Worte zu reden gestattet. Die innere Verwandtschaft des Schlußchors mit dem der Johannes-Passion springt in die Augen. Die Haltung ist aber noch bedeutend ruhiger und einfacher geworden, der Stilgegensatz gegen die dramatischen Chöre ein entschiedenerer, die Trauerempfindung frömmer und im Bewußtsein von Christi Erlösungsthat beruhigter – eine Mischung von Seligkeit und Schmerz, welche nur Bach zu Gebote stand und die am greifbarsten wohl heraustritt zu den Worten »höchst vergnügt schlummern da die Augen ein«.107 Ungeachtet man von diesem Chor den Eindruck einer Breite empfängt, welche zu dem ganzen Werke im richtigen Verhältniß steht, ist er doch bedeutend kürzer als der entsprechende der Johannes-Passion. Die Unersättlichkeit der Klage läßt dort noch einen Rest von Unbefriedigtheit zurück, welcher erst durch den nachfolgenden Choral gehoben wird. In der Matthäus-Passion bedarf es dessen nicht: in den feststehenden Gränzen [386] der Arienform schwingt das Gefühl langsam aber voll befriedigend aus. Die Passion nicht mit einem Choral sondern mit einer Arie zu schließen, war dem Herkommen gänzlich entgegen, und man wolle diesen Umstand nicht unterschätzen. Er trägt ein bedeutendes dazu bei, der Matthäus-Passion jenen menschlich – milden Gesammtcharakter zu sichern, durch den sie sich von der Johannes-Passion unterscheidet. Wenn mir die Form-Einfachheit aller dieser madrigalischen Chöre nicht nur durch das allgemeine Bedürfniß nach musikalischem Contrast bedingt erscheint, sondern ich darin ein Zeichen sehe, daß Bach sie als erweiterte geistliche Arien aufgefaßt wissen und wirken lassen wollte, so liefert für diese Ansicht einen neuen, schlagenden Beweis die Einleitung des zweiten Theils der Matthäus-Passion. Der Solo-Alt des ersten Chors und der gesammte zweite Chor concertiren; nur jener singt madrigalischen Text, dieser Bibelworte.108 Sofort macht sich ein andrer Chorstil bemerkbar: motettenartig fugirte, schön abgerundete Sätze stellen sich mit tröstender Theilnahme dem Gesang der Tochter Zion entgegen, deren Melodien wie heiße Thränentropfen abwärts sinken, ganz verschiedenen Ausdrucks von der tiefen, thränenleeren Trauer, mit welcher sie im ersten Theile dem gebunden fortgeführten Jesu nachblickt.
Unter der bedeutenden Anzahl von Solo-Arien, welche die Matthäus-Passion enthält, nimmt noch eine die Mitwirkung des Chors in Anspruch. In dem am Kreuze ausgespannt hängenden Jesus sieht die Tochter Zion das Bild der Liebe, welche die Arme ausbreitet, um die Erlösungsbedürftigen erbarmend zu umfassen. Sie fordert »die verlassenen Küchlein«109 auf, sich zu ihm zu retten; kurze fragende Rufe der Gläubigen unterbrechen sie. Es ist ein ähnliches Tonbild wie in der Johannes-Passion die Bassarie »Eilt, ihr angefochtnen Seelen«. Brockes hatte diese Art aufgebracht und viele Nachahmer gefunden, unter ihnen Rambach110 und in der Matthäus-Passion [387] mehrfach auch Picander. Doch haben im Eingangschore und nach Jesu Gefangennahme die kurzen Chorrufe endlich eine zusammenhängende Betheiligung des Chors an der Entwicklung und Vollendung des Tonstückes zur Folge. Hier wirkt der Chor nicht sowohl als musikalisches sondern nur als dramatisches Organ, und die Beziehung der Passionsform zu der Oper tritt an diesem Beispiele am deutlichsten hervor. Wären nicht von Anfang her in der Passion und der ihr eignen Behandlung des Bibelwortes dramatische Elemente vorhanden gewesen, so müßte man das hier von Bach gewählte Verfahren als befremdlich und stillos bezeichnen. So aber hat er, was beim Bibelwort längst bestand, nur auf die madrigalischen Partien ausgedehnt. Der Eindruck ist, wenn man ihn nur auf sein musikalisches Wesen prüft – und dieses ist bei einer Kunstform, die ohne Action wirken soll, doch unerläßlich – ein sehnsüchtig drängender, ganz wie derjenige der Bassarie aus der Johannes-Passion. Das ganze Tonbild nebst dem einleitenden Recitativ »Ach Golgatha!« wird durch eine halb schwebende, halb wiegende Bewegung beherrscht, die zum Theil durch das Bild des am Kreuze hängenden Heilandes, zum Theil auch wohl durch die Vorstellung mütterlicher Hut und Besänftigung bedingt erscheint. Die Stufenleiter der Empfindungen, welche Bach in den Sologesängen der Matthäus-Passion durchläuft, imponirt um so mehr, als Affecte der Freude mit ihren verschiedenartigen Nuancen ganz ausgeschlossen sind, und sie alle von der Grundempfindung der Trauer getragen werden. Innigste Theilnahme an dem bis zum höchsten Grade sich steigernden Leiden des Gottmenschen, kindlich vertrauensvolle, männlich ernste und liebessehnsüchtige Hingabe an den Erlöser, Reue über die eignen Sünden, die sein Leiden zu sühnen hat, und inbrünstiges Flehen um Erbarmung, die gefaßtere Betrachtung des in Jesu Leiden gegebenen Vorbildes und das feierliche über seiner Leiche abgelegte Gelöbniß ihn nimmer aus dem Herzen zu lassen – das sind die Objecte, welche Bach zu behandeln hatte. Mit dem unerschöpflichen [388] Reichthume, der ihm gerade zur Darstellung trüber Affecte zu Gebote stand, hat er die schwierige Aufgabe wie spielend gelöst. In keinem andern der Werke Bachs, es müßte denn das Weihnachts-Oratorium sein, ist eine solche Menge schöner und mannigfaltiger Sologesänge zusammengespeichert. Faßlichere, überzeugendere Melodien, als sie in den Arien der Matthäuspassion sich finden, hat Bach nie geschrieben. Fließt einmal der Strom der Melodie etwas weniger voll, wie in der Tenor-Arie »Geduld!«, so gab der betrachtende Charakter des Textes hierzu Veranlassung. Eine kritische Bemerkung fordert nur die Bass-Arie »Gebt mir meinen Jesum wieder« heraus. Sie tritt ein, nachdem Judas den Verrätherlohn an die Hohenpriester zurückgebracht und bezeugt hat, das Jesus unschuldig sei. Der Text drückt die Bitte aus, Jesum frei zu geben, da selbst ein Judas seine Schuldlosigkeit anerkennen müsse. Sämmtliche übrigen Madrigaltexte enthalten Empfindungen und Betrachtungen, welche zwar auch an gewisse Momente der Leidensgeschichte anknüpfen, aber doch immergültige christliche Wahrheiten zum Inhalt haben. Aus dieser Arie allein redet nicht ein Glied der christlichen Gemeinde, welcher Christus durch seine Gefangennahme und Tödtung nicht geraubt, sondern vielmehr erst wahrhaft zu eigen gemacht worden ist. Es ist die Äußerung einer Person, welche der Handlung zur Zeit ihres Geschehens nahe stand, eines Jüngers etwa oder sonstigen Anhängers Jesu. Der Einfluß des dramatisirten Oratoriums tritt hier in einer nicht ganz unbedenklichen Weise hervor. Der Hörer wird gezwungen, den Standpunkt zu wechseln: in den übrigen Arien findet er die eigne christliche, auf die Gesammtbedeutung des Erlösungswerkes gegründete, hier dagegen eine fremde, an den einzelnen Fall anknüpfende, beschränkte Empfindung.
Sämmtliche madrigalische Recitative haben obligate Begleitung, wobei wie schon bemerkt wurde den Blas-Instrumenten vor den Saiten-Instrumenten der Vorzug gegeben worden ist, um sie von den biblischen Recitativen Christi bemerklichst abzutönen. Alle malerischen Züge und geistvollen Wendungen, an denen sie reich sind, vorzulegen kann hier nicht der Ort sein; wenn es die Sache zu fordern schien, ist Bach auch vor den kühnsten Mitteln nicht zurückgeschreckt, wie die frappante enharmonische Modulation am Schlusse des Recitativs »Erbarm es Gott« beweist. Eine genauere Beleuchtung [389] verlangt indessen das nach dem Franckschen Vorbilde gedichtete Recitativ »Am Abend da es kühle war«. Bekanntlich ist es ein Zug germanischen Wesens, in der außermenschlichen Natur eine Theilnehmerin an der Menschen Lust und Leid zu erkennen, und deren Erscheinungen mit der menschlichen Seele zu durchdringen. Die antiken Völker und die von ihnen innerlich am meisten abhängigen Romanen kannten diesen Zug nicht, ihre Beziehungen zur Natur wurden allein durch die Annehmlichkeiten oder Beschwerden bedingt, welche sie ihnen bereitete. In der deutschen Dichtung tritt der Zug hervor oder zurück, je nachdem dieselbe überwiegend auf eigenthümlicher oder auf fremder Grundlage sich bewegt. Während die mittelalterlichen Dichtungen, namentlich der Minnesänger von jener natursymbolischen Empfindung erfüllt sind, während sie im Volksgesange sich fortdauernd erhält, schwindet sie in der Kunstdichtung des 17. Jahrhunderts mehr und mehr, um erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zwar eben aus dem Boden des Volkliedes mit Macht wieder emporzuschießen. Ein ähnlicher Wandel läßt sich in der Tonkunst beobachten. So lange italiänische Anschauungen in der europäischen Musik die herrschenden waren, findet sich kaum ein Versuch romantische Naturstimmungen musikalisch auszudrücken. Ansätze dazu finden sich bei Gluck (in Orpheus und Armida), dann bei dem an deutsches Wesen sich anlehnenden Cherubini (in der Oper Elisa), voll zur Erscheinung bringen diesen Zug in der begleiteten Gesangsmusik erst Weber und Schubert, wogegen selbst in Haydns Oratorien die antike Naturanschauung noch deutlich fühlbar ist. Um so mehr verdient es Beachtung, daß hier und da schon bei Bach romantische Naturstimmungen unverkennbar zu Tage kommen, ja daß solches selbst von seinen Vorfahren behauptet werden mußte.111 Ein Beispiel solcher Tonbilder, in denen sich Bachs grunddeutsche Natur verräth, bietet das genannte Recitativ. Wie zarte Dämmerungsschleier schweben und ziehen die dunklen Violinen, keine Generalbassaccorde verdichten das traumhafte Gespinnst, nur die langgezogenen Töne des Orgel- und Streichbasses gewähren ihm Halt. Was aus diesen Tonreihen uns anhaucht ist nicht zunächst die religiöse Empfindung des Friedens und der Erlösung, [390] mit welcher der Text sich beschäftigt. Es ist Abendstimmung; jene Empfindung kommt erst durch Vermittlung derselben musikalisch zur Geltung, in das Naturbild wird hineingefühlt, was an dieser Stelle die christlichen Herzen bewegt. Eine in manchem Betracht ähnliche Erscheinung bietet der Anfangschor der Cantate »Bleib bei uns, denn es will Abend werden«112, in welchem die tiefdunklen Töne der vereinigten Geigen und Bratschen oder abwechselnd der drei Oboen, welche sich durch viele Takte hindurch erst nur schwach bewegen und dann gehalten verklingen, wie langgestreckte Abendschatten anmuthen. Nur ist es hier weniger die friedevolle Stimmung abendlicher Ruhe, als jenes unheimliche Bangen, welches das allmählige Schwinden des Tageslichtes begleitet. Auf andere Beispiele dieser Art ist schon gelegentlich hingedeutet worden. Eine Cantate zum fünften Trinitatis-Sonntage beginnt mit den Bibelversen »Siehe, ich will viel Fischer aussenden, spricht der Herr, die sollen sie fischen. Und darnach will ich viel Jäger aussenden, die sollen sie fahen auf allen Bergen«. Bach hat diese Worte nicht, wie er sonst zu thun pflegt, für ein einfach würdiges Arioso benutzt. Er hat sie zu einem großen zweitheiligen Tonbilde ausgesponnen, in welchem wir auf die schaukelnde Fläche des Sees und in den hörnerdurchschallten Wald hinaus geführt werden. Die Naturvorstellungen gewähren ihm nicht nur gewisse musikalische Motive, sie bilden vielmehr die farbige romantische Grundstimmung der auszudrückenden Empfindung.113 In der Tenorarie der Pfingstcantate »Erschallet ihr Lieder«114, der Sopranarie der Pfingstcantate »Also hat Gott die Welt geliebt« (übertragen aus der weltlichen Cantate »Was mir behagt«)115 weht etwas wie Maienluft. Auch die Oster-Cantate »Der Himmel lacht« enthält einige Stellen, in denen man den Frühlingshauch zu merken glaubt.116 Eine gewitterdrohende Stimmung athmet in der Cantate »Schauet doch und sehet« die Bass-Arie »Dein Wetter zog sich auf von weitem«.117 Selbst in manchen Instrumentalstücken fühlt sich eine romantische Stimmung dieser Art hindurch; ganz deutlich wird sie in der Hirten-Sinfonie des Weihnachts-Oratoriums. [391] Da sie ihrem Wesen nach etwas pantheistisches hat, so begreift es sich, warum ihr in Werken, die auf dem Grunde der altlutherischen Lehre beruhen, doch nur ein ganz beschränkter Raum gegönnt sein kann. Die Fälle sind aber zahlreich genug, daß sie nicht übersehen werden können. Sie constatiren wieder einmal eine tiefgehende Verschiedenheit der Welt- und Kunstanschauungen zwischen Bach und Händel. Ein Gedicht wie Allegro e Pensieroso, das in seinen schönsten Theilen das harmonische Zusammenstimmen von Natur und Mensch zum Gegenstande nimmt, hätte auch auf musikalischem Gebiete eine romantische Auffassung unbedingt hervorrufen müssen, wenn anders eine solche überhaupt in dem Ideenkreise Händels gelegen hätte. Aber Händel fußte zu fest auf italiänischer Kunst, als daß dieses möglich gewesen wäre. Er gewinnt aus den Naturbildern eine Menge musikalischer Motive, aber sie zu einem geheimnißvollen Widerspiel des menschlichen Wesens zu beleben, steht ihm fern. Seine schöne Musik entwickelt sich in classisch klaren Linien, mit überlegnem ruhigem Blick als Herr, nicht als Theil der Schöpfung steht der Künstler der Natur gegenüber; von jener mystischen Versenkung in die Seele des Alls, welche der Naturromantik wesentlich ist, findet sich keine Spur. Dergleichen Stimmungen musikalisch auszudrücken bedarf es gewundenerer Linien, als sie Händel liebte, vor allem aber eines größeren Farbenreichthums. Bei Händel herrscht überall ein blühender, gesättigter aber nicht sehr wechselreicher Wohlklang. Bach ist mehr als Händel Colorist, und die Wirkung seiner Stücke in höherem Grade auch von der ihnen gegebenen Farbe abhängig.
Diese Betrachtung führt zu jenem großen madrigalischen Tonbilde des ersten Theils zurück, welches sich an die Gefangennahme Jesu anschließt. Es heißt dort:
So ist mein Jesus nun gefangen.
Mond und Licht,
Ist vor Schmerzen untergangen.
Da das Ereigniß am Tage des Passah-Festes stattfand, so schien der Vollmond als Jesus zur Nacht am Ölberg betete. Die Gefangennahme haben wir uns gegen Ende der Nacht zu denken, da der Mond bereits niedergegangen war. Indem Picander hierauf Bezug nahm, hat er einen volksthümlichen Zug seiner Dichtung eingewoben. In [392] dem zufälligen Zusammentreffen des Naturereignisses mit den bedeutungsschweren Begebenheiten in Gethsemane erkannte das germanische Gemüth einen tieferen Zusammenhang: die Natur trauert um Jesu Leiden. Das Motiv oder ein ähnliches erfuhr in der deutschen Dichtung mehrfache Ausführung. Bekannt ist das schöne Volkslied:
Ob der traurige einsame Ton des Bachschen Stückes durch diese Vorstellung mit bedingt worden ist, möchte ich nicht geradezu behaupten. Eher könnte man schon in der poetischen Benutzung des volkstümlichen Motivs Bachs Einfluß vermuthen. Unverkennbar spiegelt auch der Eingangschor der Matthäus-Passion einen volksthümlichen Brauch zurück. Der Text, in dem es sich um den Gang zur Kreuzigung handelt, auf welchem Jesus unter dem Klagen und Weinen der Töchter Jerusalems (Evang. Luc. 23, 27) sein Kreuz selber trug, erscheint für eine Einleitung in die volle Passionsdarstellung nicht eben geeignet. Er hebt ein einziges Moment der reich bewegten Handlung, und nicht einmal das wichtigste: die Kreuztragung, heraus, dann werden uns durch anderthalb lange Theile [393] hindurch Ereignisse vorgeführt, welche dem Kreuzesgange voraus liegen. Gewöhnlich wurden die Passionsmusiken mit einem Choral eröffnet, oder auch wohl mit einer versificirten Aufforderung, das Leiden Christi zu betrachten. Ein Text obigen Inhalts aber müßte befremdlich erscheinen, wenn er sich nicht durch den alten Brauch der Charfreitags-Processionen erklärte. Die Passionsspiele wurden in vielen Gegenden Deutschlands in der Weise aufgeführt, daß nur ein vorbereitender Theil in der Kirche stattfand, der eigentliche Kern derselben aber in einem Aufzuge enthalten war, welcher nach einem erhöhten Platze außerhalb der Kirche, dem sogenannten Calvarien-oder Kreuzberge, veranstaltet wurde. Diese Procession war im Ganzen dem Muster der biblischen Erzählung vom Kreuzesgange nachgebildet: die verschiedenen biblischen Personen, durch Kleidung oder Embleme kenntlich gemacht (unter ihnen der Darsteller Christi mit dem Kreuz), zogen in festgesetzter Reihenfolge einher, klagende Gesänge ertönten. An bestimmten Stellen wurde angehalten und es spielten sich dann die einzelnen dramatischen Scenen ab. Hierbei wurde indessen auch auf Ereignisse Rücksicht genommen, welche sich vor dem Kreuzesgang zugetragen hatten, so daß das Ganze als eine concentrirte Darstellung der Leidensgeschichte gelten konnte, welche mit der auf dem Calvarienberge vorgenommenen Kreuzigung, beziehungsweise mit der Grablegung ihren Abschluß fand. Reste dieser Processionen haben sich in Schlesien bis in den Anfang unseres Jahrhunderts, am Niederrhein bis gegen Ende des vorigen Jahrhunderts erhalten.120 In wieweit die Erinnerung an die Charfreitagsaufzüge noch in Thüringen und Sachsen fortlebte, darüber fehlen sonst die Nachrichten. Aber es ist klar, daß der Text zum Einleitungschore der Matthäuspassion nur aus einer Anschauung hervorgehen konnte, welche alles wesentliche der Passionsgeschichte in den Kreuzesgang und seinen weiteren Verlauf verlegte. Was Bach musikalisch gestaltete, ist ein großartiges Bild einer sich unter Klagegesängen fortbewegenden, wogenden Menge. Aber er hat zugleich auch an der Sitte festgehalten, die Passionsmusik mit einem Choral [394] zu eröffnen. Ein dritter einstimmiger Chor fügt in das verschlungene Stimmengewebe der beiden andern Chöre und des doppelten Orchesters den Choral »O Lamm Gottes, unschuldig«. Bei der Vorliebe, welche man in Leipzig für das Zusammenwirken mehrer an verschiedenen Stellen der Kirche aufgestellter Chöre hatte, ist es äußerst wahrscheinlich, daß der Choral von dem kleinen der Hauptorgel gegenüber gelegenen höheren Chore her gesungen wurde.121 Man muß es auch Picander nachrühmen, daß er die einzelnen Abschnitte des madrigalischen Textes sehr geschickt zu der jedesmaligen Choralzeile in Beziehung gesetzt hat. So erschien denn der Choral äußerlich und innerlich als die das Ganze dominirende Macht, und hiermit war das gewaltige Tonbild in die Gränzen des protestantischen Kirchenstiles verständlichst eingeschlossen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Picander, wie er sich für andre Theile seiner Dichtung Franck und Brockes zum Muster nahm, in diesen Partien gewisse Volksgesänge gradezu nachahmte. Wenn man von der respondirenden Form absieht so hat der Text des Eingangschors ganz die Art der die Charfreitags-Processionen begleitenden Gesänge.122 Er enthält außer dem noch einen Ausdruck, welcher seine urvolksthümliche Quelle deutlich verräth. Es war nach altdeutscher Sitte Pflicht der Verwandten bei dem üblichen Klagegeschrei über einen Todten zu »helfen«. Der Ausdruck ist im Bereich der Passionsdichtungen besonders in den sogenannten Marienklagen häufig.123 Picander läßt die Tochter Zion singen: »Kommt, ihr Töchter, helft mir klagen«. Daß ihm hierbei irgend eine Marienklage vorschwebte halte ich um so mehr für sicher, als eine solche auch den Text der Arie »Blute nur, du liebes Herz« dem Dichter[395] vielleicht kaum bewußt aber doch unzweifelhaft beeinflußt hat. Picander ist in seinen Versen immer klar und durchsichtig, nur wo er nachbildet oder umdichtet, wird er nicht selten verworren. In dem Texte
Blute nur, du liebes Herz!
Ach ein Kind, das du erzogen,
Das aus deiner Brust gesogen,
Droht den Pfleger zu ermorden,
Denn es ist zur Schlange worden
herrscht nun wirklich eine arge Verworrenheit. Weiß man doch sogleich nicht, ob von dem Herzen des gläubigen Christen, oder der Tochter Zion, oder Jesu die Rede ist. Den letzten Zeilen und dem ganzen Zusammenhange nach kann Picander nur das Herz Jesu gemeint haben, obgleich die Ausdrücke der zweiten und dritten Zeile zu dieser Annahme durchaus nicht passen. Die Phraseologie ist eben größtentheils diejenige einer Marienklage und in diesem Sinne von Picander selbst in dem Soliloquium verwendet, das er in der Passion von 1725 die Maria singen läßt. Die Frage läßt sich schwer beantworten, was wohl Bach mit seinem scharf durchdringenden Verstande bei dieser ganz unverständigen Reimerei sich gedacht haben mag, aus der er trotzdem eine seiner schönsten Arien entwickelte.
Noch eine Stelle von naiver Volkstümlichkeit findet sich in der Matthäuspassion, die indessen ausschließlich auf die Rechnung des Componisten kommt. Nachdem Petrus den Herrn verleugnet hat, erzählt der Evangelist: »Da dachte Petrus an die Worte Jesu, da er zu ihm sagte: Ehe der Hahn krähen wird, wirst du mich dreimal verleugnen«, und bringt zu dem entsprechenden Worte eine Tonfigur, welche das Krähen des Hahns nachahmen soll. Auch in der Ölbergscene, auf welche obige Worte zurückweisen, findet sich ein ähnlicher malender Gang, und an der analogen Stelle der Johannes-Passion124 steht in den Bässen eine Sechzehntelfigur, die unerklärlich ist, wenn man sie nicht auf das Krähen des Hahns deuten will. Die Absicht ist demnach unverkennbar. Denen, die in einer solchen Deutung eine Entwürdigung des Bachschen Genius sehen,125 könnte man zunächst zu bedenken geben, daß auch Schütz in seiner Matthäus-, Lucas- und Johannes-Passion und ebenso Sebastiani eine [396] ähnliche wenngleich bescheidenere Malerei angebracht haben. Man könnte sie ferner fragen ob es weniger äußerlich sei, wenn Bach das Wort »Hochpflaster« ja selbst das Wort »Hohepriester« durch hochgelegte Töne »malt«, und endlich auf das Wesen der Bachschen Recitative, wie wir es oben zu fassen gesucht haben, im allgemeinen hinweisen. Bei alledem müßte man doch zugeben, daß in der Nachahmung eines Thierlautes etwas besonders befremdliches liegt, das durch den Contrast, in dem es zu dem tiefen Ernst des ganzen Werkes steht, ins Komische überzuschlagen droht. Aber die Anknüpfung an volksthümliche Kunstgewohnheiten giebt dem Verfahren einen tieferen Sinn und bei richtiger Erfassung der Grundlagen, auf welche Bach sein Werk stellte, endlich auch eine gewisse Berechtigung. Das Krähen des Hahnes bildete in den geistlichen Schauspielen ein wegen seiner platten Natürlichkeit in den Kreisen des Volkes jedenfalls besonders beliebtes Moment.126 Kein Wunder, daß man es auch in den Passionsmusiken ungern vermißte. Scheibe, um zu gewissen »altfränkischen« Ausdrucksarten ein Beispiel zu geben, theilt die Erzählung eines Musikers aus Schlesien mit: »derselbe führte einst eine Passionsmusik auf, und um das Krähen des Hahnes recht sinnreich und natürlich auszudrücken, hatte er einen seiner Musikanten hinter der Orgel versteckt, der zu gehöriger Zeit auf dem bloßen Rohre der Hoboe das Krähen des Hahnes mit solcher Natürlichkeit vorstellte, daß alle Zuhörer in die größte Verwunderung gesetzt wurden und seinem glücklichen Einfalle das gebührende Lob ertheilten.«127 In Sachsen existirten bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts als Überreste der Passionsspiele gewisse Aufführungen der Leidensgeschichte, welche von wandernden Singchören gemacht wurden, und bei denen namentlich das dreimalige Krähen des Hahns, von einem der Sänger durch die Fistel nachgeahmt, ein mit besonderer Spannung erwartetes und mit großem Jubel aufgenommenes Moment bildete.128
Bachs Matthäuspassion ist auch als Ganzes ein im seltenen Grade [397] volksthümliches Werk. Nicht nur in der starken Accentuirung des Chorals, nicht nur in der Anknüpfung an gewisse volksthümliche Anschauungen oder in der treuen Wahrung liebgewordener kirchlicher Gebräuche liegt diese Eigenschaft begründet. Sie beruht auf dem gesammten Charakter der Musik, die bei all ihrer Tiefe, Weite und Fülle und trotz aller an sie gewendeten Kunst dennoch nirgends die Eingänglichkeit und Einfachheit als ihren Grundzug verleugnet, die zugleich mit bewundernswerther Sicherheit diejenige Hauptempfindung trifft und festhält, welche die ganze Geschichte von Christi Leiden und Sterben durchdringt: die versöhnende Liebe. Mögen auch heftige und erschütternde Affecte in der Matthäuspassion nicht fehlen, sie dienen nur dazu, den milden Grundton hernach desto voller und eindringlicher wieder hervortreten zu lassen. Der Gegensatz, welchen sie namentlich in dieser Beziehung zu der düstern Johannespassion bildet, ist ein scharfer. Daß sie dieselbe auch in vielen andern Dingen überragt, daß in ihr auf meisterliche Art alle den Ansprüchen der verschiedenartigsten Bestandtheile dieser denkbarst verwickelten Kunstform Genüge geschieht, dieses zusammenfassend noch einmal vorzuführen, dürfte unnöthig sein. Begünstigt durch ein glückliches Zusammentreffen der Umstände hat Bach in der Matthäuspassion ein überragendes Meisterwerk geschaffen, wie es im Laufe der Jahrhunderte nur selten den Menschen zu erleben gegönnt ist, ein Denkmal zugleich des deutschen Wesens, das nur mit diesem selber untergehen kann.
Die erste Aufführung der Matthäus-Passion fand Charfreitags den 15. April 1729 im Nachmittags-Gottesdienste statt. Daß die Zuhörer das Werk sofort in seiner ganzen Bedeutung hätten erfassen sollen, wäre eine unbillige Zumuthung gewesen. Indessen scheint die Aufnahme auch hinter Bachs berechtigten Erwartungen zurückgeblieben zu sein, da der Rath der Stadt sich unmittelbar darauf nicht einmal bewogen fühlte, dem Componisten einige bescheidene musikalische Wünsche zu erfüllen (s. S. 68). Erst mit der Zeit fand die Matthäus-Passion die ihr gebührende Bewunderung, und wenn sie sich auch nicht grade weit verbreitet haben mag – was die Schwierigkeit ihrer Ausführung und die unzulänglichen Mittel der meisten damaligen Kirchenchöre verhindert haben werden – so faßte sie doch im Leipziger Musikleben festen Boden und ist bis [398] gegen Ende des Jahrhunderts von den Thomascantoren aufgeführt worden.129 Der Vesper-Gottesdienst begann 11/4 Uhr und dauerte unter normalen Verhältnissen bis um 3 Uhr, da 31/4 Uhr schon wieder der Universitäts-Gottesdienst seinen Anfang nahm. Mit der Matthäus-Passion aber mußte sich die Charfreitags-Vesper auf mehr als 4 Stunden ausdehnen, da das Tonwerk allein schon gegen drittehalb Stunden beanspruchte. Durch diese abnorme Ausdehnung wurde das Verhältniß, in welchem sich die Passionsmusik zum Gottesdienste eigentlich befinden sollte, umgekehrt. Während die ursprüngliche und im Wesen der Sache begründete Idee auf einen Gottesdienst mit ausschmückender Musik abzielte, kam hier ein Kirchenconcert mit gottesdienstlichem Apparat zu Tage. Wirklich steht die Matthäuspassion hart an der Gränze wo die Kirchenmusik aufhört und die Concertmusik beginnt. Sie thut dies nicht vermöge ihres musikalisches Stiles, der durchaus noch ein kirchlicher ist, sondern durch die in ihr sich offenbarende Selbstgenügsamkeit der Kunst, die ihr Object durch eigne Mittel möglichst erschöpft und abrundet, und zur Erreichung der gewollten Wirkung der Kirche nunmehr fast nur als stimmunggebenden Hintergrundes noch bedarf. Daß die verwälschten Passionsoratorien der Zeitgenossen lieber in Musiksälen als in der Kirche gehört wurden, kann nicht wunder nehmen. Aber selbst Bachs Werk stand aus dem genannten Grunde der außerkirchlichen Musik wenigstens so nahe, daß der Versuch, sie gelegentlich auch im Locale des Musikvereins oder sogar in Bachs geräumiger Wohnung aufzuführen wohl einmal gemacht sein dürfte.130 Es bildet dieses Verhältniß einen neuen Beleg für den Erfahrungsatz, daß Kunstwerke, in welchen die Idee einer Kunstgattung in ihrer höchsten Vollendung erscheint, immer zugleich schon den Keim in sich tragen, der die Zerstörung der Gattung herbeiführen soll. Beiläufig wolle man sich erinnern daß, abgesehen von den in der Neuen Kirche längst bestehenden Passionsaufführungen131, seit 1728 Görner [399] auch in der Vesper der Universitätskirche eine Charfreitagsmusik eingerichtet hatte. Es ergiebt sich, daß dieselbe bei der Länge der Matthäuspassion mit dieser nothwendig zusammenfallen mußte, sowie daß seit 1730, da Görner Organist der Thomaskirche wurde, derselbe bei allen hernach dort stattfindenden großen Passions-Aufführungen nicht für das Orgelaccompagnement benutzt werden konnte. In die Thomaskirche aber verlegte Bach der geeigneteren Räumlichkeiten wegen so viel wie möglich die Aufführung seiner eignen großen Werke. So trat er 1731 mit der Marcus-Passion hervor, dann wahrscheinlich 1734 mit der aufgefrischten Lucas-Passion, und vermuthlich 1736 mit einer dritten Aufführung der Johannespassion.132 In der veränderten und zugleich erweiterten Gestalt, in welcher wir die Matthäuspassion besitzen, kann sie frühestens im Jahre 1740 zu Gehör gebracht worden sein.133
Fußnoten
VIII.
