Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 2

 

 

I.

 

[178] Johann Sebastian Bachs Geburtstag ist aller Wahrscheinlichkeit nach der 21. März 1685, urkundlich beglaubigt ist nur der 23. März als sein Tauftag. Pathen waren Sebastian Nagel, ein »Hausmann« zu Gotha, und Johann Georg Koch, ein Forstbeamter zu Eisenach1. Die ersten neun Jahre seines Lebens genoß der Knabe noch das Glück der mütterlichen Pflege und Obhut; am 3. Mai 1694 geleitete Ambrosius Bach seine Gattin zu Grabe. Daß derselbe schon nach kaum sieben Monaten (am 27. Nov.) ein neues Ehebündniß schloß mit Frau Barbara Margaretha Bartholomäi, der Wittwe eines arnstädtischen Diaconus, wollen wir nicht als Gleichgültigkeit gegen die Entschlafene auffassen. Eheliches Zusammenleben war für den gesunden Familiensinn der Bachs am schwersten zu entbehren, ihre urwüchsige Kraft wandte sich von den Todten rasch wieder den Lebenden zu, und für ein Haus voll unerwachsener Kinder mochte das ordnende Walten eines weiblichen Wesens doppelt wünschenswerth erscheinen. Aber Ambrosius sollte der neuen Häuslichkeit nicht mehr froh werden, er starb schon nach zwei Monaten und wurde am 31. Januar 1695 begraben. Die Familie löste sich nun auf. Johann Jakob Bach trat bei dem Amtsnachfolger seines Vaters als Kunstpfeifer in die Lehre2, von den andern Brüdern waren Johann Balthasar nachweislich [179] und Johann Jonas höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben, Johann Christoph aß seit mehren Jahren schon sein eignes Brod, und ihm wurde zu weiterer Erziehung der kaum zehnjährige Sebastian übergeben. Derselbe hat seine Vaterstadt seitdem zu einem längeren Aufenthalte nicht wieder gesehen. So weit es sich noch sagen läßt, eignete sich aber diese früheste Lebensperiode durchaus dazu, die schlummernden oder eben sich regenden Kräfte des Knaben zu wecken und zu nähren. Der Vater war, wenn wir die wenigen Einzelheiten und Andeutungen aus seinem eignen Leben mit dem Charakter seines gleichgearteten Zwillingsbruders auf dem Grunde der allgemeinen Bachschen Charakterzüge uns zusammendenken, ein sittlich tüchtiger, gewissenhafter und kunstgeübter, dabei innerlich selbständiger und unter seinen Mitbürgern wohlberufener Mann. Daß ein großes, in Oel gemaltes Portrait von ihm angefertigt wurde, zeigt, wie angesehen er in seinem Geschlechte war, und läßt muthmaßen, daß er in nicht eben dürftigen Verhältnissen lebte3. Auf diesem Bilde, welches ihn etwa als mittleren Vierziger darstellt, sehen wir ein Antlitz von kräftigen Zügen, in dessen Kinn und Nase man sofort den Sohn wiederfindet. Charakteristischer noch ist und für die Zeit etwas seltenes, daß man keins von jenen Staatsportraits vor sich hat mit Allongeperrücke und Sonntagsgesicht; es blickt ein frei schauender Mann heraus, im nachlässigen Hauskleide, das auf der Brust erscheinende Hemd wird am Halse nur lose mittelst eines durchgezogenen Bandes zusammengehalten, natürliches braunes Haar umgiebt den Kopf, und das Gesicht ziert gar ein Schnurrbart. Wer erwägt, wie viel die Fertigung eines Oelgemäldes für jene Stände zu bedeuten hat, wird aus dieser Emancipation von dem, was damals für fein und schicklich galt, die richtigen Schlüsse zu ziehen wissen. Ambrosius muß die großen musikalischen Gaben seines Sohnes früh bemerkt und ihre Ausbildung betrieben haben, zunächst, wie es die eigne Fertigkeit mit sich brachte, nach Seite des Violinspiels, so daß die reichlich bewiesene Liebe Sebastians für dieses Instrument in den frühesten Kindheitseindrücken ihre Wurzel haben dürfte. Mit seinen außerordentlichen orgelkünstlerischen und allgemein-musikalischen [180] Anlagen mußte dieser in Joh. Christoph Bach, dem größten Musiker, welchen das Bachsche Geschlecht bis dahin hervorgebracht hatte, einen Gegenstand seiner Bewunderung und gewiß auch schon mannigfacher Anregung finden, die sich in nicht allzulanger Zeit in nachahmenden Productionen zu äußern Verlangen trug. Im übrigen war auch sonst Eisenach wegen der dort allgemein herrschenden musikalischen Neigungen bekannt. Schon im 15. Jahrhundert zogen dreimal in der Woche ärmere Schüler, fromme Lieder singend und Almosen erbittend, durch die Stadt. Um 1600 wurde der currente Chor für Figuralgesang durch Jeremias Weinrich, den Rector der Eisenacher Schule, eingerichtet, und galt bald als der Stolz und die Freude der Bewohner von Stadt und Umgegend. Ursprünglich nur aus vier Schülern bestehend vergrößerte er sich bis auf vierzig und mehr und bestand so auch um 1700, aus welcher Zeit uns darüber berichtet wird4. Da wir wissen, daß Sebastian sich später als tüchtiger Sopranist hervorgethan hat, so ist wohl anzunehmen, daß er wenigstens in der letzten Zeit seines Eisenacher Aufenthalts an den Leistungen des Schülerchors sich betheiligte und singend mit durch die Straßen zog, wie ebendaselbst vor 200 Jahren Luther gethan.

Den ältesten Bruder hatte, als er in die Jünglingsjahre getreten war, Ambrosius Bach im Jahre 1686 nach Erfurt gegeben, wo er drei Jahre hindurch den Unterricht des befreundeten Johann Pachelbel genoß. Im letzten Jahre seiner Lehrzeit nahm er die Stelle eines Organisten an der Thomaskirche daselbst an, die aber an Orgel und Besoldung selbst bescheidenen Ansprüchen nicht genügte und bald wieder aufgegeben wurde. Nun wandte sich Johann Christoph nach Arnstadt, um zeitweilig den Dienst des greisen Heinrich Bach zu versehen, und seinem Pathen Herthum die Pflichten gegen den alten Schwiegervater zu erleichtern. Da der ebenfalls in Arnstadt lebende und gleichfalls Johann Christoph genannte Zwillingsbruder von Ambrosius Bach eine Tochter des Kirchners Eisentraut in Ohrdruf zur Gattin hatte, so läßt sich begreifen, warum grade dieser Ort es war, an dem der jüngere Johann Christoph im Jahre 1690 eine Anstellung [181] suchte und erhielt. Er wurde Organist der Stadtkirche. Im 16. Jahrhundert bis zum Anfang des 17. waren an diesem Orte schon Personen des Namens Bach ansässig gewesen, doch verbieten die wenigen spärlichen Notizen der Pfarr-Register über ihre Existenz irgend welche Vermuthung wegen eines Zusammenhanges mit anderen entwickelteren Zweigen des Geschlechtes aufzustellen. Darnach scheint bis auf Johann Christophs Hinkunft der Name dort verschwunden gewesen zu sein. Dieser wurde, wohl hinsichtlich seiner Jugend, mit dem mäßigen Jahresgehalte von 45 Gülden und einigen zu liefernden Naturalien in Dienst genommen. Er suchte allerdings bald um Zulage nach, da sie ihm aber verweigert wurde, hielt er es in seiner Stellung doch für zulässig, im October 1694 mit Jungfrau Dorothea von Hof eine Ehe zu schließen. Die frisch gegründete Häuslichkeit machte es ihm möglich, nach dem bald erfolgten Tode des Vaters den kleinen Sebastian zu sich ins Haus zu nehmen. Er soll sein erster Lehrer im Clavierspiel gewesen sein, und es wäre um deswillen interessant, von seiner eignen Leistungsfähigkeit ein ungefähres Bild sich machen zu können. Aber hierzu fehlt es fast ganz an Hülfsmitteln. Ein gutes Vorurtheil erweckt, daß er Pachelbels Schüler und zwar drei Jahre lang war. Eine im Jahre 1696 an ihn gelangte Berufung nach Gotha, die er durch Gehaltszulage bewogen ablehnte, läßt einen wenngleich unsicheren Schluß auf eine weiterhin bekannte Tüchtigkeit machen (oder vielleicht hatte ihn Pachelbel, der 1695 Gotha verließ, dorthin empfohlen), und aus einer Sammlung von Werken berühmter damaliger Orgelmeister, welche er sich angelegt hatte, kann man das Bestreben entnehmen, auf die Höhe seiner Zeit zu gelangen. Endlich mögen auch seine Söhne, welche sämmtlich Cantoren und Organisten in Ohrdruf und Umgegend wurden, für die wirklich musikalische Natur des Vaters ein Zeugniß ablegen5. Was sonst noch von ihm zu berichten ist, hat mit der Musik wenig oder garnichts zu thun. Es war damals wie jetzt gebräuchlich, Organisten und Cantoren auch als Elementarlehrer an den Schulen zu benutzen. [182] Johann Christoph hatte sich zuerst auf diesen Doppeldienst, welchen sein Vorgänger, Paul Beck, verrichtet hatte, nicht eingelassen, bequemte sich jedoch dazu im Jahre 1700 um des größeren Gehaltes willen, der ihm nunmehr 97 Gülden, 61/2 Malter Korn, 6 Klafter Scheitholz und 4 Schock Reisig eintrug. Aber zum Jugendinformator scheint er wenig geeignet gewesen zu sein, und trug die übernommene Last um so schwerer, da ihm die Ernährung seiner Familie Noth machte, seine Gesundheit schwankend wurde, und er sich sagen mußte, daß er zur Ausübung seines eigentlichen Organistenberufes Freudigkeit und Kraft verliere. Am 22. Febr. 1721 starb er; als Organist folgte ihm sein zweiter Sohn, die Lehrverpflichtungen für die fünfte Classe gingen auf einen Fremden über6.

An das genannte Orgelbuch knüpft sich eine für den starken Bildungstrieb Sebastians bedeutsame Erzählung. Die Spielstücke, welche der ältere Bruder vorlegte, waren bald technisch und geistig bewältigt und ausgeschöpft, ihn verlangte nach schwierigeren Aufgaben und höheren Flügen. Jenes Buch aber enthielt der Altersstolz Johann Christophs dem Knaben vor. Durch das weitläufige Gitter eines Schrankes konnte dieser den Gegenstand seiner Sehnsucht täglich liegen sehen; da schlich er sich bei nächtlicher Weile heran, langte durch die Gitteröffnungen und zog das zusammengerollte Heft heraus. Licht stand ihm nicht zur Verfügung, so mußte der Mondschein aushelfen, den köstlichen Schatz durch Abschrift zu gewinnen. Nach sechs Monaten war eine Arbeit vollendet, die nur der glühendste Kunsteifer hatte unter nehmen können. Aber der Bruder überraschte ihn bald bei der mühselig erworbenen Abschrift, und war [183] hartherzig genug sie ihm abzunehmen7. Die geniale Beharrlichkeit, mit der wir auch später Sebastian den ins Auge gefaßten Zielen werden nachstreben sehen, tritt an diesem Geschichtchen schon ebenso klar hervor, wie die Thatsache, daß er sehr bald von seinem ältern Bruder nichts mehr zu lernen hatte. Am wichtigsten für uns in dem ganzen Verhältnisse ist, daß er durch jenen schon als Knabe mit Pachelbels Schöpfungen und Kunstgeist bekannt werden mußte. Wie er als echter Ehrenmann nach funfzehn Jahren dem Bruder vergalt, werden wir seiner Zeit zu erwähnen haben.

In Ohrdruf begann er zugleich den Grund zu einer wissenschaftlichen Allgemeinbildung zu legen. Das Lyceum daselbst, um das Jahr 1560 durch die Grafen von Gleichen gegründet, erfreute sich eines nicht unbedeutenden Rufes, war verhältnißmäßig reich dotirt, hatte tüchtige und wissenschaftliche Lehrer aufzuweisen und konnte aus der Prima zur Universität entlassen. Am Ausgange des 17. Jahrhunderts zählte es sechs Classen, die untersten drei bildeten zugleich die Volksschule, indem zu den lateinischen und griechischen Stunden diejenigen heimgeschickt wurden, welche eine gelehrte Bildung nicht anstrebten. Doch konnten auch in den obern Classen noch solche am Unterricht theilnehmen, welche von den alten Sprachen dispensirt waren. Es blieben dann freilich nicht viel Disciplinen übrig. Daß Sebastian zu letzteren nicht gehörte, beweist schon die ihm eigne, gleichviel wie große Kenntniß der lateinischen Sprache, die aus seinen Briefen und amtlichen Eingaben hervorgeht, und ist ohnedies nach den Traditionen der Bachschen Familie ziemlich selbstverständlich. Nach seinem Alter zu schließen, in welchem er das Haus des Bruders verließ, kann er jedoch in Ohrdruf nicht über die Secunda hinausgekommen sein, und auch was er hier lernte, ist nach dem Zuschnitt der damaligen Schulen einseitig genug. Theologie, Lateinisch [184] und Griechisch, letzteres nur auf Grundlage des Neuen Testaments, waren die fast einzigen Lehrstoffe, dazu kam etwas Rhetorik und Arithmetik. Von römischen Schriftstellern wurden auf dieser Stufe Cornelius Nepos gelesen und Cicero, nämlich dessen Briefe, das weitere that die Einprägung grammatischer Regeln in lateinischer Fassung, thaten metrische, Disputations-und Stil-Uebungen. Französisch, der damaligen Bildung doch so schwer entbehrlich, fehlte ganz, ebenso Geschichte8. Für die Musik aber waren von den 30 wöchentlichen Stunden in Prima und Secunda je fünf, in Tertia und Quarta je vier angesetzt, und der unter Leitung des Cantors stehende Sängerchor erscheint in jener Zeit als ein Institut von großer Wichtigkeit. Sein Wirkungskreis umfaßte außer dem sonn- und festtäglichen Kirchendienste die Aufführung von Motetten und Concerten bei Hochzeiten und Beerdigungen, und das für bestimmte Zeiten festgesetzte currente Singen von Thür zu Thür. Der Regelmäßigkeit des Schulunterrichts that diese Einrichtung freilich empfindlichen Eintrag, auch scheint es in Ohrdruf, im Gegensatz zu andern Orten Thüringens, Sitte gewesen zu sein, daß die Schüler bei Hochzeiten am Gelage Theil nahmen, nicht selten zur Störung ihres physischen und moralischen Gleichgewichts. Wie reichlich die Beschäftigung des Schülerchores war, läßt sich aus seinen Einnahmen ersehen, welche sich beispielsweise im Jahre 1720 während dreier Quartale auf 237 Thlr. 11 Gr. 6 Pf. beliefen9. Hier fand nun Sebastian für sein Talent neue Nahrung, und daß er sich zu einem der vorzüglichsten Sänger aufschwang, vielleicht zum Concertisten, der ein besonderes Stipendium empfing und auch bei der Einnahmevertheilung reichlicher bedacht wurde, wird alsbald gezeigt werden. Rector der Schule war von 1696 an Johann Christoph Kiesewetter, ein sehr gelehrter Mann, der 1712 in derselben Function an das Gymnasium zu Weimar [185] kam und dort seinen ehemaligen Schüler Sebastian Bach als Hoforganisten und Kammermusicus wiedertraf; das Conrectorat und Lehramt für Secunda bekleidete von 1695 bis 1728 Joh. Jeremias Böttiger10. Der religiöse Standpunkt der Schule war der streng orthodoxe: sämmtliche Lehrer, auch Johann Christoph Bach, unterzeichneten die Concordienformeln11. In diesen Verhältnissen wuchs Sebastian zum Jünglinge heran.

Als er das funfzehnte Jahr vollendet hatte, sollten die eignen Füße ihn ins Leben weiter tragen. Die Verhältnisse drängten dazu: seines Bruders allmählig sich vergrößernde Häuslichkeit wurde zu enge, auch fühlte er, daß an diesem Orte nichts mehr für ihn zu gewinnen wäre, und wußte in sich Kraft genug, ohne Hülfe andrer fort zu kommen. Wie dies anzufangen sei, zeigte ein glücklicher Zufall bald. Der am Lyceum seit 1698 angestellte Cantor Elias Herda, ein junger 24jähriger Musiker, wurde ohne Zweifel der Wegweiser. Dessen Vater, ein Hufschmidt in Leina bei Gotha, hatte, als der Sohn etwa in Bachs Alter am gothaischen Gymnasium seine Studien machte und daneben seine musikalischen Anlagen ausbildete, einmal eine Reise nach Lüneburg gethan, und dort von einem Landsmann gehört, daß in Niedersachsen die thüringischen Knaben ihrer musikalischen Anlagen und Fertigkeiten wegen beliebt seien, und daß der Cantor an der Kirche des Benedictinerklosters zu St. Michaelis in Lüneburg grade jetzt einen solchen suche, den er dafür mit dem nöthigen Lebens-Unterhalte versorgen wolle. Der Vater bemerkte darauf, daß er auch einen musikalischen Sohn etwa des Alters habe, und der Cantor, davon benachrichtigt, wußte es durch an gelegentliche Vorstellungen zu erreichen, daß der junge Herda sich nach Lüneburg begab. Hier bekam er sofort eine Freistelle im Convictorium und blieb sechs Jahre lang. Hernach studirte er zwei Jahre lang in Jena Theologie, und erhielt dann bald die Stelle, in welcher Bach, wenn auch vielleicht nur in der Musik, sein Schüler wurde12. Was nun weiter geschah, ist leicht zu errathen. Sebastian besaß eine schöne Sopran-Stimme13, zeichnete sich durch Eifer und Leistungen aus [186] und wurde dem jungen Cantor lieb. Als es sich um sein weiteres Fortkommen handelte, empfahl er ihn an die Schule des Michaelisklosters nach Lüneburg, wo er noch im frischen Andenken stand und der Name Bach bereits nach zweien der bedeutendsten Träger desselben bekannt war. Dort muß man grade einmal wieder zwei tüchtige Sänger nöthig gehabt haben, denn mit Sebastian zog sein Freund und Altersgenosse Georg Erdmann, gleichfalls ein musikbegabter thüringischer Jüngling, der auch in späteren Jahren, obwohl auf einen ganz andern Lebensweg geführt, diese Jugendfreundschaft nicht vergaß14.

Um Ostern 1700 machten sich beide auf die Wanderung, und traten im April in den Chor der Michaelisschule ein. Sie wurden ihrer Tüchtigkeit wegen gleich in die auserlesene Schaar der »Mettenschüler« aufgenommen, und auch hier sofort mit dem zweithöchsten Gehaltsatze der derzeitigen Discantisten bedacht15. Erdmann steht im Verzeichniß vor Bach, woraus wohl zu schließen ist, daß er einer höheren Classe angehörte. Man sieht wieder, wie beide kaum anders als auf vorhergegangene Anmeldung nach Lüneburg gezogen sein können, und nicht etwa ins Blaue hinein abenteuerten. Von Seiten des Michaelisklosters mußte der Grundstock des Chores, welcher eben die Mettensänger abgab, unterhalten werden. Dafür sah man sich auch nach ordentlichen Kräften um, und jedenfalls erstreckten sich die Anforderungen weiter, als nur auf eine gute Stimme und Geübtheit im figuralen Gesange, wenn man aus Mitteldeutschland Choristen herbeizog. Nur auf die Verwendbarkeit seiner Sopranstimme hin hätte der funfzehnjährige Sebastian seinen ersten Ausflug in die Welt garnicht wagen dürfen, wie denn auch berichtet wird, daß er sie in Lüneburg bald verlor und eine Zeit lang garnicht [187] singen konnte16. Aber ebenso reichlich war die Gelegenheit, einen tüchtigen Instrumentalisten zu verwenden; wenn der Cantor die Gesänge einstudirte, gab es auf dem Cembalo zu accompagniren, bei den Aufführungen mit concertirender Begleitung konnte man Violinisten gebrauchen, anderer Beschäftigungen nicht zu gedenken; weiß man doch von dem Chor der Johannisschule, daß er einen besondern Instrumentalisten-Chor stellen konnte, der zur Neujahrszeit spielend die Stadt durchzog und sich dadurch eine Erwerbsquelle öffnete. Die Thüringer waren auch von jeher mehr für diese Seite der Kunst, als für den Gesang begabt, und jedenfalls war es zum beträchtlichen Theile Sebastians Tüchtigkeit als Violinist, als Clavier- und Orgelspieler, die ihm die Aufnahme unter die Mettenschüler des Michaelisklosters verschaffte, wenn es nicht gar diese hauptsächlich gewesen ist. Ob er späterhin nach vollendeter Stimm-Mutation und da er drei Jahre in Lüneburg blieb, auch Chor-Präfect geworden ist, in welcher Eigenschaft er einen gewissen Theil der Dirigententhätigkeit zu übernehmen und zumal beim currenten Singen die Oberleitung hatte, ist nicht bekannt geworden, man darf es aber wohl vermuthen.

Für seine äußere Existenz war jedenfalls gesorgt. Wie dereinst Herda, so erhielt er ohne Zweifel sofort mit seinem Genossen Erdmann einen Platz am Klosterfreitische, dessen Genuß wohl sämmtlichen Mettenschülern, an Durchschnittszahl in jener Zeit etwa 15, gewährt zu werden pflegte. Der Gehalt wurde monatsweise ausgezahlt, und beträgt für die ersten beiden Monate von Bachs Thätigkeit, aus denen allein noch Verzeichnisse erhalten sind, je 12 ggr., der höchste Satz, zu dem er sich allmählig aufschwingen konnte, war ein Thaler. Wenn er auch zum Accompagniren auf dem Flügel herbeigezogen wurde, so trug ihm dies eine Jahres-Einnahme von zwölf Thalern. Die Hauptverdienstquelle floß jedoch dem gesammten Schülerchor, von dem die Mettensänger nur den Kern bildeten, und der damals zwischen zwanzig und dreißig Personen zählte, aus dem Umsingen durch die Straßen, den Brautmessen und Beerdigungsfeierlichkeiten. Im Jahre 1700 kamen 372 Mark ein, von denen der Cantor vorschriftsmäßig den sechsten Theil erhielt; der Präfect bekam [188] 56 Mark, die andern je nach ihrer Stellung im Chor ihren Antheil in absteigenden Verhältnissen. Da wie schon bemerkt auch die Johannisschule einen Chor hatte, der ganz in gleicher Weise thätig war, so läßt sich erkennen, wie rege der musikalische Sinn Lüneburgs damals gewesen sein muß. Zwischen beiden Chören bestand eine leicht erklärliche Rivalität, die gewiß ihre guten Früchte trug, aber auch zuweilen zu Conflicten führte, wenn in der Zeit des Umsingens – dies geschah nur im Winterhalbjahre – einmal beide Chöre auf einander stießen. Es waren deshalb längst für jeden Chor genau die Straßen bezeichnet, in welchen er tageweise zu singen hatte.

Die Verwendung des Michaelischores beim Gottesdienste war eine ziemlich ausgedehnte. Eine Metten-und Vesper-Ordnung vom Jahre 1656 weist sowohl den concerthaften Kirchencompositionen, als den Motetten und dem figural gehaltenen Kirchenliede, als der ein- und mehrstimmigen geistlichen Arie ihre bestimmten Stellen im Cultus an. An achtzehn bestimmten Festtagen des Kirchenjahres war vollständige Musik mit Instrumenten, außerdem aber noch ziemlich oft auf besondere Verordnung: im Jahre 1656 auf 1657 wurde dreißigmal, 1657 auf 1658 vierunddreißigmal vollständig musicirt. An den übrigen Sonn-und Festtagen wurde im Vormittags-Gottesdienste wenigstens eine Motette, im Nachmittags-Gottesdienste eine geistliche Arie mit Orgelbegleitung aufgeführt. Wie wenig überhaupt das Kloster mit seinen Mitteln geizte zur Erhaltung eines tüchtigen Chorinstituts und zur Herstellung einer reichen und würdigen Cultus-Musik, läßt sich daraus erkennen, daß beispielsweise im Jahre 1702 auf 1703 die für damals beträchtliche Summe von mehr als 507 Thalern hierzu verausgabt wurde. Die Schränke der Chorbibliothek füllte ein ungewöhnlich reicher Musikalienschatz, dessen Bestand im Jahre 1696 noch aus den im Archiv aufgefundenen Katalogen zu ersehen ist. Neben bedeutenden Sammelwerken von älteren Compositionen, wie dem Promptuarium musicum von Schadaeus und dem Florilegium Portense von Bodenschatz war das 17. Jahrhundert mit den hervorragendsten gedruckten Werken von allen damals bedeutsamen deutschen Meistern, Schütz, Scheidt, Hammerschmidt, Joh. Rud. Ahle, Briegel, Rosenmüller, Tob. Michael, Schop, Jeep, Crüger, Selle, Joh. Krieger und anderen vertreten. Der Cantor Friedr. Emanuel Praetorius[189] (1655–1694) hatte allein weit über hundert Bände angeschafft17. Dazu kam noch ein Schatz von 1102, wie es scheint nur handschriftlichen Kirchenstücken, unter denen auch Heinrich Bach und Joh. Christoph Bach, »Henrici Filius«, mit je einer Nummer vertreten waren. Weil damals Johann Jakob Löw, ein geborner Eisenacher, an der Nikolaikirche zu Lüneburg Organist war, so ist vielleicht durch ihn der norddeutschen Stadt die Bekanntschaft mit den beiden thüringischen Meistern vermittelt, jedenfalls ist es interessant zu wissen, daß Sebastians Familienname ihm hierher schon vorausgegangen war. Auch Joh. Pachelbels Name findet sich. Einige Compositionen des jung gestorbenen und nicht sehr bekannt gewordenen gothaischen Capellmeisters Georg Ludwig Agricola könnte wohl Herda mit sich herüber gebracht haben18.

Es bot sich also für Sebastian Bach Gelegenheit genug, auf dem Gebiete kirchlicher Vocalmusik Kenntnisse und Erfahrungen zu sammeln. Aber sein ganzer Lebensgang zeigt zu deutlich, wie er von der Instrumentalmusik seine Entwicklung begann, als daß wir nicht annehmen sollten, er habe diese Seite der Kunst vorläufig als Nebensache betrachtet gegenüber seiner Ausbildung als Spieler und Instrumentalcomponist. Hierin nach einem Lehrer für ihn zu suchen, wäre verschwendete Mühe. Was bei jedem Genie die einzige Aufgabe des Lehrers sein kann, die spielenden und ziellos sich aufschwingenden Kräfte der frühesten Jugend mit ruhiger Hand eine Weile zusammenzuhalten, bis sie sich selbst fühlen gelernt haben, das ersetzte bei Sebastian die Herkunft und die Richtung des ganzen Geschlechts. Sie gab ihm ungefähr das, was dem ebenbürtigen Genius Mozarts durch den disciplinirenden Geist seines wackern Vaters zu Theil wurde. Der junge Baum wuchs so fast von selbst nach der Richtung auf, in welcher er sich am ungehindertsten ausbreiten konnte, und wie eine Pflanze sich instinctmäßig der Sonne zuwendet, so neigte er sich dorthin, woher er fühlte, daß ihm Licht und Förderung strömen könnte. Wenn die beste Quelle, welche wir [190] über Sebastians Leben besitzen, uns berichtet, daß er die Composition größtentheils nur durch das Betrachten der Werke der damaligen berühmten und gründlichen Componisten und durch eignes Nachsinnen erlernt habe, so dürfen wir nicht nur von der vollständigen Richtigkeit dieser Bemerkung überzeugt sein, sondern sie auch auf seine virtuose Ausbildung übertragen. Sein eminentes technisches Talent hatte, nachdem er einmal die Anfangsstufen überschritten hatte, nur nöthig die Leistungen bedeutender Künstler prüfend zu betrachten, um für sich daraus zu gewinnen, was er gebrauchen konnte. Der rastlose Fleiß des Genies, der, viel mehr eine Naturgewalt, als das Ergebniß sittlich-bewußter Forderung, unwiderstehlich vorwärts drängt, ließ ihn zur Lösung selbstgestellter Aufgaben sogar des Nachts nicht ruhen. Einzig von Bedeutung für seine Entwicklung ist es daher, die Persönlichkeiten und Kunstrichtungen zu erkennen, die möglicherweise oder nachweislich bestimmend auf ihn eingewirkt haben. Was in dieser Hinsicht Cantor und Organist der Michaeliskirche vermochten – ersterer hieß Augustus Braun, letzterer Christoph Morhardt19 – ist nicht einmal mehr vermuthungsweise zu sagen. Von Braun enthielt die Chorbibliothek 24 Kirchenstücke mit und ohne Instrumentalbegleitung; diese sind verloren, auch ließ sich über keinen von beiden ein zeitgenössisches Urtheil finden. Wie die Orgel der Michaeliskirche beschaffen war, ist gleichfalls nicht anzugeben. Besonders wird sie nicht gewesen sein, denn im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurde eine neue erbaut20. Der Organist Löw genoß allerdings den Ruf eines vielerfahrenen und gründlich geschulten Künstlers: er hatte sich in Italien und Wien gebildet, war auch ein Freund Heinr. Schützens, der ihn 1655 als Capell-Director nach Wolfenbüttel brachte21. Diesem Landsmanne wird sich Bach nicht fern gehalten haben, besonders wenn derselbe, wie wir vermutheten, zu Heinrich und Chri stoph Bach in Beziehungen gestanden hat, obwohl er ein [191] Greis war22, und schwerlich für die Regungen eines jungen Genies noch Verständniß hatte. Aber ich kenne keine Note seiner Composition, und kann mich über die ganz allgemeine Vermuthung einer künstlerischen Anregung nicht hinauswagen. Von deutlich erkennbarem und beträchtlichem Einflusse ist jedoch ein vierter Künstler gewesen, der Organist an der Johanniskirche, Georg Böhm; gleichfalls ein Landsmann Sebastians. Als seine Heimath wird Goldbach bei Gotha, als sein Geburtsjahr 1661 angegeben23; er war seit dem September 1698 im Amte und starb hier hochbetagt24; vorher hatte er sich in Hamburg aufgehalten. Dieser Mann mußte schon deshalb für Bach eine besondere Anziehungskraft haben, weil sein Bildungsgang als Orgelkünstler ein dem von Bach eben betretenen verwandter gewesen war. Böhm hatte das, was er als Thüringer im Orgelspiel lernen und leisten konnte, durch Anschluß an die norddeutschen Meister zu heben und zu erweitern versucht. Die kahle Nachricht von seinem Aufenthalte in Hamburg würde freilich zur Begründung dieses Ausspruches nicht hinreichen, wenn nicht dessen Wahrheit aus seinen Compositionen so klar hervorginge. Der Lüneburger Organist nimmt zwischen der mitteldeutschen Orgelkunst und der norddeutschen, wie sich beide um die Wende des Jahrhunderts gestaltet hatten, ungefähr dieselbe Mittelstellung ein, wie sein Aufenthaltsort zwischen den thüringischen Städten und Hamburg, Lübeck, Husum, Flensburg u.s.w., jenen Hauptplätzen der nordischen Meister, mitten inne liegt. Mehr als auf andre Theile Deutschlands hatte grade auf den Norden die Richtung des Niederländers Sweelinck durchgreifend eingewirkt, und ein Sproß desselben Landes, Johann Adam Reinken, geb. zu Deventer am 27. April 1623, gestorben als Organist an der Katharinenkirche zu Hamburg am 24. Nov. 172225, hatte durch bedeutendes Talent und ungewöhnlich langes Leben [192] diese Richtung nachdrücklichst verbreiten helfen. Ihr Kennzeichen ist technische Gewandtheit, geistreiche Anmuth und ein Gefallen an feinen Klangwirkungen. Gegenüber der plastischen Ruhe und sonnigen Heiterkeit des südlichen Orgelstils herrscht hier nicht selten formelles Zerfließen – kein Componist hat längere Choralbearbeitungen geschaffen, als Reinken, Lübeck und Buxtehude – und phantastische Romantik, und dieser Gegensatz bleibt auch gegenüber dem mitteldeutschen Stile zum guten Theil bestehen, als dieser die Erbschaft des Südens angetreten hatte. Die Gefahr, in geistreichen Aeußerlichkeiten ihre Kraft zu verschwenden, lag dieser Schule nahe, aber ihre Eigenthümlichkeiten konnten zu einem kostbaren Schmucke werden, wenn ein tiefsinniger Künstler sich ihrer bemächtigte. Ein solcher war Böhm; und ein großes musikalisches Talent war er ebenfalls. Wäre seine Lebenszeit so gefallen, daß ihm die durchgreifende Umgestaltung hätte zu gute kommen können, welche Pachelbels Erscheinen in Thüringen hervorrief, so würden seine Leistungen vielleicht alle die seiner Zeitgenossen überragen. So aber war zu einer Verschmelzung der verschiedenen Kunstrichtungen, zu einem centralen Zusammenfassen aller in der Orgelkunst wirksam gewesenen Kräfte erst derjenige berufen, der wißbegierig und strebkräftig nunmehr dem gereiften Meister sich anschloß. Derselbe scheint überhaupt zu dem Chore der Michaelisschule in einem freundschaftlichen Verhältnisse gestanden zu haben, wie wir denn wissen, daß einmal im Anfange des Jahres 1705 der Präfect des Michaelischores mit einigen Mitgliedern des Johannischores bei ihm gewesen, »und daselbst von der Musik viele Raisonnements gehabt« hatte26. Oder war etwa diese Verbindung erst durch Sebastian Bach hergestellt, dem muthmaßlichen Präfecten bis 1703?

Böhm hatte von Reinken gelernt, und es lag in Sebastians ursprünglicher Natur, selbst an den Quellen zu schöpfen. Hamburg war nicht allzuweit entfernt, auch ist es wahrscheinlich, daß grade um diese Zeit sein Vetter, Johann Ernst Bach, der Sohn seines Vaterbruders, des Arnstädter Johann Christoph Bach, sich seiner künstlerischen Ausbildung halber in Hamburg aufgehalten hat27. Eine [193] Ferienwanderung dorthin konnte sich also schon aus verwandtschaftlichen Rücksichten empfehlen, und da es galt, Reinken spielen zu hören und vielleicht persönlich kennen zu lernen, mußte sie sich Sebastian alsbald als Nothwendigkeit darstellen. Trifft die Vermuthung zu, daß der um zwei Jahre ältere Vetter ihm in Hamburg zuerst die Wege gewiesen habe, so deutet die Freigebigkeit, mit der er in Arnstadt dem nothleidenden Johann Ernst einen Theil seines Gehaltes abtrat, und zu einer Zeit, wo er selbst besonders des Geldes bedurfte, auf einen seinem Charakter eignen Zug. Er besaß sowohl den dankbaren Sinn, der erwiesene Hülfe nicht leichtsinnig vergaß, als den Stolz der selbständigen Persönlichkeit, der ihre Verpflichtungen abzutragen ein befreiender Genuß ist. Ganz so benahm er sich auch seinem ältern Bruder gegenüber. Nachdem die Bekanntschaft von Hamburg einmal gemacht war, wiederholten sich dann wohl solche Ausflüge, die natürlich immer zu Fuß unternommen wurden und mit den allerbescheidensten Subsistenzansprüchen; an einfachste Lebensweise war er ja von Haus aus gewöhnt28.

Reinkens Compositionen sind jetzt sehr spärlich und selten geworden. Das Einzige, was er veröffentlichte, ist ein Suitenwerk für zwei Violinen, Viola und Continuo, Hortus musicus genannt, was hier nicht weiter in Frage kommt29. Von seinen Orgel- und Clavierwerken waren nur noch fünf Stücke im ganzen aufzubringen, von diesen aber ist es wahrscheinlich, daß sie in grader Linie aus Sebastian Bachs Musikalienschranke stammen, und somit auf das bündigste die Wahrheit der Bemerkung im Nekrolog darthuen, daß Bach sich neben einigen andern auch Reinken zum Muster genommen habe. Eine Choralbearbeitung von »Es ist gewißlich an der Zeit. (Was kann uns kommen an für Noth)«, für zwei Claviere und Pedal, G dur 1., zählt nicht weniger als 232 Takte. Jede einzelne Choralzeile [194] wird motettenartig reichlich durchgearbeitet, bald einfach, bald mit reichen Verzierungen ausgeschmückt; die freien Zwischenspiele aber sind nur kärglich. Die Composition hat viel Fluß; Taktwechsel, sonst von diesen Meistern bei solchen Aufgaben gern angewendet, sind hier verschmäht, in meisterlicher und klanglich reizender Weise kreuzen sich die beiden Claviere30. Auf 335 Takte gar hat es der Orgelchoral »An Wasserflüssen Babylon« gebracht (F dur 1.), welcher durch Bachs spätere Lebensgeschichte zu einer gewissen Berühmtheit gekommen ist, dieselbe aber auch an sich vollständig verdient. Die Anlage ist gleich, auch der Charakter; gern wird der einzelnen Zeile ein bestimmtes Thema zur Contrapunctirung gegenüber gestellt, jedoch ohne daß hieraus ein Princip für die Behandlung aller Zeilen erwüchse. Mehr kam es den nordländischen Orgelkünstlern auf Entfaltung großen Combinations – und Figurenreichthums in möglichst weitem Rahmen an, und darauf gründet sich die ihren Orgelchorälen eigne Gestalt31. Sehr bemerkenswerth ist ferner eine Toccata, G dur 1.. Für das große selbständige Orgelstück hatten sich die Meister jener Gegenden ebenfalls eine Specialform herausgebildet: sie begannen mit einem gangreichen, glänzenden Praeludium, brachten nach dessen Abschlusse eine Fuge, schoben dann wieder ein gangartiges Intermezzo ein, und benutzten endlich das erste, aber nunmehr rhythmisch und melodisch umgebildete Thema zu einer neuen Fuge, die das Ganze abschloß, und zuweilen noch etwas brillantes Laufwerk als Anhang erhielt. Reinkens Toccate ist genau in dieser Form gehalten, und von besonderem Interesse noch deshalb, weil wir auch von Bach eine streng nach diesem Muster gebildete Arbeit besitzen, die später mit gleichgearteten Werken Buxtehudes noch näher betrachtet werden soll. Daß alle jene Meister in Erfindung von Fugenthemen gewöhnlich nicht sehr glücklich waren, mag aber schon hier gesagt sein. Ihre Gedanken treten allerdings äußerlich freier heraus, als die der südländischen Fugisten, sind aber nicht melodisch, nicht sprechend, nicht wohlgestaltet genug. Der [195] Grund ist ohne Frage der, daß diese Componistenschule sich nur einseitig und nicht tief eindringend mit dem Choral beschäftigte, so erschloß sich ihr nicht das volle Wesen echter Melodik, und statt charakteristischer Kerngestalten bietet sie oft nur virtuoses Wuchergewächs. Wie sich höchster virtuoser Glanz mit herrlichstem melodischen Schwunge vereinigen lasse, wußte man damals noch nicht; Sebastian Bach war berufen es zu zeigen. Im übrigen gilt von der Reinkenschen Toccate alles was oben im allgemeinen gesagt wurde: sie ist nirgends großartig, aber voll Anmuth und Behendigkeit, besonders in ihrer zweiten Hälfte. Ein gleiches muß man den beiden erhaltenen Variationenwerken des Meisters zugestehen, die den früher erwähnten Veränderungen Joh. Christoph Bachs an Beweglichkeit und figurativem Reichthum überlegen sind, an Geist ihnen gleich kommen und ein sehr beträchtliches Maß technischer Geläufigkeit voraussetzen32. Dem einen ist eine scherzhafte Arie zu Grunde gelegt: »Schweiget mir vom Weibernehmen« (altrimenti chiamata: La Meyerin, wie in der Handschrift dabei steht), es zählt achtzehn Partiten33; das andre Mal sind über ein »Ballet« zehn Variationen gesetzt. Dies erinnert uns daran, daß um jene Zeit in Hamburg das deutsche Opernwesen in Blüthe stand, und daß der leichtlebige Reinken mit zu denen gehört hatte, welche im Jahre 1678 jenes Unternehmen in Gang brachten34. Was aber um wenige Zeit nachher für Händel der geeignetste Platz zur Entfaltung seiner grundverschiedenen Anlagen werden sollte, daran ging zuverlässig Bach unberührt vorüber. Händel war von 1703 bis 1706 in Hamburg, Bach im Jahre 1703 vielleicht zum letzten Besuche dort; beide großen Geister sind hier so nahe an einander hergestreift, wie in ihrer ganzen weitern Entwicklung nicht wieder. Auch Reinkens [196] ganze Persönlichkeit konnte Bach nicht anmuthen, wenn überhaupt derselbe bei einem so großen Altersunterschied hätte anders zu ihm stehen können, als ein jünglingshafter Bewunderer. Doch darüber später mehr, wenn wir Bach nach zwanzig Jahren auf der Höhe seiner Künstlerschaft zum letzten Male mit dem fast hundertjährigen Reinken werden zusammentreffen sehen. Uebrigens war dieser es nicht allein, von dem er in Hamburg lernen konnte; seit 1702 wirkte als Organist an der Nikolai-Kirche Vincentius Lübeck (geb. 1654), vorher in Stade, welcher der Reinkenschen Richtung ebenfalls angehörte, und ein vorzüglicher Meister seines Fachs war. Wenn die Quelle, welche uns die oben genannte Reinkensche Choralbearbeitung spendete, auch solche von Lübeck enthält (»Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«, für zwei Claviere und Pedal, Emoll, 275 Takte; »Nun laßt uns Gott dem Herren«, gleichfalls für zwei Claviere und Pedal; ferner ein großes Praeludium mit Fuge, Dmoll, 174 Takte, besonders im Praeludium mit Entfaltung großartiger Virtuosität)35, so darf uns das ein Wink sein, Bach habe auch diese Gelegenheit, seine Kenntnisse und Fertigkeiten zu vergrößern, nicht vorübergehen lassen.

Der Bericht des Nekrologs, daß Bach außer den hauptsächlichsten norddeutschen Orgelkünstlern sich einige hervorragende französische Orgelcomponisten zum Muster genommen habe36, wird es entschuldigen, wenn wir anstatt sofort zu Böhm nach Lüneburg zurückzukehren, unserm rüstig wandernden Sebastian erst noch zu einer andern Kunststätte folgen, die er gleichfalls von Lüneburg aus wiederholt aufsuchte. Am herzoglichen Hofe zu Celle blühte schon seit der Mitte des 17. Jahrhunderts die instrumentale Tanzmusik der Franzosen, und es wurde Gewicht darauf gelegt, daß die Mitglieder der Capelle möglichst vollzählig für diese Art der Musik zu verwenden wären37. Nicht minder setzte sich ohne Zweifel die französische [197] Claviermusik dort fest, die damals noch vor der deutschen viele Vorzüge hatte und in ihrer Eleganz und Zierlichkeit stets musterhaft gewesen ist. Einer von den wenigen bedeutenden Musikern, die in den vierziger und funfziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Deutschland geboren wurden, stammte aus Celle: Nikolaus Adam Strungk (geb. 1640), hervorragend als Componist, Violin- und Orgelmeister, der am dortigen Hofe im Jahre 1661 mit 220 Thalern Gehalt angestellt war, 1678–1683 in Hamburg Opern dirigirte und componirte, dann verschiedene Capellmeisterstellen, zuletzt in Dresden, bekleidete und 1700 in Leipzig starb38. Besäßen wir noch eine genaue Kenntniß von den musikkundigen Persönlichkeiten Celles zwischen den Jahren 1700 und 1703, so würde es sich wohl herausstellen, daß Bach irgendwelche persönlichen Beziehungen dorthin hatte, welche ihm einen vorübergehenden Aufenthalt zu einem nutzenbringenden machen konnten. Denn wenn erzählt wird, daß er durch öftere Anhörung der damals berühmten Cellenser Capelle Gelegenheit gehabt habe, sich mit dem französischen Geschmacke vertraut zu machen39, so ist dies nur dann möglich gewesen, wenn ihm durch einen Bekannten der Zutritt zu den Uebungen der Capelle gebahnt wurde, da dieselbe ja öffentlich nicht spielte. Der einzige Name aber, welcher vorgebracht werden kann, ist derjenige des damaligen Stadtorganisten, Arnold Melchior Brunckhorsts, von dessen musikalischen Leistungen und Beziehungen zur Kunstwelt nichts in Erfahrung zu bringen war. Die Annahme liegt nahe, daß es die erste Gelegenheit für Bach war, französische Musik gründlicher kennen zu lernen, und daß sich seine[198] Wißbegierde vorzugsweise auf die Claviermusik erstreckt haben wird, ist sowohl in seiner damaligen Richtung, wie in der Beschaffenheit der französischen Orchestermusik jener Zeit begründet. Auf diese Anregung wird also zum großen Theile das Interesse zurückzuführen sein, welches er den französischen Claviercomponisten thatsächlich entgegengebracht hat. Eine Suite in A dur von N. Grigny, welcher um 1700 Organist an der Kathedralkirche zu Reims war, und eine gleiche Composition in F moll von Dieupart schrieb er sich eigenhändig ab40. In Sammelwerken, welche sich späterhin Bachs Schüler zusammentrugen, finden sich neben zahlreichen Werken ihres Meisters die Arbeiten eines Marchand, Nivers, Anglebert, Dieupart, Clairembault und Anderer als Beweis, daß Bach sie auf solche Sachen hinwies. Auch mit den Compositionen des bedeutendsten unter jenen Künstlern, François Couperins, ist er wohl vertraut gewesen41. Nicht zu übersehen ist aber, daß auch Böhm sich von dem Einflusse der Franzosen mehr als oberflächlich berührt zeigt, wie besonders aus dessen Vorliebe für reichliche Verzierungen und Umkräuselungen eines melodischen Ganges hervorgeht. Mag er nun auch nicht grade Bachs Neigung zur Bekanntschaft mit der französischen Musik erweckt haben, so hat er sie doch jedenfalls bestärkt. Eine directe Einwirkung jenes fremdländischen Stils auf Bachs Compositionsweise läßt sich nicht mehr nachweisen, vielleicht nur weil die betreffenden Compositionen nicht erhalten blieben, denn die sogenannten »französischen« Suiten, Werke aus Bachs reifer Meisterzeit, tragen, in diesem Sinne verstanden, ihren Namen mit Unrecht. Vielleicht aber, und dies ist das wahrscheinlichere, war die Verschmelzung, [199] welche das deutsche Wesen mit dem französischen Stile überhaupt eingehen konnte, in Böhms Künstlerpersönlichkeit im wesentlichen schon vollzogen, so daß Bach die französischen Elemente vorzugsweise nur durch dessen Vermittlung in sich aufgenommen haben wird.

Um nunmehr Bachs Verhältniß zu Böhm im Besonderen würdigen zu können, ist es nothwendig, dessen Kunstthätigkeit und Stil an einzelnen Compositionen klar zu machen. Was ich von diesen allmählig gesammelt habe, besteht, abgesehen von einer vierstimmigen Arie (»Jesu, theure Gnadensonne«, ein Neujahrsgesang, zuverlässig für den currenten Chor der Johannisschule geschrieben), in drei Claviersuiten, einer Ouverture (und Suite), einem Praeludium mit Fuge, beide gleichfalls für Clavier, und achtzehn Choralarbeiten, von denen eine große Anzahl Partitenwerke sind. Es genügt dies, sich von seiner Schreibweise ein leidliches Bild zu machen, wie sehr auch zu bedauern ist, daß von einem so besondern und vortrefflichen Componisten nicht mehr erhalten wurde. Seine Stärke liegt mehr auf der Seite des claviermäßigen als des Orgelstils, was nach dem bedeutenden Einflusse, den nicht nur die norddeutschen Meister, sondern auch die französischen Componisten auf ihn gewannen, unschwer zu begreifen ist. Dies gilt nun auch von seinen Choralbehandlungen, mag er sie auch alle, oder wenigstens größtentheils für die Orgel gleichfalls bestimmt und auf ihr vorgetragen haben. Die Gränzen beider Instrumente erschienen auch den Componisten am Ausgang des 17. Jahrhunderts noch ziemlich flüssig. Bei der untrennbaren Wechselwirkung, in welcher Form und Inhalt eines Kunstwerks stehen, wird dadurch Böhms Chorälen eine ungleich geringere Idealität zugemessen, eine viel niedrigere Flughöhe, als denen Pachelbels. Dieser Meister stellte sich die Aufgabe, den Choral und dessen volle Bedeutung für den protestantischen Cultus in seiner Beziehung zum subjectiven Empfinden des Einzelnen künstlerisch darzustellen; Böhms Streben ist, aus dem Chorale und auf dessen Grunde anmuthige, wechselvolle Tongestalten zu entwickeln, an welche höchstens das allgemeine Grundgefühl des Chorals appercipirt werden soll. Daß er Pachelbels Weise sehr wohl gekannt und auch für sich genutzt hat, geht aus seinen Werken ziemlich klar hervor, aber in dessen Bahnen lenkte er nicht ein, dazu war er ein zu [200] eigenthümlicher Geist. Die Melodie »Vater unser im Himmelreich« beginnt er einmal ganz so zu bearbeiten, wie man es von Pachelbel gewohnt ist: die erste Zeile wird fugirt, und tritt dann abschließend und bedeutsam vollständig im Pedal auf, freilich nicht mit verdoppelten Notenwerthen, aber doch genügend hervorgehoben. Aber schon bei der zweiten Zeile kommt der eigentliche Böhm zu Tage: sie erscheint als Thema für die Fugirung nicht in ihrem einfachen Gange:


 

1.


 

 

sondern durch Einknickung, verbindende Sechzehntel, punktirte Bewegung und Verzierungen umgebildet:


 

1.


 

Im Verlauf gewinnt nun diese Spielfreude immer mehr die Oberhand und führt von der anfänglichen Anlage immer weiter ab; die Choralzeilen, welche als Endzweck und Krone einer jeden einzelnen Durcharbeitung erscheinen sollten, werden immer mehr zurückgedrängt, und schlendern zuletzt ziemlich unbetheiligt im Pedal nebenher, ja bei der vorletzten Zeile wird der Choral selbst von der allgemeinen Bewegung erfaßt, und muß sich gefallen lassen, um sechs Tonschritte erweitert zu werden. So entsteht ein buntes, phantastisch unruhiges Bild, das eigentlich weder als Orgelstück noch als Choralbearbeitung volle Berechtigung hat, aber doch durch seinen Geist und sein eignes, echt musikalisches Leben, die Gewandtheit und Eleganz der Stimmverschlingung entschieden anzieht. Ein andres Mal ergreift Böhm die Melodie »Allein Gott in der Höh sei Ehr«, stellt der ersten Zeile ein schön gesungenes Contrasubject gegenüber, und verarbeitet beide zu einer ganz meisterlichen Doppelfuge. Man denkt nun, entweder hat es hierbei sein Bewenden, oder es wird nach Pachelbels Weise der vollständige Choral in glänzender Durchführung das Werk krönen. Keins von beiden geschieht. An die Fuge schließt sich in ganz einfacher Gestaltung die zweite Zeile an, dann wird von Anfang an repetirt, als ob es die schmucklose Melodie wäre, und der Rest derselben ebenfalls einfach durchgeführt. [201] Eine Statue, die an Kopf und Armen herausgemeißelt, übrigens aber im Blocke sitzen geblieben ist! In der Aufstellung eines Gegenthemas zur Choralzeile reicht aber Böhm Buxtehude die Hand, und steht mit dieser Bearbeitung also recht zwischen beiden Meistern; über ihnen, kann man aus genannten Gründen nicht sagen. Buxtehude, an tiefer Erfassung des Chorals und an ruhiger Schönheit Pachelbel weit nachstehend, überragt diesen jedoch an geistreicher Combination und einer oft berückenden Harmonik. Es liegt ein Böhmsches Choralstück über »Christ lag in Todesbanden« vor, welches so vollständig Buxtehudescher Factur ist, daß man behaupten möchte, es sei wirklich letzterem zuzuschreiben, wenn nicht die Versatilität des Böhmschen Geistes dagegen in die Wagschale fiele42. Das Wesen dieser Factur beruht in der schon mehr genannten motettenartigen Durcharbeitung der einzelnen Choralzeilen, wobei aber Buxtehude Taktwechsel, rhythmische Umbildungen des Themas und selbständige Contrasubjecte besonders liebt. Mehr wird an seiner Stelle darüber zu sagen sein. Die merkwürdigste Mischung von eignen und fremden Bestandtheilen findet sich in Böhms Behandlung von »Nun bitten wir den heilgen Geist«, in der sowohl Pachelbels als Buxtehudes als Böhms eigne Manier neben einander auftreten. Diese Manier, in der er nun auch ganze Orgelchoräle geschrieben hat und sein eignes Wesen am freisten entfalten zu können glaubte, besteht aber darin, daß jede einzelne Zeile nicht polyphon durchgeführt, sondern durch Zerlegung in ihre einzelnen melodischen Hauptmomente, und durch Wiederholung, Versetzung, Umspielung, mannigfache Verknüpfung derselben thematisch erschöpft wird. Hier konnte ein feiner Kopf seine ganze Erfindsamkeit zeigen im Verändern und Umbilden eines musikalischen Gedankens, in behender Umspielung und anmuthvoller Auszierung, er war auch nicht, wie bei der Variation, an die harmonischen und rhythmischen Verhältnisse des Themas gebunden, sondern er schuf ganz neue Maße [202] und Perioden, bildete gradezu ganz eigne Tonstücke und hatte überdies auch Gelegenheit zu contrapunctischen Vertiefungen. Es dürfte das erste Mal sein, daß in der Instrumentalmusik die thematisch-motivische Entwicklung des melodischen Stoffs, die in der Beethovenschen Kunstperiode eine so große Rolle spielt, als gestaltendes Princip für größere Tongebilde auftritt; in der Motette waren allerdings, wie früher gezeigt worden ist, schon ähnliche Umgestaltungen mit dem Choral vorgenommen worden, die aber gemäß der Verschiedenheit des Materials doch ein ganz andres Aussehen gewinnen mußten. Wie man von Pachelbelschen und Buxtehudeschen Choral-Typen reden kann, darf man auch einen Böhmschen Typus aufstellen. Böhm muß, wenn auch nicht als Erfinder des Princips (denn die Kunst, aus dem einen musikalischen Gedanken einen zweiten zu erzeugen, übte schon der Italiäner Frescobaldi), so doch als derjenige gelten, der es zuerst auf den Choral anwendete, er hat in Wahrheit eine neue Kunstform geschaffen, und diese That, deren nur ein wirkliches Talent fähig ist, sichert ihm seinen Platz in der Kunstgeschichte. Er hat aber auch diese Form mit reicher und feinsinniger Erfindungskraft zu handhaben gewußt. So macht er in seinen sechs Partiten über »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« in der ersten derselben aus der Anfangszeile folgendes Gebilde:


 

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1.


 

[203] in der dritten gestaltet sich der Eingang so:


 

1.


 

1.


 

die folgende Zeile erscheint colorirt, die Gänge schwingen sich von / bis 1. hinauf und hinab, höchst graziös, aber in losgebundener Spielfreudigkeit; die dritte Zeile ist dann wieder der ersten parallel gestaltet, wenn auch mit ganz verschiedener Erweiterung, und die vierte rollt in lebhafter, nur einmal in der Mitte zum Stehen kommender Coloratur dem Ende zu. Die Harmonie bleibt durchweg einfach wie zur ersten Zeile. Und noch eine andre Manier verbindet Böhm so häufig mit dieser Behandlungsweise, daß man darin einen Ausdruck seiner besondern Eigenthümlichkeit erkennen und sie die seinige nennen kann. Er bildet eine gangartige, etwa zwei- bis dreitaktige Tonreihe, mit der er, gewöhnlich im Basse, das Stück einleitet, die er dann ganz oder stückweise zwischen den Zeilen thunlichst oft wiederholt, auch als Contrapunct zu denselben gebraucht und am Schluß noch einmal solo ablaufen läßt. Ein solcherBasso [204] quasi ostinato aus einer andern Bearbeitung von »Vater unser im Himmelreich« möge, hier das Verfahren erläuternd und spätere Behauptungen begründend, mitgetheilt werden:


 

1.


 

auf ihn folgen die drei ersten Töne der Melodie, nach Böhms Weise mit Zierrathen verbrämt, dann tritt der Bass wiederum allein auf, und nun erst beginnt die vollständige Durchführung, in die sich, wo es angeht, motivische Stückchen von ihm einschieben; unter dem ausgehaltenen Endtone der Melodie spaziert er nochmals einher und macht gleichsam die Thüre zu. Man wird bei diesem Verfahren zuweilen so lebhaft an gewisse Tutti-Sätze der italiänischen Instrumental-Concerte erinnert, daß es zweifelhaft ist, ob nicht eine bewußte Nachahmung stattgefunden habe. Einmal liegt der Tongang auch in den Oberstimmen, die Melodie »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« ist in den Tenor gesetzt und wird, motivisch ausgesponnen, auf dem Oberwerk von der linken Hand allein vorgetragen, eine Arbeit, die nur von einem höchst geistreichen Kopfe erfunden werden konnte! Was er bei dieser Richtung in der Choralvariation geleistet hat, kann man sich leicht vorstellen; in der That ist hier seine Phantasie unerschöpflich in stets neuen Umkleidungen der Melodie. Er hat sich ihr auch mit Vorliebe zugewendet; freilich sinkt da der Choral auf die Stufe jedes beliebigen weltlichen Liedes herab. Wie er immer mehr ans Cembalo als an die Orgel dachte, zeigt auch die Vollgriffigkeit, mit der er jene einfachen Choräle harmonisirt, die seine Partiten einzuleiten pflegen, so daß die Stimmführung ganz unkenntlich wird und nur fünf-, sechs-, siebenstimmige Accorde sich aneinander reihen. Viel mehr nun noch, als für die Choralbehandlung, konnte Böhm sich für die freie Claviermusik die Leistungen der Franzosen zu Nutze machen. Wirklich hat er sich ihre ganze Zierlichkeit angeeignet, ohne in die französische Schnörkelsucht und Coquetterie zu verfallen; manchmal streift er allerdings an diesen Fehlern her. Andrerseits[205] überragt er wieder jene Claviermeister um Haupteslänge an harmonischem Reichthum und ausdrucksvollen Gedanken. Seine Suiten (Es dur, C moll, A moll, D dur) sind ohne Besinnen die besten, welche mir aus der Periode vor Sebastian Bach bekannt sind. Einer derselben (D dur) geht eine Ouverture vorauf in französischer Form, und wäre die Ueberlieferung gegründet, daß Pachelbel dieselbe zuerst aufs Clavier übertragen, so hätte man Böhm hierin als seinen Nachfolger anzusehen. Aber fast sollte man bei der viel geringern Beziehung, in der Pachelbel zu den Franzosen stand, das Umgekehrte vermuthen. Sicher ist, daß das Clavier viel mehr Böhms, die Orgel Pachelbels Provinz war, und wenn letzterer den ersteren im Choral weit hinter sich zurückläßt, so hat wohl kaum der Nürnberger Meister je ein Stück geschrieben, was dem G moll-Praeludium nebst Fuge des Lüneburgers sich vergleichen könnte. Wir haben die Erwähnung dieser Composition bis ans Ende verschoben, weil hier Böhms Originalität am reinsten und überzeugendsten hervortritt. Zuerst eine Form des Ganzen, die von allem, was wir kennen, völlig abweichend aber doch mit voller künstlerischer Berechtigung nur aus dem musikalischen Inhalt selbst hervorwächst: ein Praeludium im 3/2 Takt mit auf- und abwandelnden arpeggirten Accorden, nach kurzem Uebergangs-Adagio eine weit ausgesponnene Fuge, endlich wiederum ein harfenartig lispelnder ganz freier Schlußsatz, dessen Sechzehntelbewegung am Ende zum Adagio sich beruhigt. Dann eine Stimmung, so tief, so eigen melancholisch, ein Träumen und Schwelgen in herb-süßen Harmonien, zu dem nur ein deutsches Gemüth fähig ist, und doch wieder eine Grazie, zumal in der Fuge, wie sie damals fast allein die Franzosen besaßen. In diesem wunderschönen Stücke, das hinreichen würde, seinen Componisten unter die bedeutendsten schaffenden Talente der Zeit zu setzen, keimt und knospt etwas, das durch Sebastian Bach und einzig durch ihn zur berauschend duftenden Blüthe sich öffnen sollte: jene fast nur harmonisch bewegten, selig und doch so wehmüthig auf- und niederwallenden Praeludien des wohltemperirten Claviers (C dur des ersten, Cis dur des zweiten Theils) und ähnliches haben in dem Anfangs- und Endstücke der Böhmschen Composition ihren Vorläufer, und, wenn auch nicht ihren einzigen, so doch meines Wissens ihren einzig ebenbürtigen. Bedeutsam ist es, daß der Weg, auf dem dieselbe [206] nebst den vier Suiten bis zur Gegenwart gelangt ist, direct auf das Haus Sebastian Bachs zurückführt43. Diese Suiten aber bilden zu den Bachschen, in welchen die leicht wiegenden französischen Bildchen zu Gestalten von ungeahnter Schönheit veredelt wurden, in gleicher Weise die Vorstufe. Manche Züge von sprechender Aehnlichkeit verrathen, wie hoch der große Meister sie schätzte, weniger vielleicht, weil sie ihm für die eignen Leistungen einen unentbehrlichen Stützpunkt geboten hätten, als weil er dem Landsmanne sich nach Wesen und Bildungsgang nahe verwandt fühlte. Als er die berührten Werke schuf, war er über die Anlehnung an andre lange hinaus, desto mehr aber muß er sich in bildungsbedürftigen Jugendjahren zu Böhm hingezogen gefühlt haben. Im späteren Lebensalter Bachs tritt die innre Gleichartigkeit beider auf dem Gebiete hervor, wo Böhm sein Höchstes leisten sollte, als Jüngling ahmte er ihn in einer Gattung nach, in welcher sein religiöser Tiefsinn den reifen Mann ganz andre Formen finden ließ, im Orgelchoral.

Es sind unter seinen Werken einige Choral-Partiten, die sich als frühe Versuche einem jeden einigermaßen Sachkundigen sofort verrathen. Man hat angenommen, sie seien in Arnstadt entstanden; mir ist es nicht im geringsten zweifelhaft, daß sie in Lüneburg, zum wenigsten unter Böhms unmittelbarem Einflusse componirt wurden. Zu Grunde liegt der einen Reihe die Melodie »Christ, der du bist der helle Tag«, der andern »O Gott, du frommer Gott«44. Hier ist in [207] der That eine Uebereinstimmung des Stiles vorhanden, die trotz der vielen nachweisbaren Einflüsse von andern Seiten in Bachs ganzer Entwicklung nicht wieder kommt. Man könnte, ohne eine Note von Böhm zu kennen, aus diesen Variationen den Choralstil desselben völlig kennen lernen, wenn nicht hier und da durch die Maske Sebastians glänzendes Auge hindurch blitzte, und bisweilen auch eine gewisse Unbehülflichkeit im Tragen derselben zu Tage käme. So dick und fast plump hat doch Böhm die Choral-Melodien nie harmonisirt, wie an einzelnen Stellen sein Nachahmer, der z.B. in der Anfangs-Zeile des ersteren Chorals die erste und fünfte Note, welche beide auf den leichtesten Takttheil fallen, mit einer massigen, sechstonigen Harmonie belastet, während dazwischen nur viertonige stehen. Dies und manches ähnliche wirkt unter allen Umständen schlecht und ist geschmacklos, mag man es sich auch auf dem Cembalo gespielt vorstellen. Aber im allgemeinen muß man staunen über die wunderbare Assimilationskraft, die sich in fremden und dem eignen Geiste innerlich widerstrebenden Formen mit einer Leichtigkeit bewegt, als seien sie selbstgeschaffene. Eine solche Erscheinung an einer Persönlichkeit, deren Individuelles später im denkbar größten Gegensatze zu seiner Zeit stand und wie in Fels gehauen uns anblickt, konnte nur in den frühesten Jugendjahren möglich sein. Wir haben aber durch sie einen Maßstab für die Weise, wie Bach sich bildete und alles bedeutsame, was ihm auf seinem Wege begegnete, ganz mit sich verschmolz. Diese Thätigkeit läßt sich an ihm nachweisen bis mindestens in die Mitte seiner zwanziger Jahre. Durch die voraufgeschickte Beschreibung der Böhmschen Behandlungsart ist der Leser in Stand gesetzt, selbst zu vergleichen. Sofort in der zweiten Partite der beiden Reihen wird er die treffendsten Parallelen finden für jene motivischen Ausspinnungen, als deren Erfinder Böhm anzusehen ist. Eine höchst bemerkenswerthe Thematik kommt bei den vier ersten Noten der vierten Zeile des ersten Chorals zu Tage


 

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welche durch sieben Takte in Beethovenscher Weise durchgeführt werden, und ähnlich auch in den andern Variationen. Wie ferner Böhm oft den Choral ganz schlicht beginnt, bald aber anfängt, ihn bunt zu umspielen, und dabei gern auf gewisse Grundfigurationen zurückkommt, wie er ihn dann nach [208] Manier der Claviervariation einmal ganz in laufendes Passagenwerk auflöst, wie er diese Zeile in der Oberstimme, jene in der Unterstimme durchzuführen und verschiedene Behandlungs-Principe zu mischen liebt, wie er nach Vorgang der nordischen Meister Taktwechsel einführt und durch Abwechslung der Manuale mit Klangwirkungen spielt, alles dies findet sich hier bei Bach, um seiner äußern Erscheinung nach in dessen reifern Werken fast bis auf die letzte Spur wieder zu verschwinden. Aber in welcher Weise diese Einflüsse innerlich wirksam blieben, kann ein Fall beweisen. Mit den übrigen Eigenthümlichkeiten Böhms hat sich Bach auch den oben gekennzeichneten Basso ostinato angeeignet; man sehe den Beginn der zweiten Partita über »O Gott, du frommer Gott«:


 

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worauf denn, beiläufig gesagt, genau wie in dem angeführten Chorale Böhms, nur erst die vier Anfangsnoten der Melodie ertönen, dann der Bass sich wiederholt und damit erst die volle Zeile eintritt. In keinem seiner spätern Meisterwerke stößt man wieder auf ein solches Gebilde. Aber man betrachte die großartige Arbeit über »Wir glauben all an einen Gott«, welche nahezu vierzig Jahre später im dritten Theile der Clavierübung erschien45, wo ein frei erfundener und mit der Melodie innerlich gar nicht zusammenhängender Bass sechsmal im Verlauf des Stückes nach den gehörigen Pausen wiederkehrt! Hier ist die höchste Entfaltung und Verklärung jener Kunstweise! Für die Stetigkeit in Bachs Entwicklung muß dies ein hochwerthes Zeugniß genannt werden. Er betrat keinen Pfad, den er späterhin als falsch erkennen und durch Umkehr hätte verlassen müssen. Nie streckte der junge Baum eine seiner Wurzeln in taubes Geröll oder auf harten Fels. Die Kräfte, welche er von allen Seiten einsog, durchdrangen ihn belebend, so lange als er schuf. Wie gesagt, ist jedoch nicht alles in diesen Partiten auf bloße Nachahmung zurückzuführen. Mehr als einmal fühlt sich der Spielende von jenem eigentlich [209] Bachschen Geiste berührt, dessen Intensität und Farbe niemandem wieder unkenntlich wird, der sie einmal wirklich empfunden hat. Solche Stellen lassen sich leichter durch den unmittelbaren Eindruck nachweisen, aber mit Worten nur umständlich kennzeichnen; doch sei, um nicht ganz im Allgemeinen zu bleiben, auf die letzte Partita der ersten Reihe aufmerksam gemacht, und die achte der zweiten mit ihrem geistvoll durchgeführten chromatischen Motive. Ueberhaupt, trotz aller Anlehnung an ein fremdes Vorbild, sind diese Choralvariationen das Zeugniß eines ganz außerordentlichen Talents. Stücke eines sechzehn- bis siebenzehnjährigen Jünglings, und wie viel natürliche Schönheit, Freiheit der Stimmenverschlingung, ja selbst Meisterschaft! Keine Spur von schwankendem, tastendem Anfängerthum; mit instinctiver Sicherheit wandelt er seinen Weg, und wenn hier und da eine Einzelheit befremdet, das Ganze zeigt den geborenen Künstler.

Das Claviermäßige, was die Partiten an sich haben, läßt das Fehlen eines obligaten Pedales, ja des Pedales überhaupt nicht merkwürdig erscheinen. Zur letzten Partite von »Christ, der du bist der helle Tag« findet sich allerdings eine Pedalstimme zum beliebigen Gebrauche verzeichnet, welche aber die Schönheit des Stücks beeinträchtigt, wenigstens wenn man es so auf der Orgel spielen wollte. Das Pedal eines Cembalo hatte weniger Klangdauer und würde hier die nachschlagenden Sechzehntel der linken Hand nicht so sehr verdecken. In der That findet es sich in einer Reihe von Bachschen Compositionen, daß in vereinzelter Weise das Pedal zur Hülfe herbeigezogen wird, während sie im ganzen nur manualiter auszuführen sind. Dies Verfahren deutet überall auf eine frühe Entstehungszeit, denn auf der Höhe seiner Entwicklung gestattete sich Bach keine solche Inconsequenz mehr. Doch werden wir weiterhin feinere Unterschiede dieses Merkmals feststellen können. Hier soll es nur dazu dienen, noch eine andere Arbeit Bachs heranzuziehen, die ebenfalls durch und durch von Böhmscher Anlage ist und zu gleicher Zeit mit den Partiten entstanden sein wird. Es ist der Orgelchoral »Christ lag in Todesbanden«, für zwei Manuale gesetzt46. Wieder fängt die linke Hand allein mit einem der oft erwähnten [210] Bassgänge an, die Melodie wird dann auf dem Haupt-Manuale mit kräftigern Registern gespielt, in den ersten vier Zeilen fast überreich verziert und motivisch weiter gesponnen. Zu den ersten beiden Zeilen bietet der einleitende Bassgang den Stoff für Zwischenspiele und Contrapuncte, für die folgenden zwei wird die Harmonie frei und das jedesmalige Zwischenspiel nach Pachelbels Weise gebildet, die Sache macht sich dann immer ungebundener und phantastischer, ganz wie Böhm es liebt, zeitweilig springt die Sechzehntel-Bewegung in Achtel-Triolen um, dann wird auf beiden Manualen motivisch hin-und hergespielt, man weiß nicht mehr, ob der Satz zwei-, drei- oder vierstimmig ist, die letzte Zeile endlich tritt, dreimal in verschiedenen Lagen ertönend, wieder in ruhigen Choral-Noten auf. Der relative Werth dieser, 77 Takte zählenden Composition ist erheblich geringer, als derjenige der Partiten, wo schon die Variationenform ein ganz ungebundenes Ausschweifen verbot, das doch mit dem Wesen des Chorals in allzustarkem Widerspruch steht, mögen auch Böhm und Bach selbst darin noch so viel Geist gezeigt haben. Größer ist ihr rein technisches Interesse, sowohl wegen der darin herrschenden ungewöhnlichen Gewandtheit und Leichtigkeit, als wegen des Maßes von Spielfertigkeit, das sie voraussetzt. Das Pedal tritt nur in den sieben letzten Takten auf, zuerst die letzte Melodiezeile bringend, dann einige Grundnoten haltend; es liegt auf der Hand, daß damit eine besondere Schlußwirkung erzielt werden soll. Uebrigens läßt sich aus einer Note ziemlich sicher erkennen, daß die Composition für Cembalo und nicht für wirkliche Orgel gedacht ist. Im Endtakte schlägt auf dem letzten Viertel die rechte Hand über die linke und erfaßt das große E, obwohl das Pedal denselben Ton durch den ganzen Takt aushält. Auf der Orgel wäre dies ein ganz zweckloses Bemühen, der Ton des Cembalo-Pedals aber war beim letzten Viertel schon verklungen und es empfahl sich, den Schlußaccord noch einmal recht gründlich zu stützen, was so durch die rechte Hand geschieht. Gemeiniglich wird man sonst Orgelpunkte auf diesem Instrumente durch häufiges Wiederanschlagen des Tones herzustellen gesucht, und sich überhaupt mit einer bescheidnen Andeutung der Intention begnügt haben, da es doch nur ein Nothbehelf anstatt des Orgelpedals sein sollte. Müssen doch auch wir bei Behandlung des Pianoforte so vieles hinzudenken, was ganz [211] außerhalb seines Darstellungsvermögens liegt! Die gezogene Folgerung aber paßt wieder für Lüneburg als Entstehungsort der Choralbearbeitung; hier hatte Bach noch keine Orgel zu eigner unbehinderter Verfügung, und wenn er seine Productionen ohne Umstände und vollständig selbst hören und ausführen wollte, so mußte er für Cembalo oder Clavichord componiren.

Man wird es wohl begreiflich finden, daß er zwischen Orgel und Cembalo als Vermittlern seiner musikalischen Gedanken noch keinen sonderlichen Unterschied machte. Nun haben ja allerdings beide Instrumente manches gemeinsame, aber wo es sich um die Darstellung langsamer gebundener Tonreihen handelt, bleibt das Cembalo zurück; wiederum bei mehrmaligem Wiederholen ein und desselben Accordes wird dem strömenden und keine Unterbrechung duldenden Orgelcharakter Gewalt angethan. Das letztere wenigstens hat Bach nicht immer berücksichtigt, und hierin war Böhm kein gutes Vorbild. Denn mochte man damals auch keineswegs scrupulös sein in Unterscheidung der verschiedenen Stilarten, eine gewisse Gränze gab es doch, über die aber Böhm sorglos hinwegschritt. Es giebt noch eine dritte Bearbeitung des Chorals »Vater unser im Himmelreich« von seiner Hand, die man ohne weiteres für ein Clavierstück halten müßte, wenn nicht ausdrücklich dabeistände: »Rückpositiv. Oberwerk piano. Pedal forte.« Die melodieführende Stimme ist mit Verzierungen überladen, die Begleitung schlägt meistens denselben Accord mehre Male hinter einander an, ist nur sehr selten gebunden, und ergeht sich vorzugsweise gern in dieser rhythmischen Figur: 1.; das Pedal fängt probeweise folgendermaßen an: 1.. Hierzu hat Bach ein Seitenstück geliefert, was seiner ganzen Haltung nach nur dem Einflusse Böhms sein Dasein verdanken kann, und zu merkwürdig ist, als daß wir nicht wenigstens den Anfang hier einrücken sollten.


 

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1.


 

 

[212] So stilwidrig dies ist, so läßt sich dennoch eine bedeutende harmonische Kraft und tiefsinniges Eingehen auf den Inhalt des Liedes (man beachte zumal Takt 6) nicht verkennen, und in dieser Weise ist das ganze Stück gehalten, wenn es auch an einigen harmonischen Härten nicht fehlt47.

Daß zu so nahen inneren Beziehungen zwischen dem gereiften und dem aufstrebenden Künstler sich auch freundschaftliche äußere gesellten, ist wohl ziemlich selbstverständlich. Dadurch ist denn auch die Vermuthung gerechtfertigt, daß Böhm dem Bach die Benutzung der Johannis-Orgel nicht vorenthielt, und möglicherweise hat er auf ihr seine jungen Kräfte häufiger geübt, als in der Michaeliskirche. Leider scheint sie noch schlechter gewesen zu sein, als jene, da schon im Jahre 1705 an ihre Stelle eine neue trat48. So begann bereits in Lüneburg das Mißgeschick, welches den größten deutschen Orgelmeister durch sein Leben verfolgt hat, sich gewöhnlich mit kleinen oder schlechten Orgeln behelfen zu müssen und niemals ein recht ausgezeichnetes Werk dauernd zur Verfügung zu haben. Hiermit ist denn über den musikalischen Kern von Bachs dreijährigem Aufenthalte in Lüneburg gesagt, was möglich war. Ohne irgend eine absichtliche Vernachlässigung seinerseits vorauszusetzen, werden doch seine wissenschaftlichen Studien gegen die Musik mehr [213] und mehr zurückgetreten sein. Diese war es schon damals, welcher er seine Existenzmittel verdankte, und wie oft die Anforderungen an die Chorschüler mit den Pflichten derselben als Gymnasialschüler in Widerstreit geriethen, ist schon erwähnt und wird durch andre Beispiele jener Zeit bestätigt. Dazu kamen die Verwendungen, wel che ein musikkundiger Jüngling sonst noch finden konnte, ja oft nothgedrungen über sich ergehen lassen mußte. Die Lehrgegenstände der Michaelisschule waren von denen des Ohrdrufer Lyceums nicht verschieden. In Prima, wohin wir uns Sebastian allmählig vorgerückt denken können, war natürlich der Kreis von lateinischen Schriftstellern, die gelesen wurden, etwas erweitert: es finden sich ausgewählte Oden von Horaz, Vergils Aeneide, Terenz, Curtius und Cicero mit Reden, Briefen und philosophischen Schriften erwähnt. Außer den zugehörigen mündlichen und schriftlichen lateinischen Uebungen gab es aber auch hier nur noch Griechisch nach dem Neuen Testament, Religion, Logik und Arithmetik, wenigstens im Jahre 1695, und es ist keineswegs anzunehmen, daß es von 1700 bis 1703 anders war49. Wollten sich die Schüler in andern Gegenständen Kenntnisse verschaffen, so konnten sie bei den Lehrern der Anstalt Privatunterricht erhalten, natürlich gegen Honorar; wer sich aber dort seinen Lebensunterhalt selbst erwerben mußte, mag wohl für solche Zwecke nicht viel verwendbar gehabt haben. Man darf indessen annehmen, daß Bach, als er Lüneburg verließ, wenigstens einen zweijährigen Cursus in Prima vollendet hatte; denn er war 18 Jahre alt, und man bezog damals die Universität durchschnittlich früher als jetzt. Dafür daß er seinerseits dies nicht that, wie doch Händel, Telemann, Stölzel und so manche seiner leiblichen Vettern, liegen zwingende äußere Gründe vor; nicht so sehr innere. Denn die musikalischen Studien vertrugen sich mit irgend einer gelehrten Disciplin auf Hochschulen dazumal viel leichter, als bei den gesteigerten Ansprüchen unserer Tage. Es hatte sich sogar als eine Art von gutem Gebrauche festgestellt, daß der angehende Musiker, wenn er eben höher hinausstrebte, auch den akademischen Hörsälen nicht ganz fremd geblieben sein durfte, sonst hätte der weißenfelsische Concertmeister Johann Bähr nicht in vollem Ernst die Frage erörtern können, ob ein Componist [214] nothwendigerweise studirt haben müsse50. Aber Sebastian war einmal arm und ihm blieb keine Wahl, wenn auch, was wir nicht wissen, das Verlangen seinen wissenschaftlichen Gesichtskreis zu erweitern, noch so groß sein mochte.

Jedoch ehe wir ihn scheiden und vorwärts streben sehen, sei noch ein rascher Blick nach rückwärts erlaubt. Da in Bachs Familie bis zum Jahre 1703 ein so hochbedeutender Künstler lebte, wie Johann Christoph Bach in Eisenach, kann es auffallen, daß bei Sebastian kein bestimmter Einfluß desselben nachgewiesen wird. Eine schwache Spur davon scheint allerdings vorhanden zu sein und sollte auch nicht unberücksichtigt bleiben; nur die Unsicherheit der Sache gebot ein Verschieben an diese Stelle. Es existiren drei kleine Choralfugen unter Sebastian Bachs Namen über die Melodien »Nun ruhen alle Wälder«, »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« und »Herr Jesu Christ, meins Lebens Licht«51. Sie tragen genau den Charakter der oben besprochenen fugirten Choralvorspiele von Johann Christoph Bach, sowie der diesen gleich gestalteten Johann Pachelbels. Besonders läßt das zweite, dessen Melodie der Eisenacher Meister auch bearbeitete, eine eingehende Vergleichung zu; es ist etwas fließender als jenes und um drei Takte länger, sonst von merkwürdigster Aehnlichkeit, z.B. in den Einsätzen des Anfangs und dem später eintretenden Dominant-Orgelpunkt. Stammen also diese Stückchen wirklich von Sebastian, so ist die Folgerung fast zwingend, daß sie in Anlehnung an dessen Oheim, vielleicht auch schon an Pachelbel geschrieben sind. Daraus folgt weiter, daß es Knabenarbeiten sein müssen, die vor die Lüneburger Zeit fallen, womit auch ihre gänzliche Unbedeutendheit zusammenstimmt. Es ließe sich somit der eigne Schaffenstrieb bis in die frühesten Jahre verfolgen, und dieses Resultat wäre[215] wenigstens ebenso interessant, als der Nachweis einer Beeinflussung durch Johann Christoph, die sich bei der Lage der Dinge ziemlich von selbst versteht, aber für eine so jugendliche Lebenszeit kaum als bedeutungsvoll gelten kann, wenn sie auf einem Gebiete erscheint, dem die Hauptkraft des älteren Meisters abgewandt blieb. Wichtig würde es sein, wenn wir Chorcompositionen Sebastians besäßen, die sich auf seine Anregung zurückfuhren ließen. Dies ist aber nicht mehr der Fall, und ob sie überhaupt existirt haben, bei der verschiedenen Richtung, die der Neffe einschlug, ziemlich zweifelhaft. Eine zweite Ergänzung zu dem durchlaufenen Lebensabschnitte soll die Erwähnung einer Clavierfuge in E moll bilden, welche auch den Namen einer Jugend- oder Knaben-Arbeit im eminentesten Sinne verdient52. Da schon aus dem Jahre 1704 einige Fugen Sebastians vorliegen, so ist die Abschätzung nicht allzu schwer. Dieses Stück verräth seine Entstehungszeit sowohl durch die auffällige Steifheit aller seiner Themen als durch die Aengstlichkeit, mit welcher derselbe Contrapunct dem Hauptgedanken sich an die Fersen heftet, durch das consequente Beharren in der Grundtonart bei nicht weniger als vierzehn Einsätzen des Themas, durch fast gänzliches Fehlen aller verbindenden Zwischensätze, als endlich durch eine auffallende Unspielbarkeit, indem die Form sich der Claviertechnik noch nicht fügen wollte. Von allen Fugen Bachs, welche ich kenne, ist diese die unreifste und kann kaum anders als schon in Ohrdruf componirt sein. Als er Lüneburg verließ, war er wenigstens auch in dieser Kunstgattung längst über eine so niedrige Stufe hinausgeschritten.

Fußnoten

 

 

II.

 

[216] Am Hofe Herzog Wilhelms IV. zu Weimar hatte vor Zeiten Sebastian Bachs Großvater eine Anstellung gehabt. Schwerlich aber war für eine Berufung des Enkels an denselben Ort dies die Veranlassung. Es werden andre Verbindungen vorgelegen haben, die wir nicht kennen, die aber von Eisenach wie von Arnstadt aus leicht geknüpft werden konnten. Sebastian erhielt die Stelle eines Hofmusicus, doch nicht bei dem regierenden Herzoge Wilhelm Ernst, sondern [216] bei Johann Ernst, dessen jüngerem Bruder, der hiernach seine eigne kleine Capelle gehabt haben muß1. Dies läßt auf ein specielleres Interesse desselben für die Musik schließen und die Stellung des jungen Künstlers in einem günstigen Lichte erscheinen. Denn es war augenfällig ein ganz anderes, Mitglied einer jener officiellen Capellen zu sein, die häufig nur der äußern Repräsentation wegen unterhalten, und demgemäß oftmals auch zu allerhand andern »nützlichen« Zwecken verwendet wurden, als einem Institut anzugehören, was allein private Vorliebe ins Leben gerufen hatte. Doch hieße es wiederum die Verhältnisse jener kleinen Höfe verkennen, wenn man glauben wollte, Sebastian habe mit der eigentlichen Hofcapelle garnichts zu thun gehabt. Vielmehr wurde er sicherlich, wenn er auch im nächsten Dienstverhältnisse zu Johann Ernst stand, doch in jener ebenfalls verwendet. Sein Platz war der eines Violinisten, und die Folgerung ergiebt sich leicht, daß, wenn er von Lüneburg an diesen Posten in eine solche Capelle berufen werden konnte, seine Leistungen als Geiger nicht allzugering sein durften. Indeß, so gewiß schon damals seine Ausbildung vorzugsweise auf Orgel- und Clavierspiel gerichtet war, so deutlich ist auch, daß er die Stelle in Weimar hauptsächlich aus äußern d.h. Existenz-Gründen angenommen hat. In sein eigentliches Fahrwasser gerieth er bei diesem ersten Schritte in die Kunstwelt noch nicht sogleich, lernte aber jedenfalls eine Fülle von Instrumentalmusik dort kennen, besonders auch italiänischer, welche am weimarischen Hofe beliebt war, wie wir später erfahren werden. Auch lebte damals dort ein nicht unbedeutender Violinvirtuose, Johann Paul Westhoff, als Kammermusicus und Kammersecretär, ein Mann, der überdies durch große Welterfahrung und allgemeine Bildung anziehend sein konnte2. Ferner fand sich daselbst der wohlberufene Organist Johann Effler, der, wie seiner Zeit erwähnt ist, Michael Bachs Vorgänger in Gehren gewesen war, und daß in Wahrheit Sebastian der kirchlichen Musik auch hier nicht fern geblieben ist, wird, wenn es dessen überhaupt bedarf, ein späteres Zeugniß [217] lehren. So bot ihm das musikalische Weimar doch mancherlei Anregung, und die Dauer seines Aufenthaltes genügte grade, sich derselben soweit hinzugeben, als es ihm zur Zeit dienlich erscheinen mußte. Schon nach wenigen Monaten eröffneten sich ihm neue Aussichten3.

Die arnstädtische Bürgerschaft hatte gegen Ablauf des vorigen Jahrhunderts eine ihrer Kirchen, welche im Jahre 1581 durch Feuersbrunst vernichtet war, unter dem Namen der »Neuen Kirche« wieder aufgebaut und im Jahre 1683 eingeweiht4. Eine Orgel fehlte noch, allein den Einwohnern lag das junge Gotteshaus so am Herzen, daß schon bald darauf das Consistorium anzeigen konnte, es sei durch Beiträge von allen Seiten eine Summe von 800 Gülden dafür zusammengeflossen, die wohl noch bis auf 1100 Gülden anwachsen würde5. Ein reicher Bürger vermachte im Jahre 1699 noch 800 Gülden, und es konnte nun zur Beschaffung eines recht gediegenen und gehaltvollen Orgelwerks geschritten werden. Man wählte mit Uebergehung einer einheimischen aber unfähigen Persönlichkeit zum Erbauer den Mühlhäuser Johann Friedrich Wender, welcher die Orgel von Pfingsten bis zum Winter des Jahres 1701 verfertigte und aufstellte6. Wender hatte mehre Orgeln im Thüringischen gebaut und sich dadurch einen Namen gemacht. Ein solider Arbeiter war er übrigens nicht. Schon nach kurzer Zeit stellte sich heraus, daß vier Pfeifen im Werke fehlten, im Jahre 1710 war bereits eine Reparatur nöthig, die Wender aber so flüchtig vornahm, daß Ernst Bach, der damalige Organist, erklären mußte, die Orgel bedürfe einer gründlichen Herstellung, um ihre gänzliche Unbrauchbarkeit zu verhüten. Aehnliche Erfahrungen wurden an der Orgel der Blasius-Kirche in Mühlhausen gemacht, welche Wender ebenfalls gebaut hatte, und in der es unablässig zu bessern gab.

Doch, das große Ton Werkzeug war vorläufig vollendet und der Stolz der Bürgerschaft. Einen ebenbürtig geachteten Organisten dafür [218] zu gewinnen, wollte aber nicht sogleich gelingen. Ein Schwiegersohn Christoph Herthums, des mehrfach genannten Eidams und Nachfolgers Heinrich Bachs, verstand nothdürftig eine Orgel zu behandeln, und wohl durch jenes Verwendung, wahrscheinlich auch, weil man zur Stunde Niemanden sonst hatte, wurde ihm die Stelle übertragen. Er hieß Andreas Börner, trat mit dem Beginn des neuen Jahres an und erhielt jährlich dreißig Gülden und drei Maß Korn. Letztere wurden seinem Schwiegervater am Einkommen abgezogen, der dagegen die Besorgung des sonntäglichen Frühgottesdienstes in der Liebfrauenkirche an Börner überließ, auch mußte dieser sich bereit erklären, am Schlusse des Vormittagsgottesdienstes in der Barfüßerkirche einzuspringen, wenn den vielbeschäftigten Herthum um diese Zeit seine Functionen in die Schloßcapelle riefen. Man wollte nicht viel an den Mann wenden, und traute ihm wenig zu. Wenn er in der Neuen Kirche gespielt hatte, war er gehalten, den Schlüssel zur Orgel-Treppe dem Bürgermeister Feldhaus, welcher die Angelegenheiten des Orgel-Baus unter Händen gehabt und geleitet hatte, jedesmal wieder abzuliefern7.

So war die Sache bis zum Sommer des nächstfolgenden Jahres fort gegangen. Mittlerweile gelangte Sebastian Bach nach Weimar, und man wird sich zu denken haben, daß er von dort aus bald Lust verspürte, Arnstadt, die alte Sammelstelle seines Geschlechts, und die dort lebenden Verwandten zu besuchen. Er kam, spielte, und das Consistorium wußte, daß dies der Mann war, den man brauchte. Mit Börner wurden nicht viele Umstände gemacht: er mußte einfach das Feld räumen. »Zur Verhütung jedoch aller besorglichen Collisionen« erhielt er eine neue Bestallung ausgefertigt als Organist der Frühkirche und vormittäglicher Substitut in der Barfüßerkirche, auch ließ man ihm seine Besoldung, so daß im übrigen alles beim Alten blieb8. Dem jungen, achtzehnjährigen Künstler gegenüber glaubte man sich aber zu besondern Anstrengungen verpflichtet; er hatte den Leuten gewaltig imponirt. Da die Mittel der Kirche beschränkt waren, so suchte man aus drei verschiedenen Kassen den stattlichen und [219] für seine Jugend wie im Vergleich zu seinen Amtsgenossen ansehnlichen Gehalt von 84 Gülden 6 ggr. (= 73 Thalern 18 ggr.) zusammen. Dann wurde ihm eine feierliche Bestallung aufgesetzt mit den üblichen weitschweifigen Ermahnungen zu Fleiß, Berufstreue und allem, was »einem ehrliebenden Diener und Organisten gegen Gott, die hohe Obrigkeit und Vorgesetzten gebühret«, und er am 14. Aug. 1703 auf dieselbe durch Handschlag verpflichtet9.