Der tiefe kirchlich-volksthümliche Grund, auf welchem Bachs Passionen beruhen, trägt auch dessen große Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrts-Musiken. Indessen ist die Art der Beziehungen auf denselben eine etwas andre. Daß in der mittelalterlichen Kirche Evangelienlectionen mit vertheilten Rollen zu Weihnachten, Ostern und Himmelfahrt eben so stattfanden wie in der Passionszeit, ist sicher bezeugt. Die protestantische Kirche hat aber von denselben nicht in gleicher Weise Gebrauch gemacht. Ich habe wenigstens für Weihnachten und Himmelfahrt kein Beispiel gefunden, daß sie in den ersten anderthalb Jahrhunderten der Reformation in protestantischen Ländern geübt worden seien. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts kommen sie in Thüringen vor1 und ein bewußtes Wiederanknüpfen [400] an den altkirchlichen Gebrauch dürfte ihre Erscheinung jetzt kaum bedeuten, man wird vielmehr nur eine Rückwirkung der altbeliebten Passionsform in ihr erkennen müssen. Hieraus erklärt sich dann, warum Bach seine betreffenden Werke mit dem fremdländischen Titel »Oratorium« versah. Es fehlte ihm eben eine durch die kirchliche Praxis überlieferte Bezeichnung, und er borgte den Namen von derjenigen Form, die ihm verhältnißmäßig die nächste Verwandtschaft mit dem was er gestalten wollte zu haben schien. Der Zusammenhang mit den Liturgien der drei Feste ist demnach in dieser einen Hinsicht kein so tiefgewurzelter wie bei den Passionen. Dagegen treten die Beziehungen zu gewissen andern kirchlich-volksthümlichen Gebräuchen theilweise um so deutlicher hervor. Das geistliche Volksschauspiel, insofern es sich mit dem Erlösungswerk Christi befaßte, ging wohl noch über die Menschwerdung zurück in die alttestamentliche Vorbereitung zu demselben; es ging aber nicht über die Himmelfahrt hinaus, die Pfingstvorgänge also ließ es unberücksichtigt. Bach hat ebenfalls kein Pfingst-»Oratorium« hinterlassen und schon hierin dürfte eine Beobachtung der volksthümlichen Tradition offenbar werden. Doch wird man sich vor der allzusichern Annahme einer Absichtlichkeit hüten müssen, da am Ende des 17. Jahrhunderts selbst Pfingstmusiken in der Form der Passionen nicht ohne Beispiel sind.2
Es ist oben (S. 329) bemerkt worden, daß aus den dramatisirten Lectionen der Passionsgeschichte sich die mittelalterlichen Passionsschauspiele entwickelten, deren Schauplatz anfänglich noch die Kirche blieb. Die Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtsspiele haben denselben Ursprung. Da aber die zu ihrer dramatischen Versinnlichung erforderlichen Ceremonien und Aufzüge der Beschaffenheit [401] der Handlungen gemäß viel einfachere waren, so ist es begreiflich, daß diese sich auch vollständiger in der Liturgie erhalten konnten, während man die Passionsliturgien, um sich der Ausartung der außerkirchlichen Schauspiele entgegen zu stellen, wieder auf die nothwendigsten dramatischen Andeutungen beschränkte. Die Weihnachtserzählung bietet nur vier Vorgänge dar: die Geburt, die Verkündigung der Engel an die Hirten, der Gang der Hirten nach Bethlehem und die Anbetung der heiligen drei Könige. Die symbolisch-dramatische Darstellung derselben ist denn auch der protestantischen Liturgie lange Zeit hindurch ganz oder theilweise verblieben. Was von ihr im Leipziger Cultus zu Bachs Zeit noch lebendig war, ist zum Theil schon bei Gelegenheit des Magnificat (S. 201) in Betracht gezogen. Neben der Sitte des Kindleinwiegens muß man in Leipzig auch eine symbolische Ceremonie zur Darstellung der Engelbotschaft gekannt haben. Sie bestand darin, daß Knaben als Engel verkleidet in vier Chören sich an vier Stellen der Kirche (beispielsweise vor dem Altar, auf der Kanzel, im Beamten-Stuhl und auf dem Orgelchor) aufstellten und den ChristgesangQuem pastores laudavere Zeile um Zeile unter einander abwechselnd vortrugen.3 Daß dieses auch in Leipzig geschehen ist, lehrt uns das Gesangbuch des Vopelius, es bleibt freilich unerwiesen, ob noch während Bachs Zeit.4 Nun liefen aber neben diesen liturgischen Vorgängen die außerkirchlichen Weihnachtsspiele her, welche sich gleichfalls um jene vier Haupthandlungen mit volksthümlicher Freiheit und Naivetät bewegten. Da das Weihnachtsfest sich mit urgermanischen heidnischen Gebräuchen und Anschauungen verschmolzen hatte, so wurzelten auch die Weihnachtsspiele viel tiefer und zäher noch im Volksleben, als die Passionsspiele; sie blühten demnach auch noch viel frischer als diese und waren dem Sohne des Thüringerstammes etwas von Jugend her vertrautes. So waren auch hier die Umstände günstig für die Gestaltung eines liturgischen Weihnachts-Mysteriums, das Anschauung und Empfindung des Volkes mit reichsten Kunstmitteln und in höchster künstlerischer Vollendung erschöpfend zum Ausdrucke bringen sollte.
[402] Das Weihnachts-Oratorium hat Bach im Jahre 1734 geschrieben.5 Der biblische Text findet sich Lucas 2, v. 1 und v. 3–21, sodann Matthäus 2, v. 1–12. Dieser Text ist nicht, wie bei den Passionen, nach Art des italiänischen Oratoriums in zwei Hälften zerlegt, sondern nach Maßgabe der Perikopen für die drei Christtage, den Neujahrstag, den Sonntag nach Neujahr und das Epiphaniasfest in sechs Theile. Es bildet somit jeder Theil zugleich eine abgeschlossene Festmusik für einen der sechs Feiertage, und wurde auch als solche in der gewöhnlichen Weise aufgeführt. Man hat daraufhin wohl gemeint, das Weihnachtsoratorium sei nur eine Reihe äußerlich zusammengesetzter selbständiger Cantaten. In unserer der Kirche entfremdeten Zeit kann allerdings ein solches Urtheil nicht überraschen und überdies ist der von Bach selbst gegebene Noth-Titel »Oratorium« irreleitend. Aber die Kirche faßte die Zeit der Zwölfnächte (vom 1. Christtag bis zum Dreikönigsfest), welche schon dem germanischen Heidenthum eine geheiligte war, zu einer Festperiode zusammen, deren Mittelpunkt Christi Geburt bildete. Wenn die katholische Kirche in diese Zeit auch die Feier einiger Aposteltage verlegt hatte, so bemühte man, sich protestantischerseits, dieselben wieder auszumerzen, um nur allein mit der Person Jesu sich zu beschäftigen. So war es auch in Leipzig. An den drei Weihnachtstagen wurde über die Geburt gepredigt, am Neujahrstage über die Beschneidung, an dem Sonntage nach Neujahr und dem Epiphaniastage von den Nachstellungen des Herodes und den morgenländischen Weisen. Auch wurden an allen diesen Tagen die Weihnachtslieder gesungen.6 Abgesehen also davon, daß die sechs Theile des Weihnachts-Oratoriums eine fortlaufende Begebenheit behandeln, mußten sie der kirchlichen Anschauung schon durch ihre Bestimmung auf die sechs zusammengehörigen Feiertage als ein Ganzes sich darstellen. Freilich diese kirchliche Anschauung ist für das Verständniß des Werkes nothwendig, ihm so wenig wie den Passionen darf man mit den Ansprüchen an ein Concert-Oratorium gegenübertreten. [403] Was Bach hier für Weihnachten that, war andern Orts auch für die Passionszeit Brauch, wie oben (S. 357 f.) bemerkt worden ist.7
Die madrigalischen Stücke sind größeren Theils Übertragungen aus weltlichen Gelegenheitsmusiken. Ein Drama per musica, das Bach zum Geburtstage der Königin am 8. December 1733 im Musikverein aufführte, hat zu den Anfangs-Chören des ersten und dritten Theils, und zu zwei Arien die Musik hergegeben. Einem Werke gleicher Gattung, welches zum 5. September desselben Jahres um den Geburtstag des Thronfolgers zu feiern componirt wurde, sind vier Arien, ein Duett und ein Chor, und einer dem 5. October 1734 bestimmten Gratulationscantate für den Leipzig besuchenden König Friedrich August III. eine Arie entnommen. Auch von den noch übrigen sechs Stücken ist es bei vieren wahrscheinlich, daß sie Übertragungen nicht mehr vorhandener Originalcompositionen sind.8 Den Text für den Geburtstag der Königin hat Bach augenscheinlich selbst gemacht.9 Dichter der Cantate auf den Geburtstag des Churprinzen war Picander, und bei der Gratulationscantate darf man dasselbe vermuthen.10 Hiernach ist es fast selbstverständlich, daß Bach und Picander ein jeder an seinem Textantheile auch die für das Weihnachts-Oratorium erforderlichen Umdichtungen besorgten. Bestätigt wird diese Annahme durch den Text des ersten Chors; [404] derselbe ist theils nach Psalm 100, v. 2 gebildet, theils klingt er vernehmlich an zwei Arien Johann Georg Ahles an, welche Picander kaum bekannt sein konnten, wohl aber Bach, dem unmittelbaren Nachfolger Ahles in Mühlhausen.11 Ob die weltlichen Gesangstücke, die in das Weihnachts-Oratorium eingegangen sind, nicht auch ihrerseits wieder, wenigstens zum Theil, auf älteren Compositionen beruhen, ist eine nicht unbedingt zu verneinende Frage. Jedenfalls kommt der Schlußchor des Drama für den Churprinzen, der freilich im Weihnachts-Oratorium keine Verwendung gefunden hat, schon in der Cantate »Erwünschtes Freudenlicht« vor, natürlich mit anderm Text, und selbst hier wird er keine Originalarbeit sein.12
Es könnte unter solchen Umständen scheinen als müßte dem Weihnachts-Oratorium die Einheitlichkeit fehlen. Soviel muß man zugeben: manche Einzelheiten der madrigalischen Musikstücke verrathen, daß sie ursprünglich über einen andern Text gesetzt worden sind. Die Worte des ersten Chors lauteten eigentlich: »Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten!«; hiernach ist der Anfang der Musik, die allein beginnende Pauke, die gleich darauf einfallende Trompetenfanfare, eingerichtet, dagegen paßt zu den Worten: »Jauchzet, frohlocket, auf! preiset die Tage« dieser Anfang nicht mehr. Der Eingangschor des vierten Theils hatte den Text: »Laßt uns sorgen, laßt uns wachen«, und der Begriff »wachen« wurde durch zwei kurzgestoßene Achtel versinnlicht; durch das Wort der Parodie »loben« erscheint dies Ausdrucksmittel weniger bedingt. »Auf meinen Flügeln sollst du schweben, Auf meinem Fittich steigest du Den Sternen wie ein Adler zu« lautet es in der Cantate für den Churprinzen. Der Musik, die das Schweben und Aufsteigen in edler Plastik darstellt, ist im vierten Theile des Weihnachts-Oratoriums der Text untergelegt: »Ich will nur dir zu Ehren leben, Mein Heiland gieb mir Kraft und Muth, Daß es mein Herz recht eifrig thut.« In derselben Cantate singt Hercules: »Ich will dich nicht hören, ich will dich nicht wissen, Verworfene Wollust, ich kenne dich nicht. Denn die Schlangen, So mich wollten wiegend fangen, Hab ich schon lange zerdrücket, [405] zerrissen«. Die Begleitung malt an den betreffenden Stellen die Windungen der Schlangen; zu den parodirten Worten: »Deine Wangen Müssen heut viel schöner prangen« wird die Bedeutung dieser Tonreihen unverständlich. Aber daß Bach sich an solchen kleinen Incongruenzen nicht stieß, ist auch wieder für die richtige Auffassung seiner Musik äußerst belehrend. Wie gern er auch malerische Züge einstreute, er that es nicht in Folge einer auf musikalische Plastik gerichteten Grundanschauung. Jene Züge sind flüchtigen Anregungen entsprungene Witze, deren Vorhandensein oder Fehlen Werth und Verständlichkeit des Tonstückes in seinem eigentlichen Wesen nicht ändert. Man ist bei Bach zu leicht bereit, irgend eine scharf hervortretende melodische Linie, eine frappante harmonische Wendung und irgend ein bezeichnendes oder affectvolles Wort, das mit jenen musikalischen Gestaltungen zusammentrifft, in eine innigere und tiefere Beziehung zu bringen, als sie im Sinne des Componisten gelegen haben kann. Ist schon in Bachs Recitativen die Übereinstimmung von Wort und Ton manchmal etwas nebensächliches, fast zufälliges zu nennen, wie viel mehr in den gebundenen Musikstücken. Wer je die erste Alt-Arie des Weihnachts-Oratoriums hörte, wird sich über den zärtlichen Ausdruck der vereinzelten Ausrufe »den Schönsten«, »den Liebsten« gefreut haben. Es scheint als gehörten Text und Musik untrennbar zusammen. Aber im Original fallen auf dieselben musikalischen Wendungen die Worte: »ich will nicht!« »ich mag nicht!«, und sie passen auch ganz gut. Oft ist die Herstellung solcher tieferen Übereinstimmungen nur der Gestaltungskraft des Sängers anheimgegeben; Bachs Musik weist sie nicht ab, fordert sie aber auch nicht.13 Ja selbst die Einwirkung der im Text gegebenen poetischen Empfindung auf die Gestaltung des Musikstückes im Ganzen ist bei Bach durchschnittlich eine viel mehr verallgemeinerte, als bei irgend einem andern Meister seiner und der späteren Zeit. Die angeführte Arie dient in der weltlichen Cantate dem Hercules, seine Verachtung der Freuden der Wollust auszudrücken, im Weihnachts-Oratorium wird sie eine Aufforderung an die Tochter Zion, den ersehnten Bräutigam liebend zu empfangen. Dabei wird man dennoch einstimmig sein, daß es kaum [406] ein charaktervolleres Musikstück giebt als dieses, nur liegt der Charakter größtenteils in der Musik an sich. Übertrug nun Bach vollständige abgeschlossene Tonstücke aus einem Werke in ein anderes, so wird es sich zumeist darum handeln, ob sie in den musikalischen Zusammenhang passen und, wenn die anfängliche Bestimmung eine weltliche war, ob ihr Stil dem kirchlichen Werke nicht widerspricht. Hinsichtlich der letzteren Frage darf ich auf früher Gesagtes zurückweisen.14 Bachs gesammte Ausdrucksweise hat sich auf kirchlichem Grunde gebildet. Ob er geistliche oder weltliche Musik componirt, ob er Orgelfugen oder Kammersonaten schreibt, der kirchliche Grundton, der aus dem Wesen der Orgel entwickelte Stil durchdringt alle seine Werke. Er konnte demnach kaum etwas unkirchliches schreiben. Seine weltlichen Gelegenheitsmusiken waren vielmehr unweltlich, als solche erfüllten sie ihren Zweck nicht und der Componist gab sie ihrer eigentlichen Heimath zurück, wenn er sie zu Kirchenmusiken umwandelte. Angesichts des unermessenen schöpferischen Reichthums und des tiefen Künstlerernstes, von welchem Bachs Werke zeugen, wird man nicht behaupten dürfen, derartige Übertragungen seien aus Bequemlichkeit oder Zeitmangel geschehen. Sie erfolgten aus dem richtigen Gefühle, daß die betreffenden Stücke erst durch eine kirchliche Bestimmung völlig stilgemäß erscheinen würden. Damit soll nicht zugleich jeder Unterschied zwischen Bachs geistlicher und weltlicher Schreibweise geleugnet werden. Abgesehen von der ihn beim Schaffen überhaupt beherrschenden Grundstimmung mußte sich Bach natürlich in verschiedener Weise angeregt fühlen, wenn er zur Ergötzung seines Musikvereins und zur Erbauung der christlichen Gemeinde componiren, wenn er die Churfürstin von Sachsen besingen und das Christuskind feiern wollte. Der Charakter der weltlichen Cantaten ist verhältnißmäßig leichter und spielender. Aber es fehlten auch im kirchlichen Leben nicht die passenden Veranlassungen diesen Ton anzuschlagen, und die Weihnachtsfeier war vor allen eine solche. Die festliche Heiterkeit und kindliche Lieblichkeit, welche den Grundzug des Weihnachts-Oratoriums bildet und dem Charakter des Christfestes einen erschöpfenden Ausdruck giebt, ist aufs glücklichste [407] durch jene Übertragung weltlicher Gesangsstücke erreicht worden. Allerdings fehlt es bei Bach auch nicht an Musikstücken, deren Haltung durch den Text schärfer bestimmt erscheint. Bei ihrer Übertragung ist aber auch immer mit Vorsicht verfahren und der parodirte Text der charakteristischen Musik geschickt angepaßt. Das Wiegenlied des zweiten Theils ist auch in der älteren Conception der Geburtstagscantate für den Churprinzen ein Schlummergesang.
Kein anderes Werk Bachs birgt einen reicheren Schatz reizender, leicht eingänglicher Melodien, als das Weihnachts-Oratorium. Doch nicht im musikalischen allein liegt der volksthümliche Zug desselben. Wo es nur anging, ist auch im poetischen Theile auf die Anschauungen der weihnachtlichen Volks-Schauspiele und -Lieder und die mit ihnen zusammenhängenden Ceremonien Rücksicht genommen. Die Sitte des Kindleinwiegens wird durch das Schlummerlied des zweiten Theiles »Schlafe, mein Liebster« zurückgespiegelt, ein Stück von bestrickendem Wohllaut und süßester Melodik.15 Es steht freilich nicht an der ihm eigentlich gebührenden Stelle: diese wäre im dritten Theile gewesen. Musikalische Gründe müssen Bach abgehalten haben es dort einzusetzen. Im zweiten wird sein Eintritt so motivirt, daß eine Bassstimme die Aufforderung an die Hirten fortsetzt und ihnen aufträgt, wenn sie nach Bethlehem gekommen seien, dem Gottessohne »in einem süßen Ton16 und mit gesammtem Chor« das folgende Lied zu singen, welches allerdings für einen chorischen Vortrag keineswegs geeignet ist. Es kam hier nur darauf an, eine Veranlassung zu finden, die Arie selbst hat sich Bach wohl eher im Munde der Maria gedacht, da sie einer Altstimme zuertheilt ist, während sie in der Cantate auf den Geburtstag des Churprinzen von einer Sopranstimme um eine kleine Terz höher vorgetragen wird. In den Weihnachtsspielen und Weihnachte-Hirtenliedern ist es ein stereotyper Zug, daß die Hirten nach Empfang der Engelbotschaft zum Gange nach Bethlehem ermuntert werden. In einem schlesischen Spiele heißt es:
Wenn man damit den Text der Tenorarie im zweiten Theile des Weihnachts-Oratoriums vergleicht:
Frohe Hirten, eilt, ach eilet
Eh' ihr euch zu lang verweilet,
Eilt, das holde Kind zu sehn,
so wird man nicht zweifeln, daß hier ein Zusammenhang besteht. Die Sache ist deshalb besonders wichtig, weil den Text der aus der Cantate für die Königin entnommenen Arie Bach selbst gemacht hat und folglich auch die Umdichtung besorgt haben wird; er selbst ist es also gewesen, dem die Einfügung dieser Reminiscenz aus dem Volksleben zugeschrieben werden muß. Derselben Cantate gehörte die Bassarie des ersten Theils zu, in welcher Jesus als der »große Herr und starke König« besungen wird; auch hier dürften demnach die Worte vom Componisten herrühren. Der Armuth in welcher Jesus auf Erden erscheint, seine göttliche Herrschermacht gegenüber zu stellen mußte schon im allgemeinen nahe liegen. Es scheint indessen, als habe Bach noch mehr beabsichtigt. Die heiligen drei Könige, deren Einherziehen schon in der altkirchlichen Liturgie dramatisch versinnlicht wurde, und die nachher als volksthümliche Figuren auch in außerkirchlichen Umzügen sehr beliebt waren, bringen bekanntlich dem Christkinde dreierlei Gaben: Gold, Weihrauch und Myrrhen. Das Gold gilt dem Könige, der Weihrauch dem Gotte, die Myrrhen dem zu Leiden und Kreuzestod bestimmten Erlöser.18 Im ersten Theile des Weihnachts-Oratoriums ist allerdings von den Drei Königen noch nicht die Rede. Wir sahen aber oben schon, daß es Bach [409] mehr darauf angekommen zu sein scheint, gewisse volksthümlich-kirchliche Anschauungen überhaupt zum Ausdruck zu bringen, als gerade an den ihnen eigentlich zukommenden Stellen. Die Vorausdeutung auf Christi Leiden gleich bei seiner Geburt hat nun wirklich im ersten Theile des Werks eine ergreifende Gestalt gewonnen durch die Anwendung der Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« zu dem Begrüßungsliede »Wie soll ich dich empfangen«, die in die helle Feststimmung einen düstern Schatten fallen läßt. Die Göttlichkeit Christi noch durch einen besondern Satz hervorzuheben mußte unnöthig erscheinen. Aber sein königliches Wesen zu betonen, lag nun um so mehr nahe, und dazu war auch im Raum des Ganzen immerhin Platz. Zwar nicht mit Unrecht hat man als die Grundanschauung des ersten Theiles das apostolische Wort bezeichnet: »er äußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an«. In dem Rahmen der Festfreude ist es allerdings vorzugsweise das Bild demüthiger Erniedrigung, was uns entgegentritt. Der Vorwurf aber als passe deshalb die Bassarie nicht hinein, wird wohl durch den Nachweis der Beziehung entkräftet, welche auf Grund einer volksthümlichen Anschauung zwischen ihr und dem ersten Choral besteht.19 Wenn im zweiten Theile der Engel die Geburt verkündigt hat, wird die oben erwähnte Arie »Frohe Hirten, eilt, ach eilet« durch folgendes Bass-Recitativ eingeleitet:
Auch dieser Text scheint eine verborgenere Beziehung zu enthalten. Die frostige Antithese von Abraham dem Hirten und den bethlehemitischen Hirten war schwerlich das Motiv der Dichtung; es dürfte vielmehr dem Verfasser etwas vom Lobe des Hirtenstandes vorgeschwebt haben. In Weihnachtsspielen kam es vor, daß die in der Nacht wachenden Hirten, um sich die Zeit zu vertreiben, eine Cantilena de laude pastorum anstimmten. Eine solche findet sich in einem bairischen Weihnachtsspiele, sie beginnt:
Laßt uns singen von den Hirten,
Was sie genießen für große Würden,
und geht dann die Hirten des alten Testamentes durch.20 Daß dieses Motiv bis in die neue Zeit ein populäres blieb, zeigt noch Johannes Falks bekannter Hirtenreigen:
Was kann schöner sein,
Was kann edler sein,
Als von Hirten abzustammen.
Um für die Instrumentalsinfonie, mit welcher der zweite Theil beginnt, recht empfänglich zu werden, wird man auch gut thun sich mit der Stimmung zu erfüllen, aus welcher grade in den Weihnachtsspielen die nächtlichen Hirtenscenen geschaffen sind. Die in der naiven Anschauung des Volkes sich ohne Schwierigkeit vereinigenden Gegensätze: die Lieblichkeit der orientalischen Idylle und der Ernst der sternklaren nordischen Winternacht bilden auch für die Sinfonie den Stimmungsuntergrund. Dieses wunderbare, wie aus Silberfäden gewobene und durch seinen Farbenschmelz bezaubernde Stück ist von einer stillen Heiterkeit und doch unaussprechlich feierlich, es ist kindlich und dennoch übervoll von schwellender Sehnsucht. Die Natur-Romantik, welche es unverkennbar athmet, webt auch noch in dem großartigen Engelchore »Ehre sei Gott in der Höhe«, bei dessen glitzernder Begleitung man in den Sternenraum aufzublicken meint.
[411] Der Bericht des Weihnachts-Evangeliums ist von viel geringerem Umfange, an Ereignissen ärmer und auch weit weniger lebendig, als die Passionsgeschichte. Dadurch kommt der lyrische Theil ins Übergewicht und das Ganze neigt sich entschiedener zum Stil der Kirchencantate hinüber. Bach hat dies selbst sehr wohl gemerkt, ja er hat aus freien Stücken das lyrische Element stärker noch hervorgehoben, als die Umstände erforderten. Selbst zusammengehörige Abschnitte des Evangeliums, die Bach auch als solche behandelte, werden nicht selten von madrigalischen Betrachtungen durchzogen, was in den Passionen nirgends vorkommt. Die im Evangelium gebotenen Gelegenheiten zum Wechsel der recitirenden Stimmen und zur Einführung von Chören hat Bach garnicht einmal immer benutzt. Im zweiten Theil läßt er einmal die Partie des Engels (Sopran) von dem Evangelisten (Tenor) fortsetzen. Es geschieht allerdings, nachdem die Verkündigung des Engels durch ein Recitativ und eine Arie unterbrochen worden ist.21 Hiernach den Engel ohne Vermittlung des Evangelisten noch einmal wieder einsetzen zu lassen, mochte Bach für bedenklich halten. Aber wenn ihm an der Durchführung der dramatischen Fiction viel gelegen gewesen wäre, hätte er die einzelnen Stücke wohl überhaupt anders geordnet. Im fünften Theile läßt Herodes die Hohenpriester und Schriftgelehrten versammeln und befragt sie um Christi Geburtsort. Sie antworten: »Zu Bethlehem im jüdischen Lande. Denn also stehet geschrieben durch den Propheten: Und du Bethlehem im jüdischen Lande bist mit nichten die kleinste unter den Fürsten Judas«, u.s.w. Nach der Regel hätte aus diesen Worten ein Chor gemacht werden müssen; es singt sie aber der Evangelist.22 Der Grund liegt hier, wie ich glaube, nicht in einer Geringschätzung des dramatischen Elements. Die populären Personen der Weihnachtsgeschichte waren, außer Maria und Joseph mit dem Kinde: der verkündigende Engel, die lobsingenden Engelschaaren, die Hirten, die Drei Könige und Herodes. Sie hat auch Bach, soweit es der Text des Evangeliums zuließ, dramatisch eingeführt. Von einem Chor der Hohenpriester und Schriftgelehrten mußte er einen befremdenden und verwirrenden Eindruck befürchten, da diese Personen als solche für die Ereignisse bei Christi [412] Geburt nichts bedeuten; und er wollte sich eben ganz im Anschauungskreise des Volkes halten. Allerdings ließ er so ein Mittel zu größerer dramatischer Lebendigkeit unbenutzt. Aus der vorwiegend lyrischen Haltung des Werks begreift sich endlich auch die Unbekümmertheit, mit welcher Bach Stücke wie das Wiegenlied oder den Preisgesang auf Christus den König an Stellen einsetzte, wohin sie dem Verlaufe der Handlung nach nicht gehörten. Er stellte sich mehr auf den Standpunkt der Kirchencantate, bei welcher die Begebenheiten des Evangeliums als bekannt vorausgesetzt und die daher gewonnenen Anregungen nach rein musikalischen oder sonstigen Rücksichten ausgenutzt werden.
Nach der Beschaffenheit des Stoffes muß man das Weihnachts-Oratorium in drei Abschnitte zerlegen. Die Erzählung von der Geburt und deren Verkündigung, die eigentliche Weihnachtsgeschichte, wird in den ersten drei Theilen behandelt. Der vierte gilt dem Namenstage Jesu, der fünfte und sechste den Drei Königen. Bach hat das ganze Werk in kenntlicher Weise dadurch zu einer Einheit zusammengeschlossen, daß er den ersten Choral des ersten Theiles am Schluß des letzten in der Form einer glänzenden und festlichen Choralfantasie wiederkehren läßt. Übrigens haben die Abschnitte doch ihren besonderen Charakter. In den ersten drei Theilen waltet die Weihnachtsstimmung am intensivsten. Dies wird zu einem erheblichen Theile durch die Choräle bewirkt, die weit zahlreicher eingestreut sind als in den letzten drei Theilen und fast alle sich als die bekanntesten Weihnachtslieder darstellen. Die Melodie »Gelobet seist du, Jesu Christ« kommt zweimal vor, »Vom Himmel hoch« dreimal, »Fröhlich soll mein Herze springen« und »Wir Christenleut« je einmal; außerdem noch das Adventslied »Wie soll ich dich empfangen«, mit der Melodie »O Haupt voll Blut und Wunden« tiefsinnig vermählt, und die neunte Strophe von »Ermuntre dich, mein schwacher Geist«.23 Die Mehrzahl ist einfach vierstimmig gesetzt, aber mit sinnreicher Verwendung der Kirchentonarten. Die Melodie [413] »O Haupt voll Blut und Wunden« hat Bach phrygisch harmonisirt und hierdurch jeden Zweifel über die Absicht ihrer Einführung ausgeschlossen. Wenn im zweiten Theil die Melodie »Vom Himmel hoch« mit der achten Strophe des Gerhardtschen Liedes »Schaut, schaut, was ist für Wunder das?« auftritt, zeigen ihre Harmonien mixolydische Anklänge und der letzten Strophe des Liedes »Fröhlich soll mein Herze springen«, welche als vorletzter Choralsatz des dritten Theiles zu einer theilweise gewiß von Bach selbst herstammenden Umbildung der Melodie »Warum sollt ich mich denn grämen« gesungen wird, ist das mixolydische Gepräge in deutlichst erkennbarer Weise gegeben. Beide Male aber zeigt sich der Charakter demüthiger Innigkeit, welchen die Choräle durch diese Behandlung erhalten, durch den Zusammenhang aufs schönste bedingt und ist von tiefer Wirkung.24 Im Gegensatze zu der Matthäus-Passion kommt indessen einmal im Weihnachts-Oratorium auch ein einstimmiger Choralgesang vor. Als der Evangelist erzählt hat: »Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge« entwickeln zwei Oboen mit den Bässen und der Orgel ein reizendes Tonbild zärtlicher, schüchterner Innigkeit, in welches der Sopran die sechste Strophe von »Gelobet seist du, Jesu Christ« still hineinfügt, während zwischen die einzelnen Zeilen recitativische Betrachtungen des Basses treten.25 Choralsätze wie man sie sonst bei Bach nicht zu finden pflegt schließen den ersten und zweiten Theil. Die Choräle treten auch hier im einfach vierstimmigen Satze auf, aber mit Zwischen- und Nachspielen der Instrumente, welche auf Motiven oder doch Anklängen des ersten Stücks des jedesmaligen Theiles beruhen. Dort ist es die dreizehnte Strophe des Liedes »Vom Himmel hoch«, hier die zweite Strophe des Gerhardtschen Gedichts »Wir singen dir, Immanuel« zu welcher aber nicht die ursprüngliche Melodie »Erschienen ist der herrlich Tag« benutzt ist, sondern ebenfalls die Melodie »Vom Himmel hoch«: um den Text anzupassen mußte [414] Bach das abschließende »Hallelujah« weglassen. Die Absicht, Anfang und Ende auch musikalisch auf einander zu beziehen, tritt auch im dritten Theil zu Tage; hier bildet nicht ein Choral das Ende, sondern der Anfangschor wird – ein bei Bach seltener Fall – wiederholt. Der fünfte und sechste Theil, der Geschichte von den heiligen drei Königen gewidmet, steht an musikalischem Werthe hinter den ersten drei Theilen nicht zurück. Die lyrischen Chöre sind kunst- und schwungvoll. Unter den Sologesängen ist ein Terzett im dramatischen Stil (»Ach, wann wird die Zeit erscheinen«), und ein vierstimmiges fugirtes Recitativ (»Was will der Hölle Schrecken nun«) von hervorragender Bedeutung. Dagegen hat es Bach unterlassen, die zu Grunde liegende Begebenheit in der Weise seiner Passionen gründlich auszunutzen. Der cantatenhafte Charakter tritt mehr noch, als in den ersten drei Theilen hervor. Auch liegt das eigenthümlich Weihnachtliche mehr nur in der allgemeinen Haltung der Musik, als in den Chorälen. Die beiden hauptsächlichen Weihnachts-Lieder der Leipziger Gemeinde »Vom Himmel hoch« und »Gelobet seist du, Jesu Christ«26 kommen nicht wieder vor. Unter vier Chorälen ist überhaupt nur einer (Gerhardts »Ich steh an deiner Krippen hier«) ein wirkliches Weihnachtslied, einer (»Dein Glanz all Finsterniß verzehrt«) ein Epiphanias-Gesang, die andern beiden sind ohne bestimmt ausgeprägten festlichen Text und auch ihre Melodien (»Gott des Himmels und der Erden« und »O Haupt voll Blut und Wunden«) keine Weihnachtsmelodien. In dem Epiphanias-Gesange hat es Bach für zweckdienlich gehalten, den Text, in dem Choral »Zwar ist solche Herzensstube« die Melodie etwas abzuändern.27 Am wenigsten vom Charakter einer kirchlichen Festmusik besitzt der vierte Theil. Der biblische Kern besteht nur aus einem einzigen Verse des Lucas-Evangeliums (2, 21), welcher von der Beschneidung und Namengebung Jesu berichtet. Aus ihm unmittelbar ließ sich nicht viel Stoff gewinnen. Aber auch auf die Vermittlung der Liturgie [415] hat Bach fast verzichtet. Kein Weihnachtslied, ja überhaupt kein wirklicher Choral kommt vor. Allerdings sind dem Texte zwei Strophen Ristscher Kirchenlieder eingefügt: die fünfzehnte Strophe des Liedes »Hilf, Herr Jesu, laß gelingen« als Schlußgesang in derselben Form, welche die ersten beiden Theile an dieser Stelle haben; die erste Strophe des Liedes »Jesu du mein liebstes Leben« als ein in zwei selbständige Sätze zerschnittenes Sopranarioso mit contrapunctirendem Bass-Recitativ.28 Beide Male hat Bach aber nicht die gebräuchlichen Kirchenmelodien, sondern andere, arienhaften Charakters, benutzt, die man, da sie sonst nirgends vorkommen, längst und mit Grund für Bachs eigne Erfindungen hält.29 Dieser Theil trägt daher mehr nur das Gepräge einer religiösen Composition, er ist von hoher Anmuth und Lieblichkeit, muß aber eine bestimmte kirchliche Haltung erst durch seine Stellung im Zusammenhange des ganzen Werkes empfangen. Ich habe schon mehre Male darauf hinzuweisen gehabt, daß Bach in der mittleren Leipziger Periode die Neigung zeigt, seine Kirchenmusik in eine Art religiöser Hausmusik hinüber zu leiten, oder, wie man zuweilen auch umgekehrt sagen kann, die von ihm geübte und geliebte geistliche Hausmusik zur Höhe kirchlichen Stiles zu erheben.30 Der vierte Theil des Weihnachts-Oratoriums ist ein neues Zeugniß für diese Tendenz. Ein Zug, durch welchen sie auch im Einzelnen hervortritt, ist trotz seiner Unscheinbarkeit bemerkenswerth. In der Strophe des Schlußgesanges beginnt Rist sämmtliche Zeilen mit demjenigen Namen, den zu feiern der Tag bestimmt ist: »Jesu, richte mein Beginnen, Jesu, bleibe stets bei mir« u.s.w. Bach ändert »Jesu« in »Jesus«. Rist redet den Heiland betend an, Bach spricht einen frommen Wunsch aus und geht erst in der letzten Zeile ebenfalls zum Gebet über. Man sieht, es ist dasselbe Verfahren wie in der Umdichtung der früher besprochenen Cantate »Ich bin vergnügt«31. Spuren eines freieren Schaltens mit kirchlichem Gut, worin eben bei Bach die Hinneigung zu einer häuslich-erbaulichen Empfindung merkbar wird, [416] finden sich übrigens im Weihnachts-Oratorium auch sonst: absichtlich habe ich deshalb auf die kleinen oder größeren Freiheiten aufmerksam gemacht, die er sich bei den Choralsätzen »Ich will dich mit Fleiß bewahren«, »Wir singen dir mit deinem Heer«, »Dein Glanz all Finsterniß verzehrt« und »Zwar ist solche Herzensstube« erlaubt hat. Ob aber Bach einem andern als dem eigenthümlich beschaffenen vierten Theile ein Stück hätte einfügen mögen, wie die Sopranarie »Flößt mein Heiland« mit dem doppelten Echo einer zweiten Sopranstimme und einer Oboe, darf man bezweifeln. Zwar hat, wenn irgend, am Weihnachtsfest die kindliche Naivetät ihr Recht, und es ist rührend zu sehen, wie der ernste, gedankenvolle Meister sich so ganz von dieser Festempfindung hinnehmen läßt, daß er einer solchen Spielerei in seinem Werke Platz gönnt. Auch hat er das Echo nicht in seiner natürlichen Erscheinung einfach copirt, sondern es in freierer Weise als Kunstmotiv aufgefaßt. Er wechselt nicht nur zwischen dem Echo der Singstimme, das auch die Worte wiedergiebt, und dem der Oboe, welches nur tönt, also zwischen dem näheren und ferneren Widerhall, sondern er läßt sie auch die Rollen tauschen, so daß diese zuerst, jene hernach antwortet, ja an den Hauptschlüssen verstummt die Hauptstimme und das Echo redet unaufgefordert. Aber dennoch hat die Composition einen traulich gemüthvollen Zug, ähnlich der durch eine Campanella begleiteten Arie »Schlage doch, gewünschte Stunde«32, und gehört deshalb mehr in die Hausandacht. Befremden könnte die Idee des Echos auch wohl außerdem noch erregen. Mit einem Widerhall unterhält man sich im Freien, aber an welchem Orte sollen wir uns die in der Arie beschlossene Unterhaltung mit Jesus vorstellen? Anfänglich stand die Arie in der Gelegenheitscantate zum Geburtstage des Churprinzen. Dieses Drama per musica behandelt die Erzählung von Hercules am Scheidewege. Nachdem Wollust und Tugend ihre Überredung begonnen haben, singt Hercules, der einstweilen noch nicht weiß, was er thun soll:
Hier ist die Situation eine solche, daß an das Vorhandensein eines Echo gedacht werden kann. Hätte Bach die Arie nur um ihrer anmuthigen Musik willen in das Weihnachts-Oratorium übertragen und dabei aus der sie bedingenden Scenerie herausgelöst, so wäre das unzweifelhaft eine Geschmacklosigkeit gewesen. Er hat dieselbe aber nicht begangen. Die Person der Kirchenarie ist die Braut des Hohenliedes, welche herausgegangen ist ihren Geliebten zu suchen. Um sich über die Richtigkeit dieser Deutung zu vergewissern, muß man auf den Ursprung solcher Echo-Gedichte zurückgehen. Er findet sich in Friedrich Spees »Trutz Nachtigall«. In einem der lieblichsten Gedichte dieser Sammlung »spielet die Gespons Jesu im Wald mit einer Echo oder Widerschall«:33
Der schöne Frühling schon begunnt,
Es war im halben Märzen,
Da seufzet ich von Seelengrund,
Der Brand mir schlug vom Herzen.