Sebastian muß sich bei einer so entgegenkommenden Aufnahme in dem hübschen und durch viele Familienerinnerungen geweihten Städtchen auf seinem neuen Posten ganz behaglich gefühlt haben, zumal seiner dienstlichen Pflichten unverhältnißmäßig wenige waren und für eignes Studiren und Schaffen die herrlichste Muße blieb. Kein lästiger Schuldienst nahm seine Kräfte in Anspruch, keins jener ganz heterogenen Nebenämter, wie es zum Beispiel dem Küchenschreiber Herthum beschieden war, sollte die Sammlung seines Geistes stören. Nur dreimal wöchentlich rief ihn sein Amt, am Sonntag Morgens von 8 bis 10 Uhr, des Donnerstags frühe von 7 bis 9 Uhr, und des Montags zu einer Betstunde10; mit welcher Freude er, zum ersten Male im Besitz einer eignen und seinen Neigungen entsprechenden Stellung, die von ihm erweckten Töne des neuen Orgelwerks durch den hohen und weiten Kirchenraum hinrauschen ließ, kann man ermessen. Die Orgel war splendid gearbeitet, alle Principale aus 14löthigem Zinn, auch die Gedackt-Register bestanden aus Metall, nicht, wie gewöhnlich, aus Holz. Der Charakter des Brust-Positivs muß durch das Ueberwiegen der vierfüßigen Stimmen allerdings etwas schreiend und nur bei vollem Werke von einigermaßen guter Wirkung gewesen sein, auch fehlten dem Pedale tiefe mittelstarke Register, aber das Hauptwerk war gut disponirt. Die Gesammt-Disposition mag hier folgen:


 

Oberwerk. Brust-Positiv.

1) Principal 8'.1) Principal 4'.

2) Viola da gamba 8'.2) Lieblich Gedackt 8'.

[220] 3) Quintatön 16'.3) Spitzflöte 4'.

4) Gedackt 8'.4) Quinte 3'.

5) Quinte 6'.5) Sesquialter.

6) Octave 4'.6) Nachthorn 4'.

7) Mixtur 4fach.7) Mixtur 1' zweifach.

8) Gemshorn 8'. Pedal.

9) Cymbel 1' zweifach.1) Principalbass 8'.

10) Trompete 8'.2) Subbass 16'.

11) Tremulant.3) Posaunenbass 16'.

12) Cymbelstern.4) Flötenbass 4'.

5) Cornetbass 2'.

Manual- und Pedal-Koppel. Zwei Bälge, 8' lang und

4' breit.


 

Noch bis vor einem Decennium war die Orgel vorhanden11.

Der Barfüßer- oder Ober-Kirche gegenüber nahm die Neue Kirche den zweiten Platz ein, sie war eigentlich zur Ergänzung jener wieder aufgebaut, da die Liebfrauenkirche sich zu ausgedehnter Benutzung ungeeignet erwies, und die große Zahl der sonntäglichen Kirchenbesucher in einem Gotteshause nicht Platz fand. Da Sebastian trotz seiner Jugend sich als einen vielseitig geschulten Musiker hinstellte, der besonders auch für die Leitung des Chorgesanges in Lüneburg Erfahrungen gesammelt hatte, so übertrug das Consistorium ihm noch die Unterweisung eines kleinen Schülerchors, der zu dem größeren, in der Oberkirche fungirenden Singechore, an dem nach altthüringischer Sitte auch die »Adjuvanten«, d.h. musikliebende Dilettanten der Stadt, sich betheiligten, gleichsam die Vorstufe bilden sollte. Die eigentliche Direction, dort Aufgabe des Cantors, hatte hier der Präfect des Schülerchors; Bach sollte nur einstudiren, das Ganze zusammenhalten und mit der Orgel begleiten. Daß er bei dieser Gelegenheit auch eigne Compositionen zu Gehör bringen werde, [221] mag man vorausgesetzt haben12. Endlich ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sein Violinspiel in der gräflichen Capelle gelegentlich verwerthet wurde; obgleich jedes historische Zeugniß darüber fehlt, wird sich Sebastian diesen Ansprüchen noch weniger haben entziehen können, als seiner Zeit Michael Bach, der zu bestimmten Gelegenheiten von Gehren eigens hereinkommen mußte. Da die Capelle sich vorzugsweise aus Einheimischen, Professionisten und Dilettanten, zusammensetzte, so wäre es wohl sehr thöricht gewesen, eine so hervorragende Kraft unbenutzt zu lassen.

Im Orgelspiel fand Sebastian am Orte Niemanden, der ihn noch hätte fördern, geschweige denn es mit ihm aufnehmen können. Herthum kann die Musik nicht anders, als nebenher betrieben haben, denn sein Amt bei Hofe war ein umfassendes und arbeitsvolles, wie sich noch jetzt actenmäßig beweisen läßt. Johann Ernst Bach verlor in dem Elend seiner häuslichen Verhältnisse rasch wieder, was er etwa an Frische von seinen Ausflügen nach Hamburg und Frankfurt heim gebracht hatte. Die Vettern schlossen sich gewiß eng an einander an, aber lernen konnte Sebastian nichts erhebliches mehr von ihm. Etwas mannigfaltiger sah es in andern musikalischen Dingen aus. Adam Dreses reich bewegtes Künstlerleben war vor einigen Jahren zu Ende gegangen. An dessen Stelle war Paul Gleitsmann getreten, ein Schüler des gescheidten Johann Bähr in Weißenfels; er hatte dem Grafen schon länger als Kammerdiener und Musicus gedient, wußte auf der Violine, Viola da gamba und Laute Bescheid, und war, nach wenigen Spuren seines Wirkens zu schließen, ein intelligenter und wohlwollender Mann13. Hier konnte Sebastian wohl noch am leichtesten Verständniß finden, es mag aber auch der einzige aus der Capelle gewesen sein. Ein Liebhaber der Musik war der Rector des arnstädtischen Lyceums, der gelehrte und energische Johann Friedrich Treiber, welcher zu seiner durchgreifenden pädagogischen und ausgebreiteten wissenschaftlichen Thätigkeit auch noch selbständige musikalische Beschäftigungen fügte, ja sich vielleicht gar als Tonsetzer versucht hat14. Er besaß einen phantastisch genialen [222] Sohn, Johann Philipp, der neben seltenen Kenntnissen auf fast allen Gebieten des damaligen Wissens auch für Poesie und Musik ein hervorragendes Talent zeigte und in der Compositionslehre ein Schüler von Drese gewesen war. Studirt hatte er in Jena, zuerst Philosophie, Theologie und Medicin, hernach besonders Jurisprudenz, hatte die Magister- und Doctor-Würde erworben und Vorlesungen gehalten. Freisinnige Religionsansichten zwangen ihn, sich von Jena zu entfernen, er lebte nun einige Jahre auf dem Lande seinen wissenschaftlichen Arbeiten, wurde in Folge solcher wieder wegen Atheismus verfolgt und sogar einmal sechs Monate in Gotha gefangen gehalten. Der Haft entlassen, wohnte er zwischen den Jahren 1704 und 1706 bei seinem Vater in Arnstadt. Reibereien mit den dortigen Geistlichen veranlaßten ihn nach Erfurt zu gehen, wo er katholisch wurde und als Professor der Jurisprudenz zu hohen Ehren gelangte; er starb 1727 im 53. Lebensjahre. In Arnstadt veröffentlichte er 1704 ein Werk: »Der accurate Organist im General-Basse«, in dem er an nur zwei Choral-Bässen alle möglichen Accorde entwickelte. Vorher hatte er in Jena eine Anweisung erscheinen lassen, wie man in einer Arie alle Accorde, Ton-und Takt-Arten anwenden könne, und als Probe eine eigne Composition beigegeben15. Später in Erfurt componirte er zu Ehren des akademischen Rectors eine große Serenade und führte sie selbst auf16. Ein im Mai 1705 in Arnstadt ans Licht tretendes Product hatten aller Wahrscheinlichkeit nach beide Treiber zusammen verfertigt. Es war ein Singspiel, oder, wie auf dem Titel zu lesen ist, eine Operette, behandelnd: Die Klugheit der Obrigkeit in Anordnung des Bierbrauens17. Die Anlage ist die der biblischen Schul-Schauspiele des 17. Jahrhunderts oder der Dedekindschen geistlichen musikalischen Schauspiele: Dialog in Alexandrinern, dazwischen strophenmäßig gebaute Gesangstücke und kleine Recitative, [223] und möglichst viel auftretende Personen (hier nicht weniger, als dreißig); nur natürlich ins bürgerliche Leben mit all seinen Platt- und Derbheiten übertragen; mehre Personen sprechen den thüringisch-arnstädtischen Dialekt. Die Aufführung dieses und andrer dramatischen Producte geschah auf dem gräflichen Theater. Anton Günther hielt sich aber keine eigne Schauspieler- und Sänger-Gesellschaft; was in diesem Kunstzweige damals in Arnstadt geleistet wurde, entsprang zum eben so großen Theile aus dem Bemühen der Bürger. Der Graf hatte sich nach einem zwischen ihm und dem Kammerrath Wentzing im Verein mit dem Capellmeister Drese abgeschlossenen Contracte verpflichtet, ein Theater mit den nöthigen Decorationen herzustellen und zu erhalten, die Capelle zur Verfügung zu geben, für Beleuchtung und bei Banquets auf der Bühne für Speisen und Getränke zu sorgen; von der andern Seite war man verbunden, die Garderobe zu beschaffen, vor dem Grafen zu spielen, wann er es verlangte, vorausgesetzt, daß es vierzehn Tage vorher angedeutet sei, und der Hofdienerschaft freien Zutritt zu gewähren. Was diese Einrichtung von den ganz höfischen Instituten wesentlich unterschied und der Hamburger deutschen Oper annäherte, war, daß jeder, »wer diese Actiones zu sehen Belieben« trug, »gegen ein gewiß Geld« eingelassen werden mußte. So verlor sie nicht ganz den Boden des Volksthümlichen unter den Füßen; dies beweist die »Bier«-Operette, der am 6. Juli 1708 ein ähnliches Singspiel nachfolgte18, es beweisen es noch mehr die agirenden Personen, welche bald Schüler, bald arnstädtische Handwerker waren. Aehnliche Erscheinungen finden sich in andern thüringischen Residenzen, selbst in Weimar hatte der strenge Wilhelm Ernst ein »Opern-Haus«, ja sogar Hof-Comödianten19. Es war gut, daß nicht eben viele die Mittel besaßen, [224] sich ein solches Vergnügen ganz ohne Hülfe des Volkes zu verschaffen, sonst hätten sie es gern gethan. Die Arnstädter Theater-Einrichtungen sind Nachahmungen der braunschweigischen und durch Anton Günthers Gemahlin Augusta Dorothea, die Tochter des Herzogs Anton Ulrich, dorthin verpflanzt. Diese erbaute sich auch nach dem Muster des väterlichen Lustschlosses Salzdahlen die Augustenburg bei Arnstadt, wo zuweilen musikalische Aufführungen veranstaltet wurden; am 23. Aug. 1700 empfing sie dort ihre Eltern mit einer Cantate, die »Frohlockender Götter-Streit« betitelt und von einem Weimaraner gedichtet war, zu dem später Sebastian Bach noch in sehr nahe Beziehungen treten sollte20.

Damit wären die musikalischen Verhältnisse des damaligen Arnstadt erschöpft, so weit sie nachweisbar sind. Ihre Erwähnung geschah nicht, weil sie etwa auf Bach einen bestimmenden Einfluß geübt hätten, oder gar um einen solchen zu entwickeln. Dazu waren sie gegenüber einer so entschieden angelegten und energisch nach Innen arbeitenden Natur nicht angethan. Aber einen zwanzigjährigen Jüngling, der frisch ins Leben trat, mußten sie im flüchtigen Vorübereilen der Tage doch zuweilen streifen, und konnten seinen Geist zu wohlthätiger Erholung auf Augenblicke an sich ziehen. Vorzüglich mag die Aufführung volksthümlicher Singspiele seiner thüringischen Kernnatur ein Vergnügen gewesen sein. Nicht vom kunsthistorischen Standpunkte also, nur vom biographischen will hier seine musikalische Umgebung angesehen werden.

Bachs Beschäftigung mit dem Sängerchore, welcher für die Neue Kirche eingerichtet war, muß ihm bald das Verlangen erregt haben, für denselben sein Compositionstalent in Anwendung zu bringen, was auch den Wünschen des Consistoriums entsprochen haben wird. Einiges dieser frühesten Arbeiten auf dem Gebiete der concertirenden Kirchenmusik hielt er nach mehren Jahrzehnten in Leipzig noch einer neuen Bearbeitung werth. Diesem Einfalle des Meisters verdanken wir die Cantate auf den ersten Osterfeiertag: »Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen«, die aber so, wie sie vorliegt, auf [225] dreierlei verschiedenen Bestandtheilen beruht, welche ursprünglich nicht zusammengehörten21. Man bemerkt leicht, daß der größte Theil davon auf ein zusammenhängendes, siebenstrophiges geistliches Gedicht gesetzt ist, welches mit der Strophe beginnt:


 

Auf, freue dich, Seele, du bist nun getröst,

Dein Heiland der hat dich vom Sterben erlöst.

Es zaget die Hölle, der Satan erliegt,

Der Tod ist bezwungen, die Sünde besiegt.

Trotz sprecht ich euch allen, die ihr mich bekriegt.


 

Der Componist hat aus der ersten Strophe eine Arie für Sopran, aus der zweiten, dritten und vierten22 ein Arioso für Alt, Tenor und Bass, aus der fünften ein Duett und aus der sechsten und siebenten ein Arioso mit anschließender vierstimmiger Arie gemacht. Es ist ganz das Verfahren der älteren Kirchencantate. Man componirte damals, bis im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts eine andre Gestalt überall durchdrang, strophisch gebaute Lieder in den Formen, welche sich im Verlauf des Jahrhunderts allmählig herausgebildet hatten, und durchflocht sie nach Belieben mit Bibelsprüchen und Chorälen, oft bildeten diese auch den Hauptbestandtheil und ließen nur irgendwo eine mehrstrophige und auch strophisch componirte Arie zu; zuweilen bestand der Text nur aus Bibelworten, oder einem mannigfach behandelten Chorale. Recitative finden sich noch nicht, statt dessen wird das Arioso angewendet, bei dem der Takt streng gewahrt und die Instrumentalbegleitung in stetige Mitleidenschaft gezogen wird, ohne daß es zur wirklichen Arienform käme. Das Recitativ: »Mein Jesus wäre todt« ist also unbedingt erst bei der spätern Bearbeitung hinzugesetzt, wie auch hinsichtlich des Textes schon aus der freien und unregelmäßigen Gestaltung der Reimzeilen klar hervorgeht, einer in der kirchlichen Dichtung damals kaum gemachten und noch wenig bekannten Erfindung. Das ihm folgende Duett endlich: »Weichet, Furcht und Schrecken« kennzeichnet sich durch die ganz abweichende metrische Textgestalt ebenfalls als nicht mit dem Hauptgedichte zusammenhängend, während es in seiner musikalischen[226] Factur den Stempel der frühesten Zeit trägt. Da nun der Inhalt auch hier auf das Osterfest hinweist, so ist es wahrscheinlich, daß dieses Stück einer andern Cantate, etwa auf den zweiten Osterfeiertag componirt, entnommen, und mit dem später hinzu componirten Recitative (in dem sich Bach übrigens in meisterlicher Weise dem Jugendstile anzunähern gewußt hat) in eine ausgedehnte zweitheilige Ostercantate vereinigt wurde. Das folgende Tenor-Solo: »Entsetzet euch nicht« hat vermuthlich auch der zweiten Cantate angehört und ging dort dem Duett voran; seinen Platz unmittelbar hinter der Eingangsnummer kann es nicht gehabt haben, schon weil ein poetischer Zusammenhang ganz fehlen würde. Am besten fügt sich alles an einander, wenn wir nach dem anfänglichen Bass-Arioso uns gleich die Sopran-Arie: »Auf, freue dich, Seele« gesungen denken, und in der zweiten Cantate nach den tröstenden Worten des Engels das Duett: »Weichet, Furcht und Schrecken«. So ist beide Male die rechte Beziehung zwischen Bibelwort und kirchlicher Dichtung vorhanden, und überdies war es Brauch, dieser jedesmal nur einen und nicht mehre Bibelsprüche voran zu schicken23. Als Entstehungszeit der ursprünglichen Cantaten läßt sich mit ziemlichem Vertrauen Ostern 1704 bezeichnen24. Ihr Charakter im Allgemeinen wie im Besondern giebt den engen Anschluß eines jungen Componisten an die gleichgearteten Werke der damaligen mittel- und norddeutschen Meister zu erkennen, vorzüglich aber der letzteren. Es ist dies nach Bachs dreijährigem Aufenthalte in Lüneburg und seinem von dort aus gepflogenen Verkehre mit Hamburg leicht erklärlich. Es zog ihn aber auch ein tiefliegendes Gefühl innerer Verwandtschaft zu jenen hin; diesem Gefühle gab er nach einigen Jahren auch äußerlich noch einmal nach, und wir werden dann Veranlassung haben, den Hauptvertreter der kirchlichen Kunst im Norden genauer zu würdigen, und wie sehr das vorliegende früheste Bachsche Cantatenwerk sich an ihn lehnt, im Einzelnen zu erkennen. Hier kommt es fürs erste nur darauf an, von seinem Inhalte eine allgemeine Vorstellung zu erwecken. Das erste Stück (C dur), wie schon erwähnt, für eine Bass-Stimme und über den Bibelspruch gesetzt: »Denn du wirst meine Seele nicht in der Hölle lassen und nicht zugeben, daß dein Heiliger [227] verwese«, wird durch eine kurze Sonate eingeleitet, in welcher sich drei Trompeten nebst Pauken und die Streichinstrumente mit der Orgel chorisch gegenüber stehen. Auf fünf Takte Adagio, in denen fast nur vereinzelte breite und durch Fermaten beschwerte Accorde sich hören lassen, folgt ein fanfarenartiges dreitaktiges Allegro, welches sofort in den Gesang hinüberleitet. Das chorische Wechselspiel wiederholt sich hier zwischen Singstimme und Instrumenten: wenn erstere eine ariose Phrase vorgetragen hat, wird sie durch eine ähnliche der Geigen oder Trompeten beantwortet oder durch kurze instrumentale Imitationen verfolgt. Auch in der ältern deutschen Arie spielt das instrumentale Gegenstück, das Ritornell, eine große Rolle, und nicht nur regelmäßig am Schlusse jeder Strophe, sondern auch zwischen den einzelnen Verszeilen; von hier gelangte es in das formunsichere Arioso, einem in seiner Entfaltung stecken gebliebenen Recitative, woraus es aber Bach, der auch diese Form zu einer bestimmten Geltung erhob, später wieder entfernte. Die Declamation ist im vorliegenden Falle ziemlich steif und wirkungslos, auch die Behandlung der Bass-Stimme um nichts freier als bei seinen Vorgängern, welche oft so wenig mit ihr anzufangen wissen, daß sie einfach mit dem Grundbasse zusammen geführt wird, oder mit diesem in parallelen Terzen geht. Es folgt das Recitativ und darauf das Duett zwischen Sopran und Alt in A moll, nur von Orgel und Geigen begleitet, ein anmuthiges Stückchen, was freilich den Textinhalt nur in einzelnen flüchtigen Zügen wiederspiegelt, aber im Gegensatze zu dem ersten Arioso schlank gewachsen ist und unbelastet durch contrapunctischen Tiefsinn seines Weges wandelt. Die Form ist die der italiänischen Da capo-Arie, welche sich damals allmählig und halb verstohlen in der Kirchenmusik festzusetzen beginnt. Auch dem folgenden Tenor-Solo »Entsetzet euch nicht«, was zur Tonart C dur zurückkehrend wieder sämmtliche Instrumente wach ruft, liegt sie zu Grunde, muß sich aber, so gut es gelingen will, mit dem Arioso-Stil vertragen. Die melodischen Gestalten bieten neben vielem Gemeingut damaliger Zeit einen speciell Bachschen Zug bei den Worten »den Gekreuzigten«, wo der Gesang schmerzlich in den Harmonien herumwühlt, umbaut von einem streng vierstimmigen Satze, der geführt ist, als könnte es gar nicht anders sein; bei Bachs Vorgängern kann man dies unter ähnlichen Verhältnissen durchaus nicht immer sagen.[228] Echt jugendliche Schwungkraft erfüllt die gegensätzliche Stelle: »er ist auferstanden und ist nicht hie«, noch bedeutenderes Feuer, ja jünglingshaften Uebermuth athmet aber die anschließende Sopran-Arie »Auf, freue dich, Seele«. Die Form ist wieder ganz klein: es werden die Zeilen der Strophe ohne viel Wiederholung heruntergesungen, so daß der Componist großentheils in der Form der älteren geistlichen Arie steht; da aber das erste Thema zum Schluß, wenngleich noch so flüchtig und fast nur wie Ritornell, wiederkehrt, so deutet er andrerseits auf die italiänische Arie hinüber, während endlich die mehrfach auf höheren Tonstufen sich wiederholende, und durch Zwischenspiele beantwortete, gleiche Tonphrase das Arioso anklingen läßt. Das Stück ist eine unsichere Mischung verschiedener Formprincipe, aber anziehend, weil natürlich und wahr empfunden. Nun gelangen wir zu einem neuen, großen Arioso, an dem sich Alt, Tenor und Bass meistens nach einander betheiligen, zuweilen mit einander. Hier herrscht die Maßlosigkeit eines jungen Feuergeistes. Die Vorstellung des »rasenden« Höllenhundes peitscht den Alt in Sechzehntelpassagen durch Höhen und Tiefen, unter anstürmenden Octavengängen des Orgel-Pedals, die Stimmen suchen sich in trotzigen und höhnischen Herausforderungen an Hölle und Tod gegenseitig zu überbieten; der Bass preist Christus den Sieger in ziemlich zopfiger Weise, und obgleich durch Wiederkehr dieser Partie eine Art von Abrundung versucht ist, so macht das Gesammte doch einen recht zerfahrenen Eindruck. Das folgende zweite Duett in G dur, welches ebenfalls dem Sopran und Alt zugetheilt ist, zeigt, gleich den Lüneburger Choralpartiten, wie ungewöhnlich rasch Sebastian Bach in der Kunst selbständiger ungezwungener Stimmführung sich zur Meisterschaft entwickelte. Zwei ganz verschiedene Motive werden neben einander hergeführt, um den größten Theil des Duetts sich aus dieser Combination entwickeln zu lassen. Der Sopran singt:


 

2.


 

dagegen der Alt, nur um zwei Viertel später einsetzend:


 

2.


 

[229] Die Zusammenführung erlaubt den doppelten Contrapunct der Octave, der auch gebührend angewendet wird, und wenn die Geigen sich der beiden Motive bemächtigen, bringt die Bratsche jedesmal noch eine dritte charakteristisch bewegte Stimme hinzu. Die Achtelfigur des ersten Motivs aber zieht sich durch das ganze Stück und hält es in allen seinen Theilen kräftig umschlossen. Um Bachs Talent und Frühreife zu würdigen und zu begreifen, muß man sich immer nur wieder erinnern, daß eine flüssige Polyphonie garnicht die starke Seite der damaligen deutschen Meister war, deren Errungenschaften er sich nur hätte anzueignen brauchen, daß vielmehr zum eben so starken Theile ihm seine eigne Gestaltungsgabe hier weiter helfen mußte. Selbst wenn man annehmen wollte, der Meister habe bei der zweiten Ueberarbeitung in dem Duett gebessert, was geschehen sein mag, so kann die Feile doch nur an Einzelnes gelegt sein; das Bewundernswerthe darin konnte er unmöglich erst später hinzubringen, da es grade der treibende Keim des ganzen Stückes ist. Wie jene zwei Themen zugleich aufs treffendste die contrastirenden poetischen Gedanken ausdrücken, braucht wohl nicht bemerkt zu werden. Uebrigens ist der chromatische Gang ein Lieblingsmotiv Bachs, dem wir alsbald in einer andern Composition wieder begegnen werden, und das sich durch seine gesammte Entwicklung verfolgen läßt. Wir kommen zur Schlußnummer. Voran geht in wenig veränderter Fassung die Einleitungs-Sonate. Dann bildet sich allmählig eine mehrstimmige Arie (in der ältern Bedeutung des Wortes, wo darunter das subjectiv-religiöse Strophenlied verstanden wird) heraus, erst zu zwei und zwei, hernach zu vier Stimmen vorgetragen, die sich in keiner Weise über das erhebt, was man von den bessern Componisten in dieser Gattung gewohnt war. Unmittelbar anschließend ertönt der Choral: »Weil du vom Tod erstanden bist«; die Geigen begleiten die Singstimmen in repetirenden Achteln, nur daß die erste Violine über dem Chore als fünfte Stimme ihren eignen Weg geht. Nach jeder Zeile fallen die Trompeten und Pauken fanfarenhaft ein, der Schluß löst sich überall in freibewegte Imitationen auf. Alles dies entbehrt der Originalität und ist nach bestimmten Vorbildern gearbeitet.

Bach mag sich in der ersten Zeit seines Arnstädter Lebens noch mehrfach auf dem Gebiete der Kirchenmusik versucht haben; doch [230] ist es bis jetzt nicht gelungen, weitere Zeugnisse dieser Thätigkeit ans Licht zu ziehen. So viel steht aber fest, daß auch hier sein Hauptbestreben auf die Instrumentalmusik sich richtete, und er fortfuhr, durch technische und compositorische Studien, wie durch eingehende Prüfung der besten damaligen Meisterwerke sich nach dieser Seite auszubilden. In Arnstadt »zeigte er eigentlich die ersten Früchte seines Fleißes in der Kunst des Orgelspielens, und in der Composition, welche er größtentheils nur durch das Betrachten der Werke der damaligen berühmten Componisten und angewandtes eigenes Nachsinnen erlernet hatte«; so sagt der Mizlersche Nekrolog. Wir wollen die Bekanntschaft einiger dieser Früchte zu machen suchen.

Johann Jakob, der zweite von Sebastians lebenden älteren Brüdern, hatte seine Kunstpfeifer-Lehrjahre in Eisenach durchgemacht, und sich dann vermuthlich auf die Wanderung begeben, um »zu erforschen, was anderer Orten Manier in der Musik sei«, wie man zu sagen pflegte. Im Jahre 1704 mag er sich grade in dem mit Kursachsen verbundenen Polen befunden haben, als der Schwedenkönig Karl XII. in seiner abenteuerlichen Siegeslaufbahn dorthin vorgedrungen war. Bestrickt von dem romantischen Zauber, der den jungen Helden umgab und durch vortheilhafte Bedingungen angezogen – so können wir denken – entschloß sich der Zweiundzwanzigjährige, als Hautboist in die schwedische Garde einzutreten25. Während des Abschieds, den von seinen Geschwistern und Verwandten zu nehmen er noch einmal in die Heimath zurückkehrte, wird es gewesen sein, daß Sebastian eine Composition für ihn aufsetzte, die dem Scheidenden ein brüderliches Andenken in der Ferne sein sollte. Die Form legten die persönlichen Verhältnisse nahe. In fünf kleinen Sätzchen schilderte er die verschiedenen Vorgänge und Stimmungen, welche der Abreise des Bruders vorhergingen und durch ihr Bevorstehen bewirkt wurden. Diesen hängte er eine Fuge an, und faßte das Ganze zusammen unter der Benennung: »Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo« – Capriccio über die Abreise seines sehr geliebten Bruders26.

[231] Das Werkchen ist in der gesammten Bachschen Litteratur so einzig, daß es sich aus der genannten äußern Veranlassung allein doch schwer erklären ließe, wenn nicht das Muster dazu ohne Schwierigkeit beizubringen wäre. Dieses Muster boten Johann Kuhnaus sechs Sonaten zu biblischen Historien, welche vier Jahre vorher erschienen waren und als Arbeiten eines so geistreichen und gelehrten Musikers natürlich bedeutendes Aufsehen erregt hatten27. Hier wurden nämlich sechs dem alten Testamente entnommene Begebenheiten durch eine Reihe von Tonbildern illustrirt, ein Compositionsverfahren, womit übrigens Kuhnau in seiner Zeit nicht vereinzelt stand. Mattheson, Kuhnaus jüngerer Zeitgenosse, berichtet, und man hat es ihm seitdem oftmals nacherzählt, daß Froberger ganze Geschichten auf dem Clavier darzustellen gewußt habe, »mit Abmalung der dabei gegenwärtig gewesenen, und Theil daran nehmenden Personen, sammt ihren Gemüths-Eigenschaften«, er meldet auch, sich im Besitz einer Suite desselben Componisten zu befinden, »worin die Ueberfahrt des Grafen von Thurn, und die Gefahr, so sie auf dem Rhein ausgestanden, in 26 Noten-Fällen ziemlich deutlich vor Augen und Ohren gelegt« werde28. Verwandt, wenn auch nicht ganz übereinstimmend, ist die Neigung gewisser französischer Componisten, eines Couperin und Gaspard de Roux, in ihren Clavierstücken bestimmte Charakter-Typen darzustellen. Man darf wohl behaupten, daß zu allen Zeiten, so lange es eine selbständige Instrumentalmusik giebt, in bald mehr bald weniger anspruchsvoller Weise Versuche gemacht sind, die nur das reine Gefühlsleben abspiegelnden musikalischen Formen mit bestimmteren; durch Vorstellungen getragenen Empfindungen zu füllen. Das erste und überallhin vorbildliche musikalische Organ ist nun einmal die menschliche Stimme, welche ohne das gedankenbergende Wort nicht gedacht werden kann. Und so ist es begreiflich, daß der neunzehnjährige [232] Sebastian, durch Geist und technisches Geschick eingenommen, sich auch einmal auf einen Weg locken ließ, der für Geister seines Schlages nicht entdeckt war. Für uns ist es aber ein besonders erfreulicher Umstand deshalb, weil sich nun leichter, als sonst wohl möglich gewesen wäre, erkennen läßt, daß wirklich neben so manchen andern auch Kuhnau Einfluß auf Bach gewann, von dem in der That verschiedenes gelernt werden konnte.

Johann Kuhnau war im Jahre 1667 in Geysing am Erzgebirge geboren, seit 1684 Organist an der Thomaskirche in Leipzig, von 1701 an auch Cantor an der Thomasschule daselbst; hier starb er 1722 und Bach, der ihn schon von Weimar aus hatte persönlich kennen lernen, wurde sein Amtsnachfolger. Er besaß eine Begabung von phänomenaler Vielseitigkeit, hatte in der Sprachkunde, Mathematik, Rechtswissenschaft sich gründliche Kenntnisse erworben, war auch ein witziger musikalischer Schriftsteller. In der Geschichte der praktischen Musik hat es ihn berühmt gemacht, daß er zuerst die Form der mehrsätzigen Kammer-Sonate auf das Clavier übertrug. Der erste Versuch dieser Art erschien als Anhang zum zweiten Theile seiner »Neuen Clavierübung« im Jahre 169529 und besteht aus einem Praeludium nebst Fuge in B dur, einem Adagio in Es dur mit anschließendem, imitationsmäßig durchgeführtem Allegro in B dur, und der Wiederholung der beiden ersten Stücke. Er hat offenbar Anklang gefunden, denn nach Jahresfrist kam unter dem Titel: »Frische Clavierfrüchte« ein neues Werk mit sieben solcher Sonaten heraus. Auch abgesehen von dieser Neuerung war aber Kuhnau für die Claviercomposition ein entschieden schöpferisches Talent, während die wenigen Orgelchoräle, welche sich auffinden ließen, unbedeutend erscheinen; seine Kirchen-Cantaten werden anderswo zur Besprechung kommen. In der Behandlung der Fuge, besonders der Doppelfuge galt er noch über die Mitte des 18. Jahrhunderts hinaus hervorragenden Theoretikern, wie Mattheson und Marpurg, als Mustercomponist, und darf so auch jetzt noch angesehen werden, wenn man mehr die Klarheit und Eleganz als [233] Reichthum und Tiefe in Betracht zieht. Mit Pachelbel vergleichbar in bedeutsamer und sprechender Themengestaltung, mußte er doch durch den Charakter des Instruments, für das er schrieb, zu größerer Freiheit und Leichtfüßigkeit gebracht werden.

Die »biblischen Historien« enthalten ebenfalls treffliche Fugen, sind überhaupt durchweg so musikalisch interessant, daß sie noch jetzt jedem verständigen Spieler Genuß bereiten. Manches, was uns komisch darin erscheint und dem Kunstgenuß eine besondere Würze giebt, war vom Componisten durchaus nicht auf eine solche Wirkung angelegt. Er hat seine Aufgabe ganz ernsthaft genommen; verbot doch schon der biblische Gegenstand alle Spaßmacherei. Höchstens verräth sich in der Sonate über Jakobs Heirath ein fröhlich launiger Geist, aus andern spricht oft ein tiefer Ernst, der, wenn man sich über das Zwitterhafte der Gattung einmal hinweg gesetzt hat, sogar ergreifen kann. So ist es mit dem »vom David vermittelst der Musik curirten Saul«, zu dem der Verfasser folgende Anweisung giebt: »Also praesentiret die Sonata: 1) Sauls Traurigkeit und Unsinnigkeit, 2) Davids erquickendes Harfen-Spiel, und 3) Des Königs zur Ruhe gebrachtes Gemüthe.« Im trüben G moll, schwelgend in geistreich combinirten, melancholischen Harmonien beginnt sie; trotz der recitativischen Phrasen, die hier ihr Wesen treiben, ist doch überall Zusammenhang und Form; Sauls plötzlich aufzuckende »Unsinnigkeit« wird im 27. und 28. Takte allerdings höchst drastisch durch eine über dem liegenbleibenden Quint-Sextaccorde hinab quirlende Zweiunddreißigstel-Passage ausgedrückt. An den ersten Satz schließt sich eine sehr schöne Fuge mit diesem düster-brütenden Thema (ohne die Verzierungen):


 

2.


 

 

Den Contrapunct bildet ein unstet herumfahrendes Sechzehntel-Motiv, was als zweites Thema die ganze Fuge hindurch beibehalten wird; so enthalten die beiden Vorstellungen vom »traurigen« und »unsinnigen« Saul den poetischen Keim für eine echt musikalische[234] Entwicklung. Dann läßt sich Davids Harfe wie praeludirend vernehmen, dazwischen schwermüthige Betrachtungen des Königs, bis David in einem weit ausgeführten Zuge ununterbrochen fortspielt, diesen Gedanken:


 

2.


 

stets neu wiederholend und variirend, worauf denn im letzten Stücke des Königs zurückgebrachte Fassung durch ein wohlgefügtes in punktirter Achtelbewegung einherschreitendes Schlußstück abgespiegelt wird. Wie hier, so sind auch in den übrigen Sonaten vorzugsweise Situationen gewählt, welche eine möglichst einfache und ungemischte Empfindung durchdringt. Es sei noch das Programm der sechsten mitgetheilt: »1) Das bewegte Gemüth der Kinder Israel bei dem Sterbe-Bette ihres lieben Vaters. 2) Ihre Betrübniß über seinen Tod, ingleichen ihre Gedanken, was darauf erfolgen werde. 3) Die Reise aus Egypten in das Land Canaan. 4) Das Begräbniß Israels und die dabei gehaltenen bittren Klagen. 5) Das getröstete Herz der Hinterbliebenen.« Die Stimmungen sind zum Theil ähnliche, wie sie Bach bei der Abreise des Bruders an sich und den Seinigen beobachten konnte. In der That scheinen auch bestimmte musikalische Anklänge zu verrathen, daß ihm grade diese Sonate, bewußt oder unbewußt, vorschwebte. Kuhnaus Tonbilder sind aber überall breiter ausgeführt, als die Bachs; dies können wir nicht auf Rechnung von Anfängerschaft bei letzterem schreiben, weil er in andern Formen schon damals sehr ausführlich zu reden verstand. Vielmehr liegt da eine Andeutung, daß der jüngere Tonsetzer nicht mit dem vollen musikalischen Ernst ans Werk ging, wie der ältere, sondern im Gefühl, etwas halbkünstlerisches zu thun, die Composition mit einer Art von Humor betrieb, der sich ja der Wehmuth über das Scheiden des Bruders sehr wohl zugesellen konnte. Es ist auch bei der Schilderung von Stimmungen, an welchen man persönlich so sehr betheiligt ist, gar nicht anders möglich; hätte er selbst gejammert [235] und getrauert, wie er es schildert, so wäre ihm das Componiren sicher vergangen. Zudem bricht der objective Musiksinn in der Schlußfuge so siegreich durch, daß man nicht mehr zweifeln kann, wie Bach selbst diese Programm-Musik aufgefaßt wissen wollte. Doch gehen wir der Reihe nach! Das erste Stück »ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben [den Bruder] von seiner Reise abzuhalten«; das Schmeicheln wird durch eine sehr anmuthige, ordentlich streichelnde Figur versinnlicht:


 

2.


 

die übrigens auch in andern Compositionen aus der frühen Periode zu Tage tritt. Zweites Stück: »Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen«; Fuge in G moll, 19 Takte lang, verliert sich aber sehr bald in entfernte Tonarten, was möglichenfalls auch eine beabsichtigte Symbolik sein könnte, denn die Modulationen gehen weich und unmerklich vor sich, langt endlich mit dem Ausdrucke Jemandes, der sich ganz müde gesprochen hat, auf der Dominante von F moll an. Da nichts auf den Bruder Eindruck macht, beginnt im dritten Theile »ein allgemeines Lamento der Freunde«. Zwei Bässe dirigiren als ostinati fast das ganze Stück; der zweite von ihnen:


 

2.


 

ist jenes bei der Cantate schon angekündigte Lieblings-Motiv Bachs: es findet sich weiter noch im ersten Chor der Cantate: »Weinen, klagen«30 und von dort herüber genommen im Crucifixus der H moll-Messe, im Anfangschor der Cantate: »Jesu, der du meine Seele«31, im Anfangschor der Cantate: »Nach dir, Herr, verlanget mich«, im Schlußsatze der Fis moll-Toccate für Clavier32, in einer Clavierfuge aus A moll33 und anderwärts. Die Oberstimme hat zu diesen Bässen [236] schluchzende oder chromatisch winselnde Gänge auszuführen, in dem Ganzen ist die Form des Passacaglio leicht zu erkennen und die große Leichtigkeit und Mannigfaltigkeit in der Behandlung bei einem kaum zwanzigjährigen Tonsetzer nicht genug zu bewundern. Der so trübselig und allein abziehende Bass am Ende erinnert wieder einmal an Böhm, dessen Einfluß auch in dem reichen Verzierungswerk der ersten beiden Sätze etwas zu erkennen ist. Im vierten Stücke nun »kommen die Freunde, weil sie doch sehen, daß es anders nicht sein kann, und nehmen Abschied«; hierzu haben sie nur elf Takte lang Zeit, denn die Post hält schon vor der Thür – fünftes Stück: Aria di Postiglione, ein allerliebstes zweitheiliges Tonbildchen, in welchem eine fröhliche Melodie mit dem Posthorn-Signale abwechselt, im zweiten Theile liegt sie im Bass und nimmt sich aus, als könne sie nie anderswohin gehört haben! Dann fährt der Wagen fort und der Tondichter ist allein. Er benutzt seine Muße dazu, über das Posthorn-Signal eine Doppel-Fuge zu schreiben.

Diese Fuge müssen wir noch etwas genauer betrachten. Sie ist das einzige weit ausgeführte Musikstück des Capriccio und auch das musikalisch werthvollste. Man sieht es deutlich, daß Bach, wenn er dieses Clavierwerk zum Andenken für seinen Bruder verfaßte, vor allem die Absicht hatte, ihm ein tüchtiges Musikstück zu schreiben, in dem er zeigte, was er zu leisten vermöge. Die Schilderung der genannten Situationen schickte er voran, weil die Gelegenheit günstig war, auch einmal in dieser Gattung es dem Kuhnau nachzuthun; er behandelte sie mit jener leichten Ironie, die ja das Interesse für den Stoff nicht ausschließt und die Herrschaft über ihn sichert. Mußten wir schon dort einen hohen Grad von Meisterschaft bewundern, so zwingt die Betrachtung der Fuge zum Erstaunen, ja man würde an der frühen Entstehungszeit des Capriccio zweifeln, wenn eben nicht die Anlehnung an Kuhnau das Räthsel löste. Die Erscheinung wiederholt sich annähernd, welche bei den Böhmschen Choralpartiten zu bemerken war. Bach besaß ein so merkwürdiges formales Talent, und die Energie seines Studiums war so groß, daß es seiner jugendlichen Empfänglichkeit in kurzer Zeit gelang, den Stil eines andern Meisters völlig in sich hinein zu nehmen. Dabei verzichtete er durchaus nicht auf die persönliche Eigenthümlichkeit. Kuhnau muß, wenn ihm je diese Fuge zu Gesicht gekommen ist, sich selbst darin sofort [237] wieder erkannt, aber auch von ferne das Wehen eines Geistes gespürt haben, der anders und mächtiger war, als er. Um das äußerliche zuerst zu nennen, so ist schon die ganze Spieltechnik der Fuge eine andre, als die spätere und eigentliche Bachsche, die an die Selbständigkeit und Geschmeidigkeit der einzelnen Finger und gelegentlich auch an Lauffertigkeit die höchsten Anforderungen stellt, aber einen ruhig und gleichmäßig fließenden Grundcharakter hat und allem Springen und Hinundherfahren entgegengesetzt ist. Es kann sich aber jemand sehr in die Bachsche Spielweise hineingefunden haben und grade in dieser Fuge auf ungewohnte technische Schwierigkeiten stoßen. Die Themen ahmen beide das Posthorn nach, das zweite in Anlehnung an die Aria di Postiglione:


 

2.


 

das erste in neuer Erfindung:


 

2.


 

Die Combination erinnert an die erwähnte Doppelfuge aus Kuhnaus Saul, dann stellenweise sehr bestimmt an eine Doppelfuge aus dessen Clavier-Uebung, für welche Bach eine besondere Vorliebe gehabt haben muß, denn er bearbeitete das erste Thema derselben noch in einer besondern Composition. Zu den beiden Hauptthemen gesellt sich ein dritter Contrapunct, den man fast als selbständiges Thema betrachten könnte, mit solcher Consequenz kehrt er wieder, hebt sich von den andern ab, und fügt sich in ihre Verbindung ein, wie hineingewachsen. Während die Fuge in frischem Zug ununterbrochen fortströmt, tauchen allerhand interessante thematische Bildungen[238] auf, besonders aus dem zweiten Thema höchst natürlich sich entwickelnd, so daß in der That alle Satzkünste hier in Anwendung gebracht sind. Es sollte ein rechtes Ricercar, eine Meisterfuge werden, womit er den Bruder beschenkte, und wäre alles, was er bietet, sein eigen, so würden auch wir ihn schon jetzt einen Fugenmeister nennen müssen.

Ich sagte zuvor, das Capriccio stehe unter Bachs Werken einzig da. Keineswegs aber ist es das einzige, in dem er den Spuren Kuhnaus gefolgt ist, und vielleicht entzog uns nur ein Zufall die Gewißheit, noch ein zweites Stück Programm-Musik von ihm zu besitzen. Denn eine zweite nach Kuhnaus Vorbilde gearbeitete mehrsätzige Composition liegt sicherlich vor34. Schon daß sie ebenfalls den Namen »Sonate« trägt, der für vieltheilige Claviercompositionen erst von Kuhnau aufgebracht und durchaus nicht gleich allgemein geworden war, würde unsre Ansicht ziemlich fest begründen35. Aber auch der innern Anzeichen sind genug, um einen so bestimmten Ausspruch zu erlauben. Der erste Satz (D dur 3/4) ist in seiner Construction und seinem gänzlich homophonen Wesen von dem, was man Bachisch nennt, so grundverschieden, daß Niemand, der ihm von den folgenden Stücken abgetrennt begegnen würde, auf den wahren Componisten rathen dürfte. Dem Stile Kuhnaus aber, welcher seinen musikalischen Absichten gemäß vielfach homophone, liedhafte Sätze bringt, ist er aufs nächste verwandt, ja ich stehe nicht an, zu behaupten, daß er gradezu nach einem bestimmten Stücke aus der »Historie« von Jakobs Heirath gemacht ist. Ich meine den Abschnitt, welcher die Ueberschrift trägt: »Der in der Hochzeitsnacht vergnügte Bräutigam, darbei ihm zwar das Herz was böses sagt, er aber solches bald wieder vergißt und einschläft.« Takt, Tonart, Ausdehnung und Zeichnung des Hauptgedankens, Gesammtcharakter, alles stimmt überein. Hier wie dort setzt sich das Ganze aus meist achttaktigen, arienmäßigen Perioden [239] zusammen, die jedesmal eine vollständige und fast immer dieselbe Cadenz machen, nur ist Kuhnau kürzer und durchsichtiger, Bach massiger in der Harmonisirung und fast noch einmal so lang, obgleich er durchaus nicht mehr zu sagen hat, als jener; hier verräth sich der Anfänger. Die Aehnlichkeit geht aber noch weiter: wie Kuhnau nun unter der Ueberschrift: »Jakobs Verdruß über den Betrug« einen kurzen, aus recitativischen Phrasen sich bildenden Satz bringt, genau so schließt Bach ein vierzehntaktiges Stückchen mit Recitativ-Nachahmung an, woraus sich dann ein gebundener polyphoner und ebenfalls in Kuhnaus Weise gehaltener Stil entwickelt (man vergleiche das erste Praeludium des ersten Theils der Clavierübung), der sehr schön auf die Dominante von H moll hinüberleitet. Das folgende Stück ist eine Fuge mit diesem Thema36:


 

2.


 

ein ausdrucksvolles und schon merklich selbständiges Stück, nur etwas zusammengeballt durch die einander auf die Fersen tretenden Engführungen. Aus den zuweilen nur durch ruhige Accordfolgen gebildeten Contrapuncten kann man Bach wenigstens seinen Vorbildern gegenüber keinen Vorwurf machen, auch nicht aus der nach den strengsten Gesetzen zuweilen unerlaubten Beantwortung des Themas, Gesetzen, die er ja selbst erst zu ganzer Gültigkeit erheben sollte. Es kommt nun ein schönes Stückchen Adagio, ebenfalls im gebundenen Stil und von einer Innerlichkeit, wie sie Kuhnau nicht zu Gebote stand; dann in der Haupttonart die Schlußfuge, zu welcher der ältere Meister wieder sein Theil beigesteuert hat, vielleicht gar aus dem in der Anlage sonst verschiedenen ersten Satze von Jakobs Heirath. Interessanter noch für uns, als der musikalische Werth dieses leichtgeschürzten Satzes ist die Ueberschrift, welche er in der Handschrift trägt: Thema all Imitatio Gallina Cucca37. Also das Gackern der Henne soll es bedeuten, dieses lustige Thema:


 

2.


 

[240] mit jener, es das ganze Stück hindurch begleitenden Gegenbewegung!:


 

2.


 

Es ist wohl nicht zu kühn, wenn wir, eben von dem Capriccio herkommend, hier ein ähnliches Verhältniß argwöhnen, wie es dort zwischen der Schlußfuge und dem Uebrigen bestand. Beide Fugen haben viel Verwandtes im Allgemeinen, nur daß die zweite flüchtiger dahingaukelt, was vielleicht durch den Gegenstand veranlaßt sein mag, welcher etwa dem Componisten vorschwebte. Daß überhaupt bestimmte Vorstellungen walteten, legt auch der Uebergang vom letzten Adagio nahe, der musikalisch so unmotivirt ist, daß er etwas besonderes scheint sagen zu wollen, es legt es das genannte Recitativ nahe und überhaupt die Anlehnung an Kuhnaus Historie. Welche es aber gewesen sein könnten, vermag ich nicht zu sagen, und Vermuthungen nach dieser Seite hin anzustellen, soll andern überlassen bleiben.

In jedem Falle war es die poetisirende Richtung zum geringsten Theile, welche Bach in Kuhnaus Compositionen anzog. Gab er sich ihr auch einigemale hin, so fehlen doch deutliche Anzeichen nicht, daß er es mehr in humoristischer Weise that. Bei dem Verhältniß, was zwischen Vocal- und Instrumental-Musik besteht und bei der viel innigeren Verbindung, welche damals noch unter diesen beiden Hauptgattungen herrschte, als hundert Jahre später, würde es sein Talent auch nicht verunehren, wenn er wirklich einmal geglaubt hätte, diese Kunstart sei etwas, besonders da das Ansehen eines Kuhnau sie deckte. Aber wenn nicht noch unbekannte Schätze Bachscher Instrumentalcompositionen ans Licht gefördert werden, die uns eines andern belehren, so bleibt die Wahrheit bestehen, daß er nach diesen Jugendversuchen niemals während eines langen, noch fast fünfzigjährigen Künstlerlebens wieder auf diese Gattung zurück kam. Einem [241] so urmusikalischen Genie, wie dem seinigen, mußte es unerträglich sein, die Kunst auf Krücken wandeln oder Magd-Dienste thun zu sehen. Das producirende oder reproducirende Hineinziehen eines Musikstücks in das Empfindungsgebiet einer bestimmten äußerlichen Vorstellung dient allzuhäufig nur der Flachheit und hilft sie befördern. Für die Erfindungskraft des Componisten wird es ein Reizmittel, wenn die natürliche Energie des musikalischen Schauens ermattet, und die Theoretiker zu Bachs Zeit, welche nach dem Schema der Rhetoren des Alterthums eine vollständige Topik der Erfindung aufstellten, weil dieselbe ihnen freiwillig wenig oder nichts gewähren wollte, fanden in dem Verfahren, die Phantasie durch solche Vorstellungen zu entzünden, den sogenannten locus adjumentorum. Das Einbildungsvermögen der Hörer aber, weit entfernt, zum rechten Verständniß leichteren Zugang zu erhalten, wird da durch auf Nebendinge abgezogen und der musikalischen Hauptsache entfremdet. Es kommt freilich auf die Art der Vorstellungen an, unter denen die Musik wirken soll. Die Franzosen, im allgemeinen für Instrumentalmusik wenig begabt, liebten es im kleinen Clavierstück, dem Einzigen fast, wo sie schöpferisch auftraten, dieses als Portrait- oder Genrebild-Unterschrift für L'Auguste, La Majestueuse, Les Abeilles u.s.w. zu gebrauchen, zeigten sich also auch hier theatralisch. Ueber den Deutschen Kuhnau wurde schon gesagt, daß er meistens empfindungsgesättigte Situationen zum Ausdruck bringt, wenngleich auch er zuweilen zu sehr äußerlichen Mitteln greift, z.B. dem Clavier den Vortrag von Recitativen zumuthet, und in der Anreihung verschiedener Tonbilder, deren geforderten poetischen Zusammenhang zu verdeutlichen der Musik unmöglich fällt, geradezu unkünstlerisch ist. Wird aber mit rein musikalischen Mitteln gewirkt und bezweckt die poetische Einmischung nur die Abgränzung eines einzigen bestimmten Empfindungskreises, in dem die Musik nunmehr unbehindert ihr Wesen entfalten kann, so dient dies allerdings sehr dazu, die Stimmung zu vertiefen, verrückt dann aber das Gleichgewicht zwischen objectiven und subjectiven Elementen im Kunstwerk wesentlich zu Gunsten der letzteren. Denn das Allgemeingültige im Kunstwerk ist die Form, in welche bei einem Musikstück der Gedanke oder die Vorstellung nicht eingeht. Alle solche Kunstideen sind für die einsame Träumerei, und [242] haben hier kaum geringere Berechtigung, als in der Dichtkunst das lyrische Lied, was ja nach Goethes Ausspruch eigentlich immer ein Gelegenheitsgedicht sein sollte; der größeren Menge sind sie höchstens in der kleinsten Form verständlich und dann doch selten sympathisch. Will der Künstler sie einer solchen sicher vermitteln, so bedarf er nothwendig des Beistandes der Menschenstimme, in deren Gesange die Natur das erläuternde Wort mit dem Tone zum einheitlichen Kunststoffe verschmolz. Bachs Entwicklung legt nicht nur gegen jenes musikalische Fabuliren ein schwerwiegendes Zeugniß ab, sondern bestätigt auch die Richtigkeit des letztgenannten Grundsatzes in nachdrücklichster Weise. Denn der Pachelbelsche Orgelchoral, hervorblühend aus all den Beziehungen, welche sich zwischen der Persönlichkeit und einer kirchlichen Melodie knüpften, und, was an heiligen Regungen und unsterblichen Erinnerungen des Künstlers sich um sie webt, in geheimnißvollen Klängen austönend – ist er etwas anderes, als solch ein subjectives Stimmungsbild? Eine lange Zeit hat vorzugsweise dieser Form Sebastian die Vollkraft seines Genies zugewendet und eine Empfindungswelt vor uns erschlossen, die tief und unausmeßlich ist, wie das Meer. Aber Künstler sein heißt das innerlich Erlebte äußerlich gestalten, und zu immer größerer Objectivirung eines Inhalts drängt, wie die gesammte Kunst, so die Entwicklung jedes echten künstlerischen Individuums. Den Orgelchoral zu seiner letzten und höchsten Vollendung erheben, das ist der Sinn von Bachs Choralchören und den ihnen verwandten Tongestalten, ein Weg, den er schon in Weimar betrat, und dann während seiner siebenundzwanzig Leipziger Jahre mit einer Energie verfolgte, welche eben so riesig ist, wie sein Genie.

Der zweite Satz der eben betrachteten Bachschen Sonate bietet eine selbständig geführte Pedalstimme, während im Uebrigen die Composition nur den Händen zu thun giebt. Es kehrt hier eine Erscheinung wieder, die schon oben bei einer Choralbearbeitung flüchtig berührt wurde. An einer ganzen Reihe von Bachschen Werken läßt sich beobachten, wie er erst allmählig zu einer durchgeführten selbständigen Verwendung des Pedals sich durcharbeitete. Allerdings herrschte hier auch bei seinen Vorbildern manche Freiheit, da sie sich, etwa mit Ausnahme des Orgelchorals, nicht streng an einen Satz von sich gleich bleibender Stimmenzahl banden, aber das Verhältniß[243] ist doch immer so, daß das Pedal einen wesentlichen Theil der Composition darzustellen hat, sobald es überhaupt in Mitleidenschaft gezogen ist. Ein vereinzeltes Auftreten aber inmitten eines Stücks und spurloses Wiederverschwinden, wie in der Sonate, ist das Zeichen des Anfängerthums: dergleichen hätte sich weder Pachelbel noch Buxtehude erlaubt. Nicht viel gereifter ist es, wenn erst gegen den Schluß einer Composition das Pedal angewendet wird, sei es in selbständiger Vorführung des Themas oder zum Zweck einer glänzenderen Schlußcadenz; hier liegt freilich eine künstlerische Absicht vor, die aber doch auf einen mehr äußerlichen Effect gerichtet ist. Endlich stößt man auf einzelne Pedaltöne, die als Orgelpunkte oder zur tieferen Gründung eines wichtigen Accords dienen sollen; dies Verfahren, das auch andre Componisten seiner Zeit kennen, verflicht das Pedal so gut wie garnicht in den Organismus des Stücks, und geht nur auf einen nebensächlichen Aufputz. Daher findet es sich auch, wenn nicht alle Zeichen trügen, noch in den ersten Jahren von Bachs zweitem weimarischen Aufenthalte, bis es mit der stetig zunehmenden Vertiefung des Künstlers ganz verschwindet. Die andern Arten der Pedalverwendung weisen auf seine früheste Schaffensperiode zurück, und wer sich vergegenwärtigt, mit welch polyphoner Lebendigkeit er schon vor dem zwanzigsten Jahre zu schreiben wußte, wird Compositionen dieses Merkmals selbst in der zweiten Hälfte der Arnstädter Zeit kaum mehr für möglich halten. Ganz äußerlich betrachtet legte schon das häufige Orgelspiel allein, wozu ihm doch in Arnstadt zuerst volle Gelegenheit geboten wurde, eine selbständige Beschäftigung der Füße nahe, wie denn überhaupt seine compositorischen Leistungen nach dieser Richtung hin als Gradmesser und Spiegel seiner technischen Fertigkeit angesehen werden dürfen. In dieser wie in jenen ging es mit reißender Schnelligkeit vor- und aufwärts; wir wissen, daß er ganze Nächte hindurch saß, um dem Drange seines Genius zu genügen38.

Eine solche durch willkürlichen Pedalgebrauch gekennzeichnete Composition hat ein besonderes biographisches Interesse, da sie mit Sebastians ältestem Bruder in Verbindung steht. Wie dem Johann Jakob, als er mit den Schweden ziehen wollte, ein musikalisches Andenken [244] überreicht wurde, so erhielt auch Johann Christoph bei einer festlichen Veranlassung sein tönendes Angebinde. Dort wie hier wurde der Name »Capriccio« gewählt, und wie dort die Veranlassung der Composition genau angegeben war, hier wenigstens hinzugefügt: zu Ehren Johann Christoph Bachs aus Ohrdruf39. Der Gedanke, daß es auch hier wieder hauptsächlich auf einen Beweis der erworbenen Kunstfertigkeit und der gemachten Fortschritte abgesehen sei, liegt um so näher, als das Werk dem einstmaligen Lehrer – vielleicht zu dessen Geburtstage – überreicht wurde. Schwerlich ist es später als 1704, vermuthlich gar noch in Lüneburg componirt. Die Entwicklung eines Künstlers geht nicht immer in gerader Linie aufwärts, sonst wäre das letztere sicher, da der Werth des zweiten Capriccios unzweifelhaft geringer ist, als der des ersten. Es besteht nur aus einem fugirten Satze, der Name war damals für freie Fugenformen nicht ungebräuchlich. Frei ist sie insofern, als neben dem Thema darin noch allerhand andre Elemente ihr unstetes Wesen treiben: anspruchsvolle Contrapuncte, die es zu nichts bringen, flüchtig spielende Gänge, drein fahrende Masseneffecte. Diese ungebundene Behandlung der Fuge verräth eben so sehr die Einwirkung der nordischen Schule, als die Geschicklichkeit in thematischer Entwicklung, welch letztere dem Stücke vorzugsweise sein Interesse verleiht. Sonst kommt es trotz seiner äußerlichen Breite (126 2. Takte) zu keiner rechten Entwicklung: ohne Berg und Thal führt der Weg in einer nicht grade unfreundlichen Ebene weiter. Die Schuld trägt wohl zum großen Theile das Thema:


 

2.


 

 

was mit dem straffen, frischen Posthornthema verglichen sich schlendernd, [245] fast schläfrig fortbewegt. Im 67. Takte ist es, wo plötzlich das Pedal herangezogen wird, aus keinem andern Grunde, als damit die beiden Hände über dem Basse ihr imitatorisches Spiel ausführen können; es verschwindet nach wenigen Takten, um gegen das Ende zu ähnlichem Zwecke noch einmal wiederzukehren, wo in brillanten Zweiunddreißigstel-Passagen dem Spieler Gelegenheit wird, sich zu zeigen. Man darf annehmen, daß auch sonst bei passender Gelegenheit der Bass durch das Pedal willkürlich verstärkt wurde, nothwendig ist es aber nur an den beiden bezeichneten Stellen. Seinem Charakter nach ist übrigens dies Capriccio für Cembalo bestimmt.

Ein Werk aber, an dem die orgelmäßige Haltung unverkennbar ist und das wegen jener unentwickelten Pedalbehandlung gleichfalls hierher gehört, liegt in einem Praeludium nebst zugehöriger Fuge in C moll vor40. In diesem Falle ist die Entstehung während der ersten Arnstädter Jahre unzweifelhaft: die Wonne, mit welcher der Componist in dem unbeschränkten Tonmaterial der Orgel badet, leuchtet aus jedem Takte hervor. Das Praeludium verwendet das Pedal, abgesehen von einem einleitenden, mehrtaktigen Solo, nur in gehaltenen Grundtönen, über denen sich ein prächtig strömender imitatorischer Satz aufbaut, der wieder einmal Bachs frühe Meisterschaft im polyphonen Gewebe beweist; nur zwei Stellen (Takt 20 und 24) sind auf damalige Manieren zurückzuführen, die Bach später gänzlich abstreifte. Die Fuge ist dermaßen gestaltet, daß erst ganz gegen Ende das Pedal und zwar mit dem Thema eintritt, von den Manualen nicht contrapunctirt, sondern durch Accordschläge nur harmonisch überdacht. Die Kunst des Satzes wie des Spiels mag noch nicht weiter gereicht haben; es ist aber ein schlagender Beweis von der Harmonie, in welcher sich bei Bach der äußere Musiker mit dem innern entwickelte, daß der unmittelbare Eindruck doch keineswegs der einer halbgestalteten Intention ist. Seine Gedanken fügten sich ganz in die Form, welche seine Spiel-Fertigkeit ihnen eben geben konnte; diese ist noch nicht nach allen Seiten gleichmäßig ausgebildet, aber das Kunstwerk ist wie aus einem Guß. So mag auch der späte Eintritt des Pedals seinen äußern Grund darin haben, daß der Componist [246] dasselbe obligat ganz durchzuführen noch nicht im Stande war; es ist aber jedem erkennbar, daß damit zugleich eine wohlbedachte Steigerung gegen den Schluß hin erzielt wird. In der That lodert hier ein echt jugendliches Feuer in hellen Flammen; die dröhnend auf- und abtaumelnden Sechzehntel-Gänge des Pedals mit den wuchtigen Accordschlägen der Hände sind von ganz bedeutender, durchaus orgelgemäßer Wirkung, auch in den brausenden Tonfluthen des Manuals, die zum Schluß hin alles überschäumen, lebt weit mehr als nur das Verlangen nach virtuosem Glanz. Betrachtet man den Bau der Fuge im Uebrigen, so verräth auch die Art, wie die Thema-Einsätze auf einander folgen, viel mehr das Bestreben, sich in einem gewaltigen Tonreiche frei zu tummeln, als den höheren und höchsten Anforderungen der Fugenform gerecht zu werden. Daß dies überhaupt ein Kennzeichen der vor-Bachischen Periode ist, daß dieselbe von strenger Polyphonie mehr oder weniger fern vor allem darnach trachtete, das gesammte Tonmaterial der Orgel zur Geltung zu bringen, ist bereits nachdrücklich von uns hervorgehoben. Erst Bach selber war es vorbehalten, die vollste Herrschaft über den Stoff im Dienste des höchsten Ideals zu verwenden. Das geschah zur Zeit seiner Meisterschaft, wo er strenger und strenger gegen sich selbst werdend von den Freiheiten einer früheren Zeit nur noch ganz seltene Spuren merken läßt. Für jetzt macht er noch umfassenden Gebrauch von ihnen. Die C moll-Fuge ist dreistimmig – bis zum Eintritt des Pedals, wo alle Stimmigkeit aufhört. Individuen aber, welche an der Entwicklung des Stücks durch regelrecht abwechselnden Vortrag des Themas sich betheiligten, sind jene drei Stimmen nicht. Das Thema setzt auf der Tonika der kleinen Octave ein, und steigt in vier einander folgenden Eintritten immer weiter auf bis in die zweigestrichene Octave; vom dritten Eintritte ab liegt es natürlich beständig in der obersten Stimme. Das formgebende Princip ist hier also nichts weiter, als der Wechsel zwischen Tonika und Dominante und ihre innern Beziehungen zu einander; in Wahrheit ist dies, wie für alle Instrumentalformen, so auch für die Orgelfuge die naturgemäße Grundlage. Volle Beseelung zu erlangen, ein Ziel, was andre Formen auf anderm Wege erreichen konnten, war ihr jedoch nur möglich durch Zurückziehung auf eine feste Stimmenanzahl, welche wie Persönlichkeiten mit einander umzugehen schienen. Denn es ist[247] Aufgabe der Form, den Stoff zum Leben zu erwecken, und der Orgelton gehört zu den leblosesten, die es giebt.

Zu den anziehendsten Jugendwerken Bachs ist eine andre Fuge aus C moll zu rechnen, die sich als ungefähre Altersgenossin der vorigen darstellt41. Anziehend ist sie auch deshalb, weil sich Gestalten wie das Thema in verschiedenen Fugen finden und zwar immer reifer und inhaltvoller, so daß ein Grundelement des Bachschen Wesens darin zum Ausdruck zu kommen scheint. Wundervoll erblüht ist es in der dreistimmigen Fuge der E moll-Toccate für Clavier, zu welcher unsere fast die Vorstudie zu sein scheint: so verwandt ist Inhalt und Behandlung. Aber auch an sich sagt sie schon genug, und es ist sehr zu bezweifeln, ob irgend einem andern jener Zeit ein solches Thema eingefallen wäre:


 

2.


 

Die zugleich harmonische wie melodische Bewegung freilich von der zweiten Hälfte des dritten Taktes an war ein beliebtes und zweckmäßiges Mittel, die Schallmassen der Orgel in Fluß zu bringen und Würde mit Lebendigkeit zu vereinigen, aber man betrachte den Anfang – welches Schweben, welche Unbestimmtheit in Rhythmus und Harmonie, da es doch Grundregel war und ist, im Fugenthema sowohl Tonart wie Gliederung sofort klar hervortreten zu lassen! Hier weiß man anfangs nicht, ob Es dur oder C moll gemeint ist, und wenn dieser Zweifel sich mit dem folgenden Takte löst, so hat man wegen der vier Sechzehntel des dritten Viertels so lange die Wahl, sie als F moll [248] oder As dur anzusehen, bis der Eintritt des Gefährten für die Dur-Tonart entscheidet. Immer aber bleibt die Wendung ungewöhnlich und von großem harmonischen Reize. Die rhythmische Unbestimmtheit dauert noch länger. Bis zum dritten Viertel des vierten Taktes weiß nur der Spieler oder Leser, auf welche Töne die Hauptaccente des Taktes fallen, der unvorbereitete Hörer dagegen wird sich die Tonreihe so vorstellen:


 

2.


 

da die Orgel nicht zu betonen vermag, und erst im vierten Takte wird sein Gefühl zurecht gerückt werden. Dies Hervortauchen aus dem subjectiven Dämmerlicht in die helle Objectivität ist ein tief gegründeter Zug Bachscher Kunst; ein Blick auf die Fis moll-Fuge im zweiten Theil des wohltemperirten Claviers vermag zu zeigen, wie er ihm bis in sein spätes Lebensalter nachgab. Von dem Thema aus durchdringt das ganze Stück ein Schwellen und Dehnen, ein Verlangen nach dunkel geahnter Seligkeit; ganz wundersam und allem dagewesenen unvergleichbar klingt in Stellen wie diese:


 

2.


 

der Sextaccord von As dur mit oben und unten liegender Terz und im folgenden Takte der trüb-schwankende verminderte Dreiklang. Immer wieder kommt auch der Componist auf diese Contrapunctirung [249] zurück, als könne er sich nicht satt daran hören. Der durchgehende Gefühlsstrom ist so intensiv, daß man darüber gern vergißt, wie wenig contrapunctischen Reichthum die Fuge entfaltet, und mit wie geringen Veränderungen immer die gleichen Combinationen nur in verschiedenen Versetzungen wiederkehren. Es ist ein unstet reizendes Auf- und Abfluthen, das uns an kein Ziel zu tragen bestimmt ist. Zum Schluß tritt Pedal ein, um wenigstens äußerlich anzuzeigen, daß jetzt ein Ende gemacht werden soll; ein nachdrückliches Solo desselben muß es versichern; wir würdens sonst nicht glauben.

Die Frage drängt sich auf, was Bach in diesen Jahren des Knospens und fröhlichen Erblühens weiteres im Orgelchoral geleistet habe. Denn daß er auch diese Gattung, der einige seiner frühesten Versuche angehörten, der er als Meister in unermüdlicher Thätigkeit zugewendet blieb, und auf welche ihn sein Beruf fortgesetzt hinwies, jetzt nicht vernachlässigt hat, ist unzweifelhaft. Vor allem wird man im Auge behalten müssen, daß es Pachelbels Richtung war, in welche der Knabe an der Hand des Bruders zuerst eingeführt worden, und die ihm, als er nach dreijährigem Ausfluge ins Thüringische zurückkehrte, wieder von allen Seiten anregend entgegentrat. Nachdem er sich im Norden von dem originellen Geiste der dort geltenden Meister zeitweilig hatte ganz erfüllen lassen, irren wir schwerlich in der Annahme, daß er mit gereifterer und bereicherter Kraft von neuem die Kunstformen begrüßte, welche er mit Recht seine vaterländischen nennen konnte. Sie waren ja auch von allen die tiefsinnigsten und entwicklungsfähigsten, sie der eigentliche Grund und Boden, aus dem wie eine Eiche voll sinniger Majestät der Bachsche Orgelchoral erwuchs, während alle andern Einflüsse nur als zugeleitete befruchtende Gewässer gelten dürfen. In Pachelbels Bahnen vorzugsweise weiter schreitend werden wir uns ihn während der ersten Arnstädter Jahre zu denken haben. Nur wenig freilich ist es, was mit einiger Wahrscheinlichkeit als Resultat seiner damaligen Compositions-Studien bezeichnet werden kann. Eine Reihe von siebenzehn Variationen über »Allein Gott in der Höh sei Ehr« werden in einem alten Manuscripte ihm zugeschrieben42. Ein innerer Grund gegen ihre Echtheit läßt sich kaum geltend machen, wenn man sie als Jugendwerk ansieht [250] und sich erinnert, wie sehr sich Bach auch dem Stile Böhms und Kuhnaus anzunähern vermochte. Denn in vielen Variationen findet sich allerdings Pachelbel wie er leibt und lebt, so besonders in der zweiten, wo der Cantus firmus im Pedal liegt, in der elften, welche der Mittelstimme die Melodie zutheilt. Auch daß der Satz meistens dreistimmig durchgeführt ist, entspricht Pachelbels ordentlichem, maßvollem Wesen. Originelle Züge wären wohl kaum zu entdecken, und darum sind die Variationen doch kein vollwichtiges Zeugniß für Bachs augenblicklichen Entwicklungszustand. Dieses könnten nur Compositionen ablegen, welche in der überkommenen Form auch schon etwas von neuem Inhalt sehen ließen. Buttstedt, Walther und Andere haben wohl ihr ganzes Leben lang Stücke gemacht, die auch Pachelbel gemacht haben könnte; Bachs Verhältniß zu ihm kann unmöglich anders gewesen sein, als zu Böhm, Kuhnau und Buxtehude. Ja, je vertrauter er von Kindheit auf mit Pachelbels Weise war, desto eher mußte er sich selbständig in ihr bewegen lernen. Diese Selbständigkeit braucht natürlich nicht aus jedem, vielleicht rasch hingeworfenen Producte hervorzuspringen.

Fußnoten

 

 

III.

 

Zwei Jahre emsiger, zurückgezogener Kunstthätigkeit waren hingegangen. Wenn Bach schon anfangs durch sein bedeutendes Können den Respect der Arnstädter sich erwarb, so besaß er jetzt wohl das Zeug, sie zeitweilig zur Bewunderung hinzureißen. Ob das wirklich geschah, ist eine andre Frage. Ganz gewiß waren nur wenige, die den Genius in ihm ahnten; die Mehrzahl verlangte nichts weiter, als die genügende Erfüllung seiner Obliegenheiten, wozu ja am Ende nicht allzuviel gehörte. Der Künstler selbst war der entgegengesetzten Ansicht: ihm galt als Hauptzweck seines Amtes die gewährte Möglichkeit zur eignen ungestörten Ausbildung. Durchdrungen von dem, was er seiner Begabung schuldig sei, empfand er gewisse Seiten seiner Berufspflicht unangenehm und zerstreuend. Auch die Fülle von künstlerischen Erfahrungen und Anregungen, welche er aus den norddeutschen Städten heimgebracht hatte, war allmählig aufgezehrt. Er verlangte darnach, einmal ganz frei zu sein und den belebenden und nutzenbringenden Verkehr mit bedeutenden [251] Künstlern nach mehrjähriger Unterbrechung zu genießen. Die Mittel zu einer größeren Reise hatte er sich von seinem Gehalte erübrigen können: er bat sich also nach Beschaffung eines genügenden Stellvertreters etwa gegen Ende des October-Monats 1705 einen vierwöchentlichen Urlaub aus1.

Sein Ziel war wiederum der Norden und dieses Mal geradezu Lübeck, der Wohnort Buxtehudes. Auch Pachelbel lebte noch, und zwar um ein bedeutendes näher nach Süden, in Nürnberg, er war außerdem 16 Jahre jünger und um so viel frischer als Buxtehude. Aber Bach wird die ganz richtige Einsicht gehabt haben, daß er in Nürnberg nichts mehr würde gewinnen können, was nicht in Thüringen längst Gemeingut geworden und auch ihm in Fleisch und Blut übergegangen war, während die Kunst des Lübecker Meisters neue und eigenthümliche Seiten bot, aber in Mitteldeutschland wenig Geltung erlangt hatte. Wenn er sich den Spätherbst zur Reisezeit erwählte, so fand dies seinen Grund darin, daß zwischen Martini und Weihnachten die berühmten »Abendmusiken« in der Marienkirche zu Lübeck veranstaltet wurden, die er anzuhören wünschen mußte. Er kann sich also unterwegs auch weder in Lüneburg, noch Hamburg, noch sonst irgendwo länger aufgehalten haben, wenn er zur rechten Zeit eintreffen wollte. Und er machte den ganzen etwa 50 Meilen langen Weg zu Fuße!

Dietrich Buxtehude war ein Nordländer im engern Wortverstande, ein Däne. Sein Vater, Johann Buxtehude, bekleidete die Organistenstelle an der Olai-Kirche zu Helsingör auf Seeland, wo im Jahre 1637 der Sohn geboren wurde. Ueber die Art seiner Ausbildung ist nichts näheres bekannt2, zuverlässig geschah sie aber in der Richtung der Sweelinckschen Schule. In den sechziger Jahren des Jahrhunderts kam er nach Lübeck herüber, und erregte dort [252] durch sein Spiel und seine hervorragende musikalische Begabung bald allgemeine Aufmerksamkeit. Vermuthlich hat ihn die Aussicht hergelockt, Nachfolger des Organisten Tunder an der Marienkirche zu werden, der am 5. Nov. 1667 gestorben war. In der That wurde er am 11. April 1668 hierzu erwählt3. Einige Monate darauf verehelichte er sich (am 3. Aug.) mit Anna Margaretha, der Tochter des Verstorbenen; es scheint, daß nach einer damaligen Sitte diese Heirath für ihn zur Bedingung gemacht ist4. Die Organistenstelle zu St. Marien gehörte zu den vorzüglichsten in ganz Deutschland. Im Anfange des 18. Jahrhunderts trug sie 709 Mark, das damit verbundene Werkmeister-Amt brachte 226 Mark ein, dazu kamen viele Sporteln und Accidentien. Das Orgelwerk war von bedeutendem Umfange und, wie es scheint, im ganzen geschmackvoll disponirt, es hatte für drei Manuale und Pedal 54 klingende Register5. Außerdem fand ein genialer und thatkräftiger Mann dort den günstigsten Boden für ein gedeihliches Wirken. Buxtehude war noch nicht lange im Amte, so werden die Spuren davon schon sichtbar. Sein Streben richtete sich nicht nur auf die Orgelkunst, sondern auf große musikalische Aufführungen, welche mit dem Gottesdienste in nur losem Zusammenhange standen. Im Jahre 1670 werden für die Sängerschaaren eigne Chöre neben der Orgel in der Marienkirche ausgebaut, und vom Jahre 1673 an finden sich zuerst jene »Abendmusiken« erwähnt, deren sich damals Lübeck als einer ganz eigenartigen Einrichtung rühmen durfte. Sie fanden jedes Jahr an fünf Sonntagen vor Weihnachten statt, nämlich des Nachmittags nach dem Gottesdienste von vier bis fünf Uhr, und brachten [253] natürlich vorzugsweise concertirende geistliche Musik, aber jedenfalls auch Orgelvorträge Buxtehudes selber. Sein Schwager Samuel Frank, aus Stettin gebürtig, Cantor und vierter Lehrer am Catharineum, ging ihm dabei hülfreich zur Hand, starb aber schon 1679. Nicht minder willig zeigte sich die Bürgerschaft, den Meister in seinen Bestrebungen zu unterstützen, Musikalien wie Instrumente wurden in entgegenkommender Weise angeschafft6. Auf einen vollständigen Instrumentalchor legte Buxtehude großes Gewicht: gleich in der ersten Zeit (1673) ließ er »zwei auf sonderbare Art eingerichtete Trompeten« kaufen, »wie bisher in keiner fürstlichen Capelle« zu finden gewesen waren. Im Jahre 1680 veranstaltete er eine große Aufführung, an der nebst den Sängern und der Orgel ein Instrumentalchor von fast 40 Personen thätig war; hierzu hatte der unermüdlich eifrige Mann selber an vierhundert Bogen geschrieben, und da die Einnahme nicht den aufgewendeten Kosten entsprach, so ließ ihm die Kirche einen Zuschuß von 100 Mark zukommen. Damit ist zugleich gesagt, daß die Abendmusiken nicht unentgeltlich stattfanden, sondern gegen Eintrittsgeld, also vollständige Kirchenconcerte waren. Buxtehude hatte mit dieser Einrichtung etwas geschaffen, was im Wesen der lübeckischen Bürgerschaft tiefe Wurzeln schlug, sich das ganze 18. Jahrhundert hindurch erhielt, ja selbst im 19. noch theilweise fortgesetzt wurde7. Schnell und allgemein breitete sich nun sein Ruhm aus; für die nördlichen Länder wurde er ein Mittelpunkt, um den sich jüngere Talente sammelten. Der bedeutendste unter diesen war Nikolaus Bruhns, geb. 1665 zu Schwabstädt im [254] Schleswigschen, welchem hernach Buxtehude einen mehrjährigen Aufenthalt in Kopenhagen verschaffte, bis er als Organist nach Husum kam, wo er leider schon 1697 im besten Alter starb. Dieser war außerdem ein sehr bedeutender Violinvirtuos, und konnte durch doppelgriffiges Spiel solche Wirkungen hervorbringen, daß man drei oder vier Geiger zu hören glaubte8. Weiter ist zu nennen Daniel Erich, später Organist in Güstrow; sodann Georg Dietrich Leiding, geb. 1664 zu Bücken bei Hoya, welcher ähnlich, wie jetzt Bach, im Jahre 1684 von Braunschweig nach Hamburg und Lübeck pilgerte, um von Reinkens und Buxtehudes Spiel Vortheil zu ziehen9. Auch bei dem früher genannten Vincentius Lübeck könnte man Buxtehudes directe Einwirkung vermuthen. Näher befreundet war er unter andern mit dem Halberstädter Organisten und tüchtigen Theoretiker Andreas Werkmeister, und gab gelegentlich dieser Freundschaft dadurch Ausdruck, daß er nach damaliger Sitte vor dessen Harmonologia musica (1702) zwei Lobgedichte einrücken ließ, deren eines sogar ein Akrostichon auf den Namen des Verfassers ist, und eine mehr als gewöhnliche Sprachgewandtheit bekundet. Eine jüngere Generation ist gleichfalls einstimmig in seinem Lobe, voran Mattheson, der ihn neben Werkmeister, Froberger und Pachelbel zu den wenigen zählt, welche, »obgleich nur Organisten«, doch gewußt hätten, verständigen Leuten zu zeigen, daß noch mehr hinter ihnen stecke »als die Cymbel-Schellen anzuziehen«10.

Mattheson, 1681 in Hamburg geboren und dort zeitlebens wohnhaft, hatte die Gelegenheit nahe, Buxtehude kennen zu lernen und zu hören. Es geschah dies auch im Jahre 1703, doch war die nächste Veranlassung für das Mal die Aussicht auf ein mögliches Ableben des damals schon bejahrten Meisters. Dieser hatte nicht vergessen, unter welchen Verhältnissen er selbst ins Amt gelangt war, und wie sein Vorgänger die Zusicherung erreicht, daß nur demjenigen die Stelle übertragen werden sollte, der eine seiner Töchter zur Gattin nahm. Da eine solche Zugabe, obgleich damals nichts ungewöhnliches, doch nicht jedermanns Geschmacke entsprach, so war es [255] nöthig, sich zeitig um einen Nachfolger zu bekümmern. Mattheson genoß schon damals einen Ruf als tüchtiger Musiker, Sänger und gewandter Spieler, deshalb lud ihn der Rathspräsident von Wedderkopp nach Lübeck ein, sich die Verhältnisse aus der Nähe anzusehen. In demselben Jahre war auch Händel nach Hamburg gekommen und hatte sich eng an Mattheson angeschlossen; auf des Freundes Einladung machte er die Reise mit, welche für die jungen Leute allerhand Kunst- wie Lebensfreuden versprach, und als eine angenehme Erinnerung noch 37 Jahre später in Matthesons Gedächtniß lebte, wo er sie aufzeichnete11. Buxtehude ließ sich vor ihnen hören, dann versuchten sie selber »fast alle Orgeln und Clavicimbel«, und da Händel auf der Orgel seinem Gefährten trotz der jüngern Jahre überlegen war, so behandelte letzterer die Cembalos, ersterer die Orgelwerke. Die Heiraths-Bedingung jedoch schreckte Mattheson ab, und konnte es leicht, denn die ihm bestimmte Jungfrau Anna Margaretha Buxtehude war schon 1669 geboren, also zwölf Jahre älter als er selbst12. Sein achtzehnjähriger Begleiter, der sich nach seiner bisherigen Entwicklung für die Stelle wohl besonders geeignet zeigte, mußte doch unter diesen Umständen noch weniger Verlangen danach spüren, selbst wenn er nicht ganz andre Ziele im Auge gehabt hätte. So blieb es denn beim Musiciren und den Annehmlichkeiten, welche den geladenen Gästen und tüchtigen Künstlern zu bereiten man sich verpflichtet fühlte; »nach vielen empfangenen Ehrenerweisungen und genossenen Lustbarkeiten« zogen sie wieder davon.

Zwei Jahre darauf trat Bach vor dieselbe Orgel, auf welcher Händel gespielt hatte. Aber die ganz andern Verhältnisse, unter denen es geschah, lassen ein helles Licht auf die Verschiedenheit des Entwicklungsganges beider fallen. Händel kam nach Lübeck, um zu sehen, ob der Dienst für ihn passe, falls Mattheson ihn nicht selbst begehrte; die Einrichtung der Abendmusiken, die vortreffliche [256] Orgel, der hohe Gehalt konnte etwas vorübergehend lockendes für ihn haben. Er war ein ausgezeichneter Orgelspieler, aber es ist kein Grund anzunehmen, daß er seinem Altersgenossen Bach voraus gewesen wäre. Trotzdem lag diesem noch nach zwei Jahren eifrigster Weiterbildung der Gedanke gänzlich fern, sich in Lübeck eine vorteilhafte Stelle gewinnen zu können. Ausschließlich das Verlangen, neue und bedeutsame Kunstelemente in sich aufzunehmen, trieb ihn in die Nähe des großen Meisters im Orgelspiel, denn dieses bildete ja den Ausgangspunkt seiner eignen Entwicklung, und den Keim, aus welchem die eignen Tonschöpfungen größtentheils emporwuchsen. Händel mit seinem universaleren, aber weniger in die Tiefe arbeitenden Geiste stand zur Orgelkunst seiner Zeit, diesem vorzugsweise deutschen Kunstgewächse, in keinem so intimen Verhältnisse, und die Art, wie er sie späterhin seinem umfassenden Kunstideale, dem Oratorium, dienstbar machte, verlangte nicht sowohl tiefsinnige, als macht-und glanzvolle Behandlung. Entsprechend ist die äußere Seite. Händel kommt im hellen Mittsommer auf eine Einladung des Rathspräsidenten in Matthesons heiterer Gesellschaft von Hamburg herüber gefahren, genießt entgegenkommende Aufnahme und ehrende Festlichkeiten. Bach wandert einsam im Spätherbst zu Fuß aus dem entfernten Thüringen heran, nur dem innern Drange folgend, vielleicht ohne auch nur Einen zu wissen, der ihn dort erwartete13. Aber sein Talent war der beste Empfehlungsbrief. Es ist außer allem Zweifel, daß der greise Buxtehude merkte, welch eine Kraft hier im Aufblühen begriffen war, und daß ein Verwandtes in beider Kunstempfindung die Alterskluft von fast einem halben Jahrhundert überbrückend sie einander annäherte. [257] Einmal ganz hineingezogen in eine neue Kunstwelt, dachte nun Bach bald nichts anderes mehr. Sein Urlaub lief ab, ohne daß es ihn kümmerte; das Organistenamt an der Neuen Kirche in Arnstadt war ihm gleichgültig geworden: Woche nach Woche verging, er überschritt die zugestandene Frist um das doppelte, um das dreifache.

Von Buxtehudes Compositionen wurde zu seinen Lebzeiten eine ziemliche Anzahl in Lübeck selbst veröffentlicht. Hauptsächlich waren es kirchliche concertirende Werke, darunter die von ihm in den Jahren 1678–1687 gesetzten Abendmusiken, dann auch Gelegenheitscompositionen größerer und geringerer Art. Hiervon sind nur fünf Hochzeitsarien erhalten geblieben. Von gedruckten Instrumentalcompositionen ist mir garnichts zu Gesichte gekommen; vielleicht ist ein Werk von sieben Sonaten für Violine und Viola da gamba mit Cembalo (Lübeck, 1696) das Einzige, was auf diesem Wege in die Oeffentlichkeit gelangte14. Mattheson wollte wissen, daß in Buxtehudes Claviersachen dessen Hauptstärke gelegen habe, und bedauerte, daß davon »wenig oder nichts« gedruckt sei. Er selbst kannte also keine gedruckten. So ist es denn auch zweifelhaft, ob eine Sammlung von sieben Claviersuiten, deren Existenz gemeldet wird, je anders als in Abschriften verbreitet wurde. Diese seitdem völlig [258] verschollenen Suiten sind gleichwohl fast das Einzige, dem es Buxtehude verdankt, wenn er in neuerer Zeit noch hier und da als Componist genannt wurde. Er soll nämlich in ihnen »die Natur und Eigenschaft der Planeten artig abgebildet« haben15, worin man ein Muster geschmackloser Programm- Musik zu sehen glaubte. Dagegen ist zu erinnern, daß den sieben Planeten – mehr kannte man damals nicht, und rechnete Sonne und Mond mit hinzu – bestimmte Charakter-Eigenschaften beigemessen wurden, nach denen die Astrologen ihren Einfluß auf das Leben und die Geschicke der Menschen berechneten. Offenbar hat Buxtehude diese in den Suiten wiederspiegeln und so sieben Charakterstücke schaffen wollen, was nach Matthesons Urtheil ihm durchaus gelungen ist. Daß dies unmusikalischer sein sollte, als wenn Couperin seine Sarabanden und Allemanden »La Majestueuse, La Ténébreuse« u.s.w. nennt, ist nicht einzusehen. Im Gegentheil verräth der Einfall ein viel tieferes Verständniß für das Wesen der reinen Instrumentalmusik, als es die Franzosen je besaßen. Daß die musikalische Kunst ein Spiegelbild des harmonisch geordneten Universums sei, und ein geheimnißvoller Zusammenhang bestehe zwischen dem Leben und Weben der reinen Töne und der ewigen Bewegtheit des Weltalls mit all seinen kreisenden Himmelskörpern in den lebendurchgossenen unendlichen Räumen, dieser Gedanke hat von Alters her bis in die neueste Zeit die tiefsinnigsten Geister erfüllt. Ganz gewiß leitete den Componisten bei seinem auf den ersten Blick freilich befremdlichen Unterfangen in jener Zeit, wo man gerne der Musik bestimmte Gegenstände zur Darstellung gab, das richtige Gefühl für das, was dieselbe eigentlich allein darstellen könne. Zwischen Froberger, Kuhnau und den Franzosen einerseits und Sebastian Bach, dessen Compositionen, von den Orgelchorälen abgesehen, völlig im reinen Tonleben aufgehen, andrerseits steht Buxtehude wie ausgleichend, aber doch merklich näher zu letzterem hingeneigt. Unsere Vermuthung würde sich noch befestigen, wenn jene sieben Suiten auf die sieben verschiedenen Stufen der Tonleiter gegründet wären, wie ja auch Kuhnau in seiner »Clavierübung« die Dur- und Moll-Tonleiter mit je sieben [259] Suiten durchnahm16. Dann möchte eine directe Reminiscenz an das griechische Alterthum vorliegen: die Pythagoreer lehrten, daß die Abstände der sieben Planetenbahnen den Verhältnissen der Töne der siebensaitigen Lyra gleich seien. Leider ist wenig Aussicht vorhanden, daß das interessante Werk noch wieder zum Vorschein kommt. Was an Instrumentalcompositionen handschriftlich sonst erhalten blieb, läßt sich größtentheils auf zwei gleichzeitige Gewährsmänner zurückführen, den fleißigen Sammler Johann Gottfried Walther und Sebastian Bach selbst17. Von ersterem sind nur Orgelchoräle aufbewahrt; was auf Bach zurückzuführen ist, besteht, man bemerke es wohl, fast ausschließlich aus freien Orgelcompositionen. Er hatte Buxtehude verstanden.

In der That, so interessant und geistreich seine Choralbearbeitungen sind, so erträgt er auf diesem Gebiete doch keinen Vergleich mit Pachelbel und seiner Schule. Es war deshalb sehr gegen den Vortheil des Meisters, daß von den wenigen seiner Compositionen, die in neuester Zeit durch Stich allgemein zugänglich wurden, die meisten grade Choräle sind18. Hierdurch bekommt man von seiner Bedeutung eine ganz schiefe, oft ungünstige Vorstellung. Seine Stärke ruht – wir müssen Matthesons Urtheil etwas erweitern – vor allem in der reinen, durch keine poetische Idee beeinflußten Instrumentalmusik. Hier bildet er Pachelbels musikalischen Gegenpol. Dieser wurde epochemachend durch seinen Orgelchoral und das, was sich aus der eindringenden Beschäftigung mit den volksthümlichen Melodien ergab, namentlich die ausdrucksvolle Bildung [260] musikalischer Themen. Jener hat durch seine großen, von einem reichen Geiste erfüllten unabhängigen Tonstücke wenigstens von Bachs Talent eine Hauptseite mächtig gefördert, eine Seite, die man jetzt fast als die unvergänglichere ansehen möchte, weil sie ausschließlich auf das Wesen der Musik gegründet ist. Daß er sonst auf Mitteldeutschland wenig einwirkte, ist erklärlich, da dort auf den Choral beinahe das gesammte Streben sich concentrirte, während man im Norden nicht sehr geneigt war, diesen zum subjectiven Stimmungsbilde zu durchglühen. Zwischen den Süddeutschen aber, denen der protestantische Choral ganz fehlte, und Buxtehude nebst Richtungsgenossen besteht eine innere Verwandtschaft, wie sie unter den ähnlichen Verhältnissen natürlich ist, und an manchen Stileigenthümlichkeiten, namentlich in der Melodiebildung zu Tage tritt; in andern Dingen freilich, in der Harmonik, der Klangverwendung, der Stimmung ist ein Unterschied, wie zwischen Mittagssonne und Abendroth.