Ich Jesum rief
Aus Herzen tief,
Ach Jesu! thät ich klagen:
Da hört ich bald
Auch aus dem Wald
Ach Jesu! deutlich sagen.
Durch eine Menge von Ausrufen und Fragen wird dieses Spiel in anmuthigster Weise durchgeführt, bis es dann endlich heißt:
Die Echo-Spielerei wurde alsdann unter den Dichtern beliebt. Auch Franck hat das Motiv mehrmals benutzt; in einem »Geistlichen Echo mit der girrenden Turteltaube«34 ist die Anlehnung an Spee augenscheinlich. Was oben von den Bestandtheilen der weltlichen Cantaten Bachs gesagt wurde, daß sie durch Übertragung ins geistliche Gebiet ihrer eigentlichen Heimath zurückgegeben seien, bewahrheitet sich an der Echo-Arie des Weihnachts-Oratoriums auch noch in andrer Weise: die Quelle für derartige Gebilde fließt auf dem Gebiete geistlicher Poesie. Daß Bach und wer den Text der Arie zu einem geistlichen parodirte Spees Gedicht gekannt und sich mit Bewußtsein an dasselbe angeschlossen haben, halte ich für wahrscheinlich, schon deshalb, weil es auf eine Verherrlichung des Namens Jesu hinausführt und um diesen eben sich der vierte Theil des Weihnachts-Oratoriums bewegt. Sicherlich bildet zu ihm die Bachsche Composition ein ebenbürtiges Gegenstück. –
Am Osterfeste hatten in der protestantischen Kirche die dramatisirten Evangelienlectionen, wenngleich sie viel weniger allgemein geworden waren als in der Passionszeit, doch einen bescheidenen Platz von Alters her gehabt. Dies erklärt sich daraus, daß das Osterevangelium die unmittelbare Fortsetzung der Passionsgeschichte bildet. Wir besitzen Oster-Compositionen in dem Stil der älteren Passionen von den Dresdener Capellmeistern Scandelli und Schütz, auch in Vopelius' Leipziger Gesangbuch von 1681 befindet sich eine solche, die also um jene Zeit in Leipzig noch gesungen sein muß, aber um ein bedeutendes früher entstanden ist. Der Text ist harmonistisch, die musikalische Behandlung bemerkenswerth, indem der Evangelist nicht durch einen Tenor, sondern einen Bariton dargestellt wird und die Reden der einzelnen Personen mehrstimmig sind: [419] Christus singt vierstimmig die übrigen zweistimmig.35 Aber schon zu Kuhnaus Zeit war diese Osterlection nicht mehr im Gebrauch, ebensowenig ist zusagen an welcher Stelle des Gottesdienstes man sie eingefügt gehabt hatte. Dagegen entwickelte sich in dem sogenannten geistlichen Concert des 17. Jahrhunderts eine Form, welche durch Ausscheidung aller erzählenden Partien sich der musikalisch-dramatischen Scene näherte. Schütz und Hammerschmidt haben diese Form erfolgreich gepflegt. Von Hammerschmidt giebt es ein kleines Osterdrama, Dialogus betitelt, welches aus Worten der Evangelisten zusammengestellt ist und die Hauptmomente der Auferstehungsgeschichte vorführt.36 Maria Magdalena, Maria Jacobi und Salome (Marc. 16, 1) sind zum Grabe Christi gekommen, um den Leichnam zu salben. Nach einer Einleitungssinfonie beginnt ihr dreistimmiger Gesang: »Wer wälzet uns den Stein von des Grabes Thür, denn er ist sehr groß?« Darauf die zwei Männer in glänzenden Kleidern: »Was suchet ihr den Lebendigen bei den Todten? Er ist auferstanden und ist nicht hier« (Luc. 24, 5 und 6). Die Frauen klagen: »Sie haben den Herrn weggenommen aus dem Grabe, und wir wissen nicht, wo sie ihn hingelegt haben« (Joh. 20, 2). Die Antwort giebt ein Chor mit dem Oster-Hymnus: Surrexit Christus hodie Humano pro solamine. Alleluja. Dies ist gleichsam die erste Scene; die andere spielt zwischen Maria Magdalena und Christus (Joh. 20, 13 und 15–17). Sie klagt und bittet nun allein: »Sie haben meinen Herren weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingeleget haben. Herr, hast du ihn weggetragen, so sage mirs, wo hast du ihn hingeleget, so will ich ihn suchen«. Der auferstandene Jesus gesellt zu diesen Worten seine Fragen: »Weib, was weinest du? wen suchest du?«, und singt dann langsam und bedeutungsvoll: »Maria!« Nun erkennt sie ihn und bricht in den Ausruf »Rabbuni« aus, den sie viele Male wiederholt, während er ihr den Auftrag giebt, den Jüngern seine Auferstehung und bevorstehende Himmelfahrt zu verkünden. Mit dem wiederkehrenden Chore Surrexit Christus schließt das kleine Werk. Es gehört zu der Zahl derjenigen, mit welchen sich in[420] Deutschland das Oratorium vorbildete. Obgleich zuverlässig für den kirchlichen Gebrauch geschrieben, hat es doch kaum etwas speciell kirchliches in sich; das Surrexit ist nicht mit der ihm eignen, sondern einer neugeschaffenen Weise eingeführt, also mehr nur als geeigneter Text aufgefaßt, wie solches Hammerschmidt und Schütz häufig thun; bedeutsame Polyphonie wird nirgends bemerkbar, abgerundete Melodien ebenfalls nicht, wohl aber mancherlei scharfe, dramatische Accente. Dieses Stück ist in manchem Betracht dem Bachschen Oster-Oratorium nahe verwandt. Auch in diesem fehlen die erzählenden Zwischenglieder, nur die Personen Maria Jacobi, Maria Magdalena, Petrus und Johannes treten selbstredend auf. Choral fehlt ebenfalls, und was der Chor zu singen hat, ist mit Bachschem Maße gemessen von auffallender Simplicität. Aber der Text besteht nicht aus Bibelworten sondern nur aus madrigalischer Dichtung. Der Zuschnitt des ganzen Werks nach italiänischer Art ist in die Augen springend. Auf den Titel »Oratorium« – freilich nicht im Händelschen Sinne – hat unter allen Bachschen Compositionen diese das größeste Anrecht.
Der Text, dessen Verfasser wir nicht kennen, ist dürftig. Das Schönste und Bedeutungsvollste des Auferstehungsberichts, alles das was wir als Inhalt des Hammerschmidtschen Dialogus eben mitgetheilt haben, hat in ihm keine Verwendung gefunden. Er beginnt mit einem Duett des Petrus und Johannes, die durch die Frauen von Christi Auferstehung in Kenntniß gesetzt sind und nun voll Freude zum Grabe laufen um sich selbst zu überzeugen (nach Joh. 20, 3 und 4). Dort machen ihnen Maria Jacobi und Maria Magdalena Vorwürfe, daß nicht auch sie den Leichnam hätten salben wollen, um dadurch ihrer Liebe zum Heilande Ausdruck zu geben. Die Männer entschuldigen sich: ihre Salbung habe in »gesalzenen Thränen und wehmuthsvollem Sehnen« bestanden. Beides, erklären die Frauen, sei nun glücklicherweise unnöthig. Darauf singt Maria Jacobi:
[421] Sie betrachten die leere Gruft. Johannes fragt, wo der Heiland sein möge, worauf Maria Magdalena etwas sagt, was die Männer längst wissen:
Er ist vom Tode auferweckt.
Wir trafen einen Engel an,
Der hat uns solches kund gethan.
Petrus richtet seine Aufmerksamkeit auf das Schweißtuch (nach Joh. 20, 7) und knüpft daran unter Erinnerung an die bitteren Thränen, die er wegen seiner Verleugnung Jesu geweint hat, eine geschmacklose Betrachtung. Dann äußern die Frauen ihre Sehnsucht, Jesus baldigst selbst zu sehen. Johannes freut sich, daß der Heiland wieder lebt; Schlußchor:
Preis und Dank
Bleibe Herr dein Lobgesang.
Höll und Teufel sind bezwungen,
Ihre Pforten sind zerstört,
Jauchzet, ihr erlösten Zungen,
Daß man es im Himmel hört.
Eröffnet, ihr Himmel, die prächtigen Bogen,
Der Löwe von Juda kommt siegend gezogen.
Daß Bach sich einen solchen Text gefallen ließ, erregt Befremden. Die Passionsgeschichte hatte er in monumentalen Werken verkörpert, er wußte daß die »Auferstehung« in altkirchlicher Weise früher in Leipzig gesungen war, denn er kannte und benutzte Vopelius' Gesangbuch.38 Man sollte meinen, dies wäre Grund genug für ihn gewesen, auch seinerseits die Auferstehungsgeschichte nach den Worten der Evangelisten in entsprechender, würdiger Weise zu behandeln. Ein Jugendwerk liegt nicht vor, die Formen zeigen den vollgereiften Meister, es läßt sich auch aus den Handschriften erkennen, daß das Werk etwa um 1736 componirt sein muß.39 Ich finde nur in der Ordnung des Leipziger Gottesdienstes eine Erklärung. Für ein umfassendes Werk im Stile der Johannes- und Matthäuspassion ließ er keinen Raum. In der Vesper wurde das Magnificat aufgeführt, des Vormittags war nur zur einer Musik im Umfang einer Cantate Zeit, die auch nicht zweitheilig sein durfte, [422] da nach der Predigt immer noch das Sanctus musicirt werden mußte. Augenscheinlich wollte Bach, der Weihnachts-, Passions- und Himmelfahrts-Mysterien schrieb, das Osterfest nicht übergehen. Da er den evangelischen Bericht in der Ausdehnung wie es ihm wünschenswerth erschienen sein wird und wie er bei Vopelius behandelt ist, nicht componiren konnte, mag er, statt ein Fragment daraus zu nehmen, die Form eines italiänischen Oratoriums vorgezogen haben, an welche man von vom herein mit andern Ansprüchen herantrat.
In den Osterspielen war der Wettlauf des Petrus und Johannes zum Grabe, von dem im Johannes-Evangelium 20, 4 berichtet wird, ein mit Behagen ausgeführtes Moment; Petrus tritt in dieser Situation als der schwächere, unbedeutendere auf. Ich halte es nicht für zufällig, daß Bachs Werk mit einem weit ausgesponnenen Duett der zum Grabe laufenden Jünger beginnt, auch nicht für zufällig, daß dem Petrus der Tenor und dem Johannes der Bass zuertheilt ist, während doch in der Johannes- und Matthäuspassion Petrus Bass singt. Die volksthümliche Anschauung, durch welche diese hauptsächlichste Handlung des Werkes getragen wird, hat Bach später dadurch etwas verdunkelt, daß er das Duett zum vierstimmigen Chor umarbeitete; der Vorgang an sich erlaubt freilich zu denken, daß mit den beiden Jüngern und den beiden Marien auch noch andre Anhänger Jesu zum Grabe eilen.40 Was die Kirchlichkeit des Bibelwort und Choral verschmähenden Textes anbelangt, so beruht sie freilich nur darauf, daß er sich mit einem für die Kirche sehr bedeutungsvollen Ereignisse beschäftigt. Hier mußte Bachs Musik das meiste und beste hinzuthun. Großartigkeit und Tiefsinn, wie in der Cantate »Christ lag in Todesbanden«, oder auch nur jenen schwungvollen Frühlingsjubel der weimarischen Cantate »Der Himmel lacht« darf man natürlich nicht erwarten, da hierzu im Texte alle und jede Veranlassung fehlte. Bach hat dem Ganzen einen jugendlich fröhlichen Charakter zugeeignet, wie ihn etwa die Worte [423] »Lachen und Scherzen Begleitet die Herzen Denn unser Heil ist auferweckt« an die Hand gaben. Eine Sinfonie aus zwei Instrumentalsätzen bestehend, bietet mit dem ersten Gesangstücke zusammen die complete Form eines Instrumentalconcerts dar. Unter den Arien zeichnet sich die des Petrus aus, ein mild wiegender Schlummergesang, wie sie Bach gern schrieb. Merkwürdiger Weise stimmt ihr Hauptgedanke mit dem Anfange des Schlußgesanges der Caffee-Cantate überein, die Bach gegen 1732 componirte. Für die heitere Grundstimmung, in welcher er das Oster-Oratorium verfaßte, dürfte dieses immerhin bezeichnend sein. Der Schlußchor, frei in der Form der französischen Ouvertüre gehalten, fesselt durch seinen breiten und prächtigen ersten Theil; hiernach ist das Fugato von einer befremdlichen Kürze und vermag eine tiefere Wirkung nicht hervorzubringen.41 –
Im Himmelfahrts-Oratorium ist dagegen Bach der altliturgischen Form treu geblieben. Der geschichtliche Stoff war hier von so geringem Umfange, daß er sich in den knappen Rahmen, den die Ordnung des Gottesdienstes am Himmelfahrtstage gewährte, bequem einfügen ließ. Die biblische Erzählung ist nach Luc. 24, 50–52, Apostelgeschichte 1, 9–12 und Marc. 16, 19 harmonistisch zusammengesetzt. Die feststehenden Gemeindelieder »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« und »Christ fuhr gen Himmel«42 hat Bach nicht benutzt; nachdem Christi Himmelfahrt erzählt ist, tritt die vierte Strophe des Ristschen Liedes »Du Lebensfürst, Herr Jesu Christ« ein, und am Schlusse die letzte Strophe von Sacers »Gott fähret auf gen Himmel«. Wer die madrigalischen Texte: einen Chor, zwei Recitative, zwei Arien, gemacht hat, ist unbekannt. Auch über die Zeit der Entstehung des Werkes läßt sich genaues nicht sagen. Der Stil zeigt den Meister in seiner vollsten Reife, man darf also annehmen daß das Himmelfahrts-Oratorium mit denen für Weihnachten und Ostern zusammen in die dreißiger Jahre des Jahrhunderts fällt.43 Ähnlich wie im Weihnachts-Oratorium steht [424] am Anfang ein madrigalischer Chor in italiänischer Arienform, am Ende eine Choralfantasie. Der Anfangschor, welcher auch hier eine Übertragung aus einer Gelegenheitsmusik sein dürfte44, ist in seiner Verbindung von liedhaft einfachem und polyphon complicirtem Stil ein Musterstück: ununterbrochen strömen in der Oberstimme die jubelnden Melodien in übersichtlichster Periodisirung dahin, und doch entfalten die tieferen Stimmen das reichste selbständige Leben. An den madrigalischen Sologesängen fällt es auf, daß sie nicht kirchlich betrachtend sondern dramatisch gedacht sind. In der Altarie und dem vorhergehenden Bassrecitativ wird Jesus gebeten, noch nicht aus dem Kreise der Seinigen zu scheiden, in der Sopranarie tröstet man sich damit, daß Jesus, obgleich gen Himmel aufgefahren, den Seinigen doch geistig nahe bleibe. In der Matthäus-Passion machte sich an einer einzigen Stelle nur (»Gebt mir meinen Jesum wieder«) dieselbe Anschauung geltend und erschien dort nicht ganz gerechtfertigt. Die Arien des Weihnachtsoratoriums »Frohe Hirten eilt, ach eilet« und »Schlafe, mein Liebster« hatten in volksthümlichen Bräuchen ihren Grund. Eine dramatische Erweiterung des einfachen evangelischen Berichts im Sinne der geistlichen Spiele muß man auch in diesen Sologesängen des Himmelfahrts-Oratoriums erkennen. Wirklich findet sich eine solche Erweiterung in einem mittelalterlichen Himmelfahrtsspiele, wo erst Petrus (vrgl. das Bassrecitativ bei Bach) und dann Maria die Mutter Jesu (vrgl. die Altarie bei Bach) über den Abschied des Erlösers klagen.45 Beide Arien sind von herrlichem Wohlklang gesättigt; mit ergreifender Inbrunst redet die erste, eine zauberisch-lichte Verklärtheit athmet die zweite. In dem zwischen dieser und dem ersten Choral bestehenden Gegensatze offenbart sich Bach wieder als poesievoller Colorist. Der Choral »Nun lieget alles unter dir« bewegt sich in möglichst tiefer Tonlage, die Arie, welche der Bassinstrumente entbehrend nur von Flöten, Oboe, Violinen und Bratschen begleitet [425] wird, schwebt hoch im lichten Raum – dort das Bild der zurückbleibenden Erdenkinder. hier die verklärte Gestalt des aufschwebenden Gottessohnes.
Fußnoten
IX.
Nach den Mysterien bleiben, um den weiten Umkreis der Thätigkeit Bachs als Kirchencomponist während der Jahre 1723–1734 zu schließen, noch seine Motetten zu betrachten übrig. Die Beurtheilung derselben wird durch manche äußere Umstände erschwert. Mehre der Motetten sind verloren gegangen oder wenigstens verschwunden; manches läuft unter Bachs Namen um, was wahrscheinlich nicht von ihm herstammt; die wenigsten der unzweifelhaft echten existiren noch in Bachs Handschrift, zum Theil sind sie sogar sehr ungenügend überliefert; nur von einer einzigen kennen wir die Entstehungszeit.1 Diese einzige gehört aber in den Lebensabschnitt von 1723–1734, und da auch die meisten übrigen den Charakter höchster Reife tragen, so dürften sie ihr zeitlich nicht allzufern stehen.
Jedenfalls hat übrigens Bach sich nicht erst in Leipzig der Motettencomposition zugewendet. Wer sich schon so früh und so gründlich mit kirchlicher Gesangsmusik beschäftigte, wie er es in Mühlhausen und Weimar that, konnte an der Motette, dieser trotz aller Umbildungen und Mißhandlungen immer doch noch lebendigen und auch für die damalige kirchliche Praxis unentbehrlichen Form, nicht vorübergehen. Es ist sogar nicht unwahrscheinlich, daß sich in einer Motette »Unser Wandel ist im Himmel« eine solche frühe Composition Bachs erhalten hat. Der Text ist aus der Epistel des 23. Trinitatis-Sonntags genommen (Philipper 3, 20 und 21); die Composition zerfällt in zwei Fugen, deren erster ein kurzer homophoner Satz vorausgeht, zwischen beide Fugen ist die zweite Strophe des Chorals »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf« einfach vierstimmig gesetzt eingeschoben. Im Orgelbüchlein hat Bach dieselbe Melodie behandelt, obgleich in etwas veränderter Gestalt; dies würde aber gegen den weimarischen Ursprung nichts beweisen, da [426] Bach auch in der Leipziger Zeit von einer und derselben Melodie (z.B. »Warum sollt ich mich denn grämen«, »Helft mir Gotts Güte preisen«) verschiedene Formen zur Verwendung zieht. Der vierstimmige Satz des Chorals erinnert an den Stil der Lucas-Passion. In den Fugen sind die Stimmen hier und da etwas sorglos, auch wohl nicht ganz geschickt geführt, im allgemeinen aber bilden sie fließende, lebendig musikalische Stücke, eines Bach nicht unwürdig. Namentlich gilt dies von der zweiten Fuge; sie zeigt eine nahe Verwandtschaft mit dem Fugensatze »Herr, höre meine Stimme« aus der weimarischen Cantate »Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir«2. Nicht nur Tonart und Tempoüberschrift sind dieselben, der Charakter des Themas, die ganze durchgehende Bewegung haben eine auffallende Ähnlichkeit, und wie in der Cantate das »Flehen«, so wird in der Motette das »Wallen« in etwas handgreiflicher, Telemannscher Weise gemalt. Der Ausgang des in der Cantate vorhergehenden Satzes stimmt wiederum mit dem Schluß der ersten Fuge der Motette ziemlich überein. Einige Stellen derselben, wo der Singbass den Tenor überschreitet und doch als Grundlage der Harmonie gedacht werden muß, machen es wahrscheinlich, daß auf einen sechzehnfüßigen Basso continuo gerechnet ist.3
Im Cultus der Thomas- und Nikolai-Kirche zu Leipzig hatte die Motette ihren bestimmten Platz am Anfang des Früh- und Vesper-Gottesdienstes nach dem Orgelpraeludium. Außerdem wurde zuweilen an den hohen Festtagen unter der Communion eine Motette gesungen, immer geschah dies am Palmsonntag und Gründonnerstag. Nur wenn die Orgel nicht gespielt werden durfte blieb die Motette fort. Es waren auch außerkirchliche Veranlassungen zur Motettencomposition vorhanden, namentlich wurden sie durch Trauerfeierlichkeiten geboten, und eine der Bachschen Motetten verdankt in der That der Beerdigung des Rectors Johann Heinrich Ernesti (gest. [427] 16. October 1729) ihre Entstehung. Indessen hat Bach dieselbe, wie er es auch bei andern Gelegenheitsmusiken zu thun pflegte, später einem gottesdienstlichen Zwecke angepaßt. Die Stelle, welche die Motette im Cultus einnahm, bedingte natürlich ihre Ausdehnung; beträchtlich konnte sie nicht sein, da die Motette nur eine einleitende Bestimmung hatte. Viele der Bachschen Motetten sind aber in so gewaltigen Verhältnissen angelegt und mit so vollständiger Erschöpfung einer bestimmten kirchlichen Grundempfindung durchgeführt, daß sie zur Einleitung des Gottesdienstes nicht gedient haben können. Man muß sie vielmehr als Stücke ansehen, welche vor der Predigt anstatt der Cantate aufgeführt worden sind, und daß Bach dergleichen zuweilen gethan hat dürfen wir aus seinen eignen Worten schließen (s. S. 75).
Die Motette Bachs wurzelt in seinen Cantaten und wie diese in seiner Orgelmusik. Hierdurch wird ihr besonderes Verhältniß zur Gattung gekennzeichnet. Mit der Motette des 17. Jahrhunderts steht sie nur in einem mittelbaren Zusammenhange. Diese bildete sich unter dem Einflusse der concertirenden Gesangsmusik und spiegelt die halbentwickelten Formen derselben im Einzelnen und Ganzen ziemlich vollständig zurück4. Soweit auch Bachs Cantaten sich auf dieselbe stützen, ist ein Gemeinsames vorhanden. Was aber Bach für seine Cantaten nicht gebrauchen konnte: die dramatischen Keime, wie sie in Schütz' und Hammerschmidts geistlichen Concerten und Madrigalen vorliegen, und auch in die gleichzeitige Motette Eingang fanden, davon sind auch seine Motetten frei. Wenn andrerseits in jener die Formen der Orgelmusik kaum mehr als andeutungsweise bemerkbar werden, so hat sich dieselbe hier mit ganzer Kraft geltend gemacht. Sie hat den Stil im ganzen bestimmt, die Eigenthümlichkeit der Melodiebildung, die überall auf die Gesetze der harmonischen Fortschreitung gegründete Polyphonie sind durch sie bedingt, sie hat im besondern bewirkt, daß der Choral seine volle Bedeutung zurück gewann. Bachs Cantaten haben sich uns als eine centrale Kunstform dargestellt, in welche alles einging was an lebensfähigen und fortbildungswürdigen Elementen in der musikalischen Formenwelt jener Zeit vorhanden war. Auch [428] die Motette ist durch die Bachsche Cantate aufgezehrt, dann aber aus derselben nicht sowohl neu herausgeboren als vielmehr nur wieder losgelöst worden. Weniger eine selbständige Kunstgattung, als ein Absenker der Bachschen Cantate steht sie da.
Soweit sich bei der Unvollständigkeit des Materials ein Schluß wagen läßt entspricht auch die Aufeinanderfolge der betreffenden Vorgänge diesem Verhältniß. Der Name Motette findet sich bei Bach zuerst auf wirkliche concertirende Kirchenmusik angewandt, nämlich auf die Rathswechsel-Cantate von 1708; auch das Autograph der Cantate »Aus der Tiefe rufe ich Herr zu dir«, eben derjenigen also, an welche die Motette »Unser Wandel ist im Himmel« lebhaft erinnert, soll diese Bezeichnung führen. Der Grund ist zunächst im Texte dieser Werke zu suchen, doch wäre die Übertragung der Bezeichnung unerklärbar, wenn Bach nicht von dem Gedanken geleitet gewesen wäre, die Motettenform mit der concertirenden Musik zu verschmelzen.5 Wir begegnen sodann einem wirklich motettenartigen Choralsatze zuerst in den weimarischen Cantaten »Ich hatte viel Bekümmerniß« und »Himmelskönig, sei willkommen«,6 dann in dem ersten Zwischenstück des großen Magnificat (»Vom Himmel hoch«), dann in der Behandlung der vierten Strophe der Ostercantate »Christ lag in Todesbanden«, ferner in dem zweiten Satze der Cantate »Gottlob nun geht das Jahr zu Ende«7. Diesen letzteren hat man später als selbständiges Werk hingestellt, nachdem er in einer Weise überarbeitet war, daß der Continuo ganz wegfallen konnte.8 In der Folgezeit hat Bach auch die Cantaten »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Ach Gott vom Himmel sieh darein« durch[429] motettenartige Choralchöre eingeleitet9, welche ebenfalls hernach als selbständige Werke verbreitet worden sind10. Aber auch Bibelsprüche in Motettenform finden sich in den Cantaten. Ein solcher eröffnet die Weihnachts-Cantate »Sehet, welch eine Liebe«11, ein andrer »Wenn aber jener der Geist der Wahrheit kommen wird« steht in der Mitte einer Musik zum Sonntag Cantate (»Es ist euch gut, daß ich hingehe«). Durchaus in demselben Stil geschrieben ist nun auch alles das, was Bach an für sich bestehenden Motettencompositionen uns hinterlassen hat. Als Text dient entweder das Bibelwort allein, oder das Bibelwort in Verbindung mit dem Choral, oder es wird diesen beiden noch ein geistlicher Arientext hinzugefügt, endlich genügt auch wohl ein Arientext allein. Sämmtliche Texte sind deutsch. Da zum Eingange des Gottesdienstes auch noch während Bachs Zeit in Leipzig meistens lateinische Motetten gesungen wurden, so konnte er sich leicht angeregt fühlen solche ebenfalls zu componiren. Im Jahre 1767 hörte noch jemand im Weihnachts-Frühgottesdienst eine lateinische zweichörige Motette von Bach »mit tiefer Erschütterung seines ganzen Wesens« und meinte, nichts könne der Hoheit, Erhabenheit und Pracht, die darin herrsche, gleichkommen.12 Sie aber sind sämmtlich verloren gegangen. Für vier Stimmen gesetzt existirt jetzt nur noch eine einzige Motette, es ist der 117. Psalm »Lobet den Herrn, alle Heiden«,13 ein großartiges Werk, das nach alter Art in einem Zuge fortströmt, nur der abschließende Hallelujah-Satz sondert sich ab. Fünfstimmige Motetten giebt es zwei, sie haben beide einen Choral zum Hintergrunde, allerdings in sehr verschiedener Weise. In der einen sind die Worte aus Jesus Sirach 50, 24–26 componirt: »Nun danket alle Gott, der große Dinge thut an allen Enden, der uns vom Mutterleibe an lebendig erhält und thut uns alles gutes. Er gebe uns ein fröhliches Herz und verleihe immerdar Frieden zu [430] unserer Zeit in Israel. Und daß seine Gnade stets bei uns bleibe und erlöse uns, so lange wir leben.« Bekanntlich hat Martin Rinckart in den ersten beiden Strophen des Liedes »Nun danket alle Gott« diese Stelle versificirt. Das Kirchenlied ist es denn auch, was der Motette die Grundempfindung gegeben hat. Sie schließt nicht nur mit der einfach gesetzten dritten Strophe desselben ab, sondern durchwebt auch ihren ersten Abschnitt mit Anklängen an die erste Zeile der Kirchenmelodie. Dieses Verfahren dürfte die Vermuthung begründen, die Motette sei um das Jahr 1730 entstanden, da Bach es auch in den Cantaten liebte, Theile von Choralmelodien als freie Motive zu benutzen.14 Wie sehr er bei Composition der Motette in dem Gedanken an das Kirchenlied lebte, geht auch daraus hervor, daß er einmal, offenbar unwillkürlich, die Bibelworte mit den Liedworten vertauschte; er componirte nämlich: »der große Dinge thut an uns und allen Enden«, so heißt es in der That bei Rinckart, aber nicht bei Jesus Sirach.15 Die andre fünfstimmige Motette zeigt uns Johannes Francks tiefinniges Lied »Jesu meine Freude« in allen sechs Strophen. Ihre musikalische Darstellung ist natürlich eine mannigfaltige. Die erste und letzte Strophe sind in ihrer Harmonisirung übereinstimmende vierstimmige Sätze »simplici stilo«, wie Bach derartige Gebilde selbst zu nennen pflegte16, obgleich die unteren Stimmen reiches Leben und überschwängliche Innigkeit athmen. Zu derselben Setzart müssen auch die fünfstimmige zweite und die vierstimmige vierte Strophe gerechnet werden, obgleich die Unterstimmen, namentlich in der vierten Strophe, ein noch individuelleres Leben merken lassen und auch prägnante malerische Züge enthalten. Die fünfte Strophe ist aus der Grundtonart E moll heraus nach A moll gesetzt, da Bach den Cantus firmus in den Alt legen wollte; zwei Soprane und Tenor contrapunktiren mit meist selbständig erfundenen Tonreihen, die aber zu jeder Zeile verschiedene sind, so daß doch im Ganzen eine andre Form entsteht als diejenige, welche wir Choralfantasie nannten und in den Cantaten häufig angewendet finden. Ganz frei ist die dritte Strophe behandelt, welche die Choralzeilen nur im allgemeinen als Motiv nimmt, [431] ohne sich an deren Melodieschritte und Ausdehnung streng zu binden. Auch wechseln imitatorischer und homophoner Stil, ja selbst das Unisono wird nicht gescheut um ein Bild zu vollenden, das an Kraft, Mannigfaltigkeit und Eigenthümlichkeit in Bachs Motetten nicht seines gleichen hat. An ihm tritt die früher schon erwähnte Ähnlichkeit mit Buxtehudes Choralcantate »Jesu meine Freude« am greifbarsten hervor,17 freilich kommt die weiche und zahme Grundempfindung des älteren Künstlers gegen diese trotzige Kraft und wilde Kampfeslust nicht auf. Zwischen die sechs Choralstrophen hat nun Bach auf Grund von Römer 8, v. 1, 2, 9, 10 und 11 freierfundene fünf- und dreistimmige Tonbilder eingefügt, deren erstes in Bezug auf den musikalischen Stoff wieder mit dem letzten übereinstimmt.18 In ihnen predigt er mit apostolischer Glaubenseifrigkeit die Bedeutung des Erlösungswerkes Christi. Die dem dogmatischen Gehalte des Textes entsprechende, kirchlich allgemeiner gehaltene Empfindungsweise dieser Sätze erfährt in den Choralstrophen jedesmal die directe Anwendung auf das Glaubensleben des Christen. So erscheint in dem großartigen Werke der Kern des protestantischen Christenthumes verkörpert. Die Lehre Luthers in ihrer ganzen Strenge und Reinheit bringt Bach mit der Macht innerster Überzeugung zum Ausdruck. Aber er verbindet mit der dogmatischen Bestimmtheit und Schärfe die innigste persönliche Hingabe an Christus. Wie sich in ihm die kirchlichen Parteien seiner Zeit, Orthodoxie und Pietismus, aufheben, tritt aus keinem andern seiner Werke prägnanter hervor. Selbst wenn wir nichts weiter über Bachs Stellung zu den kirchlichen Streitigkeiten wüßten, so müßte die aufmerksame Betrachtung dieser Motette hinreichen, um das Richtige zu erfassen.19 Sie ist darum recht ein Werk »für jede Zeit«, an keinen bestimmten Tag des Kirchenjahres gebunden. Die äußere Veranlassung für sie gab indessen doch vielleicht der achte Trinitatis-Sonntag, dessen Epistel ebenfalls dem 8. Capitel des Römerbriefs entnommen ist. Natürlich war sie nicht für die Einleitung [432] des Gottesdienstes gedacht, sondern als Ersatz für die concertirende Kirchenmusik zwischen der Lection des Evangeliums und der Predigt.20
Die noch übrigen vier Motetten sind für Doppelchor gesetzt. Unter ihnen befindet sich die oben schon erwähnte, welche Bach zur Beerdigung des Rector Ernesti componirt hat. Sie besteht aus zwei Abschnitten über Römer 8, v. 26 und 27; nur der erste ist doppelchörig gestaltet, der zweite eine vierstimmige Fuge. Später hat Bach noch die dritte Strophe des Chorals »Komm heiliger Geist, Herre Gott« angefügt; darnach ist also die Motette wohl zum Pfingstfeste benutzt, doch könnte sie auch dem vierten Trinitatis-Sonntage gedient haben, dessen Epistel der Text entnommen ist. Eine andre dieser Motetten beginnt mit einem Tonstück über Psalm 149, v. 1–3 (»Singet dem Herrn ein neues Lied«), das nicht weniger als 151 Takte faßt. Dann folgt die dritte Strophe des Chorals »Nun lob mein Seel«, zwischenspielartig unterbrochen von Sätzen des ersten Chors, denen ebenfalls ein zusammenhängender Text zu Grunde liegt; derselbe ist nach dem metrischen Schema des Ristschen Liedes »O Ewigkeit, du Donnerwort« gedichtet, aber in der Composition wird die zugehörige Choralmelodie nicht berücksichtigt. Nun kommt ein neuer Doppelchor über Ps. 150, v. 2, und endlich eine vierstimmige Schlußfuge über v. 6 desselben Psalms. Das Werk ist offenbar eine Neujahrsmusik.21 Eine dritte Motette[433] »Fürchte dich nicht, ich bin bei dir« hat Jesaias41, v. 10 und 43, v. 1 zum Texte; zu letzterem Verse wird der Satz wieder vierstimmig, so zwar daß die drei untern Stimmen ihn als Fugato durchführen, während der Sopran die zwei letzten Strophen des Gerhardtschen Liedes »Warum sollt ich mich denn grämen« singt. Das für die Worte »Denn ich habe dich erlöset« erfundene chromatische Hauptthema des Fugato weist auf den Kreuzestod Christi hin. Der innigen Melodie des Chorals hat Bach von der drittletzten Strophe an eine eigenmächtige Abänderung zu Theil werden lassen; als ihre Tonart erscheint nunmehr E dur, während sie in A dur beginnt. Hierdurch wird sie noch viel entschiedener, als im Weihnachts-Oratorium22, in das Gebiet des Mixolydischen hineingezogen. Der Schmerz über Christi Leiden verschmilzt so mit der demüthigen Hingabe an die Person des Erlösers zu einem Empfindungsbilde, das dem vorher ausgedrückten Gottvertrauen eine tiefe, echt protestantische Begründung giebt. Von seiten der Form angesehen haben wir hier wieder eine Choralfantasie, wie sie Bach in seiner Orgelmusik ausgebildet hatte. Darin liegt aber zugleich auch, daß Sopran und untere Stimmen sich nicht als zwei dramatische Factoren gegenübertreten, sondern ihr poetisch-musikalischer Inhalt in eine allgemeinere kirchliche Empfindung aufgelöst ist. Daß sich durch diese Behandlungsart und Anschauung Sebastian Bach von seinem Oheim Johann Christoph, der zum Theil denselben Bibeltext und ebenfalls mit eingeflochtener Choralmelodie zu einer Motette gestaltet hat, scharf unterscheidet, ist früher schon auseinandergesetzt worden.23 Zu [434] der letzten der doppelchörigen Motetten endlich hat Bach einen geistlichen Arientext benutzt und sich hier selbst des Chorals enthalten. Der Text besteht aus zwei Strophen, sie lauten:
Komm Jesu, komm, mein Leib ist müde,
Die Kraft verschwindt je mehr und mehr,
Ich sehne mich nach deinem Friede,
Der saure Weg wird mir zu schwer;
Komm, komm, ich will mich dir ergeben,
Du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben.
Drum schließ ich mich in deine Hände
Und sage Welt zu guter Nacht,
Eilt gleich mein Lebenslauf zu Ende,
Ist doch der Geist wohl angebracht;
Er soll bei seinem Schöpfer schweben
Weil Jesus ist und bleibt der wahre Weg zum Leben.
Diese Worte dürfte der unbekannte Dichter zum Zwecke der Composition eigens gemacht haben. Dem Gemeindegesange können sie nicht bestimmt gewesen sein, weil ihr Metrum zu keiner der bis 1750 entstandenen protestantischen Choralmelodien paßt. Auch ist die in Arienform gehaltene Musik zur zweiten Strophe augenscheinlich Bachsche Originalcomposition. Die erste Strophe wird in doppelchöriger Behandlung entwickelt und bietet ein ebenso großartiges wie tief rührendes Bild innigsten Sterbeverlangens.24
In der Entwicklung einer gewöhnlichen Motette herrschte der Grundsatz, die einzelnen Abschnitte oder Zeilen des Textes in fugirter Art durchzuarbeiten, ohne daß jedoch kürzere homophone Sätze ausgeschlossen gewesen wären. Bei doppelchörigen Motetten [435] dagegen geschah die Entwicklung durch das Alterniren der Chormassen, welche als geschlossene Ganze einander gegenübertraten und nur bei Hauptcadenzen sich zu vereinigen pflegten. Hierdurch wurde der Raum für thematische Durchführungen sehr beschränkt, es giebt viele vortreffliche Motetten des 17. Jahrhunderts, die garnichts derart aufweisen. Auch Sebastian Bach hat diesen Grundsatz befolgt. Mit jener durchdringenden Schärfe, die allen Erscheinungen bis auf den tiefsten Grund ging und sie bis in die letzten Consequenzen verfolgte, hat er niemals, wie es bei altern Componisten häufig zu finden ist, seine Sängerschaar in einen höhern und tiefern Chor getheilt, auch nur selten und in ganz besondrer Weise eine mehr als vierstimmige Fuge angebracht. Jenes führte leicht die Gefahr mit sich, daß die Chöre zu einer Masse zusammenflössen; eine Fuge mit gleichmäßiger Betheiligung aller Stimmen bedeutete eine bewußte Verleugnung des waltenden Gestaltungsprincips, war nicht sowohl eine Vereinigung zu einem Ganzen, als eine Auflösung von zwei Factoren in acht. Wo einmal bei Bach ein fugirter Satz vorkommt, an dem sich alle acht Stimmen betheiligen, wie in »Komm Jesu, komm« von Takt 44–57 und in »Der Geist hilft« von Takt 76–84 und 124 ff., geschieht es immer so, daß die einzelnen Stimmen der Chöre in Responsion gesetzt sind. Das Eigenthümliche von Bachs Stil tritt in den doppelchörigen Motetten am deutlichsten hervor, weil er hier am andauerndsten zur Homophonie gezwungen war. Ich behalte den üblich gewordenen Ausdruck bei, nur um die Negation der imitatorischen Schreibart anzudeuten. Ein geringeres Maß von melodischer Bewegtheit der einzelnen Stimmen soll er nicht bezeichnen. Eben diese, welche in den homophonen Partien nicht weniger auffallend ist als in den fugirten, kündet am untrüglichsten den Ursprung des Bachschen Motettenstiles. Aus dem Wesen der Singstimme, welche auch in den einfachsten Bewegungen und hauptsächlich in ihnen der unmerklich vermittelten verschiedensten Stärkegrade, Färbungen und Nuancen fähig ist, sind diese Tonreihen nicht geschöpft, sondern aus der Vorstellung eines Organs, das die Gefühlsdynamik nur durch die wechselnden Grade äußerlicher Bewegtheit innerhalb einer unveränderlichen Tonstärke zur lebendigen Erscheinung bringen kann. Orgelartig sind die auf und ab und durcheinander fluthenden Gänge vielfach sogar bis in das einzelnste [436] ihrer Gestalt hinein. Der Mangel im melodischen und rhythmischen Ausdrucksvermögen führt bei der Orgel naturgemäß zu einem stärkeren Hervortreten der lediglich harmonischen Wirkungen. Wenn Johann Christoph Bach und andre seiner Zeit durch homophone Sätze wirken wollen, so tritt, wie einfach sie auch immer sei, in der Oberstimme eine Melodie dennoch stets faßbar hervor. Bei Sebastian Bach finden sich Partien, die wie der Anfang der Motette »Singet dem Herrn« nur als melodisch gekräuselte Harmonien-Fluthen verständlich werden. Die erstaunliche Kühnheit der Stimmenführung hat in dieser Anschauung ihre Begründung und einzige Berechtigung. Die großen mit sicherster Logik entwickelten harmonischen Verhältnisse gewähren die festen Ausgangs- und End-Punkte, zwischen welchen die einzelnen Stimmen in rücksichtslosem Drange sich ausleben. Reibungen und Zusammenstöße, ja gelegentlich selbst Überschreitungen der elementaren Regeln der Stimmführung – man sehe die Octavenfortschreitungen der äußersten Stimmen in Takt 26–27 der Motette »Singet dem Herrn« – werden nicht gescheut, wenn nur die harmonische Folge im großen verständlich ist. Man soll merken, daß überall Leben und Bewegung herrscht, aber von der deutlichen Wahrnehmung, wie die Bewegung sich vollzieht, hängt die Wirkung der Bachschen Motetten an vielen Stellen keineswegs ab. Stimmenverbindungen, wie diese:
[437] hätte Bach sonst nicht geschrieben. Ebenso bringt er klangliche Steigerungen auf orgelgemäßem Wege hervor. Die vierstimmigen Fugen, Choräle oder Arien am Schlusse der doppelchörigen Motetten repräsentiren gleichsam das volle Werk. Wenn in der vom ersten Chore ausgeführten Fuge »Die Kinder Zion sein fröhlich« aus »Singet dem Herrn« zur Verstärkung der Thema-Einsätze allmählig mehr und mehr Stimmen des zweiten Chors zutreten, so ist dies einigermaßen dem Verfahren zu vergleichen, im Fortgang eines Orgelstückes ein verstärkendes Register nach dem andern zuzuziehen.
Daß es in jener Zeit wie überall so auch in Leipzig gewöhnlich war die Motette mit der Orgel oder sonst einem unterstützenden Instrumente zu begleiten, ist an einer andern Stelle berichtet worden.27 Es ist die Frage, wie Bach sich diesem Gebrauche gegenüber verhalten hat. Wenn er seine Motette aus der Kirchencantate loslöste, ihren Stil in erkennbarster Weise dem Orgelstile nachbildete und kein Bedenken trug den Tenor durch den Bass übersteigen zu lassen, obgleich der Bass als continuirliche Grundstimme zu denken ist; wenn sich Choralstücke der Cantaten wie »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« und »Ach Gott vom Himmel sieh darein« mit theilweise sogar selbständigem Generalbass unter dem Namen »Motetten« verbreiten durften, so scheint die Antwort auf die Frage um so weniger zweifelhaft, als sein Schüler Kirnberger das Mitgehen der Orgel ausdrücklich bezeugt. Wirklich findet sich auch zu dem Psalm »Lobet den Herrn alle Heiden« eine Orgelbegleitung angegeben und für die Motette »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« liegt sogar eine von Bach selbst geschriebene bezifferte Orgelstimme vor. Sie kann natürlich nur für den kirchlichen Gebrauch des Werkes bestimmt gewesen sein. Die Aufführung bei der Beerdigungsfeierlichkeit fand vor dem Trauerhause statt; hierzu mögen die ebenfalls vorhandenen andern Instrumentalstimmen: zwei Violinen, Bratsche, Violoncell für den ersten, zwei Oboen, Taille, Fagott für den zweiten Chor, verwendet worden sein, wobei es unbestimmt bleibt, ob diese neben der Orgel auch in der Kirche mitgewirkt haben, oder nicht. Die Orgelstimme ist sehr interessant. Einerseits liefert sie den vom Componisten selbst geführten Beweis, wie bequem sich einer doppelchörigen [438] Motette Bachs ein Generalbass anfügen läßt, ohne daß derselbe irgendwie selbständig wird: die Stimme enthält nur ein einziges Sechzehntel, welches nicht zugleich in den Singbässen vorhanden ist. Andrerseits macht auch die Bezifferung, welche bei figurirten Stellen nur den Grundharmonien unbekümmert selbst um erhebliche Reibungen nachgeht, deutlich, von welcher Anschauung beherrscht Bach seine Singstimmen führte. Sieht man auf das Verhältniß der beiden Singbässe zu einander, so erscheint es der Weise sehr ähnlich, wie Bach in den Cantatenchören dem Singbasse den Instrumentalbass zugesellt. Die Bässe beider Chöre an Stellen wo sie zusammentreten im Einklänge oder der Octave zu führen, war auch vor ihm üblich. Wie aber bei Bach sich manchmal der eine Bass auf kurze Weile von dem andern trennt um irgend eine bedeutendere Wendung auszuführen und dann wieder mit ihm zusammenfließt (s. »Singet dem Herrn« T. 122 ff.), wie er die figurirten Tonreihen desselben in vereinfachten Gängen mitmacht (s. das erstere der obigen Notenbeispiele, ferner »Fürchte dich nicht« T. 34, »Komm Jesu, komm« T. 60), wie sogar einmal von einem der Chöre der Bass allein eintritt, nur um eine vollständige Harmonie zu erzielen (s. »Fürchte dich nicht« T. 57), das alles zeigt weder Einheit noch Zweiheit in der Stimmführung; es ist ein freies Schalten mit den disponibeln Stimmen nach dem augenblicklichen Bedürfniß, das wir ebenso in der Behandlung des Continuo gegenüber dem Singbasse in den Cantatenchören bemerken. Freilich bildet hier der Continuo durch das ganze Stück die absolut grundlegende Stimme, während in den doppelchörigen Motetten diese Rolle bald dem einen, bald dem andern, bald auch beiden Bässen zufällt. Aber Bach konnte auf jene Schreibart doch nur gerathen, wenn ihm das Bild seiner begleiteten Cantatenchöre vorschwebte. Betrachtet man ferner die in den Motetten vorkommenden Fugensätze, so sind nicht wenige derselben derartig angelegt, daß nicht eine Stimme ganz allein mit dem Thema anhebt, sondern es wird durch andre Stimmen zugleich die stützende Harmonie hergestellt. So ist es in dem zweiten Abschnitte der Motette »Jesu meine Freude« (»die nicht nach dem Fleische wandeln«): gesungene Harmonien umgeben den Anfang der Fuge, aus welchen sich dann mehre und mehre reale Stimmen herausheben. In der Fuge »sondern der Geist selbst vertritt uns aufs [439] beste« aus der Begräbnißmotette wird das vom Sopran des ersten Chors angestimmte Thema durch, alle übrigen Stimmen desselben begleitet. Der Fuge »die Kinder Zion sein fröhlich über ihrem Könige« aus »Singet dem Herrn« stellt sich anfänglich der ganze zweite Chor in harmonischen Massen gegenüber, bis er nach und nach in den unwiderstehlich einherbrausenden Tonstrom hineingezogen und endlich ganz von demselben fortgerissen wird. Die Fugensätze der Cantaten pflegt aber Bach ebenfalls über oder in den begleitenden Harmonien des Generalbasses, auch wohl andrer Instrumente, aufzubauen. Es möge der Eingangschor der Cantate »Wer sich selbst erhöhet«28 verglichen werden und man wird ein ungefähres Gegenbild der zuletzt angeführten Motettenfuge haben. Man erkennt, wie die Eigentümlichkeiten von Bachs concertirender Musik bis in die Einzelheiten hinein sich in den Motetten wieder finden.
Trotzdem ist die Frage über die Begleitung der Bachschen Motetten hiermit noch nicht erledigt. Zwar wenn in Breitkopfs gedrucktem Verzeichniß von 1764 einige dieser Werke unter dem Titel »Motetten ohne Instrumente« aufgeführt sind, so beweist das wenig. Denn wie aus der folgenden Seite des Verzeichnisses zu ersehen ist, wurden unter diesem Titel auch Compositionen mit Begleitung der Orgel begriffen, der Plural »Instrumente« ist demnach in seiner genauesten Bedeutung zu nehmen. Auch daß bei den Bachschen Stücken die Orgel nicht ausdrücklich erwähnt wird, darf noch nicht veranlassen, ihre Mitwirkung in Abrede zu stellen, denn, wie früher gezeigt ist, verstand man sie sehr häufig als etwas selbstverständliches mit. Es handelt sich natürlich nicht darum, daß dieselbe nothwendige harmonische Ergänzungen zu gewähren gehabt habe. Die Frage ist nur, ob die Beschaffenheit des Vocalstiles nicht eine solche ist, daß er allein durch den Zutritt des Orgelklanges seine Berechtigung erhält. Schwerer wiegt schon der Umstand, daß unter den Originalstimmen der Motette »Singet dem Herrn«, die übrigens vollständig erhalten sind, eine Orgelstimme sich nicht findet. Und gewichtiger noch ist das Zeugniß Ernst Ludwig Gerbers, der 1767 eine doppelchörige Motette in Leipzig hörte und dabei bemerkt, daß [440] die Thomasschüler diese Bachschen Compositionen »ohne einige Begleitung abzusingen pflegten«. Dieser Ausdruck kann nicht mißverstanden werden und deutet zugleich auf eine schon länger herrschende Gewohnheit hin. Es stehen sich also in dieser Angelegenheit einander widersprechende Zeugnisse gegenüber.
Durch Bachs Kunstschaffen zieht sich die Tendenz, alles was den Formen an Nebensächlichem und Überflüssigem anhaftet abzustoßen, die Ausdrucksmittel auf das unerläßlich nothwendige zu beschränken, das materielle in möglichstem Grade zu vergeistigen. Es war diese Tendenz, welche ihn veranlaßte in den Violin- und Gamben-Sonaten mit obligatem Clavier die Generalbass-Harmonien fast gänzlich auszumerzen, Sonaten und Suiten gar für Violine und Violoncell allein ohne jegliche Begleitung zu schreiben. Seine Vorgänger componirten Motetten lieber mit selbständigem Continuo als ohne einen solchen. Von ihm selber liegt einstweilen nur ein einziges Werk vor, bei welchem der Continuo wenigstens theilweise zur Vervollständigung nothwendig ist; es ist der Psalm »Lobet den Herrn alle Heiden«, die Motettensätze, welche ursprünglich Cantaten angehören, kommen hier nicht in Betracht. Im übrigen wird alles zur Zeichnung des Tonbildes erforderliche von den Singstimmen allein geleistet. Es ist nun wohl denkbar, daß Bach sich von jener spirituellen Neigung soweit führen ließ, seinen Motetten auch die Beimischung derjenigen Tonqualität und somit diejenige Klangfarbe zu entziehen, in welcher ihr Stil eigentlich wurzelt. Er hätte damit nichts anderes gethan, als was bei den Solosonaten für Violine und Violoncell geschehen ist, deren Stil ebenfalls weniger im Wesen dieser Instrumente als in dem des Claviers und der Orgel begründet ruht. Hierbei muß man sich nur eines gegenwärtig halten, daß Bachs Phantasie durchaus im Orgelklange lebte und er beim Hören der unbegleiteten Motetten, wie der Sonaten, jedenfalls zu ihrer klanglichen Erscheinung dasjenige viel lebendiger hinzuempfand, was ihnen ursprünglich das Leben gegeben hatte und abgetrennt von ihnen nur noch als ein feiner Dunstkreis um sie schwebt. Mit Sicherheit können die Motetten ihre Wirkung allein unter Orgelbegleitung thun. Ohne diese wird die richtige Würdigung derselben zunächst von der Leichtigkeit, mit der ihre technischen Schwierigkeiten überwunden werden, und von dem Grade abhängen, bis zu [441] welchem die Singstimmen den ruhigen Fluß der Orgelmusik sich aneignen können, dann aber auch davon, in wie weit es dem Hörer gelingt, seine Phantasie mit der Orgelstimmung ganz zu erfüllen und aus ihr zu ergänzen, was den Tonwerkzeugen selbst unerreichbar bleibt.
Übrigens sind Bachs Motetten die einzigen unter seinen Gesangscompositionen, welche zu keiner Zeit völlig aus dem Musikleben verschwunden waren. Die Thomascantoren nach ihm haben sie stets in Ehren gehalten und sie singen lassen, wenn auch gewiß nicht immer mit Vorliebe. Rochlitz erinnerte sich aus seiner Thomanerpraxis namentlich an die Motetten »Singet dem Herrn«, »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« und »Sei Lob und Preis mit Ehren«, freilich mit einigermaßen gemischten Empfindungen, denn die Schwierigkeit dieser Werke hatte dem Knaben manche Pein verursacht.29 Als Mozart 1789 nach Leipzig kam, ließ ihm der Cantor Doles die Motette »Singet dem Herrn« vorsingen, und entzückte ihn damit so sehr, daß er alles durchstudirte, was damals die Thomasschule noch an Bachschen Motetten besaß. Dann kam eine Zeit, wo es schien, als würde Bach wieder zu allgemeinerer Schätzung gelangen, »das Rad des Geschicks hatte die Speiche des ehrwürdigen Vaters, die eine Weile weit unten gewesen, wieder hinauf, ja auf den höchsten Punkt gebracht.«30 Es war die Zeit, welche Forkels Schrift über Bach hervorrief; sie ging allerdings rasch vorüber. Doch daß man die Motetten auch nachher nicht vergaß, bezeugt ihre von Schicht 1802 und 1803 besorgte erste Veröffentlichung durch den Stich. Außerhalb Leipzigs scheinen sie sich wenigstens in Sachsen einigermaßen verbreitet zu haben, was natürlich war, da ein guter Theil der sächsischen Cantorenstellen von früheren Alumnen der Thomasschule besetzt gehalten wurde. In Zittau sang Marschner als Knabe Bachsche Motetten unter Friedrich Schneider als Chorpräfectem, und in einem handschriftlichen Choralbuch des sächsischen Dorfes Nieder-Wiesa vom Ende des vorigen Jahrhunderts [442] findet sich gar der Text der Motette »Komm Jesu, komm« mit einer neu erfundenen Melodie versehen und zum Choral umgewandelt.31
Fußnoten
X.
Es ist eine überreiche Ernte, welche während der Jahre 1723–1734 auf dem Felde der Kirchenmusik von dem Genius Bachs gezeitigt wurde. Sie legt das beredteste und verläßlichste Zeugniß dafür ab, wie ganz sich Bach in seinem Elemente fühlte. Daß er grade in den reifsten Mannesjahren auf den Posten des Thomascantors gelangte, muß man demnach nicht weniger als eine glückliche Fügung bezeichnen, als ihm seine Berufungen nach Weimar und Cöthen für die erste freie Entfaltung und beschauliche Vertiefung seines Wesens auf das zweckmäßigste zu statten kamen. Gegenüber den Ergebnissen dieses elfjährigen Leipziger Wirkens geht die Bedeutung der Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten, welche sein Amt im Gefolge hatte, von selbst auf ihr richtiges bescheidenes Maß zurück. Bach schätzte auch wirklich seine Lage als eine günstige und fühlte sich wie wir gleich sehen werden sogar aufgelegt das Lob Leipzigs zu singen. Der Schritt ins Ungewisse, den er in des Höchsten Namen gewagt hatte1, war, ob es ihm auch zu Zeiten anders schien, dennoch geglückt. Für die Darstellung seines Lebens und Schaffens muß es geboten erscheinen, in dieser Periode Bachs Thätigkeit für die Kirchenmusik als die alles übrige zurückdrängende Macht in ganzer Breite zur Geltung zu bringen, nur so kann sich Licht und Schatten auf der Bahn seiner Entwicklung richtig vertheilen. Deshalb soll auf die zahlreichen nebenher entstandenen Instrumentalcompositionen hier nicht eingegangen werden. Ihre Betrachtung wird am Schlusse des Ganzen die passendere Stelle finden, um so mehr als Bach bis zu seinem Ende nicht aufhörte, grade in dieser Beziehung hochbedeutendes zu produciren. Anders liegt die Sache mit den Gelegenheitscompositionen für Gesang und Instrumente. Die größere Zahl derselben fällt ebenfalls in die frühere Leipziger Zeit; sie hängen außerdem zum Theil mit [443] den Kirchencompositionen so eng zusammen, daß schon deshalb eine Beleuchtung derselben an diesem Orte gefordert wäre.
Die Gelegenheitscompositionen, welche bestimmt waren ein einmaliges wichtiges Ereigniß im Leben einer einzelnen Person oder irgend einer öffentlichen Anstalt feierlich zu begehen, sind geistliche und weltliche. Zu jenen gehören demnach auch die Trauungsmusiken »Dem Gerechten muß das Licht immer wieder aufgehen« und »Herr Gott, Beherrscher aller Dinge«, die Trauercantate auf den Herrn von Ponickau »Ich lasse dich nicht« (1727), die Begräbniß-Motette für den Rector Ernesti »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf« (1729) und die Störmthaler Orgelweih-Cantate (1723), wogegen die jährlich wiederkehrenden Rathswahlmusiken und die auf besondere kirchliche Feste geschriebenen Compositionen, welche man in gewissem Sinne ja auch Gelegenheits-Cantaten nennen könnte, hier nicht mit einbegriffen sein sollen. Von den angeführten Werken ist früher schon die Rede gewesen, weil sie theils auf Rathswahl-Cantaten zurückzuführen, theils zugleich in ihrem ganzen Umfange zum kirchlichen Gebrauch verwendet worden sind.2
Wir wissen, daß auch ein Theil der Marcus-Passion nur Übertragung einer Gelegenheitsmusik ist.3 Die Passion als solche existirt nicht mehr, aber die benutzte Composition hat sich vollständig erhalten als Trauermusik auf den Tod der Königin-Churfürstin Christiane Eberhardine. Schon aus diesem Grunde müßte sie für sich gewürdigt werden. Sie verdient solches aber auch deshalb, weil sie ihren eignen kirchenpolitischen Hintergrund hat. Christiane Eberhardine, aus dem markgräflichen Hause von Brandenburg-Bayreuth, war mit Friedrich August seit 1693 vermählt. Als ihr Gemahl 1697 sich auf den polnischen Königsthron gesetzt und den katholischen Glauben angenommen hatte, war sie der evangelischen Kirche treu geblieben. Sie trug kein Verlangen nach Ehren, die sie um den Preis ihrer Religion hätte erkaufen müssen; wenn sie sich auch nicht dauernd weigern konnte, den Titel einer Königin zu führen, so hat ihr Fuß doch nie das polnische Reich betreten. Schon vorher ihrem Gemahl durch dessen Verhältniß mit der Gräfin Königsmark [444] entfremdet, trennte sich jetzt völlig von ihm und lebte still zu Pretzsch bei Wittenberg. Es blieb ihr nicht erspart, auch den Thronfolger, ihren Sohn, dessen erste Erziehung sie geleitet hatte, 1717 von dem Glauben seiner Väter abtrünnig werden zu sehen. Eine wie lebendige Herzenssache und festgegründete Überzeugung aber ihr die protestantische Lehre war, das bewies sie bei dieser Gelegenheit von neuem durch einen Brief, in welchem die bibelkundige Frau die Irrthümer der katholischen Lehre nachzuweisen sucht, und den Sohn »um seiner eignen armen Seele und um seiner armen Mutter willen, die er sonst mit Herzeleid in die Grube bringen werde, beschwört, sich wieder zu der evangelischen Wahrheit zu kehren«.4 Durch den Übertritt zum Katholicismus verloren die sächsischen Churfürsten die führende Stellung, welche sie seit der Reformation im protestantischen Deutschland eingenommen hatten, und die nun mehr und mehr an Preußen überging. Bedenklicher war für den Augenblick die in die Bevölkerung hineingetragene religiöse Aufregung. Zwar gab der Fürst mehrfach beruhigende Versicherungen, daß sein Religionswechsel eine rein persönliche Angelegenheit sei und im Lande alles beim Alten bleiben werde, er bemühte sich auch nach Kräften diese Versicherungen wahr zu machen. Aber das sächsische Volk war zu eifrig protestantisch, als daß es nicht argwöhnisch jede Bewegung beobachtet hätte, welche das Eindringen des Katholicismus zu begünstigen oder auch nur zu gestatten schien. Auf dem Landtage des Jahres 1718 kam es zu sehr nachdrücklichen, ja heftigen Anklagen und Forderungen seitens der sächsischen Stände.5 Glaubenseifrige protestantische Prediger thaten das ihrige, die Aufregung und den Haß zu schüren. Die im Jahre 1702 erhobenen Bedenken des Leipziger Raths wegen der lateinischen Bestandtheile des dortigen Cultus, die ihn dem katholischen allzu ähnlich machten6, erscheinen unter diesen Vorgängen in einem besonderen Lichte. Ein Jahr vor dem Tode der Königin hatte der religiöse Fanatismus sogar zu Mord und [445] Aufruhr geführt. Der Archidiaconus an der Kreuzkirche zu Dresden, Magister Joachim Hahn, wurde am 21. Mai 1726 durch einen von ihm zum Lutherthum bekehrten Katholiken, der nachher über sein Seelenheil in Unruhe gerieth, erstochen. Die That rief einen ungeheuren Tumult hervor, welcher das nachdrücklichste Auftreten der bewaffneten Macht erforderte.7 In diesen Verhältnissen war es natürlich, daß die sächsische Bevölkerung mit der Empfindung besonderer Ehrfurcht und Liebe auf die standhafte königliche Dulderin blickte, und von ihrem plötzlichen Hinscheiden tief schmerzlich bewegt wurde. Die angeordnete allgemeine Landestrauer dauerte vom 7. Sept. bis zum 6. Januar.8 Am 17. October ehrte die Stadt Leipzig die edle Verstorbene durch eine großartige öffentliche Trauerfeierlichkeit; die Stille, mit welcher man sechs Jahre später die Trauerzeit für das Ableben des Königs vorübergehen ließ, erscheint ihr gegenüber beredt genug. Als im Jahre 1697 nach der polnischen Königswahl ein Te deum in den sächsischen Kirchen angeordnet worden war, hatten die Gemeinden nach demselben mit unzweideutiger Demonstration Luthersche und andre protestantische Kraftlieder angestimmt.9 Mit einem kirchlich protestirenden Accent wurde auch jetzt die Trauerfeierlichkeit für die Königin, welche ihrem Glauben treu geblieben war, ausgeführt. Das von Bach componirte Gedicht umgeht zwar vorsichtig alles andre, woran der König etwa Anstoß nehmen konnte, aber die Königin, »das Vorbild großer Frauen« als die »Glaubenspflegerin« zu preisen, läßt es sich doch nicht nehmen.
Ein eigentlich kirchliches Gepräge trug die Feier nicht: sie war nach Art der akademischen Redeacte eingerichtet und fand in der Universitätskirche statt, wie sie denn überhaupt auch von der Universität ausging.10 Bei solchen Gelegenheiten pflegten nicht Cantatentexte in der modernen madrigalischen Form, sondern lateinische Oden componirt zu werden. Zur Geburtstagsfeier des Herzogs Friedrich von Gotha hatte auch Bach 1723 schon eine lateinische [446] Ode gesetzt.11 Die allgemeine Theilnahme, auf welche bei der Trauerfeierlichkeit gerechnet werden konnte, mußte diesesmal den Gebrauch der deutschen Sprache passend erscheinen lassen. Gottsched, welcher seit einigen Jahren an der Universität Vorlesungen hielt und Senior der Deutschen Gesellschaft war, verfaßte die Ode; man kann derselben zwar nicht großen Schwung und Gedankenreichthum, aber doch eine würdige Haltung und correcte Sprache nachrühmen.12 In der Composition zerfiel sie in zwei Theile, von denen der erste vor, der andre nach der Trauerrede gesungen wurde. Die Rede hielt Hans Carl von Kirchbach, »des Königlichen und Churfürstlichen Oberberggerichts zu Freyberg Assessor«.