Noch achtzehn selbständige und eben so inhalt-wie umfangreiche Orgelcompositionen sind es, auf die wir ein genaueres Urtheil über Buxtehudes hohe Bedeutung in diesem Kunstzweige gründen können. Darunter sind zwei Ciaconen, eine Passecaille, eine große Toccate, eine einzelne Fuge, das Uebrige besteht aus Praeludien mit Fugen, und auf sie wollen wir zunächst den Blick richten. Die Praeludien führen meistens ein gangartiges Motiv imitatorisch durch alle Stimmen in strömendem Flusse durch, und zwar mit reichlicher Betheiligung des Pedals, welches auch häufig in glänzenden Solopassagen hervortritt. Dieser Umstand bildet ein wesentliches Unterscheidungs-Merkmal von so manchen, im übrigen ähnlich construirten Toccaten-Abschnitten der süddeutschen Orgelmeister; überhaupt lehrt die Vergleichung, um wie viel an Virtuosität diese hinter Buxtehude und seiner Schule, welchen durch Sweelinck eine solche Richtung gegeben war, zurückstanden. Ihr Pedalgebrauch beschränkte sich meistens auf gehaltene Tieftöne oder langsam fortschreitende Noten; auch bei Pachelbel ist es durchweg kaum anders. Georg Muffat setzte unter die achte Toccate seines Apparatus musico-organisticus die Worte: Dii laboribus omnia vendunt; dieses Stück, mit dem er etwas besonders schweres geliefert zu haben glaubte, hätten zweifelsohne Männer wie Buxtehude und Bruhns unbesehen heruntergespielt.[261] Wie im Praeludium, so hatte natürlich auch in der Fuge das Pedal ein entscheidendes Wort mit zu reden, welcher überdies Buxtehude durch eine eben so eigenthümliche, wie bedeutsame Anlage zu reicher Entwicklung Raum verschafft. Gewöhnlich nämlich wird das Fugenthema im Verlaufe einmal oder mehrfach umgebildet, und so immer neuen Durchführungen zu Grunde gelegt; eine Gesammtfuge besteht in solchen Fällen aus mehren Einzelfugirungen, welche als selbständige Sätze durch kleinere Zwischenstücke verbunden zu werden pflegen, in denen es hauptsächlich auf Entfaltung von Bravour abgesehen ist. Diese Neugestaltungen, in denen das erste Thema nur als Motiv eines andern gilt, sind eine höchst bemerkenswerthe Erscheinung der damaligen Instrumentalmusik; sie zeigen, daß man das Wesen der reinen Tonkunst an der Wurzel erfaßte, und deuten auf eins der ersten Formprincipe der modernen Sonate hinüber, ohne doch sich von dem natürlichen Boden der Fugenform zu entfernen. Der bergende Schooß, in dem sich die Form entwickelte, war die Toccate, man kann ihren Aufriß in den Frobergerschen Toccaten schon ganz deutlich wahrnehmen. Auch in seiner Zeit steht Buxtehude selbstverständlich mit ihr nicht allein; ein ähnlich angelegtes Werk Reinkens wurde oben schon genannt, auch von Bruhns hat sich eins erhalten, und Böhm wird dadurch zu seinen Orgelchorälen angeregt sein, die ja auf das Princip motivischer Erschöpfung der einzelnen Choralzeilen gegründet sind. Buxtehude muß aber trotzdem als Hauptvertreter und Vollender dieser Richtung gelten, schon weil er uns die meisten Proben davon giebt, aber auch eine Erfindungskraft beweist, die den genialen Kopf kennzeichnet. Er ersetzt hierdurch, was seinen Grund-Themen oft an schöner, belebter Gestaltung fehlt. So stellt er in einer seiner größten Orgelcompositionen, nachdem ein sehr schönes Praeludium von sechzehn Viervierteltakten in E moll eingeleitet hat, folgendes Fugenthema hin:


 

3.


 

führt es durch und setzt mit diesem Thema:


 

3.


 

[262] von neuem ein; nach reicher Ausarbeitung und freiem Zwischensatze tritt endlich der Fugengedanke so auf:


 

3.


 

Man sieht, nach welcher Norm der Componist bei Bildung des zweiten und dritten Themas verfuhr: er griff die charakteristischen Schritte des Hauptthemas heraus, zuerst die Schritte von der Quinte Q in die Tonika ē, von dort in die Octave 3. und abwärts nach ā, zu zweit die Schritte von Q nach ē und ohne in die Octave zu treten gleich nach ā. Der Quartensprung des zweiten Themas 3. (oder /) – gis ist nur scheinbar unorganisch, da Buxtehude im Grundthema das vorletzte Sechzehntel des ersten Taktes 3. und nicht etwa das folgende 3. als melodietragend aufgefaßt hat; dieses ist nur als harmonische Nebennote, und die Melodie von 3. nach ā gehend gedacht, was sich etwas hart ausnimmt, aber Buxtehudes Wesen nicht fremd ist. Durch die ganze 137 breite Takte zählende Fugencomposition hindurch waltet nun eine und dieselbe musikalische Hauptperson, aber mannigfach wechselnd in Stellung, Miene und Gewandung, wozu auch die Taktwechsel ein bedeutendes beitragen. Aus der Stetigkeit, mit der auch bei Reinken und Bruhns der dreitheilige Takt auf den zweitheiligen folgt, sieht man, daß darin wiederum ein bewußtes Formprincip sich äußert: es soll der Organismus aus dem Ernst und der Schwere des Anfangs zur leichtschwebenden Freudigkeit erblühen. Und darauf hin sind auch die drei Durchführungen angelegt. Der ersten, welche, wenngleich innerlich erregt, doch in würdiger, äußerer Ruhe einherschreitet, folgt die zweite mit labyrinthischen Irrgängen und tiefsinnigen Verschlingungen; es treten neben dem hauptsächlichen noch zwei Gegenthemen auf, von denen das zweite mit seinen Achtelgängen alles zu größerer Belebtheit fortreißt, daneben erscheint auch das erste Thema in der Umkehrung. Nur ein in der Harmonie höchst erfinderischer Geist konnte ein solches Netz von Tönen weben, in dem bei aller Verwickeltheit doch jede Masche klar und regelrecht vorliegt. Zwischen der zweiten und dritten Durchführung steht einer jener Zwischensätze ohne festen thematischen Kern und bestimmte Entwicklung, die den Zweck von Ruhepunkten haben, nach[263] der strengen Gesetzmäßigkeit des Vorangegangenen durch ungebundenes Tonspiel einen erleichternden Gegensatz hervorrufen und den Hörer für das Nachfolgende auffrischen sollen. Ihre Bestandtheile sind Laufwerk und breite Accordmassen, in beiden zeigt Buxtehude eine so ausgeprägte Eigenthümlichkeit, daß man ihn fast am leichtesten an diesen Zwischensätzen erkennt. Er ist es, der die frei außer dem Takt(a discrezione) zu spielenden Gänge aufgebracht und ausgebildet hat, die man Orgel-Recitative nennen kann, er, der die mehrstimmigen und Pedaltriller zuerst mit Vorliebe verwendet und gewisse zwischen beiden Händen abwechselnde Passagen. In den ruhigen Accordfolgen aber zeigt sich am sprechendsten seine eigenthümliche Harmonik, wenn ein überraschender Accord aus dem andern entsteht, eine wahre Fata Morgana von stets neuen und wieder zerfließenden Zauberbildern. Nach einem solchen Intermezzo folgt nun im letzten Fugensatze der Ausgang des Tondramas: in stolzem Glanze wiegt sich das Thema durch die Stimmen, unter den Tönen des Pedals nimmt es einen Ausdruck von großartiger Anmuth an, und scheint grade für diese Lage recht erfunden zu sein, wie man überhaupt bemerken kann, daß der Orgelcharakter aus jeder Note des großen und hervorragenden Tonstückes spricht.

Eine Fuge in G moll weist ebenfalls drei Gestalten des Themas auf, ist aber trotz gleicher Anlage innerlich ganz verschieden. Schon das Praeludium ist anders gebaut, indem es kein ganghaftes Motiv, sondern ein ordentliches Fugenthema durch zwölf Sechsvierteltakte durchführt, fast ganz über dem Orgelpunkt G, aus dessen Ruhe sich das Pedal nur zum Schluß erhebt, um selbst das Thema mit großer Wucht unter den Accordschlägen des Manuals einmal zu übernehmen19. Das Thema der ersten Fuge, die ein nach einmaliger Durchführung hinzutretender zweiter Gedanke zur Doppelfuge macht, ist dieses:


 

3.


 

dessen harmonische Vieldeutigkeit man als einen Hinweis auf Bach [264] nicht übersehen wolle. Hieraus wird wieder ein Meisterstück an harmonischem Scharf- und Tiefsinn gewoben, an dem höchstens auszusetzen wäre, daß es eine zu große Fülle von Combinationen in zu rascher Folge entfaltet und so dem Wesen der Orgel nicht ganz gerecht wird, deren großartiger Charakter bis zu einem gewissen Grade stets Einfachheit erheischt. Jedenfalls erfordert die Klarlegung dieses genialen Gewebes einen sehr ruhigen Vortrag. Einmal durchbricht die Neigung zu motivischen Um- und Fortbildungen in geistreichster Erfindung den ruhigen Fluß der Polyphonie: aus dem Quartenschritt des zweiten und dritten Thematones bildet sich ein vier Takte fortgesetztes Wechselspiel zwischen der Ober- und den beiden Mittelstimmen, dazu ergreift das Pedal das Thema und bringt es mit Selbstbeantwortung gleich zweimal hinter einander; dann lenkt alles in den früheren Stil wieder zurück. Der melancholisch sinnenden Haltung des Ganzen entspricht der sich anschließende Zwischensatz, der träumend und schwermüthig immer tiefer in sich selbst versinkt – da weckt ihn die in Sechzehnteln aufrauschende erste Umbildung des Fugenthemas (auf der Quinte von D):


 

3.


 

die sich mehre Male aus der Tiefe rüstig und rücksichtslos heraufarbeitet, ohne Bedacht auf die Eintritte der verschiedenen Stimmen immer nur höher und höher steigend, wie in der früher erwähnten Bachschen C moll-Fuge, rücksichtslos auch in harmonischer Hinsicht, da ein Querstand sich mit Hartnäckigkeit wiederholt. Dann ein jähes Abbrechen und nun hinein in den Dreizweiteltakt mit der zweiten Thema-Umbildung:


 

3.


 

und kräftiger Schlußsatz!

Aus derselben Tonart ein anderes Werk nach gleichem Principe und doch in der Ausführung wieder ganz abweichend! Ungestüm wie ein Wellensturz bricht das Praeludium herein und schäumt in Terzen-und Sexten-Gängen wild umher; nach sechs Zwölfachteltakten [265] steigt im Pedal wie aus der Meerestiefe hervor ein drohendes Bassthema:


 

3.


 

und wiederholt sich fünfmal, unterdessen stürmt es oben weiter: die Wellen wandern und überschlagen sich, schießen einander nach und hüpfen empor – eine phantastisch-düstre Conception! Aus dem Bass bildet sich sofort das Thema:


 

3.


 

ernst und gewichtig, wie es selbst, ist auch die ganze Fuge. Im Zwischensatze wandelt ein Manual-Bass in Achteln dahin, darüber lassen sich abgerissene Accorde hören, die aber bei genauem Aufmerken periodisch wie melodisch sich zu festen Gedanken zusammenschließen, es lautet, wie verwehte Klänge eines fernen Gesangs. Dann fällt machtvoll das Pedal ein in springenden Octaven und mit untermischten Sechzehnteln, die Gänge wiederholen sich in der rechten Hand und leiten hinüber in den letzten Satz: Largo 3/2:


 

3.


 

Dieses Mal bringt der ungerade Takt keinen heitern Ausgang – wie hätte der hier passen können! – wohl aber im Gegensatz zu der düstern Starrheit des Vorangegangenen eine tiefe, nachgebende Wehmuth. Den Componisten jener Zeit stand vielfach ein warmer, ja überquellender Gefühlsausdruck zu Gebote, man kann von Jünglingsjahren der Kunst reden, gegen welche Bach und Händel das Mannesalter darstellen. Johann Christoph Bachs Motetten sind ganz in diesen Duft getaucht; viele Sachen von Kuhnau, in hohem Grade auch manche Arien und Lieder von Erlebach offenbaren eine Innigkeit, die noch heute so unmittelbar zu Herzen geht, wie vor zweihundert Jahren. Wenn nun Buxtehude gleichfalls durch und durch mit diesem Elemente getränkt ist, so ist seine Art, es zum Ausdruck zu bringen, doch eine andre, wiederum aber nicht so verschiedene, daß er nicht gleich verständlich würde. So wenig sich dies klar beschreiben [266] läßt, man müßte denn alle Stileigenthümlichkeiten bis ins Kleinste durchgehen, so deutlich fühlt es sich heraus, und scheint kaum anders, als durch seine dänische Herkunft erklärbar. Es läge nahe, zur Vergleichung auf einen hervorragenden Künstler der Gegenwart als Landsmann hinzuweisen, wenn nicht Beziehungen zu Lebenden allzuleicht die ruhige Anschauung des historischen Bildes trübten. Sicher ist, daß des Meisters fremd und doch verwandt, fern und doch nah anmuthende Weise grade seiner Kunst einen erhöhten Reiz verleiht. Die vor-Bachische Epoche ist in ihrer Jugendlichkeit auch eine Zeit musikalischer Romantik, und Buxtehude ist nach der instrumentalen Seite der größte Romantiker. Von seinen Chorälen einmal abgesehen, giebt es sehr wenige Stücke von ihm, in welchen dieser Zug garnicht hervorträte; ganz erfüllt davon ist die in Rede stehende Orgelcomposition. Den Satz, dessen Thema zuletzt mitgetheilt wurde, insbesondere durchdringt ein Sehnen, ein Hinausstreben ins Unendliche, das um so ergreifender ist, da es mit dem spröden Orgelmateriale ringt, wie Pygmalion mit dem kalten Marmor. Um wenigstens etwas mehr, als bloße Beschreibung zu geben, möge hier ein Bruchstück der Fuge Platz finden:


 

3.


 

3.


 

[268] Schon aus diesem Stückchen kann man sehen, mit welcher Meisterschaft und Freiheit die Fugenform behandelt ist, wie alle Stimmen melodisch erblühen, wie groß die Originalität der Harmonien ist. Es schließt sich daran gleich ein neuer Thema-Eintritt des Pedals in C moll, und in diese Tonart wie verloren bleibt der ganze Rest des Stücks, bis drei Takte vor dem Ende sich der Componist zur Rückkehr nach G entschließt, die aber nun wie ein Halbschluß klingt, und in dieser schwebenden Stimmung den Hörer entläßt. Bewundernswerth ist wieder die in der Gegensätzlichkeit der einzelnen Abtheilungen heraustretende Kunstweisheit; das Ganze ist ein klar durchdachtes, warm belebtes Bild.

In dem Praeludium mit Fuge aus E dur wird das Hauptthema sogar noch dreimal in veränderter Gestalt gebracht, die Neubildungen aber sind alle abgekürzt und nur auf die ersten beiden Töne des Themas gebaut, auch schließt hier nicht der dreitheilige Takt, sondern eine kurz angebundene Fugirung im Viervierteltakt. Das Tonleben soll gegen den Schluß hin immer energischer, zusammengefaßter werden; nach dieser leitenden Idee ist die erste Fuge von sehr gemäßigter Haltung und wirkt vollständig nur in der Gesammtcomposition, womit jedoch einige Steifheiten derselben nicht bemäntelt werden sollen20. Im allgemeinen begnügte man sich mit einmaliger Umgestaltung des Themas, und dies muß als die Grundform angesehen werden, über welche nur Buxtehudes reicher Geist zuweilen hinausschritt. Die Mehrzahl seiner Compositionen hält sich in diesen Gränzen, entfaltet aber darin die größte Mannigfaltigkeit. Eine andre, wieder in E moll stehende Fuge mit vorangehendem stolzen Praeludium hat dieses Thema:


 

3.


 

was an sich betrachtet jedenfalls halb nichtssagend, halb sonderbar ist. Spielt man weiter, so stellt sich bald heraus, daß dabei zum [269] Theil wenigstens Berechnung gewaltet hat. Das Thema reizt durch eignen Gehalt wenig, spannt aber durch seine harmonische Unbestimmtheit, die denn auch geistvoll genug in der Entwicklung ausgebeutet wird. Nach einem kurzen Zwischenspiele, was mit seinen Sechzehnteln das Praeludium in Erinnerung ruft, folgt nun im Dreivierteltakt die Umbildung:


 

3.


 

der Contrapunct des zweiten Taktes wird später das Motiv zu anmuthigen Ausspinnungen, die immer mehr Raum gewinnen, schließlich das Terrain ganz beherrschen, und in den Viervierteltakt zurückführen. Nun treten die Sechzehntelpassagen des Praeludiums wieder auf, zu denen sich, erwachsen aus einer zuvor wie nebensächlich hingeworfenen Pedalfigur


 

3.


 

die reizendsten motivischen Gebilde fügen, die allmählig alles in den Hintergrund drängen und das letzte Wort behalten. Beethoven hätte dies kaum anders machen können!

Solche Nachspiele liebt Buxtehude und wendet sie öfter an, wodurch das Totalbild einen glänzenden Abschluß erhält. Das Verfahren läßt sich jedenfalls auf denselben Grundsatz zurückführen, nach welchem die rhythmische Gestaltung meistens in den dreitheiligen Takt ausläuft, und der es auf eine endliche Erheiterung und Ausgleichung abgesehen hat. Wir sollen nicht auf die Höhen der Kunst geführt und dort allein gelassen, sondern auch wieder zu den Menschen zurückgebracht werden. Da die höchsten Formen der Instrumentalmusik zugleich einen hohen Grad von subjectiver Isolirtheit beanspruchen, so spricht sich darin ein gesundes, nicht ganz unberechtigtes Gemeingefühl aus. Aehnlich macht es Mozart, der den Hörer auch gern mit freundlichen Eindrücken entläßt, mochte er vorher auch alle Tiefen des Gefühlslebens entschleiert haben. Ja, in gewisser Hinsicht soll jede mehr als zweisätzige Instrumentalform diese Richtung nehmen, denn nicht der Einzelne darf am Ende Recht behalten, sondern die Gesammtheit; so verlangt es die Sittlichkeit in der Kunst, wie im Leben. Und das hat Beethoven nicht minder, als [270] Mozart, zu beachten gewußt; die Suitencomponisten, die der fröhlichen Gigue den letzten Platz anwiesen, nicht weniger, als Alessandro Scarlatti in seiner dreitheiligen Ouverturen-Form. Aber allerdings liegt in dem Aufgeben einer einmal gewonnenen, ganz geläuterten Form und in dem Zurücksinken zum willkürlicheren Tonspiel doch eine Art von Verflachung; hier tritt es zu Tage, daß Buxtehude trotz allem Genie die Anschauungen der Virtuosenschule, aus der er hervorging, nicht ganz los werden konnte. Daß seine Nachspiele höchst geistreich und interessant sein können, davon hat schon die eben besprochene Composition Zeugniß gegeben. Hier hält er sich übrigens noch in mäßigen Gränzen und deutet so vernehmlich auf das Praeludium zurück, daß man das wohlthuende Gefühl cyklischer Abrundung erhält. Ebenso ist es in Praeludium und Fuge aus D moll, wo das prägnante Thema:


 

3.


 

was nachher in dieser Gestalt auftritt:


 

3.


 

schon im Vorspiel erkennbar angekündigt, im Zwischenspiel durch ein imitatorisches Sätzchen wach gehalten wird, und im Rhythmus des brillanten Nachspieles noch immer ganz deutlich anklingt. Eine so große Einheit des Stoffes ist nicht vorhanden in dem Praeludium mit Fuge aus A moll, einem Stücke, das uns wegen der merkwürdigen Beziehungen, in denen es zu einer Fuge aus Bachs wohltemperirtem Claviere zu stehen scheint, noch weiter beschäftigen wird. Doch ist auch hier das Nachspiel nicht so lang, daß es dadurch den Eindruck der vorhergehenden edleren Formen wesentlich abschwächte. Anders ist das Verhältniß in einem Tonstück gleicher Gattung aus Fis moll. Das Praeludium beginnt mit größtentheils harmonischen Sechzehntelfiguren, an die sich eine Reihe von echt Buxtehudeschen Accordfolgen schließt; dann tritt im Grave die Doppelfuge auf, an thematischer Erfindung eine der schönsten des Meisters:


 

3.


 

[271] und in ihrem Verlaufe von tiefem, direct auf Bach hinweisendem Ausdrucke. Nach diesem herrlichen Satze meldet sich im Vivace zuerst das Gegenthema in dieser Verkleidung:


 

3.


 

treibt sein Wesen durch alle vier Stimmen hindurch und zieht auch das Hauptthema:


 

3.


 

zu sich heran, bald wird in die Dur-Parallele modulirt, was das schwermüthige Grave sich nicht gestattet hatte, jene drei Sechzehntel beginnen mehr und mehr motivische Keimkraft zu entwickeln – ein frisches, geistfunkelndes Stück rauscht vorüber. Mit seinem Abschlusse läßt der Componist der Phantasie die Zügel schießen. Ein fesselloses Orgel-Recitativ ertönt, mit der endlichen Wendung auf die Dominante der Grundtonart beginnt nun mit den Motiven


 

3.


 

und


 

3.


 

das reizendste Spielen und Weben, unerschöpflich und unersättlich und mit immer größerem Glanze und Tonreichthum. Die völlige Einheitlichkeit des Gedanken-Materials, der wohlüberlegte Wechsel und Fortschritt in den Stimmungen, die hohe contrapunctische Kunst, die strahlende, alle Mittel der Orgel entfesselnde Technik machen diese Composition zu einem wahren Meisterwerke deutscher Orgelmusik. Es ist gar keine Frage, daß wir uns hier auf einer beträchtlichen Höhe befinden; wer weiter [272] klimmen wollte, mußte eben die Kraft und den Athem eines Sebastian Bach besitzen. Der ästhetische Mangel, welcher aus der Form des Nachspiels und gar eines so langen Nachspiels entspringt, wird freilich auch durch die geistvollste Behandlung nicht ganz gehoben, aber doch gemildert; man fühlt ja, wie der Stoff der Fuge lebenspendend hindurchdringt, und wenn der Kometenschweif auch matter glänzt, als der Kern, so muthet dafür sein phantastisch dämmriger Zug uns geheimnißvoll an.

Von geringerem Werthe ist ein Stück aus D dur, was wegen seines gleichfalls langen Nachspiels zum Vergleiche mit dem vorigen herausfordert. Ein motivischer Zusammenhang ist freilich vorhanden, aber da er sich auf die unbedeutendste Seite des schon im Ganzen wenig gehaltvollen Themas gründet, hat er nicht Kraft genug, uns das Gefühl von einheitlichem Organismus zu erwecken. Die Entwicklung der Fuge ist auch mehr motivisch homophon als thematisch polyphon, leicht skizzirt und äußerlich; eine Durchführung des umgebildeten Themas findet nicht statt, an deren Stelle eben das gesetzt zu sein scheint, was Nachspiel genannt wurde, was aber noch einmal durch einen Zwischensatz unterbrochen wird und dann in feuriges Passagenwerk ausläuft.

Orgelfugen, die ohne Themaveränderung in einem Zuge fortströmen, giebt es von Buxtehude nicht viele. Eine solche steht in F dur und wird durch ein schönes Praeludium eingeleitet, in welchem ausnahmsweise einmal Taktwechsel eintritt: Viervierteltakt am Anfang und Ende, in der Mitte Zwölfachteltakt; da aber letzterem auch die Viertheiligkeit zu Grunde liegt, so ist der Uebergang fast unmerklich und stört den Fluß nicht. Das Thema ist lang und charakteristisch:


 

3.


 

der frohe Schwung desselben belebt das ganze Stück, ohne sich in [273] harmonische Tiefen zu verlieren, die Sechzehntelfigur der ersten Takte giebt zu anmuthigen Wechselspielen zwischen höheren und tieferen Lagen häufige Veranlassung, auch hier tritt die Neigung zum motivischen Fortspinnen heraus. Der Einfluß, welchen Buxtehude mit dieser Composition auf eine große Concertfuge Bachs ausgeübt hat, ist unverkennbar. Daneben nennen wir gleich noch eine Fuge aus C dur:


 

3.


 

wenn es auch nicht ganz klar wird, ob sie nicht vielleicht das Schlußstück eines größeren Werkes ist, oder etwa nur für Clavier geschrieben wurde; sie gehört ebenfalls zu den vortrefflichen Werken des Meisters21. Niedriger steht eine Toccata nebst Fuge aus F dur, und grade diese hat das blinde Ungefähr an die Oeffentlichkeit unserer Zeit gelangen lassen. Wer Buxtehude kennt, wird ihn auch hier wiederfinden; einige weniger lobenswerthe Eigenschaften seines Stils, z.B. das allzuhäufige Wiederholen desselben Tons oder Accords auf der Orgel treten aber unbequem heraus, so daß der Gesammteindruck mehr absonderlich als schön und bedeutend ist22. Die Toccate hängt mit der Fuge motivisch zusammen, und vermuthlich soll der erstere Name dem ganzen Stücke gelten. Daß die Kunstgebilde, deren Betrachtung uns hier beschäftigt, sich aus der [274] Toccate entwickelt haben, wurde schon gesagt. Daher erklärt sich, daß Reinken ein oben erwähntes Werk so bezeichnen konnte, was mit ihnen völlig an Form übereinstimmt. Buxtehude deutet den Zusammenhang selbst an, indem er sich auch in dieser Gattung versuchte, welche embryoartig alle Keime der Formen des freien Orgelspiels enthielt. Abgesehen von dem genannten Stücke existirt noch eine andre Toccate ebenfalls in F dur, die dritte Composition dieser Tonart. Ihr Aussehen ist bunt, doch bildet eine regelrechte Fuge den Kern, die dann auch ziemlich den Stoff für die folgenden Gebilde hergiebt, sofern sie sich zu greifbaren Formen verdichten und nicht im phantastischen Spiele zerflattern. Mehr darf man von einer Gattung nicht verlangen, die nur leicht und angenehm anregen will, und überall in der Kunst ihre Berechtigung hat, wenn darüber die höhern Aufgaben derselben nicht versäumt werden. Toccaten älterer Meister, wie Frobergers, überfliegt natürlich die Buxtehudesche um ein bedeutendes an Mannigfaltigkeit, Geist und Bravour, vorzugsweise im Pedalgebrauch, wie schon vorher im allgemeinen bemerkt wurde.

Aber unser Meister kannte auch sehr wohl den Werth eines sich bis zum Schlusse an innerm Gehalte steigernden Tonstücks. Den Beweis liefert eine große Orgelcomposition in G moll, ein wahres Muster planvoller, weitschauender Anlage23. Ein kurzes, belebtes Praeludium hebt an und gelangt zum Stehen auf der Dominante. Es folgt im Allegro ein Fugato von wenigen Takten über diesen Gedanken:


 

3.


 

hängt sich eine aufwärts fliegende Passage an und schließt in G, worauf das Thema der Hauptfuge einsetzt. Was jenes Fugato will, bleibt vorläufig unklar, mit dem Fugenthema hat es gar keine Verwandtschaft. Dieses ist übrigens das späterhin vielbenutzte und zum Gemeingut gewordene:


 

3.


 

[275] es findet sich wieder im zweiten Theile des wohltemperirten Claviers, in einem Streich-Quartett von Haydn, einem Requiem von Lotti, in Händels Joseph und Messias, in Mozarts Requiem. Nachdem die Fuge vorübergezogen, die neben Interessantem auch manches Ungelenke enthält, tritt im Dreizweiteltakt das Thema zu einer neuen ein, was sich schon bemerkbar an das erste Fugato anlehnt:


 

3.


 

im Verlauf wird die Verwandtschaft immer klarer, endlich entscheidet unter liegendem G moll-Accord das Pedal:


 

3.


 

die Fuge schließt, und wie herausgeboren aus der ganzen Entwicklung tritt als zwölfmal zu wiederholendes Ciacona-Thema dieser Gang ans Licht:


 

3.


 

den alsbald eine reiche Contrapunctirung umschlingt, in der das Ganze beendigt wird. Die durch den hineingeworfenen Fugato-Satz bewirkte Spannung ist vollständig gelöst.

Den guten Einfall, einen Fugengedanken nach reichlicher dialektischer Erörterung in der Durchführung endlich zum unwandelbaren Axiom herauszuarbeiten und seine Stichhaltigkeit in den stets neuen Verhältnissen wechselnder Contrapuncte zu erproben, hat Buxtehude noch einmal in einer mit Praeludium versehenen C dur-Fuge gehabt; die Ciacona im 3/2 Takt vertritt dort die sonst gewöhnlich erfolgende Umbildung des Themas. In dem G moll-Stücke steht dieser Name nicht dabei; nach Buxtehudes Praxis ist er aber der allein angemessene, und nicht die Benennung Passacaglio. Beides sind ursprünglich Tanzformen, in denen ein kurzes, zwei-, vier-, höchstens achttaktiges Bassthema sich unablässig wiederholt; die gute Gelegenheit, darüber stets neue contrapunctische Combinationen [276] aufzuführen, machte sie zu beliebten Aufgaben für Orgel- und Claviercomponisten. Was uns über ihre Unterscheidungsmerkmale von Schriftstellern damaliger Zeit gesagt wird, ist voller Widersprüche und nirgend durchgreifend24; die Componisten müssen selbst der verschiedensten Ansichten gewesen sein. Buxtehude hat aber für sich einen Unterschied zwischen Passacaglio und Ciacona gewahrt, der sich auch an einer Ciacone Böhms bemerkbar macht, daß nämlich bei ersterem das Thema stets in der wirklichen Basslage und stets unverändert bleibt, bei letzterer aber in allen Stimmen auftreten und die mannigfachsten Umspielungen und Variationen erleiden kann, so lange es überhaupt nur erkennbar ist. Danach mußte der Schlußsatz der G moll-Fuge eine Ciacona sein, denn das Thema wandert frei in den Stimmen umher und wird auch einmal ganz in Figurationen aufgelöst. Wir besitzen noch zwei Ciaconen und einen Passacaglio als selbständige Stücke, die in ihrer Schönheit und Bedeutendheit alles gleichartige jener Zeit überragen und auch unter Buxtehudes Compositionen in erster Reihe stehen. Seine so eigenthümliche Harmonik entfaltet sich hier in aller Fülle, schwärmerische Innigkeit und der süßeste Schmelz der Wehmuth treten mit herzbezwingender Kraft dem Hörer nahe. Alle drei Werke durchklingt derselbe Grundton, doch sind sie trotzdem verschieden im Ausdruck. Gleich die Anfangstakte stellen ihn fest. Von den beiden Ciaconen ist die in C moll gesetzte die tiefer erregte.


 

3.


 

3.


 

3.


 

[277] Welch herrlicher Eingang! Wie hier alles in schwermuthsvoller Melodik aufblüht, wie überschwänglich das Hinübergreifen durch Bindungen in den folgenden Takt, das Absetzen oft mitten im Melodiezuge, als versage der übervollen Brust die Rede! Und die Harmonien – man beachte das 3. im letzten Achtel des dritten Takts, und im folgenden das ā der Oberstimme, im zehnten den schmerzlich klagenden Zusammenklang 3. auf dem betonten Takttheile, und die herbsüßen, wie Seufzer klingenden Vorhalte, welche sich anschließen! Nun belebt es sich immer mehr; Sechzehntelbewegung tritt ein, zuerst noch mit Achteln versetzt, hernach gleichmäßig fortwallend, und auch das Thema ergreifend, was aber immer hindurchblinkt, wie ein Stern durch Wolkenzüge. Dann wieder kurze Ruhe, und neues Anschwellen bis zum Brausen, und harfenartige Accorde umwehen das Ohr; es war ein Windstoß, der in die Saiten der Aeolsharfe fuhr! Geschickt eingefügte Zwischenspiele lassen den Grundgedanken frischer wieder hervortreten. Durch hundert und vierundfünfzig Takte zieht sich der Tonsatz und schließt mit noch reicherer Harmonie und voll von klagender Sehnsucht, wie er begonnen. – Die zweite Ciacone in E moll ist wie eine Ballade, in der sich die Erregtheit des Vortragenden über einen traurigen oder unheimlichen Inhalt hinter der scheinbaren Objectivität der erzählenden Form verbirgt, aber doch überall hindurchgefühlt wird. Namentlich trägt die Modulation nach G dur im zweiten Takte das Gepräge äußern Gleichmuths, und auch im Verlaufe scheint die steigende [278] Bewegung mehr eine äußerliche, referirende. Daß es jedoch nur Schein ist, dafür ist ebenfalls gleich der Anfang Bürge, mit seiner schön geschwungenen, rhythmisch wie harmonisch so gewählt ausgestatteten Obermelodie, die des tiefsten Ausdrucks fähig ist, wenn sie ihn gleich zurückdrängt:


 

3.


 

3.


 

 

Vortrefflich ist nach der Exposition der ersten acht Takte die Entwicklung eingeleitet; das strebt vom neunten Takte an gar muthig in die Welt hinaus und aufwärts, in so freiem Schwunge, daß man ganz die unlösbare Fessel des Bassmotivs vergißt. Erst später wird es der Empfindung deutlicher wie ein unabänderliches Verhängniß, aus dessen Zauberkreise kein Entrinnen ist. Mag es sich auch zuweilen verstecken, oder halb verflüchtigen, im entscheidenden Augenblicke ist es stets zur Stelle. Von dem Erfindungsreichthum, den der Componist in immer neuen Ueberbauungen zeigt, kann durch Beschreibung keine Vorstellung gegeben werden; in der Mitte entwickelt sich einmal durch chromatische Gegenbewegung der Ober-[279] und Unterstimme eine Reihe von Harmonien, an deren Möglichkeit vor Buxtehude schwerlich jemand geglaubt hat. Die in dieser Ciacone zurückgehaltene Gefühlswärme bricht im Passacaglio aus D moll mit doppelter Stärke hervor25. Schon die breite Taktart deutet es an, und die Gestalt des Bassthemas:


 

3.


 

welches sich so nachdrücklich auf die Dominante hinüberzieht. Der Passacaglio besteht aus vier fast genau an Länge gleichen Abschnitten, wovon der erste in D moll, der zweite in F dur, der dritte in A moll und der letzte wieder in D moll steht. Hiermit hängt die einzige Ausstellung zusammen, die man etwa an ihm machen kann: die Theile hätten durch glattere Modulation unmerklicher verschmolzen werden können, während sie nur durch überleitende ganz kurze Zwischenspiele verknüpft neben einander stehen. Im Uebrigen ist die Composition über allen Tadel, man wäre versucht zu sagen auch über alles Lob erhaben. Nicht nur, daß die strenge Form mit der größten Meisterschaft gehandhabt wird, daß, wohin man blickt, eine melodische Belebtheit sich aufthut, wie sie größer und wie sie eigenthümlicher nicht gedacht werden kann; mir ist auch kein Musikstück jener Zeit bekannt, das es an rührender, bis tief in die Seele dringender Innigkeit diesem zuvorthäte, ja ihm nur gleich käme. Von ganz zauberischer Wirkung ist es, wenn nach dem schwermüthigen D moll mit dem einunddreißigsten Takte die F dur-Tonart eintritt:


 

3.


 

3.


 

[280] So blickt das thränenvolle Auge aus frisch erlittenem, tiefem Leid zurück in glücklichere Zeiten, und holde Erinnerungen tauchen auf und weben mit Goldfäden eine mystische Glorie für das, was einstmals war! Späterhin klingt die Figur


 

3.


 

in der Oberstimme ununterbrochen und kaum verändert durch viele Takte fort, indem die andern Stimmen im ruhigen Melodienstrom darunter hin gleiten; es ist, als sähe man stille, weiße Segel im Abendgold durch blauende Meeresbuchten ziehen. Mit dem dritten Theile verdüstert sich wieder das Bild, die obern Stimmen lassen sich erst nur in abgebrochenen, schluchzenden Lauten hören – eine Stelle von hoher Phantastik und Originalität – bis sich der Tonkörper neu belebt; dann erscheint eine Stelle, die mit ihrer verwandten Behandlung auf die letzterwähnte in F dur zurückdeutet, auch in dem letzten Theile kommt eine solche zweimal vor, natürlich in immer trüberer Beleuchtung, so daß selbst in dieser Hinsicht die inneren Beziehungen der Abschnitte unter einander nicht fehlen. Nach dem Lichtpunkte des zweiten Theils gelang es nicht, auch nur die Anfangsstimmung wieder zu gewinnen, mit dem 122. Takte schließt das Stück trostlos und schmerzzerwühlt, nur äußerlich glänzend. Vielleicht erwuchs es aus persönlichen Erlebnissen, und hat [281] sich von seinem Boden nicht ganz losgelöst, doch möchte es, wer seinen Gehalt tief in sich empfunden hat, kaum anders verlangen.

Der gewährte Ueberblick über die selbständigen Orgelcompositionen Buxtehudes wird ihre Bedeutsamkeit klar gemacht haben. Sie sind, wie es bei einer durch lauter Zufälligkeiten bedingten Ansammlung nicht anders zu erwarten steht, von ungleichem Kunstwerth, und einzelne von ihnen mögen jetzt nicht viel mehr als historisches Interesse bieten. Im ganzen aber brauchen sie selbst den höchsten, d.h. den von Bachs Meisterwerken hergenommenen Maßstab nicht zu fürchten. Keine Frage, daß dieser weit über Buxtehude hinauskam, aber sein Fortschritt war zugleich ein Schritt in andrer Richtung, so sehr er des ältern Künstlers Errungenschaften benutzte und sich aneignete. Eine gerechte Würdigung verlangt, daß, wie sich Mozarts Symphonien neben den Beethovenschen behaupten, auch Buxtehude mit seinen Praeludien und Fugen, mit seinen Ciaconen und Passacaglios einen Platz neben Bach erhalte. Wenn eine Kunst ihrer höchsten Entwicklung nahe gekommen ist, kann das Verhältniß ihrer Träger zu einander nicht mehr so aufgefaßt werden, daß einer den andern in sich aufzehre und seine Sonderbedeutung aufhebe. Nur die Fundamente eines Schlosses sind unsichtbar, ist der Bau aber in die Lüfte gestiegen, dann schmückt er sich mit zahlreichen Giebeln und Thürmen. Einer pflegt alle andern zu überragen, aber, verstand anders der Baumeister sein Werk, so macht er seine volle Wirkung nur mit und theilweise durch die übrigen. Die Technik der Orgelkunst war zu Buxtehudes Meisterzeit und großentheils durch sein eignes Verdienst so sehr schon ausgebildet, daß man durchaus nicht sagen kann, Bach habe hier noch ganz neue Bahnen zu brechen gehabt. Er hat das Ueberkommene bis zur höchsten Vollendung durchgebildet, hauptsächlich aber in ihm das kostbare Gefäß für seine erhabenen Ideen gefunden. Buxtehudes Gesichtskreis mag enger, sein Talent weniger ausgiebig gewesen sein. Er konnte aber das Bedeutende und Ureigenthümliche, was er zu sagen hatte, schon in ganz vollendeter Form sagen, und so das Ideal eines Kunstwerks, soweit es überhaupt möglich ist, erreichen. Es wird sich herausstellen, daß Bach, in richtiger Erkenntniß der Sachlage, in den von Buxtehude mit Meisterschaft cultivirten speciellen Formen sich nur ganz vorübergehend versuchte, wo er [282] dann auch diesen noch den Stempel seines Genius aufzudrücken wußte, ohne jedoch wesentlich seinen Vorgänger zu überragen. Vorzugsweise darf man dies von der Ciacone und dem Passacaglio sagen. Was er in seinem berühmten Stücke letzteren Namens tiefsinniger und concentrirter ist, bringt jener durch Innigkeit und jugendliche Wärme ein. Freilich besitzt ja auch Bach diese Wärme und Innigkeit im höchsten Grade, nur tritt sie schwerer über die Lippen und liegt meistens tief im Grunde, von dort aus alles durchdringend und belebend. Diese künstlerische Beschaffenheit ist aber ebenfalls ein Zeichen, daß beide auf der höchsten Stufe der Orgelkunst stehen. In der Geschichte ist es eine überall wiederkehrende Erscheinung, daß die Leistungen des menschlichen Geistes, wenn sie in einer bestimmten Richtung zur möglichsten Vollkommenheit entwickelt sind, dann einen Widerspruch in ihrem Wesen zu zeigen beginnen, welcher über sie hinausdrängt, sie zu sprengen sucht und den Keim bildet für neue und anders geartete Entwicklungen. Nicht immer, aber doch manchmal treffen wir bei Buxtehude Gestalten, welche nach Tonbeseelung ordentlich zu dürsten scheinen, obgleich es ganz unzweifelhaft ist, daß sie für das mechanische, todte Orgelmaterial bestimmt waren. Die mitgetheilten vier längeren Stellen sind der Art: schon die Melodienbildungen beweisen es. Im zweiten Takte der E moll-Ciacone ist gar kein Grund zu finden, weshalb der Componist die Oberstimme auf dem dritten Viertel nicht mit der ersten Mittelstimme auf ḡ zusammentreffen ließ – denn es würde dem Hörer nicht anders klingen, als wie es jetzt geschrieben ist – wenn er nicht dadurch, so gut es anging, hätte andeuten wollen, wie ihm die Melodie im Innern ertönte, und daß er mehr noch zu sagen habe, als er könne. Die Hinüberdeutungen auf ein ausdrucksfähigeres Instrument sind in diesen Stellen so stark, daß sie, auf unserm Pianoforte gespielt, wie für dasselbe geschrieben scheinen; man versuche es nur und wird sich überzeugen, daß es ganz unmöglich ist, den tiefen Gefühlsausdruck, der überall entgegenquillt, nicht durch Schattirungen des Vortrags wieder zu geben, es wird einem selbst das kaum genügen und man wird den Gesang zu Hülfe nehmen mögen. Pachelbel steht in Folge seines Anschlusses an die Richtung der südlichen Kunst dem naiven Leben im Reiche des Orgelklanges noch viel näher, obgleich grade er der eigentliche Begründer [283] des Orgelchorals ist, welcher doch seinem Wesen nach eben auf den subjectivsten Ausdruck hinarbeitet. Er steht ihm näher, obwohl er jünger ist, als Buxtehude: der Altersunterschied wird durch die Entkräftung, in welcher Deutschland nach dem großen Kriege lag, wieder ausgeglichen; hätte es selber einen Buxtehude hervorbringen sollen, so würde dies kaum vor der Zeit möglich gewesen sein, in welcher auch Pachelbel geboren wurde. So bleiben nur die Gegensätze von Süd und Nord, und man sieht ohne weiteres, wie sie einander entgegenstreben: Buxtehudes unruhige Innigkeit zu Pachelbels Choral, Pachelbels schöne Ruhe zu Buxtehudes freiem Orgelstück. Bach vereinigte in sich diese Gegensätze. Aber er empfing Pachelbels Einfluß durch die Vermittlung der thüringischen Künstler, die ihn mit eignem Geiste bereits versetzt hatten; er war außerdem eine kerndeutsche Natur und dem Romantischen mehr zugethan, als dem Classischen. Darum steht er nicht ganz in der Mitte über beiden, sondern etwas näher zu dem Lübecker Meister hin, und eben darum dieser nicht ganz unter, sondern theilweise, und zwar mehr als Pachelbel, neben ihm. Jene subjective Wärme, welche hundert Jahre später gegenüber dieser ersten Blüthezeit deutscher Instrumentalmusik eine zweite hervorrufen sollte, lebte auch in Bach und unendlich viel stärker, als je in einem seiner Vorgänger und Zeitgenossen; sie quoll nur nicht so heftig empor, wie bei Buxtehude, sondern durchdrang in großartigster Weise gezügelt alles und jedes, was er schrieb.