Bach vollendete die Composition erst am 15. October, also nur zwei Tage vor dem Traueractus. Da doch auch die Stimmen ausgeschrieben werden mußten, so sieht man an diesem Falle, mit wie wenigen Vorbereitungen derartige musikalische Aufführungen vor sich gingen.13 Er hat dem Werk Cantatenform gegeben, indem er die Textstrophen zu Chören, Recitativen und Arien geschickt zerlegte. Es scheint dies für derartige Zwecke eine Neuerung gewesen zu sein, da ein Berichterstatter eigens erwähnt, die Ode sei »nach italienischer Art« componirt gewesen. Die italiänische Art trat auch in der Benutzung des Clavicembalo hervor, welches Bach selbst spielte, und womit er, wie es in der italiänischen Oper geschah, die Recitative und Arien begleitet haben wird; die Orgel hat dann wohl[447] nur bei den Chören mitgewirkt. Die Mittelstellung, welche das Werk zwischen kirchlicher und weltlicher Musik einnahm, indem es sich jeder Bezugnahme auf Gott und jeder Benutzung des Chorals enthält, durchweg nur eine Menschenpersönlichkeit feiert, aber doch im Kirchenraum zu Gehör gebracht wurde, erhält hierdurch unmusikalisches Merkzeichen14. Die verstorbene Königin hatte Musik sehr geliebt. Der anspachische Capellmeister Bümler war von 1723–1725 in ihrem Dienste gewesen, auch beschied sie zur Sommerzeit oftmals Mitglieder der Dresdener Capelle zu sich.15 Dies mag den Componisten noch besonders angeregt haben. Die Musik der Trauerode reiht sich dem vorzüglichsten an, was Bach gemacht hat. In den breitathmigen Zügen des ersten Chors, welcher durch die Verwendung von Gamben und Lauten eine volle aber umflorte Farbe erhält, spricht sich eine dem Schlußchore der Matthäuspassion verwandte Empfindung aus. Nur herrscht im Chor der Trauerode, eben weil er ein Eingangschor ist, noch eine stärkere schmerzliche Erregtheit. Sie redet mit geschärften Accenten auch aus dem zweiten Recitativ, welches die Instrumente mit Glockenklängen begleiten: die hohe Flöte beginnt, dann schließen sich nach der Tiefe zu immer mehr Instrumente in verschiedenartigen Tonfiguren an, zuletzt auch in langsamen Pulsen der Bass, in eigenthümlich schaurigen Modulationen fluthet dieses Klangmeer weiter, bis es allgemach verhallt. Das bescheidenere Vorbild hierfür findet sich in der weimarischen Cantate »Komm du süße Todesstunde«, bei Gelegenheit deren auch über die ästhetische Berechtigung dieser Malerei gesprochen ist16. Im weiteren Verlauf der Trauerode wird die Empfindung immer gefaßter, die Chöre namentlich werden schlichter und ruhiger, der letzte ist gar ganz einfach liedhaft. Was hier der Dichter prophezeit:
Doch Königin du stirbest nicht,
Man weiß, was man an dir besessen,
Die Nachwelt wird dich nicht vergessen,
hat sich, obzwar in etwas andrer Weise, als dort gemeint ist, erfüllt. Bachs Kunst ist es, die dem Bilde der frommen Königin Unsterblichkeit verliehen hat. Ich glaube, daß ihr das Vorrecht, in dieser [448] Verklärung in der Geschichte fortzuleben, nicht dadurch verkümmert werden sollte, daß man die Trauerode seit sie wieder bekannt geworden ist mit einem modernen, allgemein religiösen Texte singt. Ästhetisch wäre freilich dagegen nichts einzuwenden und Bach hat ja selbst sein Werk mit anderem Texte für einen kirchlichen Zweck benutzt. Der scharfe Tadel, durch welchen eine spätere verständnißlose Zeit wegen eines ähnlichen Verfahrens mit Händels Trauerhymne auf die Königin Caroline gerechtermaßen getroffen worden ist, würde hier nicht angebracht sein.17 Händels Musik ist in ihrer ganzen Herrlichkeit und Tiefe nur von dem zu begreifen, der sich bewußt bleibt, daß sie der frommen Erinnerung an einen geschiedenen edlen Menschen geweiht ist. An Stelle dieser frei menschlichen Empfindung steht bei Bach auch hier die enger begränzte kirchliche, seine Musik redet ja immer dieselbe Sprache. Aber die glaubenstreue Protestantin, welche Bach zu einem solchen Meisterwerk begeisterte, dürfte doch auch wohl den nachlebenden Generationen einer Stunde der Erinnerung würdig erscheinen. –
Eine zweite, noch viel umfangreichere, Trauermusik verfaßte Bach nur ein gutes Jahr später zu Ehren des Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen. Mit diesem kunstverständigen Gönner war Bach, auch nachdem er seinen Hof verlassen hatte, in fortdauerndem Verkehr geblieben. Schon der ihm erhaltene Titel eines fürstlich cöthenischen Capellmeisters verpflichtete ihn zu gewissen Ehrendiensten. So componirte er denn für den 30. November 1726, den Geburtstag der Fürstin, eine Cantate; ihrem Erstgebornen, dem Erbprinzen Emanuel Ludwig (geb. 12. September 1726) legte er die eben im Stich erschienene erste Partita seiner »Clavierübung« in einem eigenhändig geschriebenen Exemplare in die Wiege, und fügte demselben ein selbstverfaßtes Widmungsgedicht vor, das sein Verhältniß zu dem Fürstenhause als ein fast freundschaftlich gemüthliches erscheinen läßt. Im Mai 1727, zur Zeit der Jubilate-Messe, war der Fürst Leopold in Leipzig und hörte hier [449] die Festmusik, welche Bach am 12. Mai zu Ehren des anwesenden Königs aufführte.18 Es scheint das letzte Mal gewesen zu sein, daß sie einander gesehen haben. Der Tod des Fürsten erfolgte schnell und unvermuthet am 19. November 1728. Die Trauerfeierlichkeit, zu welcher Bach seine Composition in Cöthen selbst aufführte, fand erst im folgenden Jahre statt, das genauere Datum wissen wir nicht. Es ist neuerdings sehr wahrscheinlich gemacht worden, daß dieses einstweilen verschollene Tonwerk größtentheils aus Stücken der eben damals componirten Matthäus-Passion zusammengesetzt wurde. Hier läge demnach ein ähnliches Verhältniß vor, wie zwischen der Trauerode von 1727 und der Marcus-Passion, nur daß diesesmal das kirchliche Werk jedenfalls das ältere war.19 –
Übergehend zu der beträchtlich größeren Anzahl weltlicher Gelegenheits-Cantaten habe ich zunächst ein Werk nachträglich zu erwähnen, welches noch in die Cöthener Zeit gehört, aber erst kürzlich wieder zu Tage gekommen ist.20 Da Titel und Anfang verloren gegangen sind, läßt sich die Bestimmung nur vermuthen. Soviel sieht man klar, daß es sich darin um eine Verherrlichung des gesammten anhalt-cöthenischen Fürstenhauses handelt. Möglich, daß Bach die umfangreiche Cantate, welche allem Anscheine nach vor Ablauf des Jahres 1721 geschrieben ist, dem verehrten Hause zum Jahreswechsel widmete und auch den Text, welcher an Gehalt [450] und Form viel zu wünschen übrig läßt, selbst verfaßt hat. Die Worte des letzten Recitativs:
Ja sei durch mich dem theursten Leopold
Zu vieler tausend Wohl und Lust,
Die unter seiner Gnade wohnen,
Bis in ein graues Alter hold.
Erquicke seine Götterbrust.
Laß den Durchlauchtigsten Personen,
Die du zu deinem Ruhm ersehn,
Auf die bisher dein Gnadenlicht geschienen,
Nur im vollkomnen Wohlergehn
Die schönste Zeit noch viele Jahre dienen.
Erneure Herr bei jeder Jahreszeit
An ihnen deine Gut und Treu.
drücken die Bestimmung der Cantate am deutlichsten aus. Die feine und gedankenreiche Composition, in welcher ein Duett zwischen Alt und Tenor (Es dur ) durch besondere Schönheit hervorragt, ist durchweg für Sologesang bestimmt, selbst der vierstimmige Schlußgesang nur für einfache Besetzung berechnet. Hierin kommt die Cantate also mit der Geburtstags-Serenade »Durchlauchtger Leopold« überein21 und beweist abermals, daß Bach in Cöthen einen brauchbaren Chor nicht zur Verfügung hatte. Wie jene zu einer Pfingst-Cantate, so hat er diese später in Leipzig zu einer Musik auf den dritten Ostertag (»Ein Herz, das seinen Jesum lebend weiß«) umgestaltet, ohne jedoch alle Stücke derselben zu benutzen.22 Ich muß hier nochmals darauf hinweisen, daß auch die oben erwähnte Cantate »Steigt freudig in die Luft«, welche Bach für den ersten in Cöthen gefeierten Geburtstag der zweiten Gemahlin Fürst Leopolds componirte, später zu andern Zwecken mehrfach überarbeitet ist.23 Die erste Überarbeitung diente der Geburtsfeier eines Lehrers, vielleicht Gesners;24 die zweite machte das Werk zu einer [451] Kirchencantate auf den ersten Adventsonntag25. In Leipzig lebte ein Rechtsgelehrter, Johann Florens Rivinus (geb. 28. Juli 1681), der am 9 Juni 1723 zum Professor ordinarius der Universität befördert war. Er muß sich schon damals einer besondern Beliebtheit erfreut haben, denn am Abend dieses Tages brachten ihm die Studenten eine solenne Serenade.26 Mindestens zehn Jahre später warteten ihm die Studenten gelegentlich seines Geburtstages wieder mit einer Musik auf; hierzu erlitt die cöthenische Cantate ihre dritte Überarbeitung und wurde in ihrem ursprünglich weltlichen Charakter wieder hergestellt.27 Bach scheint demnach das zwar angenehme aber nicht grade bedeutende Werk besonders lieb gehabt zu haben, vielleicht weil sich freundliche Erinnerungen daran knüpften. –
Die weltlichen Gelegenheits-Cantaten Bachs gehören fast alle in das Gebiet der dramatischen Kammermusik. Es liegt ihnen also eine Handlung zu Grunde, die sich zwischen einer Anzahl von selbstredend auftretenden Persönlichkeiten entwickelt, oder doch eine Situation, welche sich durch die Reden verschiedener Persönlichkeiten exponirt. Während im allgemeinen die gesungene Kammermusik in der Mitte zwischen kirchlicher und theatralischer Tonkunst stehen soll, neigt sich diese Art derselben stärker der Oper zu. Natürlich hatten solche Stücke eine viel geringere Ausdehnung und glichen mehr nur dem letzten Aufzug einer Oper. Die Stoffe und Persönlichkeiten wurden ebenfalls gern der antiken Mythologie entnommen, wenngleich meist nur allegorisch ausgebeutet. Dramatische und Situations-Charakteristik wurden in demselben Maße wie bei einem Bühnenwerke verlangt; es fehlten nur Costumirung, Action [452] und Scene. Und selbst letztere nicht ganz. Daraus daß man diese Compositionen noch zur Kammermusik rechnete, folgte nicht, daß man sie auch immer nur im Musikzimmer aufführte. Es bezeichnet einen wesentlichen Unterschied zwischen der Musikübung unserer und jener Zeit, daß hinsichtlich der Aufführungsorte eine viel größere Freiheit und Mannigfaltigkeit bestand. Durch viel zahlreichere Fäden hing damals die Musik mit dem gesellschaftlichen Leben zusammen. Während jetzt fast alle außerhalb des Hauses geübte Musik, soweit sie nicht kirchliche und theatralische ist, sich im Concertsaal zusammendrängt und zum Anhören derselben sich das Publicum wie zu einem besondern Geschäft versammelt, wählte man sich damals auch die Straße, den Garten, den Lustwald, selbst den See oder Fluß, jenachdem das aufzuführende Tonstück einer Huldigung, einer Hochzeit, einem Geburtstage, einem Jagdvergnügen oder irgend einer andern Lustbarkeit galt. Handelte es sich nun um ein dramatisches Gesangswerk, so wurde der Ort der Aufführung gleichsam als Scene gedacht und die Beschaffenheit der Handlung mußte ihm angemessen sein. Nur ausnahmsweise kam es vor, daß bei solchen Musiken im Costum agirt wurde. Zur richtigen Beurtheilung des Charakters und der Wirkung auch der Bachschen dramatischen Cantaten ist es nothwendig, diese Art der Aufführung stets zu berücksichtigen. Sie brachte die für uns befremdliche Verwendung nicht nur des vollen Chors sondern selbst des recitativ- und arienmäßigen Sologesanges mit Instrumenten und Clavier im Freien mit sich. Die übliche schwache, oft nur einfache Besetzung der Singstimmen und Instrumente konnte natürlich jenen weittragenden Vollklang nicht erzielen, der für einen unbegränzten Raum unter freiem Himmel angemessen erscheint; man richtete sich gewissermaßen auch in Gottes Natur häuslich ein. Dennoch war der gewiegte Componist immer bedacht, die klangliche Erscheinung seines Werkes nach dem Orte der Aufführung zu berechnen, und gewisse Auffälligkeiten der betreffenden Bachschen Cantaten lassen sich zuverlässig auf diese Rücksicht zurückführen.28
[453] Abgesehen hiervon unterlagen die dramatischen Cantaten schon deshalb weil sie zur Gattung der Kammermusik gehörten der Anwendung gewisser Stilregeln. Ihrer Mittelstellung gemäß sollten sie die Gediegenheit des kirchlichen und die leichte Gefälligkeit des theatralischen Stiles in sich vereinigen. Sie zeigen uns den musikalischen Grund und Boden, über welchem das Händelsche Oratorium sich erhob: der Zusammenhang desselben mit der dramatischen Kammer-Cantate verräth sich auch äußerlich dadurch, daß Händel sein Oratorium Acis und Galatea noch auf einer wenngleich künstlichen, so doch passend ausgeschmückten Scene zur Aufführung brachte.29 Aber freilich: Händel verkörperte den Vollgehalt der antiken Mythen zu Kunstwerken, die für den weitesten Kreis der Gebildeten bestimmt waren; bei Bach bildet eine Allegorie das poetische Grundmotiv, und der Zweck des Werks war einer einzelnen Person zu huldigen und eine geschlossene kleine Gesellschaft zu ergötzen. Während Händel hier auf seinem eigensten Gebiete herrschte, konnte Bach solchen Aufgaben gegenüber sich kaum anders, denn als dienstschuldiger Musikant vorkommen. Er hätte nicht der überragende Künstler sein müssen, der er war, wenn er sich in der Composition von dramatischen Cantaten hätte befriedigt fühlen können. Denn was es Händel in England ermöglichte, diese und ähnliche Musiken zu einer Kunstgattung ersten Ranges zu erhöhen: das öffentliche Concertwesen, das fehlte in Deutschland. Der einzige Platz, von dem aus ein Mann mit Bachs umfassender Kunstbegabung auf sein deutsches Volk wirken konnte, war das Kirchenchor. Diese seine eigentliche Bestimmung erfüllte ihn denn auch, ihm selbst bewußt oder unbewußt, bei allem was er angriff. Das meiste aus den weltlichen Cantaten hat er hernach ohne durchgreifende Umarbeitung für Kirchenmusiken verbraucht, wo es sich denn vollständig an seinem Platze zeigt. Daraus folgt, daß es in der Originalgestalt nicht ganz zweckentsprechend gewesen sein kann. Wirklich neigen sich Bachs Kammercantaten aus der ihnen zukommenden Mittelstellung merklich nach Seite des Kirchenstiles hinüber. Die für die dramatischen unter ihnen erforderte Personal- und Situa tions-Charakteristik zeigt in ihrer großen Schärfe und[454] Gegensätzlichkeit den mit reifer Überlegung schaffenden Künstler, beweist aber doch nichts als dessen mannigfaltige Erfindungskraft innerhalb seines eigensten Gebietes. Sie entspricht nur einer Forderung des dramatischen Stils im allgemeinen; für die betreffende Gattung aber ist sie viel zu gewichtig, zieht die leicht spielenden Empfindungen ins Schwer-Pathetische und das Komische ins Groteske. So charaktervoll manche Gestalten erscheinen, wenn man sie unter einander vergleicht, so beweisen sie doch keinesweges schon, daß Bachs Talent auch für die Oper geeignet gewesen wäre; es ist vielmehr unzweifelhaft, daß ihm dafür ein Haupterforderniß fehlte: die durch das Wesen der Gattung bedingte Grundempfindung. Deshalb ist es unmöglich, Bachs Kammercantaten als allgemeingültige Muster hinzustellen. Sie sind Werke voll Gehalt und Reiz, aber nur für denjenigen, der Bachs persönlichen Standpunkt sich aneignet. Dies gilt für die nachfolgende Betrachtung der einzelnen Werke allemal als Voraussetzung.
Wir sahen früher, wie Bach von Anfang an bestrebt sein mußte, sich in der Gunst der Leipziger Studentenschaft festzusetzen.30 Offenbar hängt es hiermit zusammen, wenn wir ihn gleich in den ersten Jahren, bevor er noch zur Leitung des Telemannschen Musikvereins gelangt war, mehrfach beschäftigt finden, studentischen Unternehmungen durch seine Kunst zu helfen. Zu den beliebten Lehrern der Universität gehörte der Doctor der Philosophie August Friedrich Müller, der am 3. August seinen Namenstag beging.31 Seine Schüler wollten im Jahre 1725 ihm hierzu eine Huldigung darbringen, der immer bereite Picander verfertigte den Text, welchen Bach componirte.32 Es war eine dramatische Cantate, ihr Inhalt zeigt an, daß sie im Freien aufgeführt worden ist, und die starke musikalische Besetzung bestätigt dies. Den dramatischen [455] Apparat lieferte die antike Mythologie. Pallas will zu Ehren des gelehrten Mannes mit den Musen ein Fest auf dem Helicon feiern. Es wird nur befürchtet, daß schlechtes Herbstwetter eintreten könnte (eine Befürchtung, die am Anfang des August-Monats etwas verfrüht erscheint); die grimmigen Winde rumoren schon in ihrem Gefängniß und der Beherrscher Aeolus verspricht ihnen baldige Freilassung, läßt sich dann aber, nachdem Zephyrus, der Gott der lauen Sommerlüfte, und Pomona, die Beschützerin des Obstbaus, vergeblich gebeten haben, auf Vorstellungen der Pallas herbei, die angenehme Ruhe der Jahreszeit einstweilen noch nicht zu stören. Den Chor der Winde und das Recitativ des Aeolus, womit die Cantate beginnt, hat Picander nach einer bekannten Schilderung Vergils (Aeneis I, 50 ff.) gearbeitet. Die Winde befinden sich in einem Bergverließ, wo sie sich mit einander balgen und ihre ungezähmte Wuth an festem Schloß und Riegel brechen.33 Aeolus selbst freut sich darauf, wenn sie bald losgelassen sein werden,
wenn alles durcheinander geht,
wenn selbst der Fels nicht sicher steht,
und wenn die Dächer krachen.
Bach hat sich durch diese Vorstellungen zu Tonbildern von seltener Großartigkeit anregen lassen. Auch für das weitere hat Picander dem Componisten gut vorgearbeitet, schöne musikalische Contraste ermöglicht, und selbst zur genaueren Charakterisirung treffende Züge angebracht. Die Arie des Zephyrus mit ihrem leisen Geflüster und zarten Farbenreiz gehört zu Bachs lieblichsten Naturgemälden, und Aeolus ist von ihm zu einem recht wilden, ungalanten Tölpel ausgebildet. Sein Gebahren eignet sich freilich mehr für eine blutige Tragödie, als für ein heiteres Gartenfest, und wenn nun der einzige Name »Müller« ihn veranlaßt, die unbändigen Winde in ihrer Höhle zu beschwichtigen,34 so schlägt die Wirkung unbeabsichtigt ins [456] Komische um.35 Neun Jahre später brachte Bach bei einer weit feierlicheren Gelegenheit sein Werk nochmals zur Aufführung. Am 17. Januar 1734 wurde Friedrich August II als August III in Krakau zum polnischen Könige gekrönt. Dem Festacte der Leipziger Universität, welcher am 19. Februar begangen wurde, mußte diesesmal Görner mit einer lateinischen Ode dienen.36 Bach hatte schon im Januar, als das Bevorstehen der Krönung in Leipzig bekannt wurde, eine Feier im Musikverein vorbereitet, die denn auch sofort nach Eingang der Nachricht, daß die Krönung vollzogen sei, vor sich gegangen sein muß. Die nöthige Umdichtung des Textes war von ihm selbst besorgt worden. Aeolus war in die Tapferkeit verwandelt, die im ersten Recitativ nun nicht mehr das Rasen der Winde schildert, sondern die Thaten, welche von ihr selbst bei Bekämpfung und Vertreibung des Gegenkönigs Stanislaus und seiner Partei vollbracht sind. Zephyrus mußte die Maske der Gerechtigkeit, Pomona die der Gnade vornehmen, nur Pallas blieb und bittet den König um Schutz für die Musen. Mit »August« wurde jetzt nicht der Professor Müller sondern der König von Polen angeredet. Die Musik verlor hierdurch natürlich alles dramatisch charakterisirende, aber es ist auch klar, daß Bach hierhinein den Schwerpunkt des Werkes nicht gelegt wissen wollte; sonst wäre die Umdichtung eine Verunstaltung gewesen, die zu begehen er um so weniger Grund hatte, als ihn keinerlei Auftrag zur Veranstaltung seiner Feier nöthigte.37
[457] Eine andere Gelegenheit sich den Studenten dienlich zu erweisen fand Bach im Jahre 1726. Gottlieb Kortte, ein im Jahre 1698 zu Beescow in der Lausitz geborener Gelehrte, der zuerst in Leipzig Theologie und Philologie, hernach auch in Frankfurt an der Oder Rechtswissenschaft studirt hatte, promovirte am 11. Dec. 1726 in Leipzig zum außerordentlichen Professor der Rechte. Seine schon in jenen Jahren erworbenen umfassenden Kenntnisse wie auch seine Persönlichkeit ließen ihn bereits jetzt als eine Zierde der Universität erscheinen. In der kurzen ihm noch beschiedenen Lebenszeit hat er sich offenbar als eine solche bewährt und sein früher Tod – er starb am 7. April 1731 – »wurde von der studirenden Jugend, bei welcher er in großem Applausu gestanden, und allen, welchen seine gründliche Gelehrsamkeit bekannt gewesen, gar sehr bedauert.«38 Der Promotions-Actus fand natürlich in den Räumlichkeiten der Universität statt, und dieser Scene gemäß sind die Personen der aufgeführten dramatischen Cantate nur Allegorien: Fleiß, Ehre, Glück, Dankbarkeit. Bach stattete seine Musik pomphaft aus, componirte sie aber nicht ganz neu, sondern benutzte das erste der Brandenburgischen Concerte,39 dessen dritten Satz er gewandt, wenn auch mit einiger genialischen Lässigkeit, zum Eingangschor umarbeitete. Das zweite Trio der dem Concert angehängten Tanzstücke wurde als Ritornell des Duetts angebracht. Die, soweit jetzt noch zu entscheiden, zwar selbstständige Alt-Arie hat Menuett- Rhythmus und erinnert mit den leise hineinklingenden fanfarenhaften Sätzchen der vereinigten Geigen und Bratschen an die zweite Gavotte der Orchesterpartie aus C dur.40 Das ganze Werk wird durch einen Marsch eröffnet, wie man ihn zur Begleitung feierlicher Auf- und Abzüge damals zu machen pflegte, d.h. mehr nur eine zur [458] zweitheiligen Marschform erweiterte Fanfare, als ein melodisch prägnantes, straff gegliedertes Tonbild; der Marsch in Erlebachs großer Huldigungsmusik von 1705 ist ähnlich beschaffen.41 Später hat Bach die Cantate mit verändertem Text zur Namenstag-Feier des Königs August III. (3. August) wieder aufgeführt.42
Dieselbe oder eine verwandte Bestimmung wie die Musik für Kortte scheint die Cantate »Siehe der Hüter Israel« gehabt zu haben. Sie war für vier Stimmen, starkes Orchester und Cembalo gesetzt, ist aber verloren gegangen.43
Fünf Monate nach Korttes Promotion ging eine neue Studentenfeierlichkeit mit Bachscher Musik vor sich. Der König August II. langte am 3. Mai 1727 in Leipzig an, um sich während der Jubilate-Messe dort eine Weile aufzuhalten. Am 12. Mai war sein Geburtstag. Da er Anfang des Jahres zu Bialystock in Polen eine schwere Krankheit zu überwinden gehabt hatte, gedachte der Leipziger Patriotismus sich zur Feier des Geburtstages außergewöhnlich anzustrengen. Am Morgen war Festactus in der Universitätskirche mit einer lateinischen Ode von Görners Composition und einem Te Deum unter Kanonenschüssen und Glockengeläut. Des Abends aber nach 8 Uhr führten die dem akademischen Convict angehörigen Studenten vor dem Logis des Königs, der wie gewöhnlich im Apelschen Hause am Markte (Nr. 17) wohnte, eine dramatische Cantate auf; zu dieser hatte Bach die Musik gesetzt und dirigirte sie persönlich. Die Musik ist verloren gegangen; das Gedicht hatte ein gewisser Christian Friedrich Haupt verfertigt. Picanders diensteifrige Feder ruhte auch nicht; er ließ ein Festgedicht in Alexandrinern los. Die Stadt war illuminirt. Daß auch Fürst Leopold den Tag in Leipzig anwesend war, wurde oben schon bemerkt.44
[459] Aus den folgenden Jahren sind eigens für die Studenten componirte Gelegenheitsmusiken Bachs, eine einzige ausgenommen, nicht mehr nachzuweisen. Von 1729 hatte Bach in dem alten Telemannschen Musikverein die solide Stütze, deren er für sein Wirken bedurfte, und zugleich das geeignete Organ für solche Fälle, wo es ihm angezeigt erschien, sich mit musikalischen »Aufwartungen« bemerklich zu machen. Im ersten und zweiten Jahre der Regierung Augusts III. geschah dieses dem königlichen Hause gegenüber wenigstens fünfmal. Man kann nicht wohl umhin, diese Beflissenheit mit Bachs persönlichen Verhältnissen in Verbindung zu bringen. Am 27. Juli 1733 hatte er in Dresden die ersten beiden Sätze der H moll-Messe dem Könige mit der Bitte überreicht, ihm einen Hoftitel zu verleihen, welcher ihn vor weiteren Kränkungen des Leipziger Rathes sichern sollte. Jedenfalls wollte er dem Gesuch durch die in Leipzig veranstalteten Festaufführungen mehr Nachdruck geben. Von der im Januar 1734 aufgeführten Krönungscantate ist oben schon die Rede gewesen. Aber am 5. September 1733 bereits hatte er zum Geburtstage des Churprinzen (geb. 5. September 1722) eine von Picander gedichtete dramatische Cantate »Hercules auf dem Scheide-Wege« zu Gehör gebracht.45 Die Zusammenkünfte des Collegium musicum fanden während des Sommers im Zimmermannschen Garten vor dem Thore statt, und für eine Aufführung im Freien ist offenbar die Cantate auch berechnet. Die Personen des Dramas: Hercules, Wollust, Tugend, sind vortrefflich charakterisirt und bilden schärfere Gegensätze als in Händels »Wahl des Herakles«46, das gesammte Werk blüht von Frische und Reichthum. Aber als Ganzes verräth es doch auch wieder jenen Empfindungs-Überschwang, welcher zu dem Gegenstand und der Gattung nicht paßt. Wir können uns daher glücklich schätzen, daß es mit Ausnahme des Schlußchors und der Recitative ganz in das ein Jahr später componirte Weihnachts-Oratorium übergegangen ist.47 Ein Vierteljahr darauf beging das Collegium musicum am 8. December 1733 den [460] Geburtstag der Königin wiederum mit einer dramatischen Cantate. »Tönet ihr Pauken, erschallet Trompeten.« Bach war dieses Mal auch der Textverfertiger gewesen, die Composition hatte er erst am Tage vorher vollendet.48 Jrene, Bellona, Pallas und Fama treten darin auf, die schöne Musik wurde mit Ausnahme der Arie der Bellona »Blast die wohlgegriffnen Flöten« und der Recitative gleichfalls für das Weihnachts-Oratorium verwendet.49 – Bei der vom 17. Mai 1734 bis zum 26. währenden Anwesenheit des Königspaares zu Leipzig scheinen die dortigen Musiker eben so wenig zur Geltung gekommen zu sein, wie bei der am 21. April 1733 in Leipzig geschehenen Huldigung.50 Als aber König und Königin am 2. October 1734 die Stadt wieder besuchten und dieselbe am 5. October den Jahrestag der Wahl Augusts III. zum polnischen König feierlich begehen wollte, wurde Bach Gelegenheit, für die Studenten eine den Majestäten zu bringende Abend-Musik zu liefern. Es ging dabei ziemlich eilig her. Der unbekannte Textfabrikant schrieb manchmal ins Blaue hinein um nur die nöthige Wortmenge zu Stande zu bringen, an einer Stelle des letzten Recitativs gradezu Unsinn, so daß sich der Componist genöthigt sah, verändernd einzugreifen. Das Product wurde halb lyrische, halb dramatische Cantate; welche Person aber am Anfang des vorletzten Stückes gemeint ist, hat der Poet verschwiegen. Eine ganz neue Musik zu schaffen war in dem gegebenen Zeiträume von drei Tagen selbst einem Bach unmöglich. Er benutzte deshalb wenigstens zum Theil ältere Compositionen, deren ursprüngliche Bestimmung wir aber nicht mehr angeben können. Die Originalarie »Durch die von Eifer entflammten Waffen« fand bald darauf im Weihnachts-Oratorium einen Platz. Der Anfangschor »Preise dein Glücke, gesegnetes Sachsen« wurde später, [461] wie es scheint in seiner ursprünglichen kürzeren Gestalt, in die H moll-Messe aufgenommen.51 Nur zwei Tage später, auf den 7. October, fiel der Geburtstag des immer noch in Leipzig verweilenden Königs. Für ihn hatte sich Bach durch Composition einer dramatischen Cantate augenscheinlich schon länger gerüstet und führte sie denn auch, jedenfalls mit seinem Verein, auf. An Schönheit und Gehalt steht die Musik dem »Hercules auf dem Scheidewege« und der Cantate zum Geburtstage der Königin gleich. Die Flüsse Weichsel, Elbe und Donau preisen ein jeder den Augustus, an welchem sie ein gleiches Recht zu haben glauben: Weichsel und Elbe als die bedeutendsten Flüsse Polens und Sachsens, Donau, weil die Königin Maria Josepha eine österreichische Prinzessin war. Ihre Ansprüche weist die Pleiße, Leipzigs Fluß, auf das rechte Maß zurück, so singen sie denn zum Schlusse dem Könige einen vierstimmigen Glückwunsch, nachdem sie das Werk gleichfalls durch einen vierstimmigen Gesang und die Aufforderung an ihre Wellen eingeleitet hatten, dieselben möchten, obgleich es sich eigentlich zieme »vor Verwunderung und Schüchternheit« nur gelinde zu murmeln, freudig an Ufer und Klippe emporrauschen. Dieses erste Stück ist wieder ein reizendes, romantisches Naturbild, bald leise schaukelnd, bald kräftig aufrauschend und im lieblichsten Farbenwechsel spielend. Bach wiederholte das Werk zum Namenstage des Königs (3. August) im Jahre 1736 oder 1737; für die Kirchenmusik hat er es soweit ersichtlich nicht ausgebeutet.52 Als König und Königin zur Ostermesse 1738 nach Leipzig gekommen waren, wartete ihnen Bach mit einer Abendmusik auf, welche ihm sogar eine gedruckte Kritik eintrug. Magister Birnbaum ließ sich nämlich ein Jahr darauf in einer Bachs Kunst gewidmeten Schrift über diese Composition also vernehmen: »Daß der Herr Hofcompositeur rührend, ausdrückend, natürlich, ordentlich, und nicht nach dem verderbten [462] sondern besten Geschmak setze, beweist insbesondere unwidersprechlich die von ihm verwichene Ostermesse vor unserer allerdurchlauchtigsten hohen Landesherrschaft bei Dero höchsten Anwesenheit in Leipzig öffentlich aufgeführte Abendmusik, welche mit durchgängigem Beifall angenommen worden.«53 Die Musik ist aber verloren gegangen. Endlich suchte auch Bach noch einmal die alte weimarische Cantate »Was mir behagt ist nur die muntre Jagd« hervor, um sie im Musikverein zu Königs Namenstag aufzuführen. Ob Augusts II. oder Augusts III., erfahren wir freilich nicht bestimmt, wahrscheinlicher ist aber das letzte, da Bach sich wie man nun gemerkt haben wird alle mögliche Mühe gab, um das Gefallen dieses Herrschers zu erregen.54
Von Gelegenheits-Cantaten des Zeitraums 1723–1734, welche öffentlich genannt werden können, insofern zu ihnen öffentliche Personen oder Anstalten die Veranlassung gaben, ist außerdem nur noch die Einweihungs-Musik für die umgebaute Thomasschule (5. Juni 1732) zu nennen.55 Private Gelegenheitsmusiken Bachs bestehen in einigen weltlichen Hochzeits-Cantaten; ihre Bestimmung war es nach altem Brauch, während der Hochzeitstafel gesungen zu werden. Sie enthalten nur Sologesang. Die älteste unter ihnen ist zuverlässig die Cantate »Weichet nur betrübte Schatten«56, sie gehört vielleicht gar noch in die Cöthener Zeit. Johannes Ringk hat sie uns in einer aus dem Jahre 1730 stammenden Handschrift überliefert. Ringk, zu Frankenhayn in Thüringen geboren, war zuerst Schüler Peter Kellners in Gräfenrode, eines begeisterten Verehrers Seb. Bachs, der sich viele Werke des Meisters abschrieb. Durch Kellner hat Ringk wahrscheinlich die Cantate kennen gelernt. Kam [463] Kellner als Cantor in Gräfenrode zu der Cantate, so muß es zwischen 1727 und 1730 gewesen sein, da er frühestens 1727 sein Amt dort antrat.57 Derselbe wirkte aber vorher in Frankenhayn, dem Heimathorte Ringks, wo er 1726 die Bachschen Sonaten und Suiten für Violine solo abschrieb; ja schon aus dem Jahre 1725 giebt es eine Kellnersche Copie einer Bachschen Orgelfuge58. Und da er 1719 Schüler des Organisten Schmidt zu Zella am Thüringerwalde war, der seit langem schon mit Bach in Verbindung gestanden zu haben scheint,59 so führen die Vermittlungswege ziemlich weit zurück.60 Der Text ist ein anmuthiges Frühlingsgedicht, das ungezwungen zu dem Liebesfrühling zweier Herzen hinüberleitet und durch decente Vermeidung der bei Hochzeitsgedichten herkömmlichen Schlüpfrigkeiten erfreulich überrascht. Die Composition beschäftigt nur den Solo-Sopran und zeichnet sich in dem ersten Stücke durch einen leisen romantischen Hauch aus. Für die Entstehung in früherer Zeit sprechen die knapperen Formen der Arien und noch ein Umstand. Die sechste der Violinsonaten mit obligatem Clavier61 ist bekanntlich zweimal von Bach umgearbeitet und zuletzt mit einem Allegro versehen, dessen Hauptgedanke aus der C dur-Arie unserer Cantate entnommen ist. Ich erwähnte früher die bräutliche Stimmung, welche in der Sonate, namentlich in dem Mittelsatze Cantabile, ma un poco Adagio walte. Wahrscheinlich, daß Bach als er die letzte Umarbeitung der Sonate vornahm diese Stimmung noch nachempfand und hierdurch darauf geführt wurde, aus einer derselben Zeit entstammenden wirklichen Brautmusik ein Motiv für das letzte Allegro zu bearbeiten. Merkenswerth ist noch eine zweite Übereinstimmung: der Hauptgedanke der D dur-Arie, welchen im Vorspiel die Oboe vorträgt, findet sich als Hauptgedanke der Bassarie in der Cantate »Liebster Gott, wann werd ich sterben« wieder.62 – Von einer weltlichen Hochzeits-Cantate zum 5. Februar 1728 ist [464] freilich der musikalische Theil verschollen,63 doch knüpft sich auch an die Picandersche Dichtung noch allerhand bemerkenswerthes. Das angesungene neuvermählte Paar waren der Leipziger Kaufherr Johann Heinrich Wolff und die Tochter des königlich-churfürstlichen Accise-Commissarius Hempel in Zittau64. Die Trauung fand um 12 Uhr Mittags durch den Archidiaconus Carpzov statt, und zwar »auf allergnädigsten Befehl« im Schellhaferischen Hause.65 Dieses lag in der Klostergasse und war für gesellige Zusammenkünfte beliebt; Görner pflegte dort sein Collegium musicum zu halten und der Hochzeitsschmaus, bei welchem Bachs Cantate zur Aufführung kam, wird ebendaselbst vor sich gegangen sein. Als Personen der Cantate traten die Pleiße und die Neiße auf; die Braut scheint sich demnach vor ihrer Verheirathung nicht in Zittau befunden zu haben. Wichtiger als diese Dinge ist, daß Bach später den Text zu Ehren des Raths der Stadt Leipzig selber umdichtete. Aus der Pleiße wurde Apollo (Tenor), aus der Neiße Mercurius (Alt); sie repräsentiren Wissenschaft und Handel, die beiden Ruhmessäulen der Stadt. Der Text, in Bachs eigner Handschrift erhalten, gewährt den interessanten Anblick, den Tonmeister in der mühseligen Arbeit des Verse- und Reime-Schmiedens zu belauschen. Daß er sich aber herbeiließ, in höchsteigener Person und in überschwänglichen Ausdrücken das Lob Leipzigs zu singen und des Rathes, der ihm so viel Verdruß bereitet hatte, daß er den Arientext dichten konnte:
Mit Lachen und Scherzen
Mit freudigem Herzen
Verleib ich mein Leipzig der Ewigkeit ein.