Mehr als doppelt so stark ist die Zahl der erhaltenen Orgelchoräle Buxtehudes, deren größten Theil, nämlich 37, wir dem Sammelfleiße Walthers verdanken. Auf Bachs Musikaliensammlung sind höchstens jene drei zurückzuführen, die sich sein Schüler Joh. Ludwig Krebs in zwei Orgel- und Clavier-Büchern aufbewahrt hat. Doch versteht es sich bei einem so großen Meister von selbst, daß auch seine Schöpfungen in dieser Gattung nicht ohne weiteres gering zu schätzen sind. Sein auf das rein Musikalische gerichteter Sinn ließ ihn freilich, wie alle der nordländischen Schule angehörigen Orgelkünstler, von einer poetischen Vertiefung des Orgelchorals absehen; was sich an solchen Andeutungen findet, ist mehr beiläufig und auf kein bestimmtes Princip gegründet. Nun ist und bleibt aber diese musikalische Form zu sehr mit dem Kirchenliede [284] verwachsen, als daß ein Verfahren nur nach musikalischen Grundsätzen durchzuführen wäre. Sie ist eben doch auf die Voraussetzung gegründet, daß dem Hörer wenigstens die Melodie des Chorals in ihrer ursprünglichen Gestalt deutlich vorschwebe, damit er sich an ihr in den ausgeführteren Formen des Orgelchorals zurecht finde, und was demselben an organischer Entwicklung aus eignen Mitteln fehlt, durch Beziehung auf sein Urbild sich ergänze. Es war also nur eine naturgemäße Ausbildung innewohnender Keime, wenn Pachelbel diese doch einmal nicht abzustreifende Voraussetzung auch auf den poetischen Gehalt der Choralmelodie ausdehnte, und sich dadurch für die musikalische Gestaltung neue Gebiete eroberte. Buxtehude blieb auf halbem Wege stehen, und deshalb mußte, was sein erfinderischer Geist in dieser Form neues leistete, nothwendigerweise mehr äußerlich bleiben. Geistreich, glänzend, virtuosenhaft im guten Sinne sind daher die richtigsten Bezeichnungen für seine Choralbearbeitungen. Diese Eigenschaften treten am meisten dort hervor, wo die Choralzeilen motettenhaft, wie wir es zu nennen uns erlaubten, durchgearbeitet werden, ein Ausdruck, der das Vorwalten der Polyphonie andeuten soll im Gegensatz zu Böhms motivisch-melodischer Manier. Dahin gehören die drei Stücke bei Krebs: »Nun freut euch, lieben Christen g'mein«, »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »Herr Gott, dich loben wir«26, Stücke von den größten Dimensionen, ähnlich den früher erwähnten von Reinken und Lübeck. So hat das erstgenannte zu Anfang 110 Takte 3., dann 22 Takte 3/2 dann 18 Takte 12/8, endlich 107 Takte 3. in reicher Sechzehntelfiguration. Zusammen 257 Takte! – gewiß eine der längsten Orgelcompositionen, die es giebt. Die gleichzeitige Verwendung von zwei an Tonstärke und Klangfarbe verschiedenen Manualen ist wie hier, so überhaupt bei Buxtehude sehr beliebt. Auf eigenthümliche Klangwirkungen legte er auch sonst viel Gewicht, es ist dies ein Merkzeichen der Schule. So findet sich bei ihm der auch von Bach glücklich verwendete Effect, das Pedal mit achtfüßigen oder acht-und vierfüßigen Registern in der Tenorlage die [285] Melodie führen zu lassen. Mit Reinken gemeinsam hat er den Gebrauch des doppelten Pedals; ihn verwerthete Bach später zu den großartigsten Orgelgebilden, worin ihm jedoch Bruhns in kaum weniger bewundernswerther Weise vorangegangen war, von dem eine vollständige Fuge mit obligatem zweistimmigen Pedale erhalten ist27. Wie Buxtehude bei Fugirungen die Doppelfugenform liebt, so pflegt er den Choralzeilen selbständige Themen gegenüberzustellen und sie mit diesen durchzuarbeiten28. Besonders reich bedacht ist in dieser Art eine Arbeit über »Ich dank dir schon durch deinen Sohn«, die aus dem kurzen Choral von vier Zeilen ein Tonstück von 154 breiten Takten entwickelt. Die erste und dritte Zeile werden mit Engführungen in alterthümlicher Weise fugirt, diese im doppelten Contrapunct, jene giebt durch eine kleine chromatische Abänderung Veranlassung zu echt Buxtehudeschen Harmonien überraschendster Art. Die zweite und vierte Zeile werden ebenfalls fugirt, aber mit je zwei selbständigen Gegenthemen, mit welchen sie alle nur erdenklichen Combinationen im doppelten Contrapunct der Octave eingehen, und die sehr charakteristisch erfunden sind, aber auch Härten herbeiführen, an welche das Ohr sich widerwillig gewöhnt. Mit theilweise noch größerer Künstlichkeit, theilweise aber auch einfacher ist der Choral »Ich dank dir, lieber Herre« bearbeitet. Die erste Zeile wird im ruhigen vierstimmigen Satze, wie beim Gottesdienste, vorgetragen; die zweite folgt allegro, motivisch umgebildet und in Engführung zwischen zwei Stimmen erst zwei- dann dreistimmig fugirt. Dann wird die erste Zeile in der Verkleinerung zum Fugenthema gestaltet und gehörig durchgeführt, zum Schluß läßt das Pedal sie in der Vergrößerung zwischen das Fugengewebe hineintönen; dann folgt, wie oben, wieder die Fugirung der zweiten Zeile, nur reicher. Darnach werden die übrigen Zeilen mit ihren Gegenthemen durchgearbeitet, die beiden letzten im 6/4 Takt. Man [286] sieht, daß es dem Componisten darum zu thun war, für jede Zeile möglichst etwas äußerlich neues zu erfinden, und er mehr Gewicht auf bunte Mannigfaltigkeit, als auf einheitliche Stimmung gelegt hat. Daher gelingen ihm die Stücke am besten, wo er zugleich den vollen Glanz seiner Technik entfaltet, welcher den Sinn mehr auf der Oberfläche festhält, während er dort leicht beunruhigt und ermüdet, wo er nur durch contrapunctische Vertiefung wirken will. Sehr schön versteht es Buxtehude, den einfachen langgezogenen Choral ununterbrochen zu contrapunctiren, und wenn er es auch kaum über sich gewinnt, wie Pachelbel eine und dieselbe Figur durchweg festzuhalten, so weiß er doch schon dafür zu sorgen, daß der Strom nirgends zu sehr ins Stocken geräth29. Stets auf Neues sinnend, verbindet er dann wohl diese Form mit jener, so z.B. in einer Bearbeitung von »Nun lob mein Seel den Herren«, wo zuerst der Choral, in der Oberstimme liegend, fortlaufend contrapunctirt, dann zeilenweis durchgenommen, und endlich ins Pedal gelegt und dort ohne Unterbrechung gegen reich bewegte Oberstimmen fortgeführt wird. Dieselbe Anlage hat einmal der Choral »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«30, nur daß die Melodie, welche anfänglich im Pedale liegt, bei Wiederholung des Aufgesanges in die Oberstimme kommt und zwischen den kurzen Zeilen des Abgesanges zweimal aufwirbelnde Triolenketten in die Höhe fliegen. Die absteigende Tonleiter der letzten Zeile wird dann im Sechsachteltakt – Taktwechsel fehlen in seinen großen Orgelchorälen selten – gründlich durchgearbeitet, darauf im Zwölfachteltakt der ganze Choral noch einmal durchgenommen, indem meistens aus den Zeilen belebte Fugenthemen gebildet und in ihren Durchführungen ununterbrochen an einander gehängt werden. Eigentlich sogenannte Choralfugen scheint er wenig gemacht, sondern es dann vorgezogen zu haben, sich sein Thema frei zu erfinden31. Aber einen besondern Typus hat er noch in den kürzeren zweiclavierigen Chorälen herausgebildet, die nicht, gleich den oben beschriebenen, auf breite Durchführungen [287] ausgingen, sondern auf einmaligen Vortrag der Melodie. Auf dem einen der verschiedenartig registrirten Manuale wird die Melodie gespielt und zwar colorirt, d.h. mit Verzierungen und Umspielungen ausgestattet, aber nicht, wie bei Böhm, motivisch ausgedehnt. Dazu contrapunctiren das zweite Manual und das Pedal in ganz freier Weise, ohne sich an irgend ein festes Durchführungsmotiv zu binden, und fügen zwischen den Zeilen kurze Zwischenspiele ein, die nach Belieben bald aus freien Imitationen bestehen, bald den Stoff aus dem Anfang der folgenden Zeile nehmen, wobei besonders das Pedal thätig vorzugehen pflegt. Zwischensätze aus Motiven der folgenden Choralzeilen sind auch ein Merkmal des Pachelbelschen Chorals, trotzdem haben beide Formen nichts mit einander zu thun, sind sich vielmehr entgegengesetzt. Von der idealen einheitlichen Anschauung, welche Pachelbel leitete, ist hier keine Rede, und von einer gleichmäßigen Durchbildung des Ganzen keine Spur. Buxtehude geht nur dar auf aus, jede einzelne Zeile für sich anmuthvoll auszuzieren, geistreich zu harmonisiren und durch erfinderische Kreuzung der beiden Manuale, zuweilen auch durch Anwendung von Doppelpedal besonders zu färben. Derselbe Künstler, welcher so groß war im organischen Gestalten reiner Musikstücke, büßte diese Eigenschaft ganz ein, sowie er sich auf den Boden des poetisirenden Orgelchorals begab. Denn wenn man die Melodie, welche er in dieser Weise behandelt, nicht kennt, ist es bei mehr als vierzeiligen Chorälen oft ganz unmöglich, auch nur irgend einen Plan zu entdecken. Nur auf das Einzelne richtete Buxtehude hier sein Augenmerk; einen Mittelweg zu finden und auch die Gesammtgestalt des Chorals aus all den Blumengewinden, mit denen er jeden einzelnen Theil desselben schmückte, hervortreten zu lassen, war ihm nicht gegeben. Man muß ja beim Orgelchoral ein Stück der innern Einheit vom Hörer stets ergänzen lassen, aber es giebt doch auch musikalische Mittel, dieselbe fühlbar zu machen. Darum ist es klar, daß er eine Reflectirung des vollen Choralorganismus im subjectiven Empfinden garnicht anstrebte, und nur eine äußere Einheit sich zu Nutze machte, um seiner Erfindungskraft im Einzelnen die Zügel schießen zu lassen. Es ist im Grunde dasselbe, wie bei seinen großen Arbeiten, nur daß dort aus jeder Zeile doch selbständige große Tonbilder geschaffen werden, die sich[288] als solche auch leichter musikalisch unter einander verknüpfen, hier aber die musikalischen Beziehungen der Melodiezeilen zu einander unterbrochen werden, ohne daß etwas anderes, als geistreiches Spiel dafür Ersatz böte. Wie sehr in der That das Grundprincip hier wie dort dasselbe ist, erkennt man am leichtesten, wo einmal etwas ausgeführtere motivische Zwischensätze eintreten; dann entstehen wie von selbst kleine fugirte Durchführungen der einzelnen Zeilen, bei denen die endlich auftretende Oberstimme, welcher immer der Vortrag der Choralmelodie zugetheilt ist, nur als die letzte unter ihres gleichen erscheint, nicht aber als das Resultat der Entwicklung, welches groß und alles beherrschend herausträte32. Vermag man, hiervon absehend, sich auf den Standpunkt des Componisten zu versetzen, so gewähren auch diese Arbeiten manch feinen künstlerischen Genuß. Selbst in Mitteldeutschland wurde dies von Sachverständigen, wie Adlung und Walther, später anerkannt; Adlung trifft ihr Wesen ganz richtig, wenn er sagt: »Buxtehude hat die Choräle sehr schön ausgeführt«33. Walther hat seinen Beifall dadurch zu erkennen gegeben, daß er mehr als dreißig derselben abschrieb. Sein Interesse für Buxtehude hat aber zum Theil wohl auch einen persönlichen Grund in dem Verkehr, welchen er als junger Künstler mit dessen Freunde Andreas Werkmeister unterhielt. Dieser theilte ihm auch »manches schöne Clavier-Stück von des kunstreichen Buxtehudes Arbeit« mit34, um die wir ihn sehr beneiden und beklagen, daß er uns keines davon hinterlassen hat; man müßte denn die Suite über den Choral »Auf meinen lieben Gott« dahin rechnen, welche schon früher einmal erwähnt wurde, die aber unsere Wünsche nur noch mehr erregt. –

Wenden wir uns nunmehr zu Buxtehudes Vocalcompositionen, so ist jenen schon genannten fünf Hochzeitsarien nur flüchtige Betrachtung zu schenken35. Es sind Strophenlieder mit Ritornellen nach Weise der Zeit, zum Accompagnement dient nur [289] das Cembalo, ausgenommen die früheste Arie, wo mit der Singstimme und dem Spinett-Bass zwei Viole da gamba einen vierstimmigen Satz bilden. Der dritten und vierten liegen italiänische Texte zu Grunde, und man sieht, wie der fremdländische Kunstgesang damals auch diese Formen zu beeinflussen anfing. Die Melodien sind sehr lieblich, zu den italiänischen Worten besonders geschmeidig; es läßt sich wohl ein Fortschritt in den fünf Stücken bemerken, von denen das zweite am reinsten die alte deutsche Arie repräsentirt, das letzte die 68 Jahre seines Schöpfers verräth. Auch den Ritornellen merkt man etwas an, zu den ersten beiden Arien sind es nur fugirte, fünfstimmige Sätze (am Schluß des zweiten macht sich ein decrescendo vom forte durchs piano zum pianissimo sehr gut), bei den andern sind sie kurz und dreistimmig und Nr. 3 und 4 hängen sich, wie es später beliebt war, ein Tanzstückchen, nämlich einen Menuett und eine Gigue an.

Besondere Aufmerksamkeit aber verdienen seine concertirenden kirchlichen Musikwerke, schon weil wir wissen, wie in der Leitung der lübeckischen Abendmusiken eine hauptsächliche Kunstaufgabe für ihn lag, und diese nicht zum geringsten Theile ihm zur Berühmtheit verhalfen. Die gedruckten Originalien sind vorläufig verloren gegangen, aber einigen Ersatz bietet ein kostbarer handschriftlicher Foliant, der unter des Meisters wenigstens theilweiser Aufsicht geschrieben worden ist, auch größere und geringere Spuren einer eigenhändigen Revision zeigt und jedenfalls einige Abendmusiken, vielleicht gar einige der gedruckten enthält36. Es war bis jetzt noch keine Gelegenheit, auf den Stand der damaligen Kirchenmusik näher einzugehen: Joh. Christoph Bachs großes Chorwerk »Es erhob sich ein Streit« wies nach einer andern Richtung hin, und Michael Bachs »Ach bleib bei uns, Herr Jesu Christ« erschien als halb in der Motette stecken geblieben. Was bei Sebastian Bachs erstem Versuche andeutungsweise gesagt war, kann hier um so besser ausgeführt werden, als Buxtehudes Kirchencompositionen nicht nur an sich interessant, sondern auch vortreffliche Vertreter ihrer Gattung sind. Bachs Werk wird dadurch nachträglich den gebührenden Hintergrund erhalten. Die Form der durch Instrumente begleiteten [290] Kirchenmusik, oder, wie wir dafür von jetzt an sagen wollen, der älteren Kirchencantate, welche zwischen den Jahren 1670 und 1700 die herrschende war, beruhte auf einer Zusammenfassung vorher im einzelnen cultivirter Formen kirchlicher Tonkunst. Wie man die Texte dazu einzurichten pflegte, ist schon früher angegeben; die gebräuchlichsten musikalischen Formen waren: die ein- und mehrstimmige Arie, das Arioso (d.h. das ältere Recitativ, wie es von Schütz eingeführt und dann ziemlich unverändert beibehalten war), der mehrstimmige concertirende Chorgesang; dazu kamen als schüchterne Versuche einige der Orgelkunst entlehnte Gestaltungen. Man reihte sie in Abwechslung an einander, und schickte nach Belieben ein einleitendes Instrumentalstück voran. Viel polyphoner Aufwand wurde nicht gemacht; diese Kunst war mit dem Absterben der alten Richtung und Anschauung in Deutschland ziemlich verloren gegangen und mußte erst durch neue Zugänge wieder gewonnen werden. Die weiche, jugendliche Melodik der Zeit in vorwiegend homophoner Behandlung, die Formen von geringer Ausdehnung, und, wo die Abschnitte sich länger hinziehen, die häufigen Taktwechsel, endlich das formlose und stückweise sich weiter schiebende Arioso geben der ältern Cantate einen empfindsamen, persönlichen Charakter, und an sie, nicht an die Bachsche Cantate muß sich wenden, wer das Gegenstück zum Pietismus in der damaligen Musik aufsuchen will.

Die erste Cantate der Buxtehudeschen Sammlung ist auf folgende Textzusammenstellung gegründet:

(Col. 3, 17) »Alles, was ihr thut, mit Worten oder mit Werken, das thut alles im Namen Jesu, und danket Gott und dem Vater durch ihn.«


 

»Dir, dir, Höchster, dir alleine,

Alles, Allerhöchster dir,

Sinne, Kräfte und Begier

Ich nur aufzuopfern meine.

Alles sei, nach aller Pflicht,

Nur zu deinem Preis gericht't.


 

Helft mir spielen, jauchzen, singen,

Hebt die Herzen himmelan,

Jubele, was jubeln kann,

Laßt all Instrumente klingen.

Alles sei u.s.w.


 

 

[291] Vater, hilf um Jesu willen,

Laß dies Loben löblich sein

Und zum Himmel dringen ein,

Unser Wünschen zu erfüllen,

Daß dein Herz nach Vaterspflicht

Sei zu unserm Heil gericht't.«


 

(Ps. 37, 4) »Habe deine Lust am Herrn, der wird dir geben, was dein Herz wünscht«. Darauf folgen die beiden letzten Strophen des Kirchenlieds »Aus meines Herzens Grunde«, und zum Schluß wird der Bibelspruch des Anfangs wiederholt.

Eine Bestimmung für irgend einen Sonn- oder Festtag ist bei keiner der Cantaten gegeben, die vorliegende scheint gar nicht auf einen solchen, sondern für eine gelegentliche Festlichkeit, etwa eine Trauung gemacht zu sein. Die Instrumentalbegleitung besteht aus zwei Violinen, zwei Violen, Bass und Orgel, denn fünfstimmiger Satz war gebräuchlicher, als vierstimmiger, und wo der Chor vierstimmig war, machte die erste Geige eine darüber liegende fünfte Stimme hinzu. Die Cantate steht in G dur und wird durch eine Sonata eingeleitet, welche aus neun langsamen Viervierteltakten mit sehr schönen, weichen und eigenthümlichen Harmonien und einem imitatorisch fortarbeitenden Presto im Dreivierteltakt besteht. Sonata und Sinfonia als eröffnende Instrumentalstücke bedeuteten anfänglich dasselbe. Später trat die erstere Benennung mehr zurück, da man sie auf andre Instrumentalstücke anzuwenden anfing. Man behielt sie jedoch zuweilen bei, wenn das Vorspiel den harmonisch-massigen Charakter tragen sollte, der Gabrielis Sonaten ursprünglich kennzeichnete, während wie im Allgemeinen, so besonders dort, wo den Fortschritten der Zeit gemäß mehr polyphone Belebtheit eintrat, der Name Sinfonia herrschend wurde. Vielleicht wirkte die Grundbedeutung der Wörter dabei mit, indem beiSonata das Hauptgewicht auf die Klangeinheit, beiSinfonia auf die Stimmen gelegt wird, die durch Zusammenwirken die Harmonie erzeugen. Wenn auch jene zweitheilige Form des kirchlichen Vorspiels, welche eine Einwirkung der französischen Ouverture verräth, oftmals Sonate genannt wird, so erklärt sich dies wohl am leichtesten so, daß man die Benennung vom Anfange hernahm, der ja breit und klangreich auftreten mußte. Aber selbst der zweite Theil wahrt sich häufig diese Haltung, so daß nur die Oberstimmen ein nachahmendes Spiel mit einander treiben und die andern [292] harmonisch ausfüllen. So war die Einleitungs-Sonate zu Johann Christoph Bachs »Es erhob sich ein Streit«, so ist auch die vorliegende von Buxtehude beschaffen. Daß Seb. Bach in der Ostercantate von 1704 ebenfalls eine Sonata anbrachte, wird man in Erinnerung haben. Der erste Bibelspruch wird nun vom vierstimmigen Chore ausgeführt, fast durchweg homophon und anfangs gar immer Silbe gegen Note, später treten einige Figurationen und unschuldige Imitationen auf. Die etwas wohlfeile Art, den melodischen Faden durch Wiederholung derselben Tonphrase auf einer höhern, zuweilen auch tiefern Stufe fortzuspinnen, ist leider dem Vocalcomponisten Buxtehude eigen. Ueberhaupt kann man sich hier wieder über zeugen, in wie hohem Grade das Tonmaterial für die Gestaltung maßgebend ist: derselbe Meister, den wir in den Orgelfugen zuweilen die verschlungensten contrapunctischen Pfade wandeln sahen, wagt sich hier nicht über die einfachsten Combinationen hinaus. Wenn man diese schüchternen Formen betrachtet, wird es klar, was ein Genius wie Bach grade auf diesem Gebiete noch zu thun finden mußte, und warum der größte Orgelspieler der Welt seine compositorische Thätigkeit doch noch mehr der Vocalmusik zuwenden konnte. Das dreistrophige Lied wird zu einer vierstimmigen Arie mit Ritornellen zweier Violinen nebst Bass verwendet; die Melodie ist sehr liebenswürdig, aber tändelnd und ohne Tiefe, wie das Gedicht. Dann kommt ein Arioso des Basses in E moll über die Bibelworte: »Habe deine Lust am Herrn«, wobei gleich zu bemerken ist, daß Sprüche der heiligen Schrift, wenn sie einer Solostimme zugetheilt waren, so behandelt werden mußten, da es noch keine andre Form dafür gab. Wenn also Bach in seiner Ostercantate gleichermaßen verfuhr, so ist das nichts besonderes; aber in dem stufenweisen Wiederholen eines melodischen Gedankens, wie es z.B. im Tenor-Arioso »Entsetzet euch nicht« vorkommt und in den Terzen-Parallelen zwischen Singbass und Continuo, welche sich im ersten Satze und sonst finden, und die einer mehrstimmigen Harmonie so hinderlich sind, wird man eine Anlehnung erkennen dürfen. Zu beiden bietet Buxtehudes Arioso Analogien, das im übrigen von wirklich trostreichem Ausdrucke ist und durch sein schlichtes Auftreten – nur die Orgel begleitet – die Folie für einen Talentblitz von intensivem Glanze wird. Denn nachdem es auf dem e abgeschlossen hat, setzt [293] der Geigenchor ganz in der Höhe ein und senkt sich langsam und breit in berauschenden Harmonien herab, wie himmlischer Thau auf die dürstende Erde, und kommt endlich in G dur unten an, worauf sofort der hoffnungerfüllte Choral anhebt: »Gott will ich lassen rathen, der alle Ding vermag«:


 

3.


 

(Die Orgel denke man sich leise mitgehend, und namentlich den Bass durch ein sechzehnfüßiges Register vertieft.) Eine Strophe wird vom Sopran allein vorgetragen, die zweite vierstimmig in sehr eigenthümlicher weicher Harmonisirung; lange Zeit begleitet nur die Orgel, und die Instrumente fallen mit Zwischenspielen zwischen den Zeilen ein, bis sie zuletzt ganz mitgehen, den Satz klanglich wie harmonisch bereichernd; im drittletzten Takte schwingt sich die erste Geige ekstatisch aufwärts und senkt sich wieder. Zum Schluß wird der erste Chor wiederholt, doch geht ihm ein langsames Vorspiel schwärmerischen Ausdrucks voran, mit dessen Anfang:


 

3.


 

[294] man Takt 4 bis 6 des Eingangs der Bachschen Ostercantate vergleichen wolle; auch zu den vereinzelten Accorden und stockenden Harmonien desselben findet man hier, wie an andern Stellen das Vorbild. Es giebt noch eine kirchliche Sinfonia Bachs, welche ganz in Buxtehudes Stil gehalten ist: sie leitet die gewaltige Choralcantate »Christ lag in Todesbanden« ein37, zu der sie aber schwerlich componirt ist, sondern wohl aus einem unbekannten Jugendwerke herübergenommen. Der Schlußchor gestaltet sich dieses Mal etwas reicher und entfaltet bei durchaus freundlichem Charakter eine angenehm beschäftigende Polyphonie.

Die zweite Cantate ist sicherlich eine Abendmusik zum zweiten Adventssonntage. Sie handelt von der Wiederkunft Christi zum Gericht und hat einen großartigen und mystischen Zug. Die aufgewendeten Mittel sind bedeutend und bestehen aus fünfstimmigem Chor, drei Violinen, zwei Bratschen, drei Zinken, drei Posaunen, zwei Trompeten, Fagott, Contrabass und Orgel. Mit diesem Tonkörper hat Buxtehude eine seiner Massen-Aufführungen hergestellt. Eine Symphonie (D dur) beginnt, deren Thema vom Trompetengeschmetter hergenommen ist: Geigen und Trompeten stehen sich chorisch gegenüber, aber die letzteren blasen mit Dämpfern, ein Klangeffect, der die geheimnißvolle Stimmung erhöhen soll38. Darauf stimmt, wohlüberlegt nur vom Saitenquartett und der Orgel mit Fagott begleitet, der Sopran in derselben Tonart das Kirchenlied an: »Ihr lieben Christen, freut euch nun, Bald wird erscheinen Gottes Sohn«, aber zu der Melodie »Nun laßt uns den Leib begraben« – ein tiefsinniger, durch die Pforten des Todes führender Gedanke, der ähnliche bedeutungsreiche Wahlen Bachs vorandeutet. Dieser [295] Choral ist nun eine genaue Uebertragung des Buxtehudeschen zweiclavierigen kleinen Orgelchorals auf Sopran und Streichinstrumente, und in der Anwendung des durch die Orgel Gewonnenen auf die Vocalmusik begründet sich der größte Theil seiner Bedeutung. Denn hier tritt das Princip zu Tage, was der protestantischen deutschen Kirchenmusik neue Gestalt und neuen Inhalt verleihen sollte. An Stelle des ersten Manuals, welches die Melodie vorträgt, ist die Singstimme gesetzt, an die Stelle des zweiten Manuals und des Pedals die Vereinigung der Instrumente. Was jene Orgelchoräle lobenswerthes haben, tritt auch hier vortheilhaft hervor: schöne Klangwirkung, indem der Sopran hoch und leuchtend über den unsichern Verschlingungen der Instrumente, wie die Morgensonne über dem Wiesennebel dahinwandelt, geistvolle reiche Harmonisirung. Auch hebt sich natürlich mittelst des Gesanges und der Worte die Choralmelodie viel entschiedener als die Hauptsache heraus, als es auf der Orgel geschah, wo ihr zudem die bedeutungsvolle Einfachheit durch Colorirung verkümmert wurde, und jene zuweilen auftauchenden canonischen Bewegungen des Basses, welche dort nur verwirrten, erscheinen hier als reizende Nebensache. Aber die Planlosigkeit der Contrapunctirung und das Mißverhältniß, in dem die Sorge für die Erscheinung des Zusammenklangs zum Interesse für das Leben der Einzelstimme steht, sind auch hier dieselben geblieben. Anfänglich spielt noch der Rhythmus des Themas der Symphonie geistreich in die Bewegung der Instrumente hinüber, wird aber schnell blässer und schattenhafter und verschwindet bald ganz, um unsicherer Willkür Platz zu machen. Für das Auge macht eine solche Contrapunctirung sofort den Eindruck des Unordentlichen, gesungen und gespielt klingt freilich alles gut und besticht, aber es fehlt die tiefe Begründung des Wohlgefallens. Pachelbel, der auch seinen Orgelchoral auf die Vocalmusik zu verpflanzen den Versuch machte, mußte natürlich seiner Richtung gemäß Idealeres und Tieferes produciren, die fünfte Strophe der Cantate über »Was Gott thut, das ist wohlgethan« kann meisterhaft genannt werden. Im wohlabgemessenen Contraste zu dem eben beschriebenen Tonbilde steht der folgende Chor, der im höchsten Glanze aller Mittel mit dem erschütternden Weckrufe hineinfährt: »Siehe! der Herr kommt mit viel tausend Heiligen, Gericht zu halten über Alle.« Er legt sich in majestätischen [296] Dreiklängen aus und geht dann in ein Fugato über, was mehr durch die plastische Art, wie es gedacht ist, und durch die Klangmischungen, als durch polyphone Kunst bedeutend ist. Dieses Thema nämlich:


 

3.


 

wird in unablässiger Abwechslung von den Singstimmen, den Geigen, den Trompeten, erst einstimmig, bald auch zwei- und dreistimmig zu Gehör gebracht, und dabei immer nur von der Tonika auf die Dominante und wieder zurück gegangen. Der Phantasie drängt sich ein Bild auf, als zögen die »vieltausend Heiligen« hinter Christus her aus allen Himmelsräumen heran, immer neue und neue, weithin schon über den Häuptern der voranziehenden sichtbar und eine Schaar leuchtender als die andre. Eine große Wirkung wird auch dadurch erzielt, wenn der Chor die Worte »Gericht zu halten« nur mit Orgel und abwechselnder Betheiligung der Stimmen singt und darnach die ganze Tonmasse mit aller Wucht hineinschlägt. Hier sind wieder einmal Händelsche Züge vorgebildet. Eine schmetternde Instrumental-Symphonie von elf Takten schließt sich an, dann ertönt ein mysteriöses Bass-Arioso: »Siehe, ich komme bald und mein Lohn mit mir«, nur von der Orgel und zwei gedämpften Trompeten begleitet, welche mitten in den Schlußgängen aufhören, so daß das Tonbild zerrinnt, wie eine Vision. Bis jetzt war die Grundtonart nicht verlassen, das folgende Stück für Alt, Tenor, Bass, drei Geigen, zwei Bratschen und Continuo steht in A dur, ist aber das schwächste der Cantate. Es zeigt, wie wenig man noch fähig war, große Formen mit entsprechendem Inhalte zu füllen. Zeile für Zeile des zu Grunde liegenden Gesangverses wird mit kleinen Imitationen heruntergesungen, dann tritt jedes Mal ein Instrumental-Ri tornell ein, dem aber seine Sechsstimmigkeit sehr unbequem vorkommt. Das Beste daran ist, daß es wieder einen merkwürdigen Klangcontrast herstellen hilft: auf die Verbindung der dunklen Vocalstimmen mit dem schwebenden Geigenchore folgt der feierliche Klang gedämpfter Posaunen, über denen zwei goldhelle Soprane ein fugirtes »Amen« ausführen. Wie Buxtehude [297] stets abzurunden versteht, so kehrt er zum Schluß in den Choral des Anfangs zurück:


 

Ei, lieber Herr, eil zum Gericht,

Laß sehn dein herrlich Angesicht,

Das Wesen der Dreifaltigkeit!

Das hilf uns, Gott, in Ewigkeit!


 

Er schreitet im Dreizweiteltakt und im vollen Glanze einher, hoch über dem Chor führt die erste Violine eine sechste Stimme aus, und zwischen jedem Melodieabschnitte fallen die Trompeten fanfarenartig hinein. An den Choral hängt sich ein bewegter Amensatz, der im leichten imitirenden Wechselspiel zwischen Chor und Instrumenten zu Ende geht. Der Leser wird hier das genaue Vorbild des Schlußchorals der Bachschen Ostercantate erkennen.

Die dritte, auch auf Massenwirkung berechnete Cantate ist nur auf drei Verse des Buches Sirach, Cap. 50, v. 24–26 gestellt. Sologesang fehlt darin, und die Chorbilder zeigen wieder die ganze damalige Hülflosigkeit solchen Aufgaben gegenüber. Man wagte die musikalischen Geister noch nicht zu entfesseln, daß sie sich brausend in ein weites Bette ergössen, obgleich sie in Buxtehudes Orgelwerken schon ungeduldig an den Thoren ihres Verließes rüttelten. Statt dessen treten kleine Motive auf, die sich einzeln nie zu widersprechen oder in die Rede zu fallen wagen, aber großen Muth zeigen, wenn alles zusammen geht, und nach jeder kleinen Anstrengung sich durch ein Ritornell erholen müssen. In der Mitte steht ein fünfstimmiges Arioso mit Orgel: »der uns vom Mutterleibe an lebendig erhält und thut uns alles guts«, der Typus des dreistimmigen in Bachs Cantate. Im dritten Theile wird der Takt sehr viel gewechselt, es folgen einander 3/2, 3., 3/4, 3., 3/4, 3/2, 3/4) worauf Anfangs-Ritornell und -Chor wiederholt werden. Diese Unruhe hat etwas sehr subjectives, sie erinnert an Christian Flors »musikalisches Seelenparadies«39, und, wäre nicht Buxtehude der Componist, so möchte man sie dilettantisch nennen.

Wie der dritten Cantate nur ein Bibelspruch, so liegen der fünften und sechsten nur geistliche Lieder zu Grunde. Jene schildert die jenseitige Wonne der Seligen im Ton des Hohenliedes und in der [298] poetisch angeregten aber weichsinnlichen Sprache und Bewegung pietistischer Gesänge; so lautet die fünfte Strophe:


 

Die Rosen neigen

Sich von den Zweigen

Ins güldne Haar

Der Auserwählten

Und Gottvermählten;

Seht, nehmet wahr!

Sie kommt die Schöne,

Daß man sie kröne,

Ihr Heiland ist,

Den sie zum Lohne,

Zum Lohn, zur Krone

Hat auserkiest.


 

Der Tonsetzer hat alle neun Strophen durchcomponirt, aber nur für die erste und letzte, wo sehr große Tonmassen bei geringer Polyphonie aufgeboten werden, in den kleinen Rhythmen des Gedichts mit einiger Freiheit geschaltet. Ein tieferer Ton wird nirgends angeschlagen, heitere Melodien, leichtfüßige Rhythmen und sinnlich bestrickende Klänge sind das Ganze. Zu den Instrumenten, nämlich drei Violinen, zwei Violen, drei Zinken, drei Trompeten, drei Posaunen, Bass und Orgel, tritt – ein wohl einziger Fall – das Hackbrett (Cymbalo); der Chor ist sechsstimmig. Man sieht, wie die Anlage des Orchesters noch auf chorische Wechselwirkungen abgesehen ist. Nach dem ersten Abschnitte werden die folgenden Strophen von je einer, oder je drei Stimmen in wechselnder Besetzung vorgetragen, arienhaft und mit munteren Ritornellen; glücklicherweise wird nicht immer dieselbe Melodie festgehalten, denn der unentrinnbare Rhythmus des halbaufgelösten Dreivierteltakts wirkt schon ermüdend genug. Viel würdiger und ernster ist die sechste Cantate: »Bedenke, Mensch, das Ende, bedenke deinen Tod«, die Construction ist aber auch hier sehr einfach. Fünf Strophen des Gedichts sind der gleichen Musik angepaßt, nur die letzte tritt reicher auf und wird durch einen Amensatz ausgeschmückt. Voran geht eine Sonate, die im kleinen ganz die Form der französischen Ouverture hat. Dann tragen drei Singstimmen homophon die Strophen vor, und ein Ritornell der Geigen schließt jedesmal ab. Das »Amen« besteht aus kleinen fugirten Sätzchen, die von den Instrumenten aufgefangen werden; eine Combination mit ihnen wagt nur hie und da die erste Violine.

[299] Die vierte Cantate stimmt in der Mischung von Bibelwort, Kirchenlied und freier Dichtung mit der zweiten und ersten überein, unterscheidet sich aber musikalisch so, daß sie keinen freien Chor, dafür zwei verschiedene Choräle einführt. Nach einer kurzen, aber in Schmerz schwelgenden Symphonie in G moll ertönt unter ganz gleicher Behandlung wie in der zweiten Cantate die Choral-Strophe:


 

Wo soll ich fliehen hin,

Weil ich beschweret bin

Mit viel und großen Sünden,

Wo soll ich Rettung finden?

Wenn alle Welt herkäme,

Mein Angst sie nicht wegnähme.


 

Was oben unterlassen war, nämlich Auszierungen mit der Melodie vorzunehmen, ist hier in einer der Singstimme angemessenen Weise geschehen. Trotzdem hat der allein vortragende Sopran nicht, wie dort, nur musikalische, er hat auch dramatisirende Bedeutung, und die kleinen Abweichungen in der Melodie sollen das geängstete Herz nur noch deutlicher vor die Seele führen. Denn auf die Frage antwortet ein Bass-Arioso: »Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken« u.s.w. Es ist also eine Wechselrede, als deren Personen wir die schon längst in der protestantischen Kirchenmusik bekannte allegorische Figur der »gläubigen Seele« und Christus anzusehen haben. Der Titel der Cantate ist auch ausdrücklich Dialogus. Hammerschmidt, der in so vieler Hinsicht der kirchlichen Tonkunst neue Bahnen eröffnete, gab schon 1645 »Dialogi oder Gespräche zwischen Gott und einer gläubigen Seele« heraus und verfolgte diese Bahn in seinem »Vierten Theil musikalischer Andachten« und den »Musikalischen Gesprächen über die Evangelia« auch dahin, daß er Kirchenlied und Bibelwort einander gegenüberstellte. Darin aber liegt das Charakteristische für die Componisten am Ausgange des 17. Jahrhunderts, daß sie den Choral von nur einer Stimme mit Begleitung vortragen lassen und ihn hierdurch, wie durch leidenschaftathmende Umbildungen der Melodie und ungewöhnliche Harmonien zum Mittel des subjectivsten Empfindungsausdrucks machen konnten, ohne ihn doch so streng polyphon auszugestalten, daß dadurch dem Subjectivismus das Gleichgewicht gehalten wäre. Sie eigentlich sind es, in denen, wie schon einmal gesagt, das [300] musikalische Gegenbild der geistlichen pietistischen Dichtung zu erkennen ist. Freilich nicht so, daß durch diese ihre Compositionsart angeregt und bestimmt sei. Der directe Einfluß des Pietismus auf die kirchliche Musik und ihre Entwicklung ist ein ganz unbedeutender gewesen, schon deshalb, weil er eigentlich den Reichthum der Kunst von sich ausschloß. Beide Richtungen entstanden neben einander her, wenngleich aus derselben Gemüthsquelle, und die Musik gelangte thatsächlich um mehre Jahrzehnte früher in die Entwicklungsphase der Empfindsamkeit und jugendlichen Schwärmerei, die sich jedesmal bei dem Neuaufblühen des Lebens einer Nation einstellt und die in der Musik am frühesten sich zeigen mußte, da sie, der Anlage des deutschen Volkes zufolge, die erste Geistesthätigkeit war, in der nach dem Unglück des großen Krieges das neue Leben kräftige Knospen ansetzte. Die Anfänge pietistischer Dichtung greifen allerdings noch in jene musikalische Periode hinein, und Buxtehude konnte ihr seine Töne noch einige Male gesellen, aber als sie recht in Blüthe stand, hatte die Kirchenmusik jenes Stadium lange überwunden und sich theils der religiösen Ideale in ihrer Erhabenheit wieder bemächtigt, theils sich nach einer Richtung hingewendet, die garnichts mehr mit ihnen zu thun hatte. Das Bass-Arioso, welches der »gläubigen Seele« antwortet, und dem es an Wärme und Herzlichkeit nicht fehlt, ist sehr ausgedehnt und zerfällt in zwei Theile. Der erste schließt auf der Dominante von G moll, der zweite setzt darauf in B dur ein (»So werdet ihr Ruhe finden für eure Seele«) und leitet nur in den letzten Takten zur Haupttonart zurück. Von einer formellen Abrundung ist nicht die Rede, aber es stecken Elemente darin, die für die spätere, nach italiänischem Muster gebildete geistliche Arie, wie sie Bach ausbildete, von wesentlicher, wenn auch mehr innerlicher Bedeutung wurden. Einiges äußerliche ist auch vorhanden, da zuweilen die begleitenden Geigen kleine polyphone Combinationen mit der Bassstimme eingehen. Die richtige Behandlung derselben ist aber ein noch fast unentdecktes Land: sie geht meistens mit dem Instrumentalbass zusammen. Ueber Händel, der zur Zeit, wo er nach Hamburg kam, auch noch ganz in der Manier der ältern Cantate steckte, urtheilte später Mattheson: »Er setzte zu der Zeit sehr lange, lange Arien, und schier unendliche Cantaten, die doch nicht das rechte Geschicke oder den rechten Geschmack,[301] obwohl eine vollkommene Harmonie hatten; wurde aber bald, durch die hohe Schule der Oper, ganz anders zugestutzet«40. Einiger Einfluß der dramatischen Musik war der Kirchencantate allerdings nothwendig. – Die gläubige Seele folgt nun der trostverheißenden Aufforderung mit der zweiten Strophe des Chorals:


 

O Jesu voller Gnad,

Auf dein Gebot und Rath

Kommt mein betrübt Gemüthe

Zu deiner großen Güte.

Laß du auf mein Gewissen

Ein Gnadentröpflein fließen.


 

Und in erneutem, kräftigerem Zuspruche hebt der Bass in Es dur ein zweites Arioso an: »So wahr ich lebe, ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe. Bittet, so werdet ihr nehmen, suchet, so werdet ihr finden, klopfet an, so wird euch aufgethan.« Nun folgt einer jener schönen langsamen Instrumentalsätze, deren wir schon mehre kennen lernten, und dann für Tenor eine Arie, d.h. ein vierstrophiges Lied mit Ritornell, was an den Schluß des vorhergehenden Bibelspruches anknüpft und Betrachtungen über die dort gegebenen Verheißungen anstellt. So geschah es auch in der ersten und zweiten Cantate, nur vier- und dreistimmig; es ist dies ein neuer Fingerzeig auf die spätere Kirchencantate und besonders die Bachschen Passionen hin, worin ja die Arie eben diese poetische Bedeutung hat. Den Schluß bilden die sechste und achte Strophe des Chorals »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut«, die den Vorsatz äußern, sich dem Heiland gnadeflehend zu nähern, und um einen seligen Tod bitten. Die sechste Strophe singt wieder der Sopran allein mit vierstimmiger Begleitung von Geigen und Orgel, die letzte aber der Chor mit ausdrucksvoller melodischer Auszierung, eindringlicher, vernehmlich auf Bach deutender Harmonisirung und einzelnen periodischen Erweiterungen. In die Zeilenabschnitte fügen sich Zwischenspiele, unter denen ein zweimal wiederkehrendes auch noch für Buxtehudes Stil überraschend und unerhört erscheint:


 

3.


 

[302] Der Amensatz ist kunstreicher als gewöhnlich, mit hübschen canonischen Führungen und reicherer selbständiger Betheiligung der Instrumente ausgestattet, so daß man wohl schließen darf, dem Componisten habe dieser Dialogus besonders am Herzen gelegen. Das zarte, tiefempfindende Gemüth, was sich darin ausspricht, verleiht ihm in der That eine hervorragende Bedeutung unter Buxtehudes Cantaten, obgleich die Stimmung zu wenig wechselt und es an belebenden Gegensätzen fehlt.

Die siebente Cantate ist über Martin Schallings schönen dreistrophigen Gesang gebaut: »Herzlich lieb hab ich dich, o Herr«, muß also im engsten Wortverstand eine Choralcantate heißen. Mit Anwendung dieser Form steht Buxtehude in seiner Zeit durchaus nicht allein, die Leipziger Cantoren Knüpfer und Schelle haben sie fleißig angebaut, und eine gleiche Arbeit Pachelbels erwähnten wir schon. Aber im Einzelnen und in der darin sich äußernden Stimmung ist es doch eine ganz eigenthümliche Composition. Die erste Strophe ist wieder dem Vortrage des Soprans anvertraut und wird von einer selbständigen fünfstimmigen Begleitung getragen und zum Theil überbaut. Thematisch ist diese auch hier nicht, daher unruhig und nicht grade tief; es hat aber, wie gesagt, die Uebertragung des Chorals auf die Menschenstimme die vortheilhafte Folge, daß dieser nun entschieden als Hauptsache sich geltend macht und dem Tonsatze Einheit giebt. Der sinnliche Eindruck ist bestrickend, besonders wenn die beiden Geigen sich hoch hinaufschwingen und die Melodie von allen Seiten ein Klangmeer umfluthet, der poetische Ausdruck ein ganz persönlicher durch die schwärmerische, ans Weichliche streifende Harmonik und durch das äußerliche Mittel der Tempoveränderung, so daß der Ausruf: »Herr Jesu Christ!« in der vorletzten Zeile einen beinahe sinnlichverlangenden Eindruck macht. Dagegen [303] haben die zerstreuten harmonischen Lagen Buxtehudes wieder etwas ätherisches, man meint oft in ein Gespinnst von Silberfäden zu sehen. Von der zweiten Strophe an beginnt die motettenartige Durcharbeitung der Melodie. Wir dürfen darin keine einfache Nachahmung von Buxtehudes ähnlich angelegten Orgelchorälen sehen, da vielmehr dieselben ihrerseits Nachahmung des Motettenstils waren. Aber einzelne dort ausgebildete Züge finden wir in Menge wieder, besonders die Verknüpfung des Choralthemas mit selbständigen Gegengedanken, und die ununterbrochen einander folgenden verschiedenartigen Combinationen der Themen. Masseneinsätze (Tuttis, könnte man sagen) wechseln mit den polyphonen Verarbeitungen ab und bringen es zu schönen breiten Wirkungen. Den Ausdruck mehr zu versinnlichen wird oft zum Taktwechsel und gar zu einer Art instrumentaler Tonmalerei gegriffen, die ins Gebiet des Oratoriums hineinreicht. Merkwürdig ist schon eine Stelle in der zweiten Strophe: »auf daß ichs trag geduldiglich«, wo durch acht gewichtig lastende, harmonisch kaum bewegte Accorde das Tragen des Kreuzes illustrirt wird. Tiefer empfunden sind zwei Momente der dritten Strophe, zuerst der Anfang:


 

Ach Herr, laß dein lieb Engelein

Am letzten End die Seele mein

In Abrahams Schooß tragen.


 

Schüchtern, aber inbrünstig beginnen zwei Singstimmen die Bitte, der ganze Instrumentalchor schweigt; da lassen im sechsten Takte die Geigen ein flüsterndes Beben, in wiederholten Achteln und bald Sechzehnteln hören; still und verlassen gehen die Stimmen weiter, wie in einsamer Sterbestunde, aber es umweht und umrauscht sie von allen Seiten, es klingt in Wahrheit wie Flügelschlag himmlischer Boten. Das Geigen-Tremolo, was jetzt längst die Bedeutung eines besondern Effects verloren hat, war damals etwas neues; es ist aber so geistvoll hier motivirt und ausgeführt, daß man sich auch heute noch eines mystischen Schauers bei der Stelle nicht erwehren kann. Weiterhin heißt es:


 

Den Leib in sein'm Schlafkämmerlein

Gar sanft ohn einig Qual und Pein

Ruhn bis zum jüngsten Tage.