Ich habe hier meine Behausung erkoren
Und selber den Göttern geschworen,
Hier gerne zu sein,
ist merkwürdig genug. Wenn er auch die Worte dem Mercur in den [465] Mund legt, dergleichen ersinnt doch keiner über einen Ort, an dem er es selbst unausstehlich findet. Diese Parodie ist ein vollgültiges Zeugniß, daß es Bach in jener Zeit selber in Leipzig wohl behagte.66
Eine dritte weltliche Hochzeits-Cantate »O holder Tag, erwünschte Zeit« für Sopran füge ich hier gleich an, obgleich sie viel später, vielleicht erst 1749 componirt worden ist. Der junge Ehemann, an den sie sich wendet, muß ein Gönner der Musik gewesen sein, denn es heißt in ihr:
Hochtheurer Mann, so fahre ferner fort,
Der edlen Harmonie wie jetzt geneigt zu bleiben,
So wird sie dir dereinst die Traurigkeit vertreiben u.s.w.
Auch werden darin die Verächter und Verkleinerer der Musik nachdrücklichst behandelt, was eben 1749 zeitgemäß erscheinen mußte, nachdem im Frühling dieses Jahres der Rector Biedermann zu Freiberg durch sein Programm De vita musica die Musiker schwer beleidigt hatte. Wenn man aus der Sorgfalt, ja Eleganz, mit welcher Bach sein Manuscript herstellte, einen Schluß ziehen darf, so hat er der, in der That hervorragenden, Composition selbst einen bedeutenden Werth beigemessen.67 Mit anderm Text, der nur das Lob der Tonkunst zum Gegenstande nimmt (»O angenehme Melodei, Kein Anmuth, kein Vergnügen Kommt deiner süßen Zauberei Und deinen Zärtlichkeiten bei«) hat Bach die Cantate dann noch bei drei verschiedenen Gelegenheiten zum Vortrag gebracht. Einmal richtete er sich mit ihr an einen Sproß der gräflich Flemmingschen Familie, in welcher die Musik geliebt und gepflegt wurde.68 Eine [466] Arie ist entlehnt, nämlich aus einer Huldigungs-Musik vom Jahre 1737. Ein Günstling des Grafen Brühl, Johann Christian Hennicke, der vom Lakaien allmählig zum Reichsgrafen emporstieg, nahm am 28. September dieses Jahres auf der ihm als erbliches Lehen verliehenen Besitzung Wiederau die Huldigung entgegen. Picander und Bach hatten zu dieser Feierlichkeit eine Cantate gemacht, in welcher Schicksal, Glück, Zeit und der Elster-Fluß auftreten, und die dem Componisten namentlich in dem schwungvollen, frischen Anfangs- und Schlußchor und der originell-anmuthigen, klangschönen Alt-Arie ausgezeichnet gelungen war. Sie wird uns noch als Kirchen-Cantate wiederbegegnen.69 Eine andre Huldigungsmusik, die sogenannte Bauerncantate vom Jahre 1742, dürfen wir hier nicht einmal streifen, da ihre von den andern Gelegenheits-Cantaten ganz abweichende Art eine ausführlichere Besprechung an andrer Stelle erheischt. –
Außer den weltlichen Gelegenheitsmusiken hat Bach noch einige deutsche und italiänische Kammercantaten geschrieben, welche weniger durch äußere Veranlassungen hervorgerufen ihre Bestimmung überwiegend in sich selber tragen. Ihre Zahl ist nicht groß. Von andern Idealen erfüllt mochte sich Bach aus freien Stücken nur selten veranlaßt fühlen diese Gattung anzubauen. That er es einmal, so kann es bei seinem regen Interesse für die Erzeugnisse andrer Personen und Völker, bei dem Eifer, mit welchem er früher die instrumentale Kammermusik der Italiäner studirt hatte, nicht wunder nehmen, daß er auch dem italiänischen Kammergesange seine Aufmerksamkeit zuwendete. Davon ist die Composition italiänischer Texte das Anzeichen. Daß ihm an der italiänischen Poesie als solcher nicht viel gelegen war, bezeugt der Umstand, daß wenigstens einer der Texte offenbar der Feder eines Deutschen entstammt, der das Italiänische nur in unvollkommener Weise beherrschte. Eine dieser Cantaten »Andro dall colle al prato«, die für Sopran mit Begleitung von zwei Flöten, Streichquartett und Bass gesetzt war, ist verloren [467] gegangen.70 In einer andern »Amore traditore« wird eine Bassstimme von theilweise obligatem Cembalo begleitet. Dies ist nicht, wie man glauben könnte, eine Neuerung Bachs, sondern findet sich auch bei italiänischen und in italiänischer Weise gebildeten deutschen Componisten jener Zeit ziemlich häufig, so bei Porpora, Conti, Heinichen und andern.71 Vielmehr verhält sich grade Bach in der Cembalobegleitung, welche er der zweiten Arie seiner Cantate beigegeben hat, augenscheinlich den Italiänern nachbildend. Seine Art war es sonst nicht, eine obligate Stimme überwiegend in gebrochenen Harmonien zu führen, ebenso wenig liebte er es die obligate Behandlung nur stückweise anzuwenden. Die weiten Formen des Werks weisen auf die Zeit seiner vollsten Reife: erst durch den von Leipzig aus mit Dresden gepflogenen Verkehr lernte er auch die italiänische Gesangsmusik gründlich kennen.72 Die Spuren davon, namentlich Anklänge an Lotti, finden sich selbst in seinen Kirchencantaten hier und da. Eine Arie des Marziano aus Lottis Alessandro Severo:
stimmt, was diesen Anfang betrifft, in allem wesentlichen mit dem Anfang der Bassarie aus Bachs Kirchencantate »Liebster Gott, wann werd ich sterben« und der D dur-Arie der Kammercantate »Weichet nur, betrübte Schatten« überein. In der von Lotti 1718 für Dresden componirten Oper L'Ascanio beginnt die erste Arie mit:
[468] also ähnlich dem Anfange der D moll-Arie im vierten Theil von Bachs Weihnachts-Oratorium. Wenn Bach im Sicut erat in principio seines Magnificat den ersten Satz desselben in gedrängter Fassung wiederholt, so ahmt er hiermit die italiänischen Kirchencomponisten nach. Dasselbe geschieht in Leonardo Leos Dixit Dominus für Doppelchor und Instrumente (C dur), dasselbe in einem fünfstimmigen Dixit Lottis (A dur).73 Dieses letztere hat Bach auch sonst noch beim Schaffen seines Magnificat beeinflußt. Der großartige Chorschluß: dispersit superbos mente cordis sui hat sein Vorbild in Lottis fünfstimmigem Chor Conquassabit in terra capita multorum; die Arie Quia fecit mihi magna ist über ein Bassthema gebaut, das dem einer Alt-Arie in Lottis Werke ähnlich ist:
Es mag hier daran erinnert werden, daß eine G moll-Messe Lottis von Bach während seiner mittleren Leipziger Periode eigenhändig abgeschrieben ist, wodurch also auch äußerlich seine Beschäftigung mit der Musik des italiänischen Meisters festgestellt wird.75 – Bei einer dritten italiänischen Kammercantate Bachs handelt es sich um ein wirkliches Ereigniß. Es kann aber aus dem Text nur undeutlich erkannt werden, da derselbe in unbehülflichem, theilweise fehlerhaftem und sinnlosem Italiänisch mit Untermischung einiger, offenbar aus italiänischen Originaldichtern aufgelesenen Brocken, also jedenfalls von einem Deutschen, abgefaßt ist. Ein Freund will in die Heimath zurückkehren, d.h. aus Deutschland nach Italien. Er [469] scheint in Anspach geweilt zu haben und freut sich, nunmehr dem Vaterlande wieder dienen zu können, nachdem sein Wirken in der Fremde nicht die gerechte Anerkennung und Unterstützung gefunden hat. Doch, meint der Dichter, werde die Gunst erlauchter Personen, die er sich in Anspach erworben hat, ihm helfen, im Vaterlande großes zu erreichen. Persönliche Beziehungen Bachs spielen augenscheinlich hinein. An einen befreundeten italiänischen Künstler zu denken – in der markgräflich anspachschen Capelle unter Pistocchi und Bümler (1696–1745) regierte der italiänische Geschmack, auch Torelli wirkte am Anfang des Jahrhunderts dort – verbieten aber wohl die Worte: Tuo saver al tempo e l'età contrasta, falls man den stümpernden Poeten überhaupt beim Worte nehmen darf. Die Composition, für Solosopran, Flöte und Streichquartett, verräth eingehendes Studium der italiänischen Kammermusik. Die Mischung, welche der italiänische und der original Bachsche Stil hier eingegangen sind, macht sie noch ungleich interessanter, als die Cantate »Amore traditore«. Ein hesperischer Duft schwebt um die Melodien; im zweiten Theile der ersten und in der ganzen zweiten Arie wird er besonders fühlbar, wogegen die einleitende Sinfonie (H moll), ein erster Concertsatz mit merkbarem Anklang an den ersten Satz des Violinconcerts in D moll,76 ganz die Bachsche Sprache redet.77
Zu den deutschen Kammer-Cantaten erhielt Bach theilweise wohl durch den musikübenden Kreis der eignen Familie die Anregung. Die sehr ausführliche Sopran-Cantate von der Vergnügsamkeit (»Ich bin in mir vergnügt, ein andrer mache Grillen«), die für Anna Magdalena Bach geschrieben sein könnte, fesselt die Aufmerksamkeit weniger durch besondern musikalischen Reiz, als dadurch daß sie überhaupt vorhanden ist.78 Die Musik ist von behaglicher Tüchtigkeit und nichts mehr. Aber daß sich Bach bewogen fühlte, den philisterhaft geschwätzigen Text nur zu componiren, charakterisirt den Mann, für dessen häuslichen Bürgersinn bei aller erreichten Kunstgröße und trotz aller von Fürsten und [470] Großen ihm erwiesenen Ehren die gemüthvolle Ruhe der Familie doch ihren höchsten Werth behielt:
Ruhig und in sich zufrieden
Ist der größte Schatz der Welt.
Nichts genießet, der genießet,
Was der Erdenkreis umschließet,
Der ein armes Herz behält.
Übrigens gleißen die allerhand Güter des Erdenkreises gelegentlich doch auch in den zufriedenen Familienkreis des Bürgers lockend hinein. Die kleinen Kämpfe, welche dann zwischen Vater und Kindern sich entspinnen können, haben Bach den Stoff zu einer scherzhaften Cantate gegeben. Der europäischen Gesellschaft war im 17. Jahrhundert durch den Caffee ein neues Genußmittel zugeführt. Wenn man Wein und Tabak79 in Liedern pries, meinten die Künstler könne man es auch mit dem Caffee thun. Den Anfang damit machten, wie es scheint, die Franzosen. In einer gegen 1703 zu Paris erschienenen Sammlung vonCantates françoises (Troisième livre Nr. 4) wird der Caffee in sehr distinguirter Form besungen. Die Deutschen waren nicht lässig solches nachzuahmen; schon Johann Gottfried Krause verfertigte 1716 den Text zu einer Caffee-Cantate.80 Unter den deutschen Städten zeichnete sich aber Leipzig durch eine besonders starke Neigung für das überseeische Product aus. Wenngleich der Genuß des Caffees bis zum siebenjährigen Kriege auf die wohlhabenderen Kreise beschränkt blieb, so mußte doch der Leipziger Rath schon 1697 den »ungebührlichen Thee- und Caffeeschenken« das Gewerbe legen, und 1725 hatte Leipzig nicht weniger als acht privilegirte Caffeehäuser.81 Picander fand hierin Stoff zur Satire. Er veröffentlichte im ersten Bande seiner Gedichte (1727) unter dem Titel »von allerhand Nouvellen« eine boshafte gereimte Zeitung, in welcher er unter der Form von Correspondenzen aus aller Herren Ländern naheliegende Verhältnisse durchhechelte. [471] So läßt er sich aus Paris berichten:82 »Hier ward vor wenig Tagen ein Königlich Mandat ans Parlament geschlagen, das hieß: Wir haben längst und leider wohl gespürt, daß blos durch den Caffee sich mancher ruinirt. Um diesem Unheil nun bei Zeiten vorzugehen, soll niemand sich Caffee zu trinken unterstehen, der König und sein Hof trinkt selben nur allein, und andre sollen nicht dazu befuget sein. Doch dann und wann wird man Permission ertheilen etc. etc. Drauf hörte man daselbst ein immerwährend Heulen; ach! schrie das Weibesvolk, ach nehmt uns lieber Brod, denn ohne den Caffee ist unser Leben todt« – – »Das alles aber brach doch nicht des Königs Sinn, und kürzlich starb das Volk als wie die Fliegen hin. Man trug, gleichwie zur Pest, so haufenweis zu Grabe und pur das Weibesvolk nahm so erschrecklich abe, bis da man das Mandat zerrissen und zerstört, so hat das Sterben auch in Frankreich aufgehört.« Einige Jahre später beutete er den Gegenstand für eine scherzhafte Cantate aus und Bach setzte sie um 1732 in Musik. Es war nichts neues, in dieser Form Zustände und Vorgänge des niederem Lebens komisch zu behandeln. Der »jenaische Wein- und Bierrufer« von Nikolaus Bach gehört in dieselbe Gattung.83 Andere Cantaten beschäftigten sich mit dem Zahnarzt, dem verliebten Nachtwächter, dem »weiblichen Magister«, selbst »der Leipziger Wurmkuchen-Frau«; die Komik war nicht immer die feinste.84 In der Picanderschen Caffee-Cantate will Vater Schlendrian der Tochter Lieschen, welche wie die gesammte Leipziger Frauenwelt von der Caffee-Leidenschaft hingenommen ist, diese austreiben. Alle Drohungen sind vergeblich, die äußerste, daß sie keinen Mann bekommen solle, scheint endlich zu wirken; aber Lieschen führt den Vater aufs Glatteis: während er geht und sich nach einem Schwiegersohn umsieht, »streut sie heimlich aus, kein Freier komm mir in das Haus, er hab es mir denn selbst versprochen und rück es auf der Ehestiftung ein, daß mir erlaubet möge sein, den Caffee wie ich will zu kochen«. Die Schlußwendung ist nicht von Picander, der sein Gedicht mit Lieschens Versprechen abschließt, gegen einen Ehemann das Caffeetrinken aufzugeben. Bach hat hier wohl selbst [472] Hand angelegt und durch Hinzufügung des schalkhaften Ausgangs verhütet, daß der Scherz ins Ordinäre verläuft; jedenfalls macht es seinem Geschmacke Ehre, diese und nicht die originale Fassung in Musik gesetzt zu haben. Die beiden Personen, denen nur noch ein erzählender Tenor beigegeben ist, sind scharf auseinander gehalten und trefflich charakterisirt. Der Alte brummt und poltert, Lieschen schwelgt in der Empfindung des Genusses, Schlendrian grübelt und dünkt sich wichtig, die Tochter hat über den zu erwartenden Bräutigam ihre helle Freude; sie ist leichtlebige aber unschuldige Jugend, er schwerfällig und altväterisch herbe. Das originelle Paar scheint Glück in der Welt gemacht zu haben. In den Frankfurter Nachrichten vom Jahre 1739 steht zu lesen: »Dienstags den 7. April wird ein fremder Musicus im Kauffhauß unter den N. Krämen ein Concert aufführen, in welchem u. A. der Schlendrian mit seiner Tochter Lissgen in einem Dramate wird gemacht werden«; das Billet kostete 30 Kreuzer, der Text 12.85 Es wird zwar nicht besonders bemerkt, daß es die Bachsche Composition war, die der »fremde Musicus« aufführte; aber wer hätte ein auf Leipziger Zustände gemünztes und von einem Leipziger Poeten mit Rücksicht auf Bach gefertigtes Gedicht noch in Musik setzen sollen?86
Einen heitern, zum Theil satirischen Charakter trägt auch eine dramatische Kammercantate größeren Stiles, »Der Streit zwischen Phöbus und Pan« betitelt. Picander dichtete sie 1731, und bei den sommerlichen Zusammenkünften des Musikvereins wird sie in eben demselben Jahre zuerst aufgeführt sein.87 Die altgriechische Sage läßt bekanntlich den Phöbus Apollo als citherspielenden Gott mit dem Marsyas, der Meister des Flötenspiels ist, wettstreiten; Apollo bleibt Sieger, und weil er als solcher mit dem Besiegten nach Belieben verfahren darf, zieht er dem Marsyas bei lebendigem Leibe die Haut ab. Die spätere Sage setzte an Stelle des Marsyas den [473] Hirtengott Pan, welcher ebenfalls dem Apollo unterliegt; doch trifft nicht ihn die Strafe sondern den phrygischen König Midas, dem Eselsohren wachsen, weil er das Spiel des Pan schöner gefunden hat. In dieser Form hat Picander die Sage aufgefaßt und als Quelle Ovids Metamorphosen XI, 146–179 benutzt. Außer den genannten wird noch der lydische Berggott Tmolus als Kampfrichter eingeführt und – wozu in Ovids Erzählung keine Veranlassung gegeben ist – Momus, der Gott des Spottes, und Mercurius als Veranstalter des Wettkampfes. Ein frischer, malerischer Chor der Winde, welche sich eiligst in ihr Verließ zurückziehen, damit für das Hin-und Wider-Schallen der Wettmusik in der Natur völlige Stille herrsche, leitet die Cantate ein. Dann treten die beiden Kämpfer einander gegenüber. Pan streicht prahlerisch die allmächtigen Wirkungen seiner Flöte heraus und reizt hierdurch Momus zu einer Spottarie. Mercurius ordnet den Kampf, der nun aber nicht durch Spiel, sondern durch Gesang ausgefochten wird. Phöbus singt zuerst eine Arie auf seinen Liebling den schönen Hyacinthus; Pan sodann ein lustiges Tanzlied, in dessen Mitteltheile er die tiefsinnige Weise seines Gegners verhöhnt. Der Urtheilsspruch erfolgt. Tmolus erklärt in einer lobpreisenden Arie Phöbus für den Sieger, Midas in gleicher Weise Pan und erhält dann seine Strafe. Mercur und Momus ziehen die Moral, und mit einem Schlußgesang auf die Kunst des Apollo schließt das Werk, welches wiederum, wenn man den Bachschen Stil für solche Sachen einmal zugiebt, ein Meisterstück mannigfaltiger Charakteristik ist. Es würde seinem poetischen Charakter nach mit Händels Acis und Wahl des Herakles in eine Gattung gehören, schlüge nicht auch hier die Allegorie vor. Eine hochgestellte Person anzusingen galt es diesmal nicht, dagegen aber eine angefeindete Kunstrichtung zu verherrlichen. Pans Flöte ergötzt den Wald und die Nymphen, er vertritt die gefällige, gemeinverständliche Musik; sein leichtes und ungezwungenes Lied hat dem Midas so wohl geklungen, »daß er es sich auf einmal gleich gemerket«. Die Kunst des Phöbus vereinigt Schönheit der Melodie mit Adel und Tiefsinn, sie ist dazu da, »die Götter zu vergnügen«; Tmolus sagt:
Beide Weisen sind berechtigt, werden einander stets gegenüber stehen, und wo es um die Kunstpflege wohl bestellt ist, wird letztere mehr gelten als die erstere. Insofern wäre in dem Drama nur ein allgemeingültiger Gedanke verkörpert, wenn nicht eine Beflissenheit hervorträte, die Musik des Pan geringwerthig darzustellen und zu verspotten, diejenige des Apollo aber dem meisternden Unverstande gegenüber zu erheben:
Du guter Midas, geh nun hin,
Und lege dich in deinem Walde nieder,
Doch tröste dich in deinem Sinn,
Du hast noch mehr dergleichen Brüder.
Der Unverstand und Unvernunft
Will jetzt der Weisheit Nachbar sein,
Man urtheilt in den Tag hinein,
Und die so thun,
Gehören all in deine Zunft.
und:
Labt das Herz, ihr holden Saiten,
Stimmet Kunst und Anmuth an.
Laßt euch meistern, laßt euch höhnen,
Sind doch euren süßen Tönen
Selbst die Götter zugethan.
Auch die Einführung des Mercur dürfte wohl eine Anspielung auf besondere Verhältnisse enthalten. Die Sage weiß nichts von seiner Theilnahme am Wettkampfe. Er ist allerdings der Vater des Pan, aber als solcher konnte er doch nicht wohl gegen diesen Partei ergreifen, wie er es hier schließlich thut. Dagegen personificirt er als Gott des Handels die Leipziger Bürgerschaft, wie Apollo gelegentlich die Gelehrtenwelt: in seiner Umdichtung der Cantate »Vergnügte Pleißenstadt« hat Bach beide in diesem Sinne auftreten lassen. Wäre es nur darauf angekommen, Phöbus und Pan als musikalische Gegensätze hinzustellen, so hätte dieses nach Maßgabe der Sage durch Vorträge auf der Leyer (Laute) und der Flöte geschehen müssen; oder, wenn doch einmal gesungen werden sollte, durfte man wenigstens erwarten, daß die Instrumente der Kämpfer [475] bei ihren Gesängen eine bevorzugte Rolle spielten. Daß Bach dieses nicht gethan hat, während er sich übrigens doch so leicht geneigt zeigt, äußerlichen Umständen musikalische Motive zu entnehmen, lehrt daß es ihm in der Hauptsache nicht sowohl auf eine Charakterisirung Apollos und Pans ankam, als nur auf den Gegensatz zwischen dem kunstvollen, gebundenen, ernsten und dem leichten, blos gefälligen Stil. Jenen vertrat, wie ihm nicht unbewußt war, er selber, diesen die Operncomponisten und überhaupt fast die ganze sonstige Musikerwelt. Sie hat in Pan ihren Patron, Apollo ist Bach, der sich also in der wunderschönen und mit ersichtlicher Hingabe geschriebenen H moll-Arie selbst abbildet, und ebenso im Mitteltheile der Arie des Pan (»Wenn der Ton zu mühsam klingt, Und der Mund gebunden singt, So erweckt es keinen Scherz«) in belustigender Ironie sich selbst persifflirt. Wer ist Midas? Natürlich ein Leipziger, denn des Midas Abgeneigtheit kann sich nur auf Bachs Gesangsmusik beziehen, und diese war in weiteren Kreisen noch nicht bekannt geworden, während seine Instrumentalmusik schon allgemeine Bewunderung fand. Wir kennen nur einen Leipziger, der gegen Bachs Vocalcompositionen seine tadelnde Stimme laut erhob: Johann Adolph Scheibe. Er war der Sohn des mehrfach erwähnten Orgelbauers Johann Scheibe, und 1708 geboren; seit dem Herbst 1725 studirte er auf der Universität und bildete sich zugleich zum Musiker aus. Als der Organist der Thomaskirche, Christian Gräbner, 1729 gestorben war, bewarb sich mit andern auch Scheibe um die Stelle. Unter den Richtern war Bach. Scheibes Probespiel scheint keinen günstigen Eindruck gemacht zu haben, jedenfalls erhielt nicht er das Amt, sondern Görner.88 Er blieb aber noch bis 1735 in Leipzig, wo er Clavierunterricht ertheilte und auch Compositionen von sich aufführte.89 1737 begann er in Hamburg den »Critischen Musikus« herauszugeben und griff in dem sechsten Stücke desselben sowohl Bach als Görner an, diesen weil er überhaupt ein hochmüthiger Nichtswisser sei,90 jenen wegen seiner verworrenen und schwülstigen Satzweise, die ebenso mühsam wie vergebens sei, weil sie wider die Vernunft streite. Dieses Urtheil, welches große [476] Aufregung in gewissen Kreisen und eine litterarische Polemik hervorrief, auf welche später zurückzukommen sein wird, muß man, wenngleich es auch vom musikalischen Standpunkte aus nicht unbegreiflich ist, doch mit Scheibes persönlichen Leipziger Erlebnissen in Verbindung bringen. Man muß es um so mehr nach dem, was Scheibe mit anerkennenswerther Offenheit über seine früheren Gesinnungen selbst sagt. »Vor einigen Jahren«, schreibt er unter dem 28. Juli 1739, »lebte in einer gewissen berühmten Stadt ein gewisser Mensch, den ich desto besser abschildern kann, weil ich von Jugend auf mit ihm umgegangen bin, und den ich so genau als mich selbst gekannt habe. Ich will ihn vorjetzo Alfonso nennen. Er ward durch gewisse Zufälle gezwungen, sich auf die Musik zu legen .... Indem er anfing selbst zu merken, wie er täglich stärker ward, so äußerte sich bei ihm zugleich ein heimlicher Neid über die Vorzüge andrer .... Wenn er die Verdienste erfahrener Männer erheben hörte, so beneidete er sie sogleich, bloß darum weil er nicht eine gleiche Geschicklichkeit besaß» .... Später »verwandelte sich endlich der Neid, der ihn gefesselt hielt, in eine Eifersucht, die ihn antrieb, den Verdiensten großer Männer nachzueilen. Und so überwand er sich nach und nach, daß er nunmehro vermögend war, den Ruhm geschickter Männer ohne roth zu werden anzuhören, und sie endlich selbst mit aufrichtigem Herzen zu erheben und ihren Verdiensten Recht zu geben«. Scheibe gesteht ausdrücklich, daß ihn diese Gesinnung auch zu Handlungen verleitet habe: »Vielleicht kennen meine Leser diesen Alfonso so gut als mich. Und vielleicht haben meine ehemaligen Handlungen mit den Handlungen des Alfonso eine große Ähnlichkeit gehabt.«91 Hiernach muß er damals gegen Bach allerhand verübt haben, was ihm später leid that, und die Kunstanschauungen, welche er auch in Hamburg bei geläuterter Gesinnung noch vertrat, werden, zumal da er wegen der mißglückten Orgelprobe gereizt sein mochte, mit doppelter Schärfe laut geworden sein. Daß Bach und sein Musikverein sich gegen dieselben wendete, obgleich der sie aussprach ein dreiundzwanzigjähriger Jüngling war, ist ganz begreiflich. Scheibe war ein fähiger Kopf, beeinflußte als solcher die Studenten und mochte unter ihnen eine [477] Partei gegen Bach gebildet haben.92 Ohne die Studenten konnte aber Bachs Collegium musicum nicht existiren. Wirklich haben auch jene oppositionellen Regungen weitere Wellenkreise geschlagen. Ludwig Friedrich Hudemann, Doctor der Rechte in Hamburg, ein tüchtiger Musik-Dilettant und mit Bach seit längerer Zeit näher befreundet, wie ein ihm gewidmeter Canon aus dem Jahre 1727 beweist, gab 1732 zu Hamburg »Proben einiger Gedichte« heraus, in welchen sich folgendes »An den Herrn Capell-Meister J.S. Bach« findet:
Wenn vor gar langer Zeit des Orpheus Harfen-Klang
Wie er die Menschen traf, sich auch in Thiere drang.
So muß es, großer Bach, weit schöner dir gelingen:
Es kann nur deine Kunst vernünftge Seelen zwingen.
Und dieses trifft gewiß mit der Erfahrung ein:
Oft sieht man Sterbliche den Thieren ähnlich sein,
Wenn ihr zu blöder Geist nicht dein Verdienst erreichet,
Und in der Urtheils-Kraft dem dummen Viehe gleichet.
Kaum treibst du deinen Schall an mein geschäftig Ohr,
So tönet, wie mich däucht, das ganze Musen-Chor.
Ein Orgel-Griff von dir muß selbst den Neid beschämen,
Und jedem Lästerer die Schlangen-Zunge lähmen.
Apollo hat dich längst des Lorbeers werth geschätzt,
Und deines Namens Ruhm in Marmor eingeätzt.
Du aber kannst allein durch die beseelten Saiten
Dir die Unsterblichkeit, vollkommner Bach, bereiten.93
Hudemann preist zwar zunächst Bach als Orgelspieler, in der letzten Strophe offenbar aber auch seine Musik im allgemeinen, und die Anwendung antiker Allegorien sowie der Gegensatz zwischen den »vernünftigen Seelen« und dem »dummen Vieh« macht es sogar wahrscheinlich, daß er Picanders Gedicht von dem bocksfüßigen Pan und dem eselsohrigen Midas gekannt habe.
[478] Die allegorisch-polemische Spitze schädigt den harmonischen Eindruck der Cantate trotz ihrer Frische, Reichhaltigkeit und drastischen Komik (die gespitzten Eselsohren S. 52, T. 19 ff. und späterhin sind belustigend genug), und drückt sie schon deshalb unter Händels gleichartige Werke. Aber sie ist ebendadurch von hervorragendem biographischen Interesse. Die Auseinandersetzungen, welche Bach 1714 mit den Hallenser Kirchenältesten, 1725 mit der Leipziger Universität hatte, bekunden ebenso wie der alsbald zu erzählende langwierige Hader mit dem Rector Ernesti eine gewisse streitfrohe Natur, die ihm mit der rabulistischen Orthodoxie seiner Zeit gemeinsam war. Hier haben wir einen Fall, wo er sich in Kunstangelegenheiten gegen seine Widersacher wehren zu müssen glaubte. Er griff nicht zur Feder, wie Mattheson; dazu war er ein zu echter Künstler. Aber er ließ auch nicht seine Compositionen rein durch sich für ihren Schöpfer wirken, wie Händel. Er führte seine Vertheidigung durch ein tendenziöses Kunstwerk.94 An dasselbe spinnen sich Fäden an, die in eine spätere Zeit hinüberleiten und wir werden in ihr den eben bezeichneten Zug noch mehre Male hervortreten sehen. Diese Zeit selbst, seine letzte Lebensperiode, hat aber ein wesentlich andres Aussehen, als die reichste und befriedigendste seines Schaffens, welche wir mit dem eigenthümlichen Werke »Phöbus und Pan« beschließen.
Fußnoten
Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).
10 Das Autograph fehlt. Eine Handschrift des Merseburger Cantors Christian Friedrich Penzel, welcher von 1751–1756 Alumne der Leipziger Thomasschule war, besitzt Herr Kammersänger Joseph Hauser in Carlsruhe.
11 Nur durch eine aus Zelters Besitz stammende neuere Handschrift ist mir das Werk bekannt. In ihr sind dem Anfangsduett noch der Choral »Auf, mein Herz, des Herren Tag« und ein Chor »So du mit deinem Munde bekennest Jesum« vorgefügt. Über die Echtheit des Chorals kann wohl kein Zweifel sein; starke Bedenken habe ich gegenüber dem Chor: die Art der Melodieführung und Fugirung ist nicht Bachisch, eher Telemannisch. Nach diesen beiden Anfangsstücken cursirt die Cantate auch unter der Bezeichnung »Auf, mein Herz« und »So du mit deinem Munde bekennest« (s. Mosewius, J.S. Bach in seinen Kirchen-Cantaten und Choralgesängen. S. 21.) mit der Bestimmung für den ersten Ostertag oder überhaupt für das Osterfest.
12 Daß sie dieses gewesen ist, geht aus einer nachträglich in den Taufregistern der Cöthener Cathedralkirche unter dem 25. Sept. 1721 aufgefundenen Notiz hervor.
20 Der Entwurf steht auch in D dur. Die Trompete beginnt:
Von den Singstimmen ist nur die erste Note des Basses vorhanden mit dem darunterstehenden Worte »Man«. Die Partitur von »Phöbus und Pan« befindet sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin.
21 Das Autograph der Cantate ist nicht bekannt. Eine Abschrift von Penzel besitzt Herr Joseph Hauser in Carlsruhe.
27 Dem Herausgeber des Concerts in der Ausgabe der B.-G. ist das zwischen dieser Arie und dem Siciliano des Concertes bestehende Verhältniß entgangen. Nach Aufzeigung desselben wird sich seine Behauptung, die Cantate sei das frühere, das Concert das spätere Werk (B.-G. XVII, S. XV), kaum noch aufrecht erhalten lassen. Zwar ist soviel einleuchtend, daß das E dur-Concert in seiner jetzt vorliegenden Fassung der Cantate nicht wohl vorangegangen sein kann, selbst wenn man diejenigen Vereinfachungen in Abzug bringt, welche das andersgeartete Wesen der Orgel erforderte. Aber der Gesang der H moll-Arie macht trotz aller aufgewendeten Meisterschaft dennoch zu deutlich den Eindruck einer nachträglich hineincomponirten Melodie, als daß man es für möglich halten könnte, die H moll-Arie sei in der Form wie sie in der Cantate sich findet Originalcomposition und später erst zum Zwecke des Concerts vereinfacht. Einen Mittelweg, der aus diesem Dilemma herausführt, gewährt die Annahme, daß das Clavierconcert in E dur uns vollständig jetzt nur in einer späteren Bearbeitung vorliegt, wie man eine solche vom D moll-Concert gleichfalls nachweisen kann, und daß Bach bei der Übertragung in die Cantate der älteren Fassung folgte. Vom Siciliano ist eine solche ältere Fassung noch vorhanden und mitgetheilt B.-G. XVII, S. 314 f. Es kann kein Bedenken erregen, daß die ersten sechs Takte des Clavierparts der älteren Fassung in der Cantate durch Pausen ausgefüllt werden, da hier das Clavier nur Begleitungsfiguren hat, welche sich auf der Orgel schlecht machen würden. Bach trug in späteren Jahren seine Clavierconcerte in einen Band zusammen und dürfte bei dieser Gelegenheit die Überarbeitungen vorgenommen haben. – S. Anhang A, Nr. 38.
30 B.-G. V1, Nr. 29. – W. Rust ist (B.-G. V1, S. XXXII und B,-G. VII, S. XXVII) der Meinung, das Violin-Praeludium sei nach der Sinfonie arrangirt. Dem widerspricht vor allem der Umstand, daß die Violinsuiten lange vor 1731 vollendet waren (s. Band I, S. 824 f.) – Das Datum der Aufführung ergiebt sich aus den Acten des Leipziger Raths »Rathswahl betr. 1701. Vol. 2.«
32 Auf die erstere Wiederholung hat A. Dörffel aufmerksam gemacht (Musikalisches Wochenblatt. Leipzig 1870. S. 559); die zweite kennen wir aus einem der autographen Partitur beiliegenden Textbuche vom Jahre 1749.
33 Die Taktvorzeichnung erheischt ein ziemlich lebhaftes Tempo. Bach sagt in seiner Generalbasslehre Cap. 4., die Art durch eine 2 einen »schlechten Takt« zu bezeichnen werde »gebraucht von denen Franzosen in solchen Stücken, welche sollen geschwind und frisch gehen, und die Teutschen thun es den Franzosen nach«. Er selbst fühlte sich also in diesem Falle als Nachahmer der Franzosen.
36 In der Ausgabe der B.-G. ist unbeachtet geblieben, daß die Arie in der Partitur die Beischrift führt: Aria à Hautb. da Caccia e Cembalo obligato. Dagegen steht über der autographen Orgelstimme Organo obligato und auf dem Stimmenumschlag von Bach ebenfalls eigenhändig Organo oblig. Auffallen muß, daß die Orgelstimme nicht transponirt ist, also in Es dur steht. Wahrscheinlich geschah dieses dem Spieler zu Gefallen, welcher bei den Proben die concertirende Stimme auf dem Cembalo ausführen sollte, während Bach bei der Aufführung in der Kirche selber gespielt und aus dem Stegreif transponirt haben wird.
38 Rosenmüllers Composition steht bei Vopelius, S. 947 ff. Bach hat sie unverändert beibehalten; eine kleine Abweichung im sechsten Takte beruht zuverlässig nur auf einem Schreibversehen, s. hierüber Rust B.-G. V1, S. XXVII.
39 Die Trauerode wurde zur Marcus-Passion umgearbeitet und gelangte als solche 1731 zur ersten Aufführung.
40 S. Anhang A, Nr. 38. – Die autographe Partitur ist auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Ebenda befindet sich aus Fischhoffs Nachlaß eine neuere Abschrift, in welcher die Cantate aus D dur nach C dur versetzt ist. Übrigens ist auch nur der erste Satz derselben beibehalten, dann folgt ein neues Recitativ und darauf ein großer Schluß-Chor, der nichts anderes ist, als der Anfangschor von »Herz und Mund und That und Leben« im 3/4 Takte und mit etwas verändertem Texte. Ich weiß nicht auf welche Vorlage sich diese Abschrift gründet und daher auch nicht, ob die Umgestaltung Bach selbst zum Urheber hat. Möglich wäre es wohl; da die Cantate »Herz und Mund« in Leipzig zu Mariae Heimsuchung gebraucht wurde, könnte sie in dieser Verquickung 1742 aufgeführt worden sein, wo Mariae Heimsuchung (2. Juli) dem 6. Trinitatis-Sonntage (1. Juli) unmittelbar folgte.
41 Hiller, Beyträge zu wahrer Kirchenmusik. Zweyte vermehrte Auflage. Leipzig, 1791. S. 7.
43 Die auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindliche autographe Partitur trägt am Schlusse die Notiz: »Il Fine SDGl. ao 1732.« Die Originalstimmen sind auf der Bibliothek der Thomasschule zur Leipzig. – S. Anhang, A, Nr. 33.
44 Originalstimmen auf der Bibliothek der Thomasschule. Eine Abschrift Penzels von 1757 auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang B, Nr. 38.
45 Originalstimmen auf der Bibliothek der Thomasschule. – S. Anhang A, Nr. 36. – Diese Cantate hängt ebenso wie »Lobe den Herren meine Seele« (s. S. 236 f. dieses Bandes) augenscheinlich mit dem Rathswechsel zusammen. Der 12. Trinitatis-Sonntag war 1732 der erste Sonntag nach Bartholomäi, mit welchem Tage der Rathswechsel einzutreten pflegte; der Rathswahlgottesdienst selbst fand am 25. August statt.
47 »Sei Lob und Ehr« B.-G. XXIV. Nr. 117. »Was willst du dich betrüben« XXIII, Nr. 107. »Was Gott thut, das ist wohlgethan« XXII, Nr. 100. – »Nun danket alle Gott« ist in, leider unvollständigen, Originalstimmen auf der königl. Bibliothek zu Berlin. – S. Anhang A, Nr. 33.
48 Der Anklang an den Choral »Nun danket alle Gott« in der Rathswahlmusik »Preise Jerusalem den Herrn« (s. S. 194 dieses Bandes) kann hier nicht in Betracht kommen, da jener Choral in der Cantate sonst nirgends vorkommt. Die Nachbildung hat dort nur eine poetisch-symbolische Bedeutung.
51 Die Cantate, deren Originalstimmen die Bibliothek der Thomasschule aufbewahrt, ist jetzt nur bei Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, Beilage S. 172 ff. veröffentlicht. – Über das Entstehungsjahr s. Anhang A, Nr. 33.
59 Die Cantate in ihrer Urgestalt wieder hergestellt zu haben ist eines der zahlreichen Verdienste Rusts. Weiteren Kreisen war sie früher nur durch die Ausgabe von A.B. Marx bekannt (Kirchenmusik von J.S. Bach. Nr. 2. Bonn, Simrock). Jetzt ist sie veröffentlicht B.-G. XXIII, Nr. 102. – S. Anhang A, Nr. 38.
60 Die Bedenken, welche M. Hauptmann gegen die Stelle Takt 37–44 erhob, sind von Rust durch den Hinweis auf die Disposition des Ganzen hinfällig gemacht, wenn auch nicht zu leugnen ist, daß die Vorwegnahme der Worte »Du schlägest sie, aber sie fühlen es nicht, du plagest sie, aber sie bessern sich nicht«, welche sich überdies nicht einmal mit dem gehörigen Nachdruck auseinander legen, etwas befremdendes hat.
61 B.-G. V1, Nr. 25. – S. Anhang A, Nr. 33. Das diplomatische Merkzeichen ist nur im Umschlage der Originalstimmen einigermaßen deutlich.
62 Nur dieses Gedicht kann gemeint sein. Die Melodie gehört bekanntlich auch zu dem Liede »O Haupt voll Blut und Wunden«.
64 B.-G. XXIII, Nr. 109. – S. Anhang A, Nr. 33. Das diplomatische Merkzeichen tritt zwar nicht in der autographen Partitur, wohl aber in den Originalstimmen deutlich hervor.
71 Jedoch mit einigen Auslassungen und Zusätzen, s. Nützliche Nachrichten von Denen Bemühungen derer Gelehrten u.s.w. Leipzig, 1741. S. 82 ff.
72 B.-G. XVIII, Nr. 80. – S. Band I, S. 810 f. Möglich ist allerdings auch, daß diese Cantate für 1739 geschrieben wurde, unter Hinblick auf das 200 jährige Jubiläum der Annahme der evangelischen Lehre in Sachsen. Die Jubelfeier selbst fand in den Hauptkirchen am Pfingstfeste (17. Mai) statt, jedoch auf ausdrückliche Verordnung ohne besonderes Ceremoniel. Die Universität beging das Andenken an jenes Ereigniß am 25. August; Görner hatte zu diesem Zwecke eine lateinische Ode componirt (Gretschel, Kirchliche Zustände Leipzigs vor und während der Reformation im Jahre 1539. Leipzig, 1839. S. 292 f.). – Daß die Reformations-Cantate »Gott der Herr ist Sonn und Schild« weder für 1730 noch 1739 componirt ist, wird später gezeigt werden.
73 Die Cantate erschien um 1822 bei Breitkopf und Härtel in Leipzig als die erste, welche nach Bachs Tode durch den Stich veröffentlicht wurde. Rochlitz widmete ihr eine Besprechung (Für Freunde der Tonkunst. Band 3, S. 229 ff.)
75 B.-G. VII, Nr. 36. Vrgl. Band I.S. 765 f. – S. Anhang A, Nr. 33.
76 B.-G. XX1, Nr. 88 und 89. Zu ersterer Nr. s. Anhang A, Nr. 38. Zu letzterer Anhang A, Nr. 33; das Wasserzeichen ist nur in der Hornstimme zu erkennen. Nicht entstanden kann diese Cantate sein im Jahre 1733, weil da das Reformationsfest auf den 22. Trinitatis-Sonntag fiel.
77 B.-G. XII2, Nr. 55 und 56. – S. Anhang A, Nr. 33.
80 Darauf deutet auch der Zusatz »et in ogni Tempo«. Der Text ist später umgedichtet worden (s. B.-G. XII2, S. IX). Soweit die Umdichtung die erste Arie betrifft, könnte man aus ihr auf eine Verwendung zum Michaelisfeste schließen. Danach dürfte eine Wiederaufführung der Cantate 1737 stattgefunden haben, wo 15. Trinitatissonntags und Michaelisfest auf denselben Tag fielen.
83 B.-G. XII2, Nr. 54. – Dieses Werk ist auch in Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761 nicht unter der Rubrik »Kirchenmusiken« sondern S. 10 unter der Rubrik »Geistliche kleine Cantaten und Arien« angeführt.
85 In Breitkopfs vorher citirtem Verzeichniß steht S. 23 auch: »Trauer-Arie: Schlage doch gewünschte Stunde, à Campanella, 2 Violini, Viola, Alto solo, Basso.«, und nicht »Organo«. Sonderbar, daß diese doch unzweifelhaft Bachische Composition urkundlich nirgends als solche verbürgt ist: auch in Breitkopfs Verzeichniß steht sie ohne Autornamen. – Forkels Meinung, die Arie gehöre eben der Campanella wegen in eine Zeit, da Bachs Geschmack noch nicht gereinigt gewesen sei (Über Joh. S. Bachs Leben und Kunstwerke S. 61 f.), findet durch obiges wohl ihre Erledigung. Ganz sicher ist diese volle, ausgereifte Form kein Jugendwerk.
1 Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes. 1526. S. 243 im 22. Band von Luthers sämmtlichen Werken. Erlangen, Heyder. 1833.
2 O. Kade, Der neuaufgefundene Luther-Codex vom Jahre 1530. Dresden, Klemm. 1871. S. 126 und 127.
3 S.R. Eitner in den Monatsheften für Musikgeschichte 1872. S. 59 ff. der Beilage.
4 In einer Handschrift auf der Hofbibliothek in Wien, welche aus Meißen dorthin gekommen ist. S. Ambros, Geschichte der Musik, Bd. III, S. 416 f.
5 Gleichfalls nach Matthäus, componirt von Clemens Stephani, gedruckt zu Nürnberg. S. Chrysander, Händel, Band I, S. 427.
6 In den Gesangbüchern von Keuchenthal und Selneccer; s. Winterfeld Ev. K. Band I, S. 311 f.
7 Die Originaldrucke der Passionen von Vulpius und Schultz sind in meinem Besitz. Die Passionen des Mancinus erschienen in der Mvsica Divina (Wolffenbüttel, 1620) und finden sich wieder abgedruckt bei Schöberlein, Schatz des liturgischen Chor- und Gemeindegesangs. Zweiter Theil, S. 362 ff.
8 Sie befinden sich in einer von Johann Zacharias Grundig vermuthlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts gefertigten Abschrift auf der Stadtbibliothek zu Leipzig. Die auf dem Titel der Matthäuspassion stehende Jahreszahl 1666 bezieht sich jedenfalls nur auf dieses eine Werk. Denn die noch im Autograph vorhandene Johannespassion trägt das Datum 10. April 1665; s. Chrysander, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft. Erster Band. S. 172.
9 Das Autograph der Kramerschen Passion besitzt Herr Stadtcantor Stade zu Arnstadt. – Der genannte Passionstext nach Matthäus steht im arnstädtischen Gesang-Buch. 1745. S. 679 ff.
10 Die Walthersche Passion habe ich nicht selbst gesehen. In ihr soll auch die Person des Hohenpriesters im Discant singen (s. Eitner a.a.O. S. 61); mir scheint hier ein Versehen vorzuliegen.
11 Auf der königlichen und Universitäts-Bibliothek zu Königsberg. Sie ist fünfstimmig, dem Königsberger Exemplar fehlt jedoch die Altstimme.
12 Walther, Lexicon S. 119, führt eine deutsche Passion Burcks an, die 1550 zu Erfurt gedruckt sei. Da Burck 1540 oder 1541 geboren ist, kann diese Angabe nicht richtig sein. Schreibt man statt 1550 aber 1590, so paßt das Jahr auf die von Machold erwähnte Musik. Eine Passion Burcks soll sich auf der Rathsbibliothek zu Löbau befinden; ich habe mich vergeblich bemüht, sie von dort zu erlangen.
13 Befindlich auf der Kirchenbibliothek zu Pirna. Leider fehlt die Bass-Stimme.
14Secundus tomus Musici operis Authore Jacobo Händl. Pragae, Anno MDLXXXVII. Ein Exemplar auf der Universitäts-Bibliothek zu Königsberg. Vrgl. Winterfeld, Johannes Gabrieli und sein Zeitalter. Zweiter Theil, S. 204 f.
15 Herausgegeben von Franz Commer, Musica sacra Band VI, S. 88 ff. Berlin, Trautwein.
18 Textbuch derselben auf der Bibliothek des Gymnasium Johanneum zu Lüneburg.
19 Text auf der fürstlichen Bibliothek zu Sondershausen. Auf dem Titel heißt es »Wie solche die H. Marter Woche durch von Tag zu Tage pflegt musicirt zu werden.
20 Ein Exemplar dieses seit Winterfelds Forschungen wieder viel genannten Werkes bewahrt die königl. Bibliothek zu Königsberg.
21 »Auserlesene | Passions- | Gesänge, | wie auch | Die Historie vom blutigen Leiden und Sterben | unsers Heylandes Christi | JEsu, | und wie solche von dem Chor, | nach dem MATTHÆO, MARCO, LUCA und JOHANNE, | abgesungen wird.« Merseburg, 1709. Auf der gräflichen Bibliothek zur Wernigerode.
22 Ebenso wie in der Leipziger Matthäuspassion bei Vopelius.
23 Gerber, Historie der Kirchen-Ceremonien in Sachsen. S. 284.
24 Befindlich auf der königlichen Bibliothek zu Königsberg.
25 Gerber, a.a.O. S. 283 »Bisher aber hat man gar angefangen die Passions-Historia, die sonst so fein de simplici et plano, schlecht und andächtig abgesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu musiciren, und bisweilen ein Gesetzgen aus einem Passions-Liede einzumischen, da die gantze Gemeinde mitsinget, alsdenn gehen die Instrumente wieder mit Hauffen.«
26 In der Rudolstädter Passion von 1688 heißt es am Beginn von Actus III: »Zum Anfange Paul GerhardsAria.«
27 In der Vorrede eines Jahrgangs von Cantatentexten, welche unter dem Titel »Erbauliche Uebereinstimmung der Sonn- und Fest-Tags-Evangelien« 1696 für die Hofcapelle zu Gotha gedruckt und von Witt componirt wurden (auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode) und die vorzugsweise Choräle und Bibelsprüche enthalten, heißt es: »so nöthig ist auch, daß diejenigen, so musiciren, selbst andächtig erwegen was sie singen, die Zuhörer aber nicht nur allein auf die liebliche Music, sondern auch vornemlich auf die herrlichen Materien Achtung geben mögen.«
28 Im Autograph in der Bibliothek der fürstlichen Schloßcapelle zu Sondershausen. Der Paraphrase liegt das gewöhnliche »Nun ich danke dir von Herzen« zu Grunde.
31 Der »Weinende Petrus« muß 1711 oder spätestens 1712 entstanden sein, da im dritten Acte auf den Kaiser Joseph I. in einer Weise angespielt wird, aus der hervorgeht, daß derselbe kurz vorher gestorben sein muß. Joseph I. starb im Frühjahr 1711. Gedruckt erschien die Dichtung erst als Anhang zur »Andachts Ubung | Zur Kirchen Music. | In Cantaten, Oden und | Arien. Franckfurt und Leipzig, 1721.« 8. (befindlich auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode).
32 »Theatralische, geistliche, vermischte und galante Gedichte von König«. Hamburg und Leipzig, 1713. S. 307 ff. »Thränen Unter dem Creutze JESU, In einem ORATORIO Montags, Dienstags und Mittwochs zur Vesper-Zeit In der stillen Woche Musicalisch aufgeführt. M.DCC.XI.« Auf der Leipziger Stadtbibliothek, Soc. Teut. 8. Nr. 376. –Winterfeld erwähnt (Ev. K. III, S. 63) einen »verurtheilten und gekreuzigtens Jesu« Johann Ulrich Königs, der mit Keisers Musik 1714 in Hamburg aufgeführt sei. Diese Dichtung habe ich nicht gesehen.
33Beccau, Zuläßige Verkürtzung müßiger Stunden | Hamburg 1719. S. 83 ff. »Heilige Fastenlust | oder: das Leyden und Sterben unsers Herrn JEsu Christi | nach der Historie der Vier Evangelisten.« Königl. öffentliche Bibliothek zu Dresden. Lit. Germ. rec. B. 349.
34 Johann Georg Seebach, Der leidende und sterbende JESVS ... In einem ORATORIO und in geistlichen Liedern zur Erweckung heiliger Andacht ans Licht gestellet. Gotha, 1714. 8. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.
35 Im Autograph auf der königl. Bibliothek zu Königsberg. Stölzel hat sein Werk in vier Theile zerlegt; leider fehlt der zweite und vierte Theil.
36 Von Winterfeld, Ev. K. III, S. 128 ff.; von Chrysander, Händel I, S. 429 ff.
37 Diese Passion ist in einer 1729 von J.P. Hasse gefertigten Abschrift in meinem Besitz.
38ORATORIUM | Welches, | nach Anleitung | derer Sonn- und Fest- | tägigen | Evangelien, | zu Erweckung | einer Christlichen Andacht, | aufgeführt wird | In der Schloß-Capelle | zu Schleitz. | Schleitz, s.a. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.
39 Gottfried Behrndt, Zitt. Lusat., Poetische Sonn-und Fest-Tags- | Betrachtungen | über die verordneten Evangelien | durch das gantze Jahr, | In so genandten Oratorien | bestehend. Magdeburg. 1731. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode. – Zur Erklärung des obgenannten Mißverständnisses mag übrigens auch der Umstand noch erwähnt werden, daß oratorienhafte Werke in jener Zeit nicht selten bei den regelmäßigen Gymnasial-Redeacten durch den Schülerchor aufgeführt wurden. So z.B. eine Dichtung und Composition Constantin Bellermanns »Die himmlischen Heerschaaren« 1726 im Gymnasium zu Göttingen (s. Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst. Dritter Band, S. 13). Von ähnlichen Aufführungen berichtet Heiland, Programm des Gymnasiums zu Weimar. 1858. S. 16 f.
40 Text zur Passionsmusik nach Anleitung der biblischen Geschichte in der Thomaskirche zu Leipzig im Jahre 1759 aufgeführt. Leipzig, Gedruckt bey J.G.J. Breitkopf. Auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode.
41 Reinhold Zöllner, Das deutsche Kirchenlied in der Oberlausitz. Dresden, Burdach. 1871. S. 31 f.
42 Dies hat Chrysander richtig erkannt, s. dessen Händel I, S. 78. Desgl. Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder. S. 290.
43 Ministerialbibliothek zu Sondershausen, Sammelband »E biblioth. Treiber. A 96a.«
44 Zuckmantler Passionsspiel herausgegeben und erläutert von Anton Peter. Troppau 1868 und 1869.
47 Er findet sich im dritten Theil seiner Gedichte S. 49. ff. mit der Überschrift: »TEXTE Zur Paßions-Music nach dem Evangelisten Marco am Char-Freytage 1731.«
48 Das Verhältniß zwischen Trauerode und Marcuspassion zuerst erkannt zu haben ist eines der zahlreichen Verdienste Rusts; s.B.-G. XX2, S. VIII ff. – In Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 18 findet sich angeführt: »Anonymo, Paßions-Cantate, secundum Marcum. Geh Jesu, geh zu deiner Pein.« Der Textanfang stimmt, auch die Besetzung ist dieselbe, wie in der Trauerode, bis auf die zweite Gambe und die Laute.
49 Sammlung Erbaulicher Gedancken über und auf die gewöhnlichen Sonn- und Fest-Tage. Leipzig 1725. S. 293 ff. – Der vollständige Text ist mitgetheilt Anhang B, X, 1.
51 Im Besitz des großherzoglichen Kammersängers Herrn Joseph Hauser zu Carlsruhe. – S. Anhang A, Nr. 44.
52 So steht z.B. gleich auf S. 20 bei der Cantate »O Wunderkraft der Liebe« (»Herr Christ der einge Gott'ssohn« B.-G. XXII, Nr. 96) à 3 Voci verdruckt statt à 4 Voci.
54 Er findet sich mit zwei Strophen auch verwendet in der Rudolstädter Passion von 1688.
55 Dretzel, Des Evangelischen Zions Musicalische Harmonie (Nürnberg, 1731) giebt die Dur-Gestalt in dreierlei Formen, die Moll-Gestalt in zweierlei (S. 316 ff.). In Mühlhausen war zu Joh. Rud. Ahles Zeit die Melodie in Moll gebräuchlich (Winterfeld, Ev. K. II, S. 467), desgleichen in Gotha, wie aus Witts Cantional von 1715, S. 203 hervorgeht, desgleichen in Sondershausen nach Ausweis des Gerberschen Choralbuches, welches nicht im Druck erschienen, aber in einer Handschrift von 1745 in meinem Besitz ist. Dagegen bietet Freylinghausens Gesangbuch (Halle, 1741; noch nicht die Ausgabe von 1710) die Dur-Melodie. Bach selbst hat im Naumburg-Zeitzer (dem sogenannten Schemellischen) Gesangbuche von 1736 unter Nr. 696 die Moll-Melodie, dagegen in seinen Choralgesängen (III, 264, im Jahre 1786 herausgegeben) die Dur Melodie. In keiner von allen diesen Quellen stimmen die Melodien vollständig überein.
57 B.-G. I, S. 124. – Die ausdrucksvollen Melismen, mit denen Bach seine Choräle zu zieren liebte, kommen hier natürlich nicht in Betracht, da sie die Grundgestalt der Melodie nicht abändern sondern nur umhüllen.
59 Der Gebrauch dieser Melodie in Thüringen wird nicht nur durch Witts Cantional constatirt, sondern auch durch Michael Bachs Motette »Unser Leben ist ein Schatten«. Darin, daß sie Bach benutzte, sieht Rust (B.-G. XXIII, S. XL f.) mit Recht einen neuen Beweis für die Entstehung der Cantate »Gottes Zeit« in Weimar. Die Melodieform der Lucas-Passion bietet Freylinghausens Gesangbuch von 1741; in der Tenorarie weicht aber Bach an einer Stellen wieder von ihr ab.
60 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst. Vierter Band, S. 282 f.: »ich aber habe, als Knabe, unter Doles, nur drei [Passionen] kennen gelernt und ausführen helfen«. Dies sagt Rochlitz in einer Besprechung der Johannes-Passion, welche sich demnach unter jenen dreien befunden hat. Von der Matthäus-Passion, dem größesten und berühmtesten Werke, versteht sich solches von selbst. Die Lucas-Passion war wenigstens noch in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts im Leipziger Musikalienhandel ein gangbarer Artikel; s. die oben angeführte Stelle aus Breitkopfs Verzeichniß.
62 Brockes hat hier wohl hauptsächlich den 79. Psalm im Auge gehabt, welcher dem Assaph zugeschrieben wird und die dem Volke Gottes durch die Heiden zugefügten Mißhandlungen behandelt.
63 Psalm 55, 7: »O hätte ich Flügel wie Tauben, daß ich flöge und etwa bliebe«.
65 So heißt es z.B. am Schluß der Schleizer Passion:
Ruht, ihr heiligsten Gebeine,
Ruhet unter diesem Steine,
Bis zum frohen Oster-Tag,
Da ich euch empfangen mag,
Wo ich nachmals nicht mehr weine;
Ruht, ihr heiligsten Gebeine.
66 Der Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel« könnte folgende Francksche Strophe zum Vorbilde gedient haben:
Ihr Felsen! reißt! ihr Berge fallt!
Ihr Klüfte gebt mir Aufenthalt!
Wie kann ich doch entgehen
O Jesu deiner starken Hand?
Zög ich gleich über Meer und Land
Und über Berg und Höhen,
Führ ich gleich in den Abgrund ein,
Du würdest doch zugegen sein.
(S. Arnstädter Gesangbuch von 1745, Anhang des andern Theils, S. 66.)
67 Gelegentlich der weltlichen Cantate »Vergnügte Pleißenstadt«.
68 Der Text des vorhergehenden Arioso ist übrigens in der Ausgabe der B.-G. (XII1, S. 55 f.) zum Theil falsch edirt. Wie Originalstimmen und Originalpartitur ausweisen, heißt es nicht »mit bittren Lasten hart beklemmt von Herzen« sondern »mit bittrer Lust und halb beklemmtem Herzen« und hernach »wie dir aus Dornen, so ihn stechen, die Himmelsschlüsselblumen blühn«. Auch bei Winterfeld, E.K. III, S. 368 steht der Text falsch.
74 Die »Worte Jesu« sind: »In dieser Nacht, ehe der Hahn krähet, wirst du mich dreimal verleugnen«. Sie fehlen im Johannes-Evangelium ebenfalls, und da Bach es unterlassen hat, auch sie dem Matthäus zu entnehmen, fehlt dem eingefügten Satze Beziehung und Verständlichkeit.
75 In sechs Theile (Actus) zerfällt z.B. die Rudolstädter Passion von 1688. Graf Heinrich XII. führte in Schleiz eine zwölftheilige Passion ein, deren erster Abschnitt am Sonntage Invocavit und deren letzter am Charfreitage abgesungen wurde. Der Text befindet sich auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode (H b, 417). Beides sind sogenannte Passionsharmonien, die aus den vier Evangelisten zusammengestellt waren.
76 S. Israël, Frankfurter Concert-Chronik von 1713–1780. Frankfurt a.M. 1876. S. 33 (eine Concert-Anzeige vom 26. März 1743).
84 »Ersteres wird durch zwei Viole d'amore, Laute und Bass begleitet. In Ermangelung einer Laute hat Bach den Part durch ein Cembalo ausführen lassen, wozu eine autographe Stimme vorliegt. Später – nach 1730 – übertrug er die Aufgabe der obligaten Orgel; eine autographe Stimme dafür ist vorhanden, steht in Des dur und trägt von Bachs Hand die Überschrift: Wird auf der Orgel mit 8 und 4 Fus Gedackt gespielet.« Die Cembalostimme steht in Es dur.
85 Um doch Gelegenheit zu einer solchen Vergleichung zu geben, ist die Composition des Textes »Mich vom Stricke meiner Sünden« aus Telemanns Marcus-Passion (B dur) als Musikbeilage 2 mitgetheilt. Ich wähle sie, da in den übrigen Passionen dieser Text als Chor componirt ist, also mit Bachs Arie nicht wohl verglichen werden kann. Außerdem wäre über den Gegenstand zu vergleichen Winterfeld, E.K. III, S. 368 ff.
89 Auch Winterfeld, E.K. III, 366 hat diesen Zug an dem Einleitungschore der Johannes-Passion hervorgehoben, und überhaupt demselben eine sehr verständnißvolle Besprechung zu Theil werden lassen. Seine Einwendungen gegen Rochlitz scheinen mir jedoch nicht begründet; beider Ansichten lassen sich recht wohl vereinigen.
90 Von der Marcus-Passion hat er Bibelwort und Choräle mit drucken lassen, obgleich anzunehmen ist, daß Bach die Auswahl der Choräle in ihr ebenfalls selber getroffen hat. Aber hier war Picanders madrigalische Zuthat so unbedeutend, daß es sich nicht der Mühe gelohnt hätte, sie allein zu drucken. In die Gesammtausgabe der Picanderschen Gedichte ist die Marcus-Passion nicht aufgenommen.
97 Der Orgel hat Bach zu dieser Stelle ausgehaltene Accorde gegeben, was, da sie sonst nur mit kurz angeschlagenen Accorden zu begleiten hat, von sehr feierlicher Wirkung ist. Daß übrigens die Secco-Recitative der Matthäus-Passion nicht auf der Orgel, sondern nur auf dem Cembalo accompagnirt seien, ist eine ungegründete Vermuthung von Julius Rietz (B.-G. IV. S. XXII), da die vorliegenden originalen Orgelstimmen das vollständige Recitativ-Accompagnement enthalten. Darüber, daß die Vermuthung auch auf einer unzweifelhaft falschen Voraussetzung beruht, bedarf es wohl nur der Verweisung auf S. 131 ff. dieses Bandes.
98 Die Grundsätze, durch welche sich Telemann leiten ließ, erhellen deutlicher noch aus seiner Marcus-Passion von 1759 (G dur), in welcher er nicht sämmtliche Reden Christi, sondern nur einzelne bedeutungsvolle Stellen aus denselben durch Streichquartett begleiten läßt.
99 Marx (Kompositionslehre II, S. 276) findet hierin die Feierlichkeit des Volksgerichts ausgedrückt. Feierlichkeit gewiß, aber diejenige protestantischkirchlicher Tonkunst.
100 Daß die verrenkte Gestalt des Themas und die Kreuzungen der Stimmen in der Durchführung auch einen malerischen Zweck haben dürften, ist längst vermuthet worden. Auffallen muß die Ähnlichkeit des Themas mit dem der Kreuzigungschöre in der Johannes-Passion. Die Neigung zur Tonmalerei äußerte sich in jener Zeit zuweilen auch in einer Art von Augenmusik; so versinnlicht Mattheson einmal die »Regenbögen« auf dem Rücken des gegeißelten Jesu durch Tongruppen, die auf dem Papier in Bogenform erscheinen (s. Winterfeld, E.K. III, S. 179). Der Haupttheil des Bachschen Kreuzigungsthemas:
oder
bildet, wenn man die äußersten und mittleren Noten durch Linien verbindet, das Zeichen des Kreuzes. Auch in dem Recitativ auf S. 92 der Johannespassion ergiebt sich durch die Tonfolge
diese Figur. Eine Spielerei, die sich etwa dem Bilde des Fisches auf mittelalterlichen Kirchenbauwerken vergleichen läßt. Sie hat hier nichts verletzendes, da sie von einem bedeutenden musikalischen Gedanken getragen wird.