 

Ueber der letzten Zeile erhebt sich folgendes Tonbild: der Singbass [304] vom tiefen Instrumentalbass gestützt, setzt auf dem Worte »ruhn« im Dreizweiteltakt das e ein und hält es aus, einen Takt später folgen ebenso zweiter Sopran und Alt mit 3., im folgenden Takt endlich faßt der Tenor die Quinte h dazu und läßt sie, als die übrigen verstummen, weitertönen wie in verhüllte Fernen hinaus. Dann wiederholt sich die allmählige Accordbildung, aber von oben herab mit Q, 3., ē, e, und indem die Stimmen je um einen Takt vor einander aufhören, verhallt der Accord träumerisch nach der Tiefe zu. Zu der ganzen Stelle aber wiegen sich in den schattigen Lagen der kleinen und eingestrichenen Octave mit Viertelnoten die Geigen schwach bewegt in geheimnißvollem Lispeln.

Eine andre Behandlung ist in der elften Cantate dem Kirchenliede Johannes Francks »Jesu, meine Freude« geworden. Sie ist nur für zwei Soprane, Bass, zwei Violinen, Fagott und Orgel gesetzt. Nach einer Sonate wird die erste Strophe von den drei Singstimmen mit zwei darübergebauten Geigen, also fünfstimmig vorgetragen; der Gang der Choralmelodie, die sehr feinsinnig und gewählt harmonisirt ist, wird vollständig beibehalten, und nur Zwischenspiele und ein Schlußritornell sind zugefügt. Die zweite Strophe erhält der erste Sopran allein, den nur die Orgel stüzt: er ergeht sich in Colorirung der Melodie, bewahrt aber, wie es Buxtehude auch in seinen kleinen Orgelchorälen zu thun pflegt, genau die Ausdehnung der Perioden. Dagegen übernimmt die dritte Strophe der Bass allein, unter Betheiligung der Instrumente. Das Streben nach möglichst individuellem Ausdruck sprengt die Umschließung der Perioden, und erweitert durch emphatische Declamation und ihr dienende motivische Fortsetzungen die einzelnen Melodiezeilen. Die Instrumente wiederholen zuweilen das von der Stimme Vorgetragene. Es ist kaum möglich, hier nicht auf das lebhafteste an Bach erinnert und überzeugt zu werden, daß er dieses Stück gekannt und es ihm bewußt oder unbewußt im Sinne gelegen haben muß, als er seine köstliche Motette »Jesu, meine Freude« schrieb. Ganz wie dort beginnt Buxtehude (auch Takt und Tonart stimmen überein) mit den kampfestrotzigen, abgebrochenen Ausrufen: »Trotz! trotz! trotz dem alten Drachen!«41 [305] ebenso rollen die Passagen zu den Worten »Tobe, Welt, und springe«, und das »Stehen und Singen in sichrer Ruh« wird, obschon mit andern Mitteln, doch auch malerisch genug dargestellt. Höchst charakteristisch sind die Zeilen ausgedrückt:


 

Erd und Abgrund muß verstummen,

Ob sie noch so brummen.


 

In den »Abgrund« tritt zweimal der Bass mit mächtigen Octaven hinunter (e-E und d-D), und das »Brummen« wollen wir durch ein Notenbeispiel veranschaulichen:


 

3.


 

Eine Art von grimmiger Freudigkeit, die Bach wie Luther zuweilen auszeichnet, lebt, wenngleich viel schwächer, auch in diesem Tonbilde. Sehen wir mehr auf die Gesammtanlage der Cantate, so bildet sie die Vorläuferin jener gewaltigen Bachschen Werke, in denen er Kirchenlieder, wie »Christ lag in Todesbanden« mit Wahrung der Originalmelodie durchcomponirte. Sie fallen freilich in die Zeit seiner höchsten Entwicklung; trotzdem möchte ich glauben, daß er auch als Jüngling schon sich in dieser Gattung versuchte und vielleicht war die bereits erwähnte Sinfonia vor der ebengenannten Cantate von einem solchen Jugendwerke hergenommen. Wir erkannten es an einem schlagenden Beispiele, und werden deren noch mehre antreffen, wie grade die Eindrücke seiner Jugendzeit lebendig in ihm [306] fortwirkten und plötzlich nach vielen Jahren in verklärter und durchgeistigter Gestalt wieder emportauchten. – Zur vierten Strophe werden alle drei Singstimmen verwendet, und die Instrumente treten abwechselnd dazu und dazwischen. Auch sie beginnt mit leidenschaftlichen Ausrufen: »Weg! weg! weg mit allen Schätzen«; ebenso contrapunctirte Bach in der Motette. Die fünfte Strophe ist dem zweiten Sopran zugetheilt, der im Sechsachteltakt die Melodie colorirt und ausweitet, die Orgel allein begleitet. In der sechsten Strophe endlich vereinigen sich alle und in reicher fünfstimmiger Harmonie schließt das interessante Werk. Noch zwei andre Cantaten der handschriftlichen Sammlung sind über Kirchenlieder gesetzt, die eine über Michael Pfefferkorns »Was frag ich nach der Welt«, die andre auf das Lied »Meine Seele, willst du ruhn« von Angelus Silesius. An ihre ursprünglichen Melodien aber hat sich Buxtehude nicht gebunden, sondern sie nur als benutzbare geistliche Dichtungen aufgefaßt und ganz frei mit seiner Musik ausgestattet, ein Verfahren, was Hammerschmidt und Schütz selbst bei alten Kernliedern nicht gescheut hatten.

Ein bemerkenswerthes Zeichen der Zeit ist, daß mehre Cantaten nur für eine Singstimme geschrieben sind. Zu ihnen gehört die Composition: »Herr, nun lässest du deinen Diener in Frieden fahren« u.s.w. Ihr erster Abschnitt, dem eine Symphonie vorhergeht, ist dadurch auffallend, daß er sich aus dem Arioso zu bestimmterer Form herauszuarbeiten sucht, und wenn er auch das steife Wesen der Ritornelle noch nicht ablegt, doch durch Wiederholung des melodischen Hauptgedankens gegen das Ende eine Abrundung anstrebt. Es ist derselbe Fall, wie in dem Tenor-Solo und der Sopran-Arie von Bachs Ostercantate. Auch der zweite Abschnitt ist formell bedeutungsvoll, da er eine ganz artige Fuge zwischen dem Tenor und den beiden Violinen entwickelt, in die jedoch der stützende Bass nicht mit hineingreift. Hier taucht der entschiedene Versuch auf, zu einem neuen Stile zu gelangen42. Ferner ist für eine Solostimme geschrieben die Cantate »Herr, wenn ich nur dich habe«; in ihr wird erst der Bibelspruch ariosoartig durchgeführt, dann folgt eine [307] zweistrophige Arie, darauf ein instrumentales Zwischenstück, und endlich ein langes »Amen«, dergestalt, daß die Singstimme jedesmal eine mehrtaktige Coloratur über der ersten Wortsilbe anstimmt, auf welche die Instrumente antworten, und so bis ans Ende. Auch die 17. Cantate: »Ich bin eine Blume zu Saron« ist merkwürdiger Weise nur einer Bassstimme gegeben, obgleich die Worte – es ist der Anfang des zweiten Capitels vom Hohenliede – das Gespräch zweier Liebenden enthalten43.

Die noch übrigen Stücke bieten keine wesentlich neuen Formen dar, welche wir aufzeigen müßten, so viel einzelne Schönheiten und Feinsinnigkeiten auch noch in ihnen niedergelegt sind44. Besonders zeichnet sich die Composition: »Ich habe Lust abzuscheiden« durch große Weichheit und Innigkeit und durch einen sehr schönen, hinsterbenden Schluß aus, der eine Empfindung anregt, welche in Bachs Cantate »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« voll ausschwingen sollte.

Fußnoten

 

 

 

IV.

 

Als das Jahr 1706 ins Land gekommen war, erinnerte sich Bach allmählig, daß nicht Lübeck, sondern Arnstadt seine Heimath sei. Vielleicht hätte es an ihm gelegen, sich in der alten Hansestadt eine neue zu gründen, denn es ist kaum anzunehmen, daß man ihn nicht gern zu Buxtehudes Nachfolger gemacht haben würde, wenn er sich zur Heirath mit dessen ältester Tochter entschlösse. Welche Richtung dann sein Geist genommen haben würde, und ob er sich in der Nähe der Hamburger Oper, in reichlichen Lebensverhältnissen und [308] von glänzenderen Kunstmitteln umgeben, seine volle Tiefe bewahrt hätte, steht dahin. Aber die vorgerückteren Jahre der Tochter werden ihn eben so sehr, wie Mattheson und Händel zurückgeschreckt haben, vielleicht war auch seine Neigung schon anderweitig gefesselt. So überließ er es einem andern und ältern Musiker, mit der Braut die Anwartschaft auf das Organistenamt zu St. Marien sich zu sichern: Johann Christian Schieferdecker, zuvor Cembalist im Hamburger Opernorchester, wurde Buxtehudes Nachfolger. Seine ihm mit der Stelle »begebene« oder »conservirte« Gattin, wie man es zu nennen pflegte, lebte aber nicht lange mehr, denn er nahm schon 1717 die dritte Frau und starb selber 1732. – Es mag in den ersten Tagen des Februar gewesen sein, daß Bach sich von dem greisen Meister verabschiedete, den er nicht wiedersehen sollte, da der Tod ihn am 9. Mai 1707 den Lebenden und der Kunst entzog. Auf der Rückwanderung kann er Lüneburg berührt und Böhm begrüßt, er kann auch zuvor in Hamburg einen Rasttag gemacht haben. Der 21. Februar fand ihn schon einige Tage wieder daheim in seiner thüringischen Einsamkeit.

Auf diesen Tag erhielt er vom Consistorium eine Vorladung. Man war in Amtsangelegenheiten keineswegs pedantisch, ja weniger exact, als wünschenswerth. Allein eine Urlaubsüberschreitung, die aus vier Wochen sechzehn machte, ging denn doch über das Maß der Nachsicht hinaus. Dazu kam, daß die geistliche Behörde mit Bachs Dienstleistungen keineswegs zufrieden war und Grund dazu hatte. Denn so gerechtfertigt wir es jetzt finden, daß Bach die freie Kunst seines Orgelspiels als Hauptsache und ihre Anwendung auf den Gottesdienst als Nebensache ansah, so wenig konnte seinen kirchlichen Vorgesetzten zugemuthet werden, einer noch ungeklärten Genialität zu Gefallen alle Rücksichten gegen die Gemeinde außer Acht zu setzen. Bach ließ seiner üppigen, in unzähligen Keimen aufsprossenden Productionskraft auch durch den Gemeindesang, vor dem er hätte in die zweite Linie zurücktreten müssen, keine Vorschriften machen. Er colorirte selbst während des Singens die Melodie in neuer, kühner und ausschweifender Weise, und gewiß haben ihn in dieser Unsitte, von der er sich später fast ganz freigemacht zu haben scheint, seine engen Beziehungen zu den nordländischen Orgelmeistern besonders bestärkt, obgleich sie allgemein [309] verbreitet war1. Er wird auch, obgleich dies nicht wörtlich überliefert ist, seinem auf harmonische Vertiefung gerichteten Streben unbekümmert nachgegeben haben, und man weiß ja, wie sehr auch die bekannteste Melodie durch ungewöhnliche Harmonisirung ihr Gesicht verändern kann. Er hatte es so getrieben, daß die Gemeinde oft nicht wußte, was sie hörte, und in Verwirrung gerieth2. Wir besitzen noch ein interessantes Orgelstück frühester Zeit, was auf seine damalige Spielart ein helles Licht wirft. Dies ist der Choral »Wer nur den lieben Gott läßt walten« mit Vor-, Zwischen- und Nachspielen, bei dem man auf den ersten Blick die praktische Bestimmung für den Gottesdienst erkennt und der in den ersten Arnstädter Jahren geschrieben sein muß, da er viele Spuren von Böhms Manier trägt und das Pedal sehr wenig verwendet. Praeludirt wird neun Takte lang mit Sechzehntelfigurationen, die meist in der rechten Hand liegen und auf den Harmoniengang des Chorals hindeuten. Dann folgt dieser selbst dreistimmig mit stark verbrämter Melodie, deren vorletzte Zeile beispielsweise dieses Aussehen hat:


 

4.


 

Die Zwischenspiele sind durchaus nicht regelmäßig zwischen jeder Zeile eingefügt, was doch nothwendig, wenn sie einmal gemacht werden; sie erscheinen zwischen der ersten und zweiten, zwischen der zweiten und dritten nicht, wiederum zwischen der dritten und vierten, dann in größerer Ausdehnung vor Beginn des Abgesanges, [310] fehlen aber wieder vor der letzten. Es ist sehr wohl möglich, ja wahrscheinlich, daß Bach diejenigen Zeilen, die sich wie Vordersatz und Nachsatz zu einander verhalten, nicht trennen wollte: dies ist poetisch fein gedacht, aber ganz unpraktisch gegenüber der Gemeinde, die darin nur Willkürlichkeit sehen mußte3. Sodann war er auch im freien Spiel vor den einzelnen Gesängen über das billige Maß zu weit hinausgeschritten; als ihn aber der Superintendent Olearius ersucht hatte, sich etwas einzuschränken, hatte er sich nun so kurz gefaßt, daß die Absichtlichkeit allgemein auffiel. Ein Zug von leicht gereizter Empfindlichkeit und von Eigensinn tritt hier zum ersten und nicht zum letzten Male in seinem Charakter hervor; er war ein Familienerbtheil, und wenn wir ihn bei Ambrosius Bach nicht direct nachweisen konnten, so erinnert sich doch der Leser an die Eheangelegenheit seines gleichgearteten Bruders. Endlich hatte er sich auch mit seinem Sängerchore gänzlich verfeindet und folglich nicht im geringsten mehr um ihn bekümmert. Einmal war ihm der Chor zu schlecht und er zu sehr mit der eignen Ausbildung beschäftigt, als daß er Lust gehabt hätte, sich um die Fortschritte desselben zu bemühen; er übersah nur dabei, daß es in der Natur der Sache lag, wenn ihm nicht die besten Kräfte des Ortes zugewiesen wurden, da seine Anleitung ja nur eine Vorschule für den Hauptchor der Oberkirche bilden sollte; er übersah in seiner jugendlichen Hitze, daß er trotz seiner eminenten Gaben doch endlich seine Pflicht zu erfüllen hatte, und er übersah das ausgesprochene Wohlwollen, mit dem man ihn aufgenommen, und das große Vertrauen, was man in ihn gesetzt hatte. In der That ist selbst bei dem endlich nothwendig gewordenen Einschreiten das Consistorium doch von aller Engherzigkeit und Härte vollständig frei zu sprechen, und es hat sich auch nachher noch über Erwarten milde und geduldig erwiesen. Andrerseits war freilich auch für einen jungen, kaum zwanzigjährigen [311] Künstler das Auskommen mit den Schülern, die zum Theil nur wenig jünger sein konnten, als er, ziemlich schwierig. Die treffliche Zucht, welche der energische und wackre Rector Treiber anfänglich in der Schule herzustellen gewußt hatte, war geschwunden, seitdem Johann Gottfried Olearius zum Superintendenten und Schulinspector berufen war, dem die Interessen der Schule wenig am Herzen lagen. Nun wurde allmählig zuerst Treibers Autorität durch willkürliche, von seinen Feinden veranlaßte Eingriffe in seine Rechte untergraben, sein Einfluß geschwächt und gebrochen, dadurch der Unordnung im Schulwesen und endlich der gänzlichen Verwilderung das Thor geöffnet. In einer Eingabe des Stadtraths an das Consistorium vom 16. April 1706 wird über den unbändigen, freien und ungehorsamen Sinn der Schüler geklagt. »Vor ihren Lehrern«, heißt es dort, »haben sie keine Scheu, raufen sich in ihrer Gegenwart und begegnen ihnen in der anstößigsten Weise. Sie tragen den Degen nicht nur auf der Straße, sondern auch in der Schule, spielen unter dem Gottesdienste und während der Unterrichtsstunden Ball, und laufen wohl gar an ungeziemende Orte«4. Wenn aber reife und würdige Männer sich bei der zuchtlosen Jugend keinen Respect verschaffen konnten, wie sollte es einem unerfahrenen, reizbaren Jünglinge gelingen?

Das Protokoll des vom gräflichen Consistorium mit und über Bach angestellten Verhöres gehört zu den interessantesten Documenten seines Lebensganges. Es möge daher genau in der Fassung folgen, in der es uns erhalten ist. Was etwa veraltete Ausdrucksweise und Orthographie dem Lesenden an Unbequemlichkeit verursacht, wird die Lebendigkeit der gewonnenen Anschauung wieder aufwiegen; denn in den äußern Formen spiegelt sich das Wesen der Zeit5.


 

[312] »Actum d. 21. Febr. 706.

Wird der Organist in der Neuen Kirche Bach vernommen, wo er unlängst so lange geweßen, vnd bey wem er deßen verlaub genommen?


 

Ille

Er sey Zu Lübeck geweßen vmb daselbst ein vnd anderes in seiner Kunst Zu begreiffen, habe aber zu vorher von dem Herrn Superintend Verlaubnüß gebethen.


 

Dominus Superintendens

Er habe nur auf 4 wochen solche gebethen, sey aber wohl 4 mahl so lange außen blieben.


 

Ille

Hoffe das orgelschlagen würde unterdeß von deme, welchen er hierzu bestellet6, dergestalt seyn versehen worden, daß deßwegen keine Klage geführet werden könne.


 

Nos

Halthen Ihm vor daß er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thöne mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden. Er habe ins Künfftige wann er ja einen tonum peregrinum7 mit einbringen wolle, selbigen auch außzuhalten, vnd nicht zu geschwinde auf etwas andres zu fallen, oder wie er bißher im brauch gehabt, gar einen tonum contrarium8 zu spiehlen. Nechstdeme sey gar befrembdlich, daß9 bißher gar nichts musiciret worden, deßen Ursach er geweßen, weile mit den Schühlern er sich nicht comportiren wolle, Dahero er sich zu erclähren, Ob er sowohl Figural alß Choral mit den Schühlern spiehlen wolle. Dann man ihm keinen Capellmeister halthen könne. Da ers nicht thuen wolte, solle ers nur categorice von sich sagen, damit andere gestalt gemachet vnd iemand Der dießes thäte, bestellet werden könne.


 

[313] Ille

Würde man ihm einen rechtschaffenen Director schaffen, wolte er schon spiehlen.


 

Resolvitur

Soll binnen 8 tagen sich erclähren.

Eodem. Erscheint der Schühler Rambach10 vnd wird Ihm gleichfalß vorhalt gethan wegen der désordres, so bißher in der Neuen Kirche Zwischen denen Schühlern vnd dem Organisten passiret.


 

Ille

Der Organist Bach habe bißhero etwas gar zu lang gespiehlet, nachdem ihm aber vom Herrn Superintendent derwegen anzeige beschehen, währe er gleich auf das andere extremum gefallen, vnd hätte es zu kurtz gemachet.


 

Nos

Verweißen ihm daß er letztverwichenen Sontags unter der Predigt im Weinkeller gangen.


 

Ille

Sey ihm leid sollte nicht mehr geschehen, vnd hätten ihm bereits die Herrn Geistlichen derwegen hart angesehen. Der Organist hätte sich über ihn wegen des Dirigirens nicht zu beschwehren, indeme nicht Er sondern der Junge Schmidt es verrichtet11.


 

Nos

Er müße sich künfftig gantz anders vnd beßer alß bißher er gethan, anstellen, sonst würde das guthe, so man ihm Zugedacht wieder eingezogen werden. Hätte er gegen den Organisten etwas Zu errinnern, solle ers gehörigen orths anbringen, vnd sich nicht selbst recht[314] Geben, sondern sich dergestalt bezeigen, daß man mit ihm zufrieden seyn könne, welches er versprach. Ist auch hierauf dem Cantzley Diener anbefohlen, demRectori zu sagen, daß er Rambach 4 Tage nach einander 2 Stunden ins Carcer gehen laßen solle.«

Obgleich das Consistorium in seinen Forderungen an Bach nach dem Protokolle mit sehr nachdrücklichen Worten auftrat, so blieb doch das Verfahren nachsichtig und zuwartend. Im Orgelspiel mag sich der Künstler den geäußerten Wünschen mehr anbequemt haben, und wegen der Differenzen mit dem Schülerchore war man unparteiisch genug, anzuerkennen, daß die Schuld auf beiden Seiten lag: man dachte an eine Aenderung des Verhältnisses. So ließ man die von Bach binnen acht Tagen geforderte Erklärung einstweilen ausstehen, und hoffte, er werde sich im Verlaufe von selbst mit dem Chore wieder zusammen finden. Dazu war freilich in Wirklichkeit wenig Aussicht vorhanden, zumal Bach, gehoben und erfüllt durch das in Lübeck genossene Kunstleben, jetzt mehr noch als zuvor mit sich selbst beschäftigt gewesen sein wird, und sicher die ihm zugemutheten Plackereien mit den sittlich wie musikalisch rohen Schülern ganz unleidlich fand.

Die Einwirkung von Buxtehudes Musik läßt sich an einigen formalen Erscheinungen durch Bachs ganzes Leben verfolgen; ideal ging sie bald in dem gewaltigen Strome eigner Originalität unter, weil des älteren Meisters musikalisches Empfinden beschränkter und demjenigen Bachs nahe verwandt war. Die Compositionen also, welche in der ganzen Anlage oder in der besondern Empfindungsweise eine offenbare Anlehnung an Buxtehude zeigen, werden wir ein Recht haben sämmtlich für Werke aus Bachs frühester Zeit zu halten, die größtentheils bald nach seiner Rückkehr aus Lübeck, theilweise vielleicht auch schon vor seiner Wanderung dorthin geschrieben wurden12. Denn ganz unbekannt konnte er schon vorher mit Buxtehudes Kunst nicht gewesen sein, was hätte ihn sonst in seine unmittelbare Nähe treiben sollen? er muß vielmehr aus seiner Lüneburger Zeit und durch Böhm gewußt haben, welcher Werth den Leistungen desselben inne wohne.

[315] Vocalcompositionen, welche denen Buxtehudes direct nachgebildet wären, vermag ich nicht aufzuweisen. Die Cantaten der nächsten Jahre bewegen sich freilich in der beschriebenen ältern Form, sind aber in hohem Grade von eignen Gedanken erfüllt. Trotzdem ist der Eindruck, den er auch von dieser Seite erhielt, sicherlich ein bedeutender gewesen, und Andeutungen darüber, wie er in spätern Werken einige Male unvermuthet zu Tage tritt, wurden schon gemacht. Daß besonders die Abendmusiken ihn tief angeregt haben, ist nicht minder glaubhaft. Wer die holden und erhabenen Ahnungen der Adventszeit und die glanzerfüllte, reine Freude der Weihnachtstage in so gesättigter Weise zum musikalischen Ausdruck bringen kann, wie es Bach in seiner Advents-Cantate von 1714 und in seinem Weihnachtsoratorium gethan, dem mußte die ganze Poesie jener von Lichterschimmer und musikalischem Glanze strahlenden Aufführungen in der winterlichen Kirche sich voll erschließen. Von Instrumentalwerken läßt sich eine Reihe namhaft machen, in denen der enge Anschluß unverkennbar ist. Schon die früher besprochene Fuge in C moll verräth ihn, besonders in der Form des vorangeschickten Praeludiums, vom Anfang bis ans Ende aber ein Praeludium mit Fuge aus A moll und zwar in einigermaßen unreifer Weise13. Die Composition hat den Anschein, als sei sie nur erst eine Nachahmung, keine aus innerer Verarbeitung fremder Elemente entsprossene Neugestaltung, als sei sie geschrieben, ehe dem Componisten Buxtehudes Weise ganz verständlich und lebendig geworden war, zuversichtlich also vor 1706, aber, der Pedaltechnik wegen, doch jedenfalls in Arnstadt. Sie besteht aus einem kurzen Praeludium, zwei durch einen Zwischensatz getrennten Fugen, und einem Nachspiel, was die Gänge des Vorspiels erweiternd wiederholt. Die zweite Fuge entwickelt sich aber nicht aus der ersten, beide haben selbständige Themen; was also den Organismus der nordländischen Fugenform eigentlich bedingt, ist außer Acht gelassen, die Composition fällt in zwei Theile auseinander, und wird durch das wiederkehrende Vorspiel nur äußerlich zusammengeschlossen. Ganz auffällig ist das erste Thema den Mustern der nördlichen Meister nachgeahmt: mechanisch bewegt und melodisch [316] ausdruckslos dreht es sich im engsten Kreise umher, und keine reiche Entwicklung entschädigt, wie es dort zu sein pflegt, für die Unbedeutendheit. Es steigt in vier Einsätzen ununterbrochen und ohne Rücksicht auf eine bestimmte Stimmenzahl abwärts, wiederholt unten angekommen dieses Manöver noch einmal, schließt in C dur und ist fertig. Das zweite Thema hat eigenthümlicheren Wuchs, lehnt sich aber dadurch an Buxtehudes Manier, daß es sofort ein Gegenthema mitbringt, von dem es sich im ganzen Verlaufe im einfachen und doppelten Contrapuncte begleiten läßt, was leicht zu einer auch hier nicht vermiedenen Monotonie führt. Aus einem Anhängsel des Themas, welches zuerst im 52. Takte erscheint, entwickelt sich später ein selbständiges freifigurirtes Spiel, das im Einzelnen wie Ganzen wiederum sehr an Buxtehude mahnt, und den Fugensatz abschließt, so daß der Hauptgedanke nicht weiter gehört wird. Dieses Herausspinnen eines neuen Motivs ist recht geschickt und unmerklich gemacht. Einzelzüge, aus denen die wirkliche Nachahmung oft noch klarer erkennbar ist, als aus der Gesammtform, ließen sich zu diesem Zweck in Menge anführen; so die Art der Figuration, z.B. der Doppeltriller im sechsten Takt vom Ende, die Soloeinsätze des Pedals, das dreimal wiederholte Achtel in dem neugebildeten Motive, die zweimal recht absichtlich herbeigeführten Querstände in den breiten Harmonienfolgen des Zwischensatzes, das lange Verweilen auf der Unterdominante vor dem Schluß, der mit der großen Terz ausklingt. Auch fehlen Härten und Ungelenkigkeiten nicht, besonders störend werden wir Takt 15 und 24 in der Hoffnung, auf dem dritten Viertel nach C dur zu gelangen, getäuscht, und Takt 51 klingt das plötzliche Abschneiden der Oberstimmen durchaus nicht angenehm. Ungleich gereifter und von warmer innerer Betheiligung zeugend ist eine Fantasia in G dur14, so genannt, weil sie weder eine geordnete Fuge als Kern enthält, noch die Mannigfaltigkeit und den wechselnden Stil der Toccate bietet. Obwohl sie aus drei ausgeführten Sätzen besteht, herrscht doch eine vollständige thematische Einheit, grade wie sie Buxtehude liebte [317] und vorzugsweise ausbildete. Noch mehr, man kann seine große Composition in G moll, welche in die Ciacone ausläuft, oder andere Werke gleicher Art, gradezu als Vorbilder der Bachschen Fantasie bezeichnen. Als erstes Thema dient das schon früher erwähnte Kuhnausche:


 

4.


 

und auch die Contrapunctirung ist der jener Fuge aus dem ersten Theil der Clavierübung sehr ähnlich. Späterhin erscheint es in der Umkehrung, erweist sich wenig umgebildet als Keim des zweiten Satzes (Adagio E moll), nämlich:


 

4.


 

woraus endlich für den dritten Satz (Allegro G dur) sich das Ciacona-Thema entwickelt:


 

4.


 

Diese durch und durch Buxtehudesche Form, die in keinem späteren Werke Bachs wiederkehrt, läßt über die Entstehungszeit der Composition kaum einen Zweifel aufkommen. Auch das Merkmal des regellosen Pedalgebrauches trifft zu, und der zwischen Orgel- und Claviermäßigem unbestimmt schwankende Charakter, endlich der mehr auf der Oberfläche spielende, selten aus der Tiefe kommende Ausdruck. Die thematische Behandlung des ersten Satzes ist alterthümlich und frei: die Beantwortung erfolgt erst dreimal in der Octave, dann erscheint das Thema viermal auf der Dominante, dann wieder viele Male auf der Tonika, später zweimal in Moll. Im letzten Satze liegt der Grundgedanke bald unten, bald in der Mitte, bald oben, verändert auch seine Stellung innerhalb der Tonleiter. Wie er von schön imitirenden Sechzehntelgängen allseitig umwoben wird, und dabei plastisch groß hervortritt, wo er nur erscheint, das ist ganz vortrefflich ausgeführt und zeigt, wie der Tonsetzer sich des innern Wesens seines Vorbildes nun mehr bemächtigt hatte. Wie dort, wo er sich an Böhm, an Kuhnau anschloß, so zeigt er auch hier, daß [318] sein universales Talent die verschiedenen Richtungen seiner Zeit völlig zu verarbeiten die Kraft hatte; dadurch stellte er sich die breite Grundlage her, auf der die eigne Production sicher und thurmhoch sich erheben sollte. Falsche, überfrühe Originalität zu zeigen, fiel ihm nicht ein, aber doch gab er auch jetzt schon immer etwas eignes dazu.

 

Langsam auf- und absteigende Tonleitergänge in den Bass zu legen und sie mit möglichstem Glanze zu contrapunctiren, wie es hier geschehen ist, war auch Bruhns und Buxtehude als dankbare Orgelaufgabe erschienen. Bach hat in weitgreifender Weise dieses Motiv für ein großes Orgelstück zur Anwendung gebracht, welches ebenfalls den Titel Fantasia führt und derselben Tonart sich bedient15. Doch würde das nicht entscheidend sein für eine Besprechung an dieser Stelle, wenn nicht die Harmonik der Fantasie und die aus ihr zu Tage tretende Empfindungsart in einem solchen Maße die Buxtehudesche wäre, wie in keinem Bachschen Werke jemals wieder. Wenn irgend etwas, so legt sie ein Zeugniß dafür ab, wie ganz zeitweilig Bach von Buxtehudes Eigenart erfüllt gewesen sein muß. Sie macht den Eindruck, als ob er entschlossen gewesen sei, sich in den berauschenden Klängen, welche ihm von dorther genaht waren, einmal ganz auszuschwelgen. Unersättlich werden jene doppelten Vorhalte, Nonenaccorde, verminderten Intervalle, weitgespannten Harmonielagen, enthusiastisch sich aufschwingenden und einander überbietenden Melodiegänge wiederholt – ein entzücktes Genießen im Klangmeer, was nicht zurückdenkt und nicht fragt, welches das Ende sein wird! So ist denn auch das lange Grave hindurch die volle Fünfstimmigkeit fast immer beibehalten, nur im 102. Takte setzt das Pedal für wenige Zeit aus. Gegen das Ende hin und zumal von dem genannten Takte an tritt auch das Tonleitermotiv erst mächtig und langathmig hervor, mehr und mehr steigert sich nun der Ausdruck zu einer unbeschreiblichen Intensität und Gluth, welche weit, weit über das Leistungsvermögen der Orgel sich hinausschwingt: das Pedal steigt langsam und unwiderstehlich vom D durch zwei Octaven in ganzen Noten aufwärts, dann liegt es im gewaltigen Orgelpunkte lange wieder auf dem Ausgangstone, die [319] linke Hand übernimmt das Motiv in Terzen, und darüber schwingen sich die Contrapuncte weiter und weiter auf, bis auf dem verminderten Septimenaccorde abgebrochen wird und wie aus einer Regenwolke unter Sonnenschein, in Zweiunddreißigstel-Sextolen voll kühner Wechselnoten, tausende von glitzernden Ton-Tropfen niederrauschen.

Wiederum innerlich wie äußerlich seinem Vorbilde nachgeschaffen ist eine Fuge im Zwölfachteltakt und gleichfalls in G dur16. Wer den Schlußsatz der ersten großen E moll-Fuge und die C dur-Fuge Buxtehudes mit ihr vergleicht, wird im Einzelnen wie im Ganzen dies Urtheil auf den ersten Blick bestätigen. Manche Züge stimmen auf das genaueste überein: die mit besonderer Pedalberücksichtigung erfundenen Figurationen des Themas, die leicht ausführbar sind und brillant klingen, die wiederholte Begleitung desselben in kurzen jambisch gemessenen Accordschlägen und mehres andre. Nur beseelt ein kühnerer Schwung, ein tieferes Athmen das meisterlich gestaltete Stück, welches sonst ebensowohl Buxtehude gemacht haben könnte. Weiter ist hier ein Praeludium mit Fuge aus Es dur zu erwähnen17. Mehre Male schon wurde der Name und die Kunst J. Jakob Frobergers aus Halle genannt, der in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu den hervorragendsten Clavier- und Orgelmeistern in Deutschland gehörte. Er hatte obgleich Mitteldeutscher sich doch vorwiegend der südländischen, damals durch Frescobaldi zu Rom in hoher Blüthe stehenden Orgelkunst hingegeben. Doch waren seine Leistungen durch ganz Deutschland anerkannt und geschätzt, am wenigsten wohl in der eignen Heimath, da er dem Choral seinem Bildungsgange gemäß fern blieb, viel mehr im Norden. Daß seine Toccaten zur Ausbildung der nordländischen mehrtheiligen Fugenform beigetragen haben, wurde schon bemerkt. Froberger steht rücksichtlich der freien Orgelcomposition zwischen Süd- und Nordländern seiner Zeit ungefähr in der Mitte. Es wird erzählt, daß in dem Buche des ältern Bruders, das Bach sich in Ohrdruf heimlich [320] abschrieb, auch Stücke von Froberger gestanden haben, so daß er dieses Künstlers Bekanntschaft schon als Knabe gemacht hätte18. Die Nordländer, von welchen er später lernte, hatten Froberger freilich längst überholt, aber sie wiesen doch auf ihn hin und hinderten das Vergnügen nicht, was Bach, durch früheste Eindrücke bestimmt, an dessen Werken fand. Daß dies wirklich der Fall gewesen, wird durch Adlung, einen persönlichen Bekannten Bachs, bezeugt, wenn er sagt: »Frobergern hat der selige Leipziger Bach jederzeit hoch gehalten, obschon er etwas alt«19. Doch liegt es in der Natur der Sache, daß von einer bedeutenden lebendigen Einwirkung desselben auf sein eignes Schaffen kaum die Rede sein kann, und er die hauptsächlichsten Elemente Frobergerschen Geistes durch die ihm jedenfalls näher stehenden Nordländer empfing. In der That ist das einzige Werk, wo neben oder unter Buxtehudes Manier auch diejenige Frobergers hervortritt, die genannte Fuge mit Praeludium. Dieser liebt es, am Anfang und Schluß seiner Toccaten bald über bald unter liegenden Accorden eine Art von Passagenwerk zu entfalten, welches die Noten verschiedener Werthe regellos durch einander mischt, und an diesem unruhigen Charakter sogleich erkennbar wird. Aus einem solchen Keime wuchs Buxtehudes Praeludium auf, der aber schönes Gleichmaß, Ordnung und Entwicklung in das Gangwerk brachte; auch seine geistvollen Nachspiele mögen mit den Schlußfigurationen der Frobergerschen Toccate zusammenhängen. Bachs Composition erinnert nicht nur durch die Art des Laufwerks (z.B. die zickzackartig absteigenden Sechzehntel-Gänge) und die massigen Mitklänge sehr an Froberger, sondern auch dadurch, daß die Fuge wieder in ein flüchtiges und innerlich mit ihr garnicht zusammenhängendes Figurenwesen von solcher Ausdehnung zurückkehrt, wie der Componist sie später nie mehr zugelassen hat. Andrerseits fließen doch auch wieder die Passagen ruhiger dahin und erhalten durch Imitationen mehr Zusammenhang, so wie es bei Buxtehude geschieht. Beider Einflüsse scheinen mir in der Fuge zurückzutreten: das Thema ist für den Lübecker Meister nicht beweglich genug, die Art [321] der contrapunctischen Erfindung nicht die seinige, für Froberger ist die Harmonie zu complicirt20.

Zu den bedeutsamsten Werken dieser Periode gehört eine große viertheilige Orgelcomposition in C dur; es ist die motivisch erweiterte Fugenform Buxtehudes im vollentwickelten Wuchs21. Ließ die compositorische Technik schon bei der Mehrzahl der zuvor genannten Arbeiten kaum etwas vermissen, so ist hier auch die inhaltliche Selbständigkeit so groß, daß das Werk hart an der Gränze allseitiger Meisterschaft steht. Der in zwei Handschriften sich findende Zusatz: concertato zeigt, wie es auch als ein Probestück der Virtuosität angesehen wurde, und reicht es hierin noch nicht an Bachs spätere Schöpfungen heran, so erfordert es doch immer schon einen sehr hohen Grad von Finger- und Fußfertigkeit, und klingt mächtig und brillant. Vielleicht schrieb es Bach für sich, als er im Jahre 1707 sich außerhalb Arnstadts hören ließ. Es würde bedenklich sein, eine so frühe Entstehungszeit anzunehmen, läge nicht die Anlehnung um so klarer vor, als es der einzige Versuch Bachs in der motivisch erweiterten Fugenform ist, welchen war nachweisen können. Späterhin hat er ausschließlich die einsätzige und mit allen Kräften nach Innen arbeitende Fuge cultivirt, welche seinem Wesen mehr zusagte; nur in der letzten Epoche seines Schaffens kam aus dem Tiefgange seiner musikalischen Natur die ältere Form noch einmal an die Oberfläche in jener urgewaltigen Es dur-Fuge des dritten Theils der »Clavierübung«. Aber auch das Thema in der ersten Gestalt ist deutlich erkennbar von nordländischen Mustern beeinflußt, vom Laufwerk des Praeludiums und Zwischensatzes zu schweigen. Hingegen regt in der eigentlichen Fugenarbeit ein neuer Geist vernehmlich seine Schwingen: diese schönfließende Belebtheit sämmtlicher Stimmen, deren kaum irgendwo eine bloße Lückenbüßerin ist, diese kühne freigeschwungene Art der Contrapuncte im ersten Fugensatze fliegen schon über Buxtehudes beschränkteres und äußerlicheres Wesen hinaus zu neuen Zielen hin. Merkwürdig ist der zweite Fugensatz. Das dreitheilige Zeitmaß behält er zwar bei, aber die Anmuth und Heiterkeit, welche es doch an seinem Theile herstellen helfen [322] sollte, findet sich nicht. Es ist, als ob ein solcher Schluß Bachs Natur, dem »ernsthaften Temperament«, was ihm der Nekrolog beilegt22, zuwider gewesen sei; hier wenigstens hat er sich nur äußerlich einer Form gefügt, in deren Sinn einzugehen er keine Lust hatte, was wiederum die Composition in die Reihe der Entwicklungsarbeiten verweist, und uns ein neuer Wink ist, weshalb er von der Buxtehudeschen Fugenform so früh schon abging. Ganz im Gegensatze zu diesem Meister ist die Umbildung des Themas breit und gewichtig, die Durcharbeitung ebenso, fast feierlich, belebt sich später sehr schön durch Sechzehntel-Contrapunctirung, und schließt majestätisch in imposanter Accordfülle. Wo Buxtehude sich mit würdevoller Heiterkeit dem Hörer entgegenneigt, wendet Bach in heiligem Ernste das Antlitz nach oben. –

Doch wir haben uns zu erinnern, daß die Verwicklung zwischen unserm jungen Genie und seiner Behörde noch ihrer Lösung harrte. Bach selbst hielt dies nicht für nöthig, und aus den acht Tagen, binnen welcher er seine »kategorische« Erklärung abgeben sollte, waren inzwischen mehr als acht Monate geworden, ohne daß er den Wünschen des Consistoriums wegen des Schülerchors Gehör geschenkt hatte. Man begegnete aber auch dieser stillen Hartnäckigkeit mit neuer Milde, und begnügte sich vorläufig mit einer wiederholten Vorladung, deren kurzes Protokoll ebenfalls erhalten ist23:


 

 

»Actum d. 11. Novemb. 706.

Wird dem Organisten Bachen vorgestellet, daß er sich zu erclähren, ob wie ihm bereits anbefohlen er mit denen Schühlern musiciren wolle oder nicht; dann wann er Keine schande es achte bey der Kirchen zu seyn, vnd die Besoldung zu nehmen, müße er sich auch nicht schähmen mit den Schühlern so darzu bestellet so lange biß ein anders verordnet, zu musiciren. Dann es sey das absehen daß dieselben sichexerciren sollen, umb dereinst Zur music sich beßer gebrauchen zu lassen.


 

Ille

Will sich derwegen schrifftlich erclähren.


 

[323] Nos

Stellen ihm hierauf ferner vor auß was macht er ohnlängst die frembde Jungfer auf das Chor biethen vnd musiciren laßen.


 

Ille

Habe Magister Uthe davon gesaget.«

Die in Aussicht gestellte schriftliche Erklärung wird erfolgt sein, denn das Consistorium konnte die Sache unmöglich in ihrer halben Erledigung lassen; wir besitzen sie leider nicht mehr. Bach wird darin die Gründe seines Benehmens aus einer Reihe von einzelnen Conflicten mit den Schülern, etwa wegen deren Unpünktlichkeit, Trägheit, insolentem Benehmen, dann aus ihrer Untauglichkeit zur Musik und vielleicht mit einem Hinblick auf sein eignes ideales Streben und seine Leistungen entwickelt haben. Soviel läßt sich vermuthen; daß aber trotzdem die Mißstände, welche ihm seine Stellung verbitterten, keine gründliche Abhülfe erfuhren, legt sein Lebensgang schon im nächstfolgenden Jahre klar. Er suchte seitdem von Arnstadt fort und in andre Verhältnisse zu kommen; wir werden gleich sehen, daß es nicht um pecuniären Vortheils willen geschah, wie er denn in dieser Beziehung ja ganz zufrieden sein konnte, es müssen also einzig innere Gründe gewesen sein, die ihn hinweg trieben. Ob sie durch das Angeführte erschöpft sind, steht dahin, zu andern Vermuthungen aber fehlt jede sichere Handhabe.

Das Protokoll erwähnt noch einer »fremden Jungfer«, mit welcher Bach in der Kirche musicirt habe; allerdings hatte er es nicht gethan, ohne seinem Pfarrer, dem Magister Uthe, vorher davon Anzeige zu machen24, allein es war doch unangenehm bemerkt worden. Wollte man daraus etwa schließen, die Sängerin habe sich während des Gottesdienstes hören lassen, so würde man gleichwohl im Irrthume sein. So lange die Form der älteren Kirchencantate beibehalten wurde – und diese war damals in Arnstadt wenigstens noch die herrschende – konnte die Versuchung, Frauenstimmen in der Kirchenmusik zu verwenden, garnicht entstehen; erst mit Einführung der neuern, durch den Operngesang wesentlich beeinflußten [324] Cantate wagte man hier und da dem Grundsatze des taceat mulier in ecclesia zuwider zu handeln. Aber auch abgesehen hiervon würde Bach auf eine solche Neuerung schwerlich gesonnen und Uthe sie ganz sicher nicht zugelassen haben, so daß hier immer nur die Rede von einem privaten Musiciren in der Kirche sein kann. Was es nun für eine Sängerin gewesen sein mag, welche mit Bach zu ihrem beiderseitigen Vergnügen in der Neuen Kirche Musik machte, ist eine Frage, die wir nicht ganz ohne Hoffnung einer Lösung aufwerfen. Eine berufsmäßige Künstlerin könnte allenfalls auf Veranlassung der Gräfin von der braunschweig-wolfenbüttelschen Oper herüber gekommen sein. Aber es wäre bei Bachs Natur und musikalischer Richtung ganz unerklärlich, was denn die Bekanntschaft beider herbeigeführt und bis zu der Vertraulichkeit privaten Musicirens gesteigert haben sollte, nicht zu gedenken des Umstandes, daß Opernsängerinnen dem ältern einfachen Kirchengesange sicherlich nur naserümpfend gegenüber standen. Ein Ereigniß des nächsten Jahres zeigt uns die Spur: Bachs Vermählung mit seiner Base, der jüngsten Tochter Michael Bachs aus Gehren. Maria Barbara, so hieß die Erwählte, war am 20. October 1684 in Gehren geboren. Ihre Mutter, bekanntlich die jüngere Tochter des einstmaligen Stadtschreibers Wedemann zu Arnstadt, lebte noch daselbst bis zu ihrem am 19. Oct. 1704 erfolgten Tode. Es ist trotz der Zerstreutheit der Nachrichten ziemlich klar, daß Maria, damals 20 Jahre alt, sich zu der unverheiratheten Schwester ihrer Mutter, Regina Wedemann, nach Arnstadt begab, wo Sebastian sie kennen lernte und liebgewann25. Einige musikalische Befähigung setzt man für die Tochter eines hervorragenden und die Verlobte eines genial begabten Künstlers schon voraus, und wenn sie es nun gewesen wäre, die in jenem gerügten Falle die Sängerin in der Kirche vorstellte, so erschlösse sich uns dadurch eine anmuthige Episode aus dem Liebesleben des jungen Paares. Daß sie eine »fremde Jungfer« genannt wird, ist der Sachlage [325] völlig angemessen, da sie erst als erwachsenes Mädchen nach Arnstadt kam.

Die Art, in der sich Bach seinen eignen Hausstand gründen wollte, zeigt, wie ganz auch er von dem patriarchalischen Sinne erfüllt war, der sein Geschlecht auszeichnete und blühend gemacht hatte. Ohne in fernere Kreise hinüberzuschweifen, fand sein Blick in einer Verwandten, welche seinen Namen trug, die Persönlichkeit, von der er fühlte am sichersten verstanden zu werden. Will man es einen Zufall nennen, so ist es jedenfalls ein sehr bedeutungsvoller, daß Sebastian, in dem die Gaben seines Geschlechts zur höchsten Blüthe gediehen, zugleich auch der einzige unter den Stammesgenossen ist, der wieder eine Bach zur Gattin nahm. Wenn man die eheliche Vereinigung von Individuen aus blutsfremden Familien mit Recht als die Bedingung einer kräftigen Fortentwicklung in den Kindern ansieht, so deutet Bachs Wahl darauf hin, daß in ihm der Gipfel einer Entwicklung erreicht war, indem sein Instinct den natürlichen Weg, weitere Fortbildungen anzustreben, verschmähte und sich zum eignen Geschlechte zurückneigte. Seine zweite Ehe schloß er allerdings mit einer blutsfremden Persönlichkeit, daß aber die erste in gewisser Beziehung ihn in den naturgemäßeren Zustand gebracht hat, darf man vielleicht daraus schließen, daß die bedeutendsten seiner Söhne sämmtlich der ersten Ehe entsprossen sind. Sonst ist seine Verheirathung ein Zeichen, wie er nunmehr die Ausbildungsjahre für beendigt ansah. Als ausübender Künstler wie als Componist hatte er sich auf die Höhe der Zeit gearbeitet, und in der vollständig erworbenen Technik seiner Kunst sich die Form geschaffen, in welcher er von jetzt ab überwiegend Neuem und Eignem Gestalt gab. Natürlich geschah dies zu verschiedenen Zeiten in verschiedener und dem Fortgang seiner Jahre entsprechend in immer großartigerer, tieferer, unerhörterer Weise, und in gleichem Schritte vervollkommnete sich auch das äußere Können, so daß seine letzten Werke kaum mehr als gewisse Grundzüge mit den ersten gemeinsam haben. Zu streben und sich zu bilden hört ja der wahre Mensch niemals auf, ausgebildet hat er sich, wenn seine Kräfte zu eigner Thätigkeit voll erstarkt sind. Daß dies bei Bach der Fall war, zeigt deutlich auch seine Handschrift. Es haben sich freilich keine autographen Compositionen aus dieser Zeit finden lassen, dagegen [326] existiren noch fünf Quittungen über empfangenen Gehalt: vom 16. Dec. 1705, vom 24. Febr., 26. Mai und 15. Sept. 1706 und vom 15. Juni 170726. Die hier sich zeigende Schrift von reizender Klarheit, Eleganz und Sicherheit ist völlig dieselbe, welche uns in den fast unzähligen Werken seines langen Lebens so charaktervoll entgegen tritt. Um die Zeit der Matthäuspassion und der H moll-Messe ist sie wohl kühner, großartiger, aber so sehr sind die Züge sich im Grunde gleich geblieben, daß in sorgfältig und zierlich geschriebenen Partituren jener Zeit, wie der Cantaten »O ewiges Feuer« und »Weinen, Klagen«, fast kaum ein Unterschied von der Schrift des Zwanzig- und Einundzwanzigjährigen erkennbar ist. Die verbreitete Ansicht von Bachs langsamer Entwicklung derjenigen Händels gegenüber erweist sich bei nur annähernder Feststellung dessen, was er in seinen Zwanzigerjahren geschaffen hat, als ein Irrthum, und das Gegentheil würde der Wahrheit näher kommen. Bach war von den Umständen viel mehr begünstigt, als sein ebenbürtiger Zeitgenosse. Nicht nur daß ihn Geburt und alte Familientraditionen schon wie von selbst auf den rechten Weg wiesen, sein nächstes Ziel, die höchste Vervollkommnung der Orgelkunst, war auch auf viel einfachere Weise erreichbar: er leitete die Strebungen seiner bedeutendsten Vorgänger zusammen, überdachte den halbfertigen Dom und vollendete ihn durch himmelanstrebende Thürme. Die ungeahnten Bahnen, welche sein Riesengeist noch darüber hinaus eröffnete, kommen hier zunächst nicht in Frage. Händel mußte sich die Elemente seines Ideals viel mühsamer zusammen suchen, viel andauernder die einzelnen Bausteine seines Kunsttempels bearbeiten, und so sicher seinen Opern, seiner Kammermusik ein eminenter Kunstwerth innewohnt, so sind sie doch Bachs gleichzeitig geschaffenen Instrumentalwerken nicht beizuordnen. Uebereinstimmend mit diesem Verhältniß ist auch beider Stellung zu Mit- und Nachwelt: Bachs Ruhm gründet sich hauptsächlich auf die in seiner frühern und mittlern Lebenszeit geschaffenen Instrumentalstücke, derjenige Händels auf die in seinem mittleren und [327] höheren Alter entstandenen Oratorien. Da Bach sich vorzugsweise vertiefte, weniger ausbreitete, so fallen auch seine Lehr- und Wanderjahre zusammen, wenn von letzteren überhaupt viel die Rede sein kann. Er trat mit 22 Jahren in die Meisterzeit, und nach echt deutscher Sitte gehört zum Meister eine Meisterin. Es gehören auch Lehrlinge dazu, und vom Jahre 1707 an werden wir solche zu erwähnen haben.

Vorher jedoch sollte das Dienstverhältniß in Arnstadt gelöst werden. Es wird erzählt, daß ihm um diese Zeit, also in den Jahren 1706 und 1707, verschiedene Organistenstellen kurz nach einander angeboten seien27. Die Entscheidung brachte eine zu Ostern des letztgenannten Jahres abgelegte Spielprobe in der Blasiuskirche zu Mühlhausen.

Fußnoten

 

 

 

 

Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).

 

 

 

 

 

Fußnoten

 

I

 

1 Pfarr-Register der Stadt Eisenach. – Es mag hier daran erinnert werden, daß erst von 1701 an in dem evangelischen Deutschland der gregorianische Kalender eingeführt wurde, und alle vor diesen Termin fallenden Daten, wenn man sie mit der jetzigen Zählung in Einklang bringen will, um 10 Tage vorrücken. Das eigentlich Richtige ist deshalb, Sebastian Bachs Geburtstag auf den 31. März zu setzen. – Nach einer aus einem Nebenzweige der Familie stammenden Tradition soll das Haus am Frauenplan A. 303 des Meisters Geburtsstätte sein, und es ist daselbst von Seiten der Stadt unlängst eine Gedenktafel angebracht.


 

2 Nach der Genealogie.


 

3 Das Bild war später im Besitz von Philipp Emanuel Bach, und befindet sich jetzt auf der königl. Bibliothek zu Berlin, im ersten Zimmer der musikalischen Abtheilung.


 

4 Christiani Francisci Paullini Annales Isenacenses. Francofurti ad Moenum. Anno M.DC.XCVIII. pag. 237. Derselbe sagt an gleicher Stelle etwas weiter oben: Claruit semper urbs nostra Musicâ. Et quid estIsenacum κατ᾽ ἀναγρ. quàm en musica: vel: Isenacum, canimus.


 

5 Diese Söhne waren, soweit sie erwachsen wurden: Tobias Friedrich (geb. 1695), von 1721 Cantor zu Uttstädt; Johann Bernhard (1700), Organist zu Ohrdruf; Johann Christoph (1702), Cantor in Ohrdruf; Johann Heinrich (1707), Cantor zu Oehringen; Johann Andreas (1713), von 1744 Organist zu Ohrdruf. Nachkommen des dritten Sohnes leben noch jetzt daselbst.


 

6 Melchior Kromayer, Superintendent zu Ohrdruf, hatte im Jahre 1685 ein Kirchenbuch angelegt für die Lebensbeschreibungen und Besoldungsverhältnisse aller Geistlichen, Lehrer und Kirchendiener in der Stadt und der Umgegend. Dieses Buch, was unter anderm auch die eigenhändigen Biographien Johann Christoph Bachs und seiner Söhne Tobias Friedrich, Johann Bernhard, Joh. Christoph und Joh. Andreas enthält, wurde von dem Stadtsecretär Herrn Staudigel in Ohrdruf kürzlich wieder aufgefunden und mir in zuvorkommender Weise nutzbar gemacht. Brückner (Kirchen- und Schulenstaat, Th. III, St. 10, S. 95, 96 u.a.a. St.) hat es gleichfalls benutzt, wobei es jedoch nicht ohne Irrthümer abgegangen ist. Die Mittheilungen aus den Acten des Kirchen- und Schulamtes, sowie die Nachweise der Pfarr-Register verdanke ich der gütigen Vermittlung des Herrn Superintendenten Dr. Schulze in Ohrdruf.


 

7 Mizler, musikalische Bibliothek, IV, 1, S. 161. Irrthümlich wird hinzugefügt, daß Sebastian das Heft erst nach dem bald erfolgten Tode des Bruders zurück erhalten habe, und dieser Tod sei für ihn die Veranlassung gewesen, sich nach Lüneburg zu wenden. Forkel, a.a.O., S. 4 und 5 erzählt dasselbe. Wenn aber Sebastians Söhne und Schüler den Tod Joh. Christophs um etwa 20 Jahre zu früh ansetzten, so ist das wohl ein Beweis, daß man ihm eine große Bedeutsamkeit für Sebastians Entwicklung nicht beilegte; sonst hätte man sich wohl mehr um seine hauptsächlichsten Lebensereignisse gekümmert.


 

8 Rudloff, Geschichte des Lyceums zu Ohrdruf. Arnstadt, 1845. Derselbe theilt S. 20 ff. einen Lectionsplan mit, nach dem ich mich hier gerichtet habe; er ist freilich schon 1660 aufgestellt, allein es wurden im Laufe des Jahrhunderts höchstens die Anforderungen in den einzelnen Fächern etwas gesteigert, größere Mannigfaltigkeit der Disciplinen trat erst im Beginn des 18. Jahrhunderts ein. Geschichtsunterricht findet sich in Ohrdruf seit 1716 (Rudloff, S. 14), Französisch seit 1740 (ebend. S. 17).


 

9 Rudloff, a.a.O., S. 25.


 

10 Brückner, a.a.O., S. 83 und 86.


 

11 Concordia e Joh. Muelleri manuscripto edita. Lips. et Jenae, 1705. p. 59.


 

12 Brückner, S. 88.


 

13 Mizler, a.a.O.


 

14 Aus welchem Orte Erdmann gebürtig, habe ich nicht entdecken können. Wenn die Pfarr-Register vollständig sind, so war er in Ohrdruf selbst nicht geboren. Aus den im kaiserlich russischen Archiv zu Moskau über ihn vorhandenen Acten geht nur hervor, daß er aus Sachsen-Gotha stammte. Unauffindbar war auch der Charakter seiner Eltern.


 

15 Einige Nachrichten über die musikalischen Verhältnisse der Michaelisschule hat auf meine Veranlassung Prof. W. Junghans in Lüneburg aus den Acten des Klosterarchivs mit dankenswerther Sorgfalt zusammengesucht und dann nebst andern Mittheilungen über die Pflege der Musik in Lüneburg selber veröffentlicht im Oster-Programm des dortigen Johanneums von 1870.


 

16 Mizler, a.a.O.


 

17 Junghans, a.a.O., S. 26–28, hat den vollständigen Katalog mitgetheilt.


 

18 Auch zu dieser zweiten Sammlung hat Junghans den Katalog, wenn auch in abgekürzter Fassung, abdrucken lassen, S. 28 und 29. Die gesammte Chorbibliothek des Michaelisklosters ist jetzt verloren gegangen.


 

19 Junghans, S. 35 f. und S. 39.


 

20 Niedt, Handleitung, Th. II, S. 191.


 

21 S. den interessanten Brief Schützens an die Herzogin Sophia Elisabeth in dieser Angelegenheit, den Fr. Chrysander mittheilt, Jahrbücher für musikalische Wissenschaft I, S. 162 (Leipzig, Breitkopf und Härtel. 1863). Vergl. ebendas. S. 166 und 167.


 

22 Geboren 1628, wie Junghans S. 39 berechnet.


 

23 Walther, Musik. Lexicon, S. 98. Die Pfarr-Register zu Goldbach wissen nichts davon, wurden aber auch nicht immer sorgfältig geführt. Das Geburtsjahr hat Junghans (S. 39) nach einer eignen Angabe Böhms in einem Schreiben an den lüneburgischen Rath herausgerechnet.


 

24 Junghans, S. 38, scheint 1734 als sein Todesjahr zu bezeichnen; Mattheson dagegen im 1739 erschienenen »Vollkommenen Capellmeister«, S. 479, spricht von ihm, als ob er noch lebte.


 

25 Mattheson, Critica musica, Bd. I, S. 255 und 256.


 

26 Junghans, S. 40, nach einem Protokolle vom 13. Febr. 1705.


 

27 Johann Ernst war 1683 geboren, und es ist angemessen, daß wir uns solche auf eigne Kosten unternommene Ausflüge, die der Bildung gewissermaßen den letzten Schliff geben sollten, nicht vor dem vollendeten 17. oder 18. Lebensjahre gethan denken.


 

28 Die von J. Ch. W. Kühnau (Die blinden Tonkünstler. Berlin, 1810. S. 5 und 6) erzählte Anekdote, wie Sebastian auf dem Rückwege von Hamburg mit leerem Magen und noch geleerterer Tasche vor einem Wirthshause sitzt und plötzlich durch zwei aus dem Fenster geworfene Häringsköpfe, in denen eben so viele dänische Ducaten versteckt sind, überrascht wird, entbehrt jeder weiteren Beglaubigung, und ist auch für Sebastian in keiner Weise charakteristisch.


 

29 Mattheson, a.a.O. Walther, S. 517.


 

30 Befindlich in einem aus dem Nachlasse von Joh. Ludw. Krebs, Sebastian Bachs vorzüglichstem Schüler, stammenden Buche, welches, nachdem es durch die Hände zweier Altenburger Organisten gegangen ist, sich jetzt im Besitze von Herrn Musiklehrer F.A. Roitzsch in Leipzig befindet.


 

31 Diese Composition bewahrt die Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin handschriftlich.


 

32 Sie sind nebst der Toccate in einem Buche erhalten, welches Andreas Bach aus Ohrdruf, Sebastians Neffe, besaß und jedenfalls von seinem Bruder überkommen hatte, der in Weimar eine Zeit lang in Sebastians Hause lebte, worüber an geeigneter Stelle mehr. Neuerdings gehörte es C.F. Becker, der es mit seiner ganzen Bibliothek der Leipziger Stadtbibliothek vermachte.


 

33 Die »Meyerin« muß ein allgemeiner bekanntes Lied gewesen sein; auch Froberger machte darüber eine Reihe von eleganten Variationen, sie stehen in einer Sammlung von Toccaten, Fantasien, Canzonen u.s.w., die der Componist am 29. Sept. 1649 in Wien dem Kaiser Ferdinand III. dedicirte.


 

34 Mattheson, Der musikalische Patriot (Hamburg, 1728), S. 177.


 

35 Diese beiden letztgenannten Stücke stehen in einem andern, Krebs einstmals zugehörigen Orgelbuche, welches ebenfalls Herr Roitzsch besitzt.


 

36 Musikalische Bibliothek, a.a.O., S. 162. Hier wird es freilich mit Bezug auf Bachs Studien in Arnstadt gesagt, wo er sich jedoch von den Vorräthen nährte, die er während der Lüneburger Zeit eingeheimst hatte.


 

37 Ein im Provinzial-Archiv zu Hannover befindlicher Anschlag vom Jahre 1663: »Was zu einer bestelten rechten Capell gehörig«, den ich der Mittheilung des Herrn Archivrath Grotefend daselbst verdanke, lautet: »1. Ein Director Musices. 2. Ein Altist. 3. Ein Tenorist. 4. Ein Bassist [Gesammt-Bemerkung zu 2–4:] welche zugleich in frantzös. Musick eine Viol. gebrauchen könnten. 5. Zwo sowohl in rechter als in Französ. Musik bestelte Violisten, so bereits hie seyn. 6. Ein Viola da Gambist, welcher auch schon hie ist. 7. Ein Organist, der ebenmäßig alhie ist. 8. EinTrombonist oder Fagottist, so zugleich eine Stimme singet und in Französ. und rechter Music ein Violin gebraucht. 9. Ein Cornetist, der in Französ. Music ein Violin gebraucht. 10. Zwo Capelknaben. 11. EinCalcante. Summa 13 Personen.« Aus der Zeit des letzten Herzogs Georg Wilhelm bis 1705, wo die Linie ausstarb, fehlen leider alle Nachrichten.


 

38 Seine Thätigkeit als Orgelcomponist scheint bis jetzt ganz unbekannt gewesen zu sein. Ich besitze von ihm eine ausgeführte und gelungene Bearbeitung des Chorals: »Ich dank dir schon durch deinen Sohn«.


 

39 Musikal. Bibliothek, a.a.O. Daß die dort aufgestellte Behauptung, der französische Stil sei damals in der Gegend etwas neues gewesen, in dieser Allgemeinheit unrichtig ist, ergiebt sich aus dem obigen.


 

40 Das Autograph besaß früher Aloys Fuchs in Wien; wo es augenblicklich ist, darüber habe ich bis jetzt nur eine Vermuthung. Eine nach dem Autograph gefertigte Copie mit Aufschrift von Fuchs' eigner Hand hat die königl. Bibliothek zu Berlin. Beide Suiten enthalten übereinstimmend folgende Stücke: Ouverture, Allemande, Courante, Sarabande, Gavotte, Menuet, Gigue. Angehängt ist ein Verzeichniß von 29 verschiedenen Ornamenten nebst der Anweisung zu ihrer Ausführung. So lange das Autograph nicht wieder zum Vorschein gekommen ist, läßt sich nichts darüber sagen, ob es etwa in der Zeit von Bachs Lüneburger Aufenthalt oder später geschrieben sein mag.


 

41 Forkel, S. 15 (der ersten Aufl.). Dieser verdient hier um so mehr Glauben, als er sicherlich über diesen Gegenstand bestimmte und eingehende Nachrichten von Phil. Em. Bach erhalten haben wird.


 

42 An sich wäre eine solche Verwechslung leicht möglich, da die Namen der Orgelmeister über ihren Compositionen sehr viel nur durch die Anfangsbuchstaben angedeutet wurden, und für D.B. (Dietrich Buxtehude) leicht G.B. (Georg Böhm) geschrieben werden konnte. Von Pachelbels Choral »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« (Commer, Nr. 134) liegt mir eine alte Handschrift vor, die ihn mit G.B. signirt. Ich halte ihn aber dem ersteren für zugehörig.


 

43 Sie stehen in dem schon genannten Manuscripte Andreas Bachs.


 

44 Erschienen in der Gesammtausgabe Bachscher Instrumental-Werke bei C.F. Peters, Ser. V, Cah. 5, Abth. II, Nr. 1 und 2 (ich citire stets nach dem 1867 erschienenen thematischen Kataloge). Eine dritte Partiten-Gruppe über den Choral »Herr Christ, der ein'ge Gottssohn«, findet sich mit vielen andern Bachschen Chorälen in einem einstmals Joh. Ludw. Krebs zugehörigen Sammelbande, der jetzt im Besitz von Herrn F.A. Roitzsch in Leipzig ist, und ward noch nicht veröffentlicht. Bachs Name ist auch nicht ausdrücklich angegeben; trotzdem halte ich ihn für den Autor dieser sieben Partiten, die mit den andern etwa zu gleicher Zeit entstanden sein müssen. Daß jene von Bach in Arnstadt componirt seien, ist eine willkürliche Annahme Forkels (S. 60 der ersten Auflage), der sie zufällig in einer alten Abschrift besaß. Ein Autograph derselben ist bis jetzt nicht zu Tage gekommen. (Dagegen taucht, schon während des Druckes dieses Bandes, in der Schweiz das vermeintliche Autograph eines Partitenwerks auf über »Ach, was soll ich Sünder machen«. Ich hoffe, im zweiten Bande nachträglich darüber berichten zu können.)


 

45 B.-G. III, S. 212. – P.S. V, Cah. 7, Nr. 60.


 

46 P.S. V, Cah. 6, Nr. 15.


 

47 Diese noch unveröffentlichte Composition steht in dem schon genannten Krebs'schen Orgelbuche, welches auch den Reinkenschen Choral »Es ist gewißlich an der Zeit« enthält.


 

48 Gerber, N.L. I, unter dem Worte Dropa.


 

49 Junghans, a.a.O., S. 40 und 41.


 

50 »Ob ein Componist necessario müsse studirt haben.« Johann Beerens Musicalische Discurse. Nürnberg, 1719 [19 Jahre nach dem Tode des Verfassers]. Cap. XLI. Der Verfasser (er schreibt sich Bähr, Beehr, Beer) besaß selbst eine tüchtige Gelehrtenbildung, und entscheidet auch, daß es zwar nicht durchaus nöthig, aber doch besser für den Componisten sei, studirt zu haben.


 

51 Herausgegeben von Fr. Commer: Musica sacra I, 1–3. Dieser erhielt sie im Jahre 1839 von dem Berliner A.W. Bach, welcher sie nach einer Bachschen Handschrift aus der Sammlung des Grafen von Voss-Buch copirt haben wollte. Diese ganze Sammlung gelangte später an die königl. Bibliothek; die betreffenden Choralvorspiele sind aber nicht mehr darunter zu finden.


 

52 P.S. I, Cah. 9, Nr. 14.

 

II

 

1 Daß es Johann Ernst war, berichtet die Genealogie ausdrücklich. Eine Bestätigung ist das nähere Verhältniß, in welchem sich der Meister zu dem Sohne dieses Herzogs, Ernst August, befand, obgleich derselbe erst zur Regierung kam, als Bach Weimar längst für immer verlassen hatte.


 

2 Walther, Lexicon. Westhoff starb im Jahre 1705.


 

3 S. Anhang A. Nr. 9.


 

4 Olearius, Historia Arnstadiensis, S. 52, 55 und ff.


 

5 Arnstädter Consistorial-Protokolle vom 24. Nov. 1684.


 

6 Der Stifter hieß Johann Wilhelm Magen und starb am 11. Mai 1699. Acten, den Bau der Orgel in der Neuen Kirche betreffend, vom 1. Juli 1699 (fürstl. Archiv zu Sondershausen).


 

7 Acta, die Bestallung der Organisten zu Arnstadt betreffend, von 1670. Fol. 12, 22, 101, 102 (fürstl. Archiv zu Sondershausen).


 

8 a.a.O., Fol. 111.


 

9 Fol. 108. Zur richtigen Würdigung des Gehalts sei hier noch einmal daran erinnert, daß sein Nachfolger Johann Ernst Bach an derselben Stelle nur 40 Gülden, und als Organist an der Barfüßer- und Liebfrauenkirche noch im Jahre 1728 nicht mehr als 77 Gülden erhielt.


 

10 Olearius, a.a.O., S. 57.


 

11 Dann wurde an ihrer Stelle ein neues gewaltiges Werk als Ehrendenkmal für Sebastian Bach aufgeführt, jedoch mit möglichster Schonung und Verwerthung der alten Orgelstimmen. Die Anregung zu diesem würdigen Unternehmen, zu dem die Freunde Bachscher Kunst von nah und fern beigesteuert haben, ging von dem jetzigen Organisten Herrn H.B. Stade aus, der auch die Ausführung desselben mit Hingebung geleitet hat. Ganz vollendet ist das Werk noch nicht; es wäre zu wünschen, daß es kein Torso bliebe.


 

12 Die Begründungen hierfür werden im Verlaufe der Erzählung von selbst zu Tage treten.


 

13 Einiges über ihn auch im Waltherschen Lexicon.


 

14 S. das Nähere hierüber bei Gerber, N.L. IV, Sp. 384.


 

15 Diese »Sonderbare Invention: Eine Arie in einer einzigen Melodey aus allen Tonen und Accorden auch jederley Tacten zu componiren« u.s.w. soll nach Walther 1702 erschienen sein; das Exemplar auf der Bibliothek zu Königsberg i. Pr. trägt nach Jos. Müllers Katalog die Zahl 1703. Gesehen habe ich es nicht.


 

16 Hesse, Verzeichniß schwarzburgischer Gelehrten, Stück 18. Rudolstadt, 1827. Gerber, L. II, Sp. 673. Adlung, Anleit. zur mus. Gel. S. 116.


 

17 S. Anhang A. Nr. 10.


 

18 An diesem Tage zeigten sämmtliche Primaner der Schule die Aufführung eines solchen an (Acten des Raths-Archivs zu Arnstadt). Den Theater-Contract und ein Verzeichniß von Spielern hat im Wesentlichen mitgetheilt K. Th. Pabst im Arnstädter Gymnasialprogramm von 1846, S. 22. Ich konnte das interessante Actenstück nicht wiederfinden, und mußte mich ganz auf jene Schrift verlassen.


 

19 Opern-Aufführungen kommen in Weimar schon von 1697 an vor; einige Texte bewahrt die dortige großherzogl. Bibliothek, dazu auch das Manuscript eines Lustspiels »Von einer Bauren-Tochter Mareien, Um welche zwey Freyer, ein alter und ein junger geworben«, wo ebenfalls theilweise im thüringischen Dialekt gesprochen wird.


 

20 Salomo Franck (Geist- und weltliche Poesien I, S. 302; vergl. S. 306); die Musik war vielleicht von einem braunschweig-wolfenbüttelschen Componisten. Die Augustenburg ist später wieder abgetragen.


 

21 B.-G. II, Nr. 15.


 

22 Von der vierten Strophe hat Bach nur vier Zeilen componirt, und die fünfte fallen lassen.


 

23 S. Anhang A. Nr. 11.


 

24 S. Anhang A. Nr. 12.


 

25 Nach der Genealogie.


 

26 Ein Autograph desselben ist nicht bekannt. Ob daher der Titel in dieser italiänischen Fassung von Bach herrührt, mag unentschieden bleiben; er bediente sich jedoch in seiner frühesten Schaffensperiode gern italiänischer Ueberschriften.


 

27 »Musicalische Vorstellung | Einiger | Biblischer Historien, | In 6. Sonaten, | Auff dem Claviere zu spielen, | Allen Liebhabern zum Vergnügen | versuchet | von Johann Kuhnauen. | Leipzig, | Gedruckt bei Immanuel Tietzen | Anno MDCC.«


 

28 Mattheson, Der vollkommene Capellmeister. S. 130, §. 72.


 

29 Den ersten Theil derselben hatte Kuhnau 1689 veröffentlicht, richtete aber beim Erscheinen des zweiten eine neue Titel-Auflage für jenen her. Der erste enthält sieben Suiten (»Partien«) in Dur-Tonarten, der zweite sieben solcher in Moll-Tonarten, außerdem die genannte Sonate.


 

30 B.-G. II, Nr. 12.


 

31 B.-G. XVIII, Nr. 78.


 

32 B.-G. III, S. 318. – P.S. I, Cah. 4, Nr. 4.


 

33 P.S. I, Cah. 4, Nr. 6.


 

34 P.S. I, Cah. 13, Nr. 8.


 

35 Die Aufschrift, welche Joh. Peter Kellner dem im Besitz des Herrn F. Roitzsch befindlichen Manuscripte gegeben hat: Sonata clamat in Det Fuga in H moll, ist, wie so vieles von seiner Hand, flüchtig und ungenau. Daß der Name »Sonate« dem ganzen fünftheiligen Werke gelten muß, lehrt der Augenschein.


 

36 Die fast vollkommene Uebereinstimmung mit dem Andante-Thema aus Beethovens Pianoforte-Sonate Op. 28 wird jedem auffallen. An eine Reminiscenz ist hier natürlich nicht zu denken.


 

37 Mangelhaftes Italiänisch für: Tema all' imitazione della chioccia. Die Posthornfuge im Capriccio hat den Titel: Fuga all'imitazione della cornetta di Postiglione.


 

38 Mizler, Nekrolog, S. 167.


 

39 »Capriccio. In honorem Joh. Christoph. Bachii (Ohrdruf.) per Jh. Sb. Bach.« So auf einer Abschrift, welche von Aloys Fuchs herstammt und jetzt auf der königl. Bibliothek zu Berlin ist. Dasselbe mit geringen Abweichungen auf einer Handschrift von Bachs jüngerem Zeitgenossen Joh. Peter Kellner. – P.S. I, C. 13, Nr. 6.


 

40 P.S. V, C. 4, Nr. 5.


 

41 P.S. V, C. 4, Nr. 9. Griepenkerl in der Vorrede zu jenem Bande setzt sie auf Grund einer sehr alten Handschrift in die weimarische Zeit, womit er aber nur ihren ganz frühen Ursprung überhaupt bezeichnen will. Der Pedalgebrauch darin ist auch hier wieder ein sehr deutlicher Fingerzeig.


 

42 Im Besitz des Herrn Dr. Rust in Berlin; unveröffentlicht.

 

III

 

1 Gleich nach seiner Rückkehr hielt ihm das Consistorium in einer Sitzung am 21. Febr. 1706 vor, daß er eine wohl viermal so lange Zeit fortgeblieben sei, als ihm erlaubt gewesen. S. das späterhin mitgetheilte Protokoll. Damit stimmt die Angabe bei Mizler, S. 162, daß sein Aufenthalt in Lübeck fast ein Vierteljahr gewährt habe, wenn man die Zeit der Hin- und Rückreise und auf letzterer etwa einige Rasttage in Hamburg und Lüneburg hinzurechnet.


 

2 Nach Walther soll Johann Theile sein Lehrer gewesen sein, was auf einem offenbaren Irrthume beruht, da dieser neun Jahre jünger war als Buxtehude.


 

3 H. Jimmerthal, Beschreibung der großen (von 1851–1854 erbauten) Orgel in der St. Marien-Kirche zu Lübeck. Erfurt und Leipzig, G.W. Körner. 1859. S. 44.


 

4 Ein Passus aus seinem Hochzeitscarmen (auf der Lübecker Stadtbibliothek) scheint dies verstohlen anzudeuten:


 

»Zwar es kahm Ihm sauer an, und er wolte, wie zuvoren,

nicht so gar gebunden sein, doch die Freiheit war verloren,

weil der Jungfer Huld-Gebehrden und der ungewohnte brand,

mit verlangter selbst-Vergnügung, nahme bei Ihm überhand.«


 

Ebenda wird auch von dem hohen Ansehen gesprochen, in welchem er als Künstler bei den Lübeckern stand.


 

5 Die vollständige Disposition ist mitgetheilt Anhang B. IV.


 

6 Die außerordentlich reiche Musikalien-Bibliothek der Marienkirche wurde von der Stadt Lübeck im Jahre 1814 der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien zum Geschenk gemacht, s. C.F. Pohl, Die Gesellschaft der Musikfreunde (Wien, 1871), S. 114 und 115.


 

7 Die hauptsächlichste gedruckte Quelle über Buxtehude ist: Johannis Molleri Cimbria Literata (Havniae, 1744) Tom. II, p. 132 und 133. Dort wird unter anderm auch eine Stelle aus Conrad von Hövelns »beglücktem und geschmücktem Lübeck«, S. 114, angeführt, wo ausführlicher über die Abendmusiken »des Welt-berühmten Organisten undComponisten Dietrich Buxtehude« gesprochen wird. Anderes Material bieten die Kirchen-Register, Ausga be-Bücher und Vorstands-Protokolle der Marienkirche, dessen Mittheilung ich der Güte des Herrn Professor Mantels in Lübeck verdanke. Auch Mattheson im Vollkommenen Capellmeister, S. 216, Anmerk. gedenkt der Abendmusiken.


 

8 Mattheson, Ehrenpforte, S. 26.


 

9 Walther, Lexicon unter »Erich« und »Leiding«.


 

10 Mattheson, Große General-Bass-Schule, S. 42.


 

11 Mattheson, Ehrenpforte unter »Händel«, S. 94.


 

12 Die Kirchen-Register geben an der betreffenden Stelle den Namen dieses Kindes nicht an, wohl aber im Verlaufe die aller übrigen – Buxtehude hatte sechs Töchter –; da nun der nachmalige Organist Schieferdecker eine Tochter Buxtehudes Namens Anna Margaretha heirathet, so kann das nur jene erste gewesen sein. Sie führte dieselben Namen wie ihre Mutter; es ist außerdem das Natürliche, daß die Stelle an die Heirath mit der ältesten Tochter geknüpft war.


 

13 Mizler, a.a.O., S. 162: »in Arnstadt bewog ihn einsmals ein besonderer starker Trieb, den er hatte, so viel von guten Organisten, als ihm möglich war, zu hören, daß er, und zwar zu Fuße, eine Reise nach Lübeck antrat, um den dasigen berühmten Organisten an der Marienkirche, Diedrich Buxtehuden, zu behorchen.« Der sich aufdrängende Gegensatz zwischen Händel und Bach verleitete Forkel, das Wort »behorchen« als »heimlich belauschen« aufzufassen (S. 6), während es doch hier nichts bedeutet, als »mit Aufmerksamkeit und Lernbegierde zuhören«. Daß Bach, damals doch schon ein hervorragender Künstler, nicht gewagt haben sollte, Buxtehudes Bekanntschaft zu machen, während Händel schon zwei Jahre vorher frisch auf dessen Orgel ins Zeug ging, und von allen Seiten Schüler zu ihm heranzogen, hat gar keinen Sinn.


 

14 Gerber, N.L. I, Sp. 590 giebt ein Verzeichniß von Buxtehudes gedruckten Werken, und führt ungenau Mollers Cimbria litterata als Quelle an, da er mit dem dort Gebotenen Notizen Walthers (Lex., S. 123) und Matthesons combinirte. Mollers Verzeichniß lautet so: »Unterschiedliche Hochzeit-Arien. Lubecae 1672. in fol. – Fried- und Freudenreiche Hinfahrt des alten Simeons, bey Absterben seines Vaters, Joh. Buxtehuden, 32jährigen Organisten in Helsingör (der zu Lübeck am 22. Jan. 1674. 72jährig verstorben) in zwey Contrapuncten musicalisch abgesungen. Lub. 1674. in fol. – Abend Musick in IX. Theilen. Lub. 1678–1687. in 4. – Hochzeit des Lammes. Lub. 1681 in 4. – VII. Sonate a doi, Violino & Viola di gamba, con cembalo. Lub. 1696. in fol. – Anonymi hundertjähriges Gedichte vor die Wolfahrt der Stadt Lübeck; am 1. Jan. des Jubeljahres 1700. in S. Marien Kirche musicalisch vorgestellt. Lub. 1700. in fol. – Castrum doloris dem verstorbenen Keyser Leopoldo und Templum honoris dem regierenden Keyser Josepho I; in zwey Musicken, in der Marien Kirche zu Lübeck, gewidmet. Lub. 1705. in fol.« – Dazu fügt er zwei Werke, die im Leipziger Katalog der Frühjahrsmesse von 1684 von Buxtehude in Aussicht gestellt waren: »1. Himmlische Seelen Lust auf Erden über die Menschwerdung und Geburt unsers Heylandes Jesu Christi. 2. Das allerschröcklichste und allererfreulichste, nemlich das Ende der Zeit, und der Anfang der Ewigkeit, Gesprächsweise vorgestellet.«


 

15 Mattheson, Vollkommener Capellmeister, S. 130.


 

16 Nur daß er H dur und B moll, wohl wegen der Temperatur, vermied.


 

17 Walther schrieb in den genannten Sammelbänden eigenhändig eine große Menge Buxtehudescher Choralbearbeitungen zusammen, was aus Bachs Hause stammt, steht in dem Manuscript Andreas Bachs, zwei vorzüglich schönen, aus Kirnbergers oder Agricolas Nachlaß herrührenden Handschriften auf der Bibliothek des Joachimsthaler Gymnasiums in Berlin, und den Krebs'schen Büchern.


 

18 »XIV Choralbearbeitungen für die Orgel von Dietrich Buxtehude – herausgegeben von S.W. Dehn. Leipzig, C.F. Peters.« Einiges wenige veröffentlichten noch Commer (Musica sacra I, Nr. 8) und G.W. Körner (Gesammtausgabe der classischen Orgel-Compositionen von Dietrich Buxtehude. Erfurt und Leipzig, G.W. Körner [nur ein Heft erschienen]); letzterer zum Theil dieselben Sachen wie Dehn.


 

19 Dies Praeludium ist abgedruckt in Busbys Geschichte der Musik, übers. von C.F. Michaelis (Leipzig, 1822), Bd. II, S. 677–679.


 

20 Diese erste Fuge ist im III. Bande von A.G. Ritters Kunst des Orgelspiels und darnach in dem von Körner zusammengestellten Hefte Buxtehudescher Orgelcompositionen einzeln veröffentlicht, was aus den genannten Gründen kein ganz glücklicher Griff war.


 

21 Erhalten in dem Buche des Andreas Bach unter dem Titel: Fuga di D.B.H. B.H. ist BuxteHude; um Verwechslungen zwischen Namen gleicher Anfangsbuchstaben vorzubeugen, pflegte man bei Abkürzungen hier und da noch den Anfangsconsonant einer Mittelsilbe zuzufügen.


 

22 In den Handschriften der Bibliothek des Joachimsthals zu Berlin und der Leipziger Stadtbibliothek fehlt dieses Stück auch; die handschriftliche Vorlage, nach der es Commer, Musica sacra I, Nr. 8, herausgegeben hat, ist mir nicht vor die Augen gekommen. An der Echtheit zweifle ich aber nicht.


 

23 Ich verdanke sie der freundlichen Mittheilung des Herrn Musikdirector Ritter in Magdeburg, der sie im Jahre 1838 aus einem dem Organisten Hildebrand in Mühlhausen gehörigen und von Georg Grobe 1675 geschriebenen Tabulaturbuche entnahm.


 

24 S. z.B. Mattheson, Vollkommener Capellmeister, S. 233, vergl. dessen »Neu eröffnetes Orchestre«, S. 185, und Walther im Lexicon unter Passacaglio.


 

25 Die damaligen Componisten, auch Seb. Bach, pflegten Passacaglia zu schreiben, und so ist Buxtehudes Stück betitelt.


 

26 Letztere Bearbeitung existirt noch in einer ganz alten, vielleicht zu Buxtehudes Lebzeiten gefertigten Handschrift auf der Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin, aber nicht vollständig.


 

27 Commer, Musica sacra I, Nr. 5. Ebendaselbst unter Nr. 6 ist eine Choralbearbeitung von Bruhns über »Nun komm der Heiden Heiland« mitgetheilt, welche ganz im Stile der großen Buxtehudeschen Choräle gehalten ist, und da von ihnen bis jetzt nichts veröffentlicht wurde, dem, der sich für die Sache weiter interessirt, einstweilen zur Veranschaulichung dienen kann.


 

28 Auch hierfür bietet der genannte Bruhns'sche Choral veranschaulichende Analogien.


 

29 Vergl. Dehn, Vierzehn Choralbearbeitungen Buxtehudes, Nr. 5.


 

30 Dehn, a.a.O. Nr. 14.


 

31 Eine theilt Körner mit a.a.O., S. 8, die ich auch für echt halte, besonders weil sich einige kleine Sonderbarkeiten des Meisters darin wiederfinden.


 

32 So z.B. in Nr. 8 und 13 bei Dehn.


 

33 Anleitung zur musik. Gelahrth., S. 693.


 

34 Walther in Matthesons Ehrenpforte, S. 388.


 

35 In Stimmen auf der Lübecker Stadtbibliothek. Sie datiren der Reihenfolge nach vom 2. Juni 1673, 1. März 1675, 8. Juli 1695, 14. März 1698, 7. Sept. 1705.


 

36 S. Anhang A. Nr. 13.


 

37 B.-G. I, S. 97.


 

38 Walther sagt von den Trompeten mit Sordinen, daß sie »gantz sanffte klingen, als wenn sie von weiten wären«.


 

39 Winterfeld, Evang. Kirchengesang, II, 414 und die Notenbeispiele.


 

40 Mattheson, Ehrenpforte, S. 93.


 

41 Bach hat eine spätere Version componirt, die am Anfang und Ende der Strophe einige schöne, kräftige Ausdrücke und Bilder ausmerzte.


 

42 S. Anhang A. Nr. 14.


 

43 Nach Takt 32 ist übrigens in der Handschrift irgend ein Fehler; ich vermuthe, daß der Schreiber nur den Abschluß der Singstimme (etwa gis e) im folgenden Takte vergaß.


 

44 Sie lauten nach ihren Anfängen: »Lauda Sion salvatorem«, für zwei Soprane und Bass (die Instrumentalbegleitung gebe ich nicht weiter an); »Nichts soll uns scheiden von der Liebe Gottes«, für Sopran, Alt und hohen Bass (Bassetto); »Ich halte es dafür«, für Sopran und Bass; »Also hat Gott die Welt geliebet«, für Sopran; »Lauda, anima mea, Dominum«, für Sopran; »Jesu, meine Freud und Lust«, für Alt. – Die Sammlung sollte übrigens noch fortgesetzt werden, denn auf Fol. 86b. steht der durchstrichene Anfang einer Cantate in G dur für Sopran: »Dies ist der Tag, den der Herr gemacht hat«.

 

IV

 

1 Noch Adlung in der »Anleitung zur musikalischen Gelahrtheit« aus dem Jahre 1758 konnte dagegen eifern, »wenn einige Organisten zu der Zeit, da die Gemeinde mit singet, zu variiren pflegen, als wenn sie auf den Choral vorspielen wolten; da hört man 2stimmige Variationes und Diminutiones, da bald der Baß, bald die Oberstimme sich lustig machen, da zappelt man mit den Füssen, man colorirt, man bricht, man hackt, und was des Zeuges mehr, daß man nicht weiß, was es seyn soll. Ist wohl solches ein ächtes Mittel, die Gemeinde in der Ordnung zu halten? ich glaube vielmehr sie zu verwirren.« (S. 681 und 682.)


 

2 Man wird an eine Anekdote aus Beethovens Jugend erinnert, der in der Hofkirche zu Bonn einmal einen sehr musikkundigen Sänger durch seine kühnen Modulationen aus dem Concept brachte. Thayer, Beethovens Leben I, 161.


 

3 Den reinen Choralsatz hat Bach mit einigen Ausbesserungen und reichlicheren Verzierungen in das für seinen Sohn Friedemann 1720 angelegte Clavierbüchlein eingetragen, offenbar damit er daran die elegante Anwendung der Ornamente üben sollte. Für diesen Zweck paßt er auch besser, als zur Begleitung des Gemeindegesanges. Er steht veröffentlicht P.S. V, Cah. 5, Nr. 52; die erste Gestalt ebendaselbst als Variante zu Nr. 52.


 

4 Uhlworm, Beiträge zur Geschichte des Gymnasiums zu Arnstadt. Dritter Theil. S. 7–9 (Programm des Gymnasiums zu Arnstadt vom Jahre 1861).


 

5 Das Protokoll wird als besonderes Actenheft auf dem fürstlichen Archive zu Sondershausen aufbewahrt und trägt die Aufschrift: »Joh. Sebastian Bachen, Organisten in der Neuen Kirche betr. wegen Langwierigen Verreißens vnd Unterlaßener Figuralmusic. 706.« Ich habe nur die zum Verständniß nothwendigen Auflösungen der Abbreviaturen vorgenommen, und wenige Male die Interpunction geändert.


 

6 Vermuthlich war es sein Vetter Ernst Bach.


 

7 Kann dem Zusammenhange nach nur einen melodiefremden Ton bezeichnen.


 

8 Einen Ton, der eine andre Harmonie voraussetzt.


 

9 Hier folgt im Original das Wörtchen »er« – ein Flüchtigkeitsversehen des Protokollführers.


 

10 Name des Chorpräfecten. »Johann Andreas Rambachen wegen Choralsingens in der N. Kirche vonMich. 1705. biß Trinitatis 1706. 9. Monathe: 7 fl. 10 ggr. 6 pf.« (Gotteskasten-Rechnungen im Raths-Ar chive zu Arnstadt, pag. 63). Sein Nachfolger wurde von der zweiten Hälfte des Jahres an Johann Chr. Rambach (ebendaselbst pag. 64).


 

11 Vielleicht Andreas Gottlieb Schmidt, der sich 1728, da nach Börners Tode Ernst Bach an die Oberkirche kam, um den Organistendienst an der Neuen Kirche bewarb, nachher aber zurücktrat, weil er schon »geraume Zeit außer dem Exercitio« sei, und so geschwinde wohl nicht wieder würde in Uebung kommen können. Er war damals Registrator (Acta, die Bestallung der Organisten zu Arnstadt betr. fol. 132).


 

12 Mizler, a.a.O., S. 162: »In der Orgelkunst nahm er sich [in Arnstadt nämlich] Bruhnsens, Reinkens, Buxtehudens Werke zu Mustern.«


 

13 P.S. V, C. 3, Nr. 9.


 

14 Unveröffentlicht; erhalten auf der königl. Bibliothek zu Berlin in einer alten Handschrift (Sammelband, sign. 287) aus dem Nachlasse des Organisten Westphal zu Hamburg, welcher 1830 zur Versteigerung kam. Vollständiger Titel daselbst: FANTASIA. clamat in G ? di Johann Sebastian Bach.


 

15 P.S. V, C. 4, Nr. 11.


 

16 Handschriftlich aus dem Nachlasse des früheren dessauischen Musikdirectors F.W. Rust; jetzt im Besitz von Herrn Dr. W. Rust in Berlin.


 

17 Aus dem Nachlasse des Bruders von F.W. Rust, der seiner Zeit in Bernburg lebte