101 Es ist eine üble aber fast allgemein gewordene Sitte, diesen Choralsatz a cappella singen zu lassen. Abgesehen von der Untreue gegen das Original, welcher man sich hierdurch schuldig macht, putzt man die Stelle durch ein ganz unbachisches Effectmittel auf und giebt ihr einen Anstrich von Sentimentalität, welcher nirgends unangebrachter ist, als hier. Bachs Choralsätze thun ihre eigenthümliche Wirkung nur in jenem aus Menschengesang, Orgel- und Instrumentenklang gemischten Colorit, das durch nichts anderes zu ersetzen ist. Die Instrumente haben bei Bach soviel individuelles zu sagen, daß es außerdem eine greifbare Symbolik hat, wenn sie in solchen Chorälen sich dem Gange der vier Singstimmen einmüthig anschließen.
102 Dieser bisher nirgends veröffentlichte Tonsatz ist mitgetheilt als Musikbeilage 3.
103 »Was mein Gott will, das g'scheh allzeit«, 1. Strophe; »In dich hab ich gehoffet Herr«, 5. Strophe (»Mir hat die Welt trüglich gericht't«); »Werde munter, mein Gemüthe«, 6. Strophe (»Bin ich gleich von dir gewichen«).
104 Im Anfange des zweiten Recitativs: »Wiewohl mein Hertz in Thränen schwimmt, Daß JEsus von mir Abschied nimmt«, hat Bach »mir« in »uns« verwandelt. Im ersten Recitativ des zweiten Theils schreibt Picander: »Mein JESUS schweigt Zu falschen Lügen stille, Um damit anzuzeigen« u.s.w.; Bach componirt »Um uns damit zu zeigen«.
106 Daß Picander den Text der Arie des Petrus in Brockes' Passion nachbildete, ist augenscheinlich.
107 »Vergnügtsein« ist nach dem Sprachgebrauch damaliger Zeit soviel wie »volles Genügen haben«. Picander gebraucht den Ausdruck in diesem Sinne häufig.
118 S. Des Knaben Wunderhorn. Erster Theil. 2. Aufl. Heidelberg, 1819. S. 142. Vrgl. L. Erk, Deutscher Liederhort. Berlin, Enslin. 1856. S. 415 f.
119 Trutz Nachtigal. Cöllen, 1649. S. 227. Die erste Zeile eigentlich: »Der schöne Mon, wil vndergohn«. Vgl. auch A. Freybes sinnige kleine Schrift Der Karfreitag in der deutschen Dichtung. Gütersloh, Bertelsmann. 1877. S. 112 ff.
120 S. Peter, Zuckmantler Passionsspiel. Troppau 1868. S. 10. – Rein, Vier geistliche Spiele des 17. Jahrhunderts für Charfreitag und Fronleichnamsfest. Crefeld, 1853, S. 9.
122 Vergl. das bei Rein, S. 20 abgedruckte Lied »Schaue Sion deinen König«.
123 »Maria cantat: Johannes lieber öhen min Hilf mir wainen min leit und daz din«; aus einer St. Gallener Handschrift des 15. Jahrhunderts mitgetheilt von Mone, Schauspiele des Mittelalters, Erster Band, S. 200. »Wenet gy truwen swesteren, un helpet my armen trôvich sîn, helpet my klagen mîn leid, mîn nôt, de is worden breit unde mînes herten pîn«; in der niederdeutschen Marienklage einer Wolfenbüttler Handschrift herausgegeben von Schönemann, Hannover. 1855. S. 131. Beispiele aus dem Nibelungenliede führt an Freybe a.a.O. S. 2.
128 Nach den Mittheilungen von Th. Kriebitzsch, welcher dergleichen noch selbst erlebt hat (Musikalisches Wochenblatt, Jahrgang 1870. S. 337.)
129 S. S. 347 Anmerk. – Bei Mizler, Musikalische Bibliothek, Bd. IV, S. 109 wird von einer unvergleichlichen Passions-Musik gesprochen, welche wegen der allzu heftigen in ihr ausgedrückten Affecte in der Kammer eine gute, in der Kirche aber eine widrige Wirkung gehabt habe. Möglich, daß hiermit die Matthäus-Passion gemeint ist.
1 »Rudolphstädtischer | Christ Abend, | Das ist, | Die Hocherfreuliche Geschicht | der | Menschwerdung und Geburt | unsers HErrn und Heylandes | JESU CHristi, | aus | denen Evangelisten Matthäo und Luca | zusammengetragen | und mit dienlichen Liedern | untermenget, | Wie solche in der Christlichen Fest- Vor-|bereitungs-Versammlung, | in der Hochgräfl. Schwartzb. Hof Kappelle | zu Rudolphstadt, | musicirt wird. | Rudolphstadt, | Druckts daselbst Heinrich Urban. | Im Jahr 1698.|« 4. Auf der fürstlichen Ministerialbibliothek zu Sondershausen. Aus dem Titel geht hervor, daß es sich nicht um eine einzelne Aufführung, sondern um eine Sitte handelt.
2 »Die Hocherfreuliche Geschicht | der | Himmelfahrt Christi | und | Sendung des heiligen | Geistes, | Aus denen Heil, Evangelisten | zusammen getragen | Und mit zur Application diensamen | Arien und Liedern | durchzogen, | Wie solche | in der Hochgräfl. Schwartzb. Rudolph-|städtischen Hof Cappelle | Die heilige Fest Zeit über, | Zu unterschiedenen Malen |musiciret wird. | Rudolphstadt, | Druckts Johann Rudolph Löwe, | Im Jahre 1690.|« 4. Auf der fürstlichen Ministerialbibliothek zu Sondershausen.
3 1589 aus dem Brandenburgischen überliefert; s. Schöberlein, II, S. 52.f. Respondirend mit dem verdeutschten Hymnus Nunc angelorum gloria noch im Arnstädter Gesangbuch von 1745, S. 22 f.
4 Vopelius, Neu Leipziger Gesang-Buch. 1681. S. 44 ff.
6 S. S. 107 dieses Bandes. Daß man dann auch noch zu Mariä Reinigung (2. Febr.) die Weihnachtslieder sang, ist als letzter Rückblick auf die Christzeit zu verstehen.
7 Da das Weihnachts-Oratorium für ein Kirchenjahr componirt war, in dem der Sonntag nach Weihnachten ausfiel und der Sonntag nach Neujahr vorkam, so konnte es in der Folgezeit, so lange Bach lebte, auch nur in solchen Kirchenjahren vollständig wieder aufgeführt werden, wo dieses ebenfalls geschah, also in den drei Jahren 1739–40, 1744–45, 1745–46.
8 Keine Übertragung ist zuverlässig die Alt-Arie des dritten Theils. Sie kennzeichnet sich im Autograph schon durch die Menge der Correcturen als Originalconception; daß es in Bachs Absicht lag an dieser Stelle etwas ganz neues zu bringen sieht man außerdem aus einem der Arie vorhergehenden Entwurf einer andern Arie in H moll (3/8 Takt), der aber fragmentarisch blieb und hernach von Bach durchstrichen wurde. Auch der Anfangschor des fünften Theils »Ehre sei dir Gott gesungen« hat im Autograph nicht das Aussehen einer Übertragung. Sonst vrgl. Rusts Vorwort zu B.-G V2.
9 Der nähere Nachweis unten, wo von den Gelegenheits-Cantaten im gesammten gehandelt wird.
10 Obgleich ihr Text nicht, wie doch der andere, in Picanders Gedichten steht. Bach selbst für den Dichter zu halten verbietet der Stil.
11 Auf diese Anlehnung hat schon Winterfeld, Ev. K. III, S. 344 hingewiesen.
17 Weinhold, Weihnacht-Spiele und Lieder. S. 119 und 434.
18 In dem Weihnachts-Hymnus »O quam dignis celebranda« heißt es:
Tres adorant reges unum, triplex est oblatio,
Aurum primo, thus secundo, myrrham dante tertio,
Aurum regem, thus coelestem, mori notat unctio.
In deutscher Version in einem Liede des Andernacher Gesangbuches von 1608, mitgetheilt von F.M. Böhme, Altdeutsches Liederbuch (Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1877) S. 640:
Als ein könig brachten Gold,
weihrauch daß er opfern solt
myrrhen daß er sterben wolt.
19 Winterfeld (Ev. K. III, S. 347) erhebt diesen Vorwurf und findet den Grund der Unangemessenheit darin, daß die Arie eine entlehnte sei. Seine Vermuthung wie Bach zu dieser Unangemessenheit gekommen sei, wird überflüssig, wenn mit obigen Bemerkungen das richtige getroffen ist.
23 B.-G. V2, S. 37 und 110, S. 47, 66 und 90, S, 124, S. 126, S. 36, S. 59. Daß die Strophe »Brich an, du schönes Morgenlicht« zu dem Ristschen Liede »Ermuntre dich, mein schwacher Geist« gehört, hat L. Erk bemerkt (Bachs mehrstimmige Choralgesänge. Erster Theil. S. 115. Nr. 27).
24 S. hierüber Winterfelds sinnige Auseinandersetzungen Ev. K. III, S. 348, 350 und 302 ff. Es verschlägt nichts, daß er zu dem ersten der beiden Gesänge einen falschen Text annahm.
25 Der Anfang des Textes derselben lautet übrigens: »Wer will die Liebe recht erhöhn«.
27 Ersterer ist die sechste Strophe von Arnschwangers »Nun liebe Seel, nun ist es Zeit«; das Original lautet: »Dein Glanz all Finsterniß verzehr, Die trübe Nacht in Lichtverkehr«. In letzterem mußte Bach die Schlußtöne der beiden letzten Zeilen des Abgesanges wiederholen, um Text und Musik zusammenzupassen.
33 Trutz Nachtigal. Cöllen, 1649. S. 10 ff. – Die folgende Strophe ist die zweite, im ganzen zählt das Gedicht zwanzig Strophen.
34 Geist- und weltliche Poesien. Erster Theil. S. 80 f. Man vergl. Hoheslied Salomonis 2, 14: »Meine Taube in den Felslöchern, in den Steinritzen, zeige mir deine Gestalt, laß mich hören deine Stimme.«
35 Vopelius, S. 311–365. Über das muthmaßliche Alter dieser »Auferstehung« macht Mittheilungen Winterfeld Ev. K. II, S. 556.
36 Hammerschmidt, Musikalische Andachten. Freiberg 1646. Nr. 7.
37 So lautete der Text in seiner anfänglichen und verständlicheren Fassung.
40 Daraus daß Bach in den später geschriebenen Stimmen, welche diese Umarbeitung enthalten, und auch in der Partitur die Namen der vier Personen nicht anmerkte, sondern dieses nur in den älteren Stimmen gethan hat, darf man nicht schließen, er habe die dramatische Fiction nachher aufgegeben. Ohne sie sind das erste und zweite Recitativ absolut unverständlich.
41 Das Oster-Oratorium ist herausgegeben B.-G. XXI3.
43 Das Autograph zeigt die Züge von Bachs späterer Handschrift, giebt aber weiter keine Anhaltepunkte zur chronologischen Bestimmung. Herausgegeben ist das Werk B.-G. II, Nr. 11. Ich bemerke, daß die königl. Bibliothek zu Berlin auch eine autographe, bezifferte Orgelstimme aufbewahrt, welche bei der Herausgabe unbenutzt geblieben ist.
44 Ich schließe dies aus Takt 89–91 und 121–123 der Sopranstimme. Die Syncopen scheinen einem malerischen Zwecke haben dienen zu sollen, der dann durch die Parodirung des Textes undeutlich geworden ist.
45 Mone, Schauspiele des Mittelalters. Erster Band. S. 261 f.
3 In Stimmen, die um 1800 geschrieben sein mögen, in der Bibliothek der Leipziger Singakademie. Überschrift: »Motetto di Bach«. Auf demselben Bogen steht noch »Ecce quomodo moritur« von Gallus und »Tristis est anima mea« von Kuhnau. Obgleich also ein Vorname nicht hinzugefügt ist, so steht doch außer Zweifel, daß wenigstens der Schreiber der Stimmen, deren Vorlage im Musikalienarchiv der Thomasschule befindlich gewesen sein wird, Sebastian Bach gemeint hat.
5 S. Band I, S. 341 und 444. Die Benennung Motette überliefert für die Cantate »Aus der Tiefe« der Autographen-Katalog von Aloys Fuchs, der sich abschriftlich auf der Leipziger Stadtbibliothek befindet.
8 Handschriftlich auf der Amalienbibliothek im Joachimsthalschen Gymnasium zu Berlin, Nr. 24 und 31. Aufschrift: »Choral. | Sey Lob und Preiß mit Ehren. | vom Herrn | Bach.« Statt der ersten Strophe von »Nun lob, mein Seel, den Herren« ist hier also die fünfte Strophe untergelegt. Durchgreifende Änderungen sind an mehren Stellen vorgenommen, namentlich ist die Schlußpartie eine ganz andre geworden. Man möchte deshalb Bach selbst als Über arbeiter annehmen, wenn nicht verschiedene Züge bedenklich machten.
10 In einer Handschrift Agricolas auf der Amalienbibliothek Nr. 37. 38. Dem Choralsatze »Aus tiefer Noth« folgt noch das in derselben Cantate befindliche Terzett.
13 Er ist um 1821 in Partitur und Stimmen bei Breitkopf und Härtel in Leipzig erschienen. Als Vorlage soll Bachs Originalhandschrift gedient haben, welche aber bis jetzt nicht wieder aufzufinden gewesen ist.
18 Daß auch Michael Bach den Choral »Jesu meine Freude« zum Mittelpunkt einer Motette machte, ist Band I, S. 66 erwähnt. Es ist ein schlichtes, doppelchöriges Stück in einem Satze, welches aber Sebastian doch vielleicht im Sinne hatte, als er an die Composition ging; die Tonart ist hier wie dort E moll,
20 Die Motette ist als Seb. Bachs Werk angezeigt in Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 5. Handschriftlich auf der Amalienbibliothek Nr. 10, 12 und 30. Es sind dies Copien mit mancherlei Schreibfehlern, die aber, weil die Prinzessin Amalia ihre Musikalien großentheils durch Vermittlung Kirnbergers sammelte, übrigens eine bedeutende Zuverlässigkeit haben. Veröffentlicht in Partitur bei Breitkopf und Härtel »Motetten von Johann Sebastian Bach« Nr. 5. Der Text hat hier mancherlei Modernisirungen erfahren; Bach hat das Gedicht treu in seiner Originalgestalt componirt, wonach Band I, S. 305, Anmerk. 41 zu berichtigen ist. Auch die Benennungen der einzelnen Stücke und Tempobezeichnungen sind mit Ausnahme des Wortes »Choral« über den Strophen 1, 2, 4, 6 und eines »Andante« über dem dreistimmigen Gesänge »So aber Christus in euch ist«, moderne Zuthaten.
21 Zu beiden Motetten befinden sich die Autographe auf der königl. Bibliothek in Berlin. Herausgegeben sind sie bei Breitkopf und Härtel als Nr. 1 und 6 der obengenannten Sammlung, aber mit unechten Tempobezeichnungen und vielen textlichen Entstellungen, welche wohl auf J.G. Schicht, Thomascantor von 1810–1823, zurückzuführen sind. Unter dem zweiten Abschnitt der letzteren Motette steht in der autographen Partitur: »Der 2. Versus ist wie der erste, nur daß die Chöre umwechseln und das 1ste Chor denChoral, das 2te die Aria singen«. Der zweite Vers sollte vermuthlich die vierte Strophe des Chorals sein, doch wird Bach gefunden haben, daß auf diese Weise der Satz zu lang werde, denn in den Originalstimmen findet sich die Umwechselung nicht. Freilich erscheint nun der Anschluß des folgenden Psalmverses innerlich weniger motivirt.
23 S. Band I, S. 92 f. – Angezeigt als Seb. Bachs Werk ist die Motette in Breitkopfs Verzeichniß von 1764, S. 5, herausgegeben in der Breitkopf und Härtelschen Sammlung als Nr. 2. Handschriftlich auf der Amalienbibliothek Nr. 15–17 nebst einer eigenhändigen Bemerkung Kirnbergers, die sich auf den Ursprung des benutzten Chorals bezieht.
24 Angezeigt als Seb. Bachs Werk in Breitkopfs Verzeichniß von 1764, S. 5, herausgegeben bei Breitkopf und Härtel als Nr. 4, aber mit umgedichtetem Texte. Die handschriftliche Partitur der Amalienbibliothek Nr. 18–21 muß aus Stimmen zusammengetragen sein, denn über dem Anfang steht Soprano Chorimi, was der gedankenlose Copist offenbar aus Soprano Chori I mi verlesen und zwecklos auch in die Partitur übertragen hat. In einer Handschrift der Gottholdschen Bibliothek zu Königsberg i. Pr. Nr. 13569 steht die Motette mit demselben Texte, nur lautet das erste Wort der zweiten Strophe »Drauf«, was wenn es das ursprüngliche wäre anzeigen würde, daß das Gedicht an sich mehr als zwei Strophen gezählt hätte. In einer andern daselbst befindlichen und von Schicht revidirten Handschrift steht der Text so wie in der Breitkopf-Härtelschen Ausgabe, man ahnt also, woher die Umdichtung stammt.
29 Rochlitz, Für Freunde der Tonkunst, II (Dritte Aufl.), S. 134 f. – Die Motette »Wie sich ein Vater erbarmet«, welche er außerdem noch nennt, ist nichts anderes, als der zweite Abschnitt von »Singet dem Herrn«. Es scheint, daß man dieses umfangreiche Werk damals nur stückweise vorgetragen hat.
10 Was behufs dieser Feier gedruckt wurde, nämlich 1) die lateinische Einladung durch den Rector der Universität, 2) der Text der Gottschedschen Ode, wie er in der Kirche unter die Anwesenden vertheilt wurde, 3) die Lob- und Trauer-Kede gehalten von Hanns Carl von Kirchbach, 4) eine Trauer-Ode vonM. Samuel Seidel – alles das findet sich in einem Bande vereinigt auf der königl. öffentlichen Bibliothek zu Dresden (Hist. Saxon. c. 232). – Den Verlauf der Feier beschreibt Sicul, Das thränende Leipzig. 1727.
12 Sie wurde in ausgefeilter Gestalt wieder abgedruckt in »Oden der Deutschen Gesellschaft in Leipzig«. Leipzig, 1728. S. 79 ff.
13 Am Schluß der autographen Partitur steht: »Fine SDG. aõ 1727. d. 15. Oct. J S Bach.« Auf dem Titel hat Bach als Tag der Aufführung den 18. October angegeben. Daß er sich hier im Datum geirrt hat, ist nach Auffindung des Originaldrucks der Ode, welcher den 17. October angiebt (s. oben Anmerk. 10) unzweifelhaft. Hätte die Feier aus irgend welchen Gründen um einen Tag verschoben werden müssen, so würde Sicul in seiner ausführlichen Beschreibung dessen jedenfalls Erwähnung gethan haben. Dies zur Berichtigung und Ergänzung des Vorworts von B.-G. XIII, 3.
14 Sicul, a.a.O. S. 22 f. – Vergl. Band I, S. 829.
15 Hiller, Lebensbeschreibungen. Leipzig, 1784. S. 56 und 197.
17 Chrysander, Händel II, S. 445. – Trauermusiken auf hervorragende Persönlichkeiten mit verändertem Text als Kirchencantaten zu benutzen war unter den deutschen Capellmeistern und Cantoren jener Zeit allgemein üblich. Auch Johann Ernst Bachs Trauermusik auf den Tod des weimarischen Herzogs Ernst August Constantin (1758) erfuhr dieses Schicksal.
19 Den Nachweis der Übertragung verdanken wir W. Rust; s.B.-G. XX2, S. X f. Hiernach ist das von mir Band I.S. 766 gesagte zu berichtigen. Das einzige Bedenken, welches etwa gegen das Ergebniß der Rustschen Untersuchung vorgebracht werden könnte, wäre, daß Forkel, welcher die Trauermusik im Autograph besaß und auch die Matthäuspassion kannte, die Übereinstimmung nicht bemerkt haben müßte. Indessen dürfte Forkels Kenntniß der Matthäus-Passion immerhin nur eine oberflächliche gewesen sein, s. seine Schrift über Bach S. 62. – Rust führt a.a.O. S. XIV unter den verloren gegangenen Gelegenheitscompositionen Bachs noch eine dritte Trauer-Cantate an (»Mein Gott, nimm die gerechte Seele«) mit Berufung auf Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761. Die Cantate findet sich hier (S. 23) allerdings angeführt, aber ohne Nennung des Componisten.
20 Ich entdeckte es 1876 in der Autographensammlung des Herrn W. Kraukling zu Dresden, welcher die Freundlichkeit hatte, mir es auf längere Zeit zur Benutzung zu überlassen. S. Anhang A, Nr. 51.
22 Die autographe Partitur dieser Ostercantate ist auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.
23 Bei Picander I, S. 14 heißt es ausdrücklich: »Bey der ersten Geburths-Feyer der Durchlauchtigsten Fürstin zu Anhalt-Cöthen. 1726.« Da nun der Geburtstag am 30. November war, die Vermählung aber schon am 2. Juni 1725 statt fand, so folgt daraus wohl, daß am 30. Nov. 1725 die Fürstin nicht in Cöthen weilte. – Vrgl. Band I, S. 765.
24 S. S. 93 dieses Bandes. – Angezeigt in Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 33 unter »Promotions- und Ehrentags-Cantaten«.
26 Vogel, Continuation Derer Leipzigischen Jahrbücher von Anno 1714 bis 1728. Manuscript auf der Leipziger Stadtbibliothek. Fol. 32b. Hier ist auch der Text der bei dieser Gelegenheit musicirten Cantate mitgetheilt, der Componist derselben aber nicht genannt. Winterfeld, Ev. K. III, 262 vermuthet Bach als solchen, doch hat die Vermuthung bisher keinerlei Bestätigung erfahren.
27 Textanfang: »Die Freude reget sich, erhebt die muntern Töne«. Originalstimmen auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. Die Stimmen sind nicht mehr vollständig, der Verlust läßt sich aber unter so bewandten Umständen verschmerzen. B.-G. XII2, S. V, Anmerk. ist hiernach zu berichtigen. – Übrigens war Bach, auch persönlich mit Rivinus befreundet, den er 1735 für seinen Sohn Johann Christian zu Pathen bat.
28 Scheibe (Critischer Musikus S. 540 ff.) giebt sogar bestimmte Regeln über die verschiedene Einrichtung derartiger Musiken, jenachdem sie auf dem Wasser oder Lande, im Zimmer oder Walde, in einer Gartenlaube oder auf einem mit Bäumen umschlossenen Platze aufgeführt werden sollen.
31 Müller war 1684 geboren und starb 1761. Am 19. October 1731 wurde er außerordentlicher Professor. Über seine wissenschaftlichen Arbeiten berichten die »Leipziger Neuen Zeitungen von gelehrten Sachen« III, 224. 519. VI, 654. 672. XVII, 760. XX, 103. In Ch. E. Hoffmanns »Geographischem Schau-Platz Aller vier Theile der Welt«. Anderer Theil. befindet sich sein Kupferstich – der Zopf-Professor jener Zeit, wie er sein muß.
32 Picanders Gedichte I, S. 146 ff. – B-G. XI2, 139 ff.
Sceptra tenens mollitque animos et temperat iras.«
35 E.O. Lindner, Zur Tonkunst, S. 129 meint, die Arie »Wie will ich lustig lachen« habe einen wilden Humor, gegen den der gepriesene Polyphem Händels fast auf das Niveau des gewöhnlichen italiänischen Buffo zurücksinke. Ich verstehe nicht, wie man derart das Ganze über dem Einzelnen vergessen kann. Die Größe des unübertroffenen Händelschen Pastorals beruht in der vollkommenen Harmonie zwischen Gegenstand und musikalischer Ausführung. Bach hat stärkere Mittel aufgeboten, aber Garten-Pavillons schmückt man nicht mit Kirchthürmen.
36 Mittag, Leben und Thaten Friedrich Augusti III. Leipzig, 1737. S. 333 f. Anmerk.
37 Der Originaldruck des Textes befindet sich auf der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Hist. Polon. 672, 17. Daß Bach der Dichter ist, geht aus der Fassung des Titels klar hervor. Den Dichter namhaft zu machen, versäumte man bei solchen Gelegenheiten nicht, viel eher den Componisten. Daraus daß für das Datum eine Lücke gelassen ist, sieht man, daß der Text gedruckt wurde, ehe man den Tag der Krönung wußte. – Er ist mitgetheilt Anhang B, X, 2.
38 Leipziger Neue Zeitung von gelehrten Sachen XVII, S. 264. Das November-Stück der Acta Eruditorum von 1731 enthält in einem Elogium G. Cortii seine Biographie, welche für spätere Darstellungen als Quelle gedient hat. Dazu noch Sicul, Leipziger Jahr-Geschichte. 1720. S. 92, 127, 212. Korttes Schriften sind meistens philologischen Inhalts (Ausgaben von Ciceros Episteln, Sallust, Lucan u.s.w.).
42 Daß es wirklich August III. und nicht August II. war, sieht man aus dem Tenor-Recitativ »Ihr Fröhlichen, herbei«. Die hier angedeuteten kriegerischen Ereignisse passen nur auf August III. und sollen offen bar die Unruhen während der ersten Jahre seiner Regierung sein. Im Jahre 1733 wurde übrigens zum Namenstage des Königs eine Picandersche Cantate »Frohes Volk, vergnügte Sachsen« aufgeführt (s. Picanders Gedichte, IV, S. 14 ff.), die Bachsche Parodie also wahrscheinlich erst später. – B.-G. XX2, S. 73 ff.
43 In Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 33 steht sie unter »Promotions- und Ehrentags-Cantaten«.
44 Sicul (Das frohlockende Leipzig. 1728) beschreibt die Festlichkeiten. Er theilt auch den Cantatentext (»Entfernet euch, ihr heitern Sterne«) mit, welchen Bitter (I, 447 ff.) hat wiederabdrucken lassen.
45 Picanders Gedichte IV, S. 22 ff. Die autographe Partitur der Musik auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.
48 Die autographe Partitur derselben, auf der königl. Bibliothek zu Berlin befindlich, trägt am Schlusse den Vermerk »Fine DSGl. 1733 d. 7. Dec.« Der Autor ergiebt sich, wie bei der Umdichtung der Aeolus-Cantate, schon aus dem Titel des Originaldrucks, welcher sich ebenfalls auf der königlichen öffentlichen Bibliothek zu Dresden befindet (Hist. Saxon. c. 296, 27m.) Er verräth sich aber auch in der ungeschickten Fügung des Textes selbst und namentlich in einigen thüringisch-obersächsischen Provinzialismen, wie »zum Axen« für »zu den Axen«, »zum Sternen« für »zu den Sternen«, »seyn« für »sind«. Der Text ist mitgetheilt Anhang B, X, 3.
51 Die autographe Partitur, mit der Überschrift »Drama per Musica overo Cantata gratulatoria«, ist auf der königl. Bibliothek zu Berlin; ein von Bach selbst geschriebener Text ist angeheftet. Daß Bach ältere Musik benutzte, ergiebt sich daraus, daß die Partitur zum größeren Theile als Beinschrift sich darstellt. Über die Feier selbst Mittag, a.a.O. S. 485 f., eine Stelle auf welche zuerst Bitter (II, 40 f.) hingewiesen hat. – Vrgl. noch S. 404 dieses Bandes.
54 S. Band I, S. 559; in Folge eines Versehens ist dort »Geburtsfest« statt »Namensfest« gesetzt. – Spätere musikalische Festaufführungen fanden noch statt: am 30. April 1741, wo die Studenten den zum ersten Male in Leipzig anwesenden Churprinzen und Prinzen Xaverius eine Abendmusik brachten (Text auf der königl. öffentlichen Bibliothek zu Dresden, Hist. Saxon. c. 303), und 1747, wo bei erstmaliger Anwesenheit des churprinzlichen Ehepaares in Leipzig ein akademischer Actus in der Paulinerkirche gehalten wurde (Text ebenda, Hist. Saxon. c. 304). Ob aber Bach hierzu die Musik gemacht hat, ist nicht einmal vermuthungsweise zu sagen.
59 Wohl derselbe Schmidt, der sich am 9. November 1713 ein Praeludium Bachs abschrieb; s. Band I, S. 430; Anmerk. 65.
60 Im Grasnickschen Nachlasse (jetzt auf der königlichen Bibliothek zu Berlin) befindet sich in Ringks Abschrift eine Clavierfuge Bachs in B dur, offenbar auch ein Werk aus seiner früheren Zeit.
63 Früherer Besitzer des Autographs war Aloys Fuchs in Wien.
64 Picander II, S. 379 ff. Der gedruckte Text enthält nur die Anfangsbuchstaben der Namen; um Vers und Reim zu vervollständigen, wolle man die Worte »Hempelin« und »Wolff« an den betreffenden Stellen einsetzen. Es folgt noch ein zweites Gedicht auf dieselbe Feier: »Der Liebes-Congreß zwischen dem Cupido, Wolff und Hampelmann«.
66 Das Autograph, einen auf drei Seiten beschriebenen Foliobogen, besaß der Rentier Herr Grasnick in Berlin. Jetzt ist es auf der königlichen Bibliothek daselbst. Ich theile das vollständige Gedicht mit allen verworfenen Lesarten und Correcturen mit Anhang B, X, 5.
67 Autograph auf der königlichen Bibliothek zu Berlin, dessen Papier übereinstimmt mit einer ebendaselbst befindlichen Cembalostimme zu Bachs »Musikalischen Opfer«. Dieses wurde 1747 componirt.
68 So von dem Generalfeldmarschall Jakob Heinrich von Flemming (gest. 1728) und dem Gouverneur der Stadt Leipzig Joachim Friedrich von Flemming (gest. 1740). – Von der Parodie ist nur die theilweise autographe Sopranstimme erhalten, sie bewahrt die königliche Bibliothek zu Berlin. Schrift und Papier aus Bachs spätester Zeit, nur der Umschlag, mit dem Wasserzeichen M A, ein Rest früherer Tage. Da die Musik mit Ausnahme des vorletzten Recitativs dieselbe geblieben ist, so hat ein eigentlicher Verlust nicht stattgefunden, was B.-G. XX2, S. XIV irrthümlicherweise behauptet wird.
69 B.-G. V, Nr. 30 und Vorwort. – Über Hennicke s. Gretschel III, S. 17. Ein anderes Gedicht auf ihn Picander V, S. 350 f.
70 Sie wird angeführt in Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1770, S. 17
71 Eine Cantate »La dove in grembo« für eine Singstimme mit sehr brillanter Cembalo-Begleitung von Heinichen bewahrt die Musikaliensammlung des Königs von Sachsen zu Dresden. Die erste der 12 Cantaten Porporas, welche 1735 in London erschienen, enthält ein Recitativ mit gleichfalls reich ausgeführter Cembalo-Begleitung.
72 »Amore traditore« ist herausgegeben B.-G. XI2, S. 93 ff. Ein Autograph fehlt. Als Bachs Werk bezeugt in Breitkopfs Verzeichniß von Neujahr 1764, S. 32.
73 Beide in alten Handschriften in der Musikaliensammlung des Königs von Sachsen zu Dresden.
74 S. S. 210 und 209 dieses Bandes. – Händel scheint gleichfalls dieses Dixit gekannt zu haben. Das Thema der Amen-Fuge des »Messias« ist dem der Lottischen Schlußfuge nahe verwandt.
75 Die Abschrift befindet sich auf der königl. Bibliothek zu Berlin.
79 Über Bachs Tabak-Lied s. Band I, S. 758. – Eine Stölzelsche Cantate für Bass »Toback du edle Panacee« auf der fürstlichen Hofkirchenbibliothek zu Sondershausen.
80 »Poetische Blumen von Joh. Gottfried Krausen. Erstes Bouquet. Langen-Saltza 1716.« S. 129.
84 Breitkopfs Verzeichniß von Michaelis 1761, S. 34 f.
85 Israël, Frankfurter Concert-Chronik von 1713–1780. Frankfurt am Main, 1876. S. 28.
86 Die Caffee-Cantate erschien in einer Ausgabe von S.W. Dehn bei Gustav Crantz in Berlin, in zweiter, durchgängig revidirter und berichtigter Ausgabe bei C.A. Klemm in Leipzig. – S. Anhang A, Nr. 53.
87 S. Anhang A, Nr. 36. – Herausgegeben B.-G. XI2, S. 3 ff.
92 Ich bemerke, daß z.B. auch Georg Friedrich Einicke, der freilich erst 1732 die Leipziger Universität bezog, sowohl mit Bach als mit Scheibe verkehrte um sich in der Musik zu vervollkommnen; s. Marpurg, Kritische Briefe über die Tonkunst, II, S. 461.
93 Auf dieses Gedicht hat zuerst A. Dörffel aufmerksam gemacht (Musikalisches Wochenblatt. 1870. S. 272).
94 Schon S.W. Dehn hat im Octoberheft der Westermannschen Monatshefte von 1856 auf diese Bedeutung der Cantate »Phöbus und Pan« hingewiesen. Er ging von theilweise irrigen Voraussetzungen aus, und wurde deshalb von E.O. Lindner (Zur Tonkunst. Berlin, Guttentag. 1864. S. 87 ff.) getadelt. Aber das im Grunde richtige hat Dehn dennoch erkannt. In einer schönen kleinen Abhandlung, die auch eine ausführliche und feine musikalische Analyse enthält, hat ihm schon Dr. E. Baumgart (»Über den Streit zwischen Phöbus und Pan«, Verhandlungen der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Philosophisch-historische Abtheilung. Breslau, 1873.) wieder zu seinem Rechte zu verhelfen gesucht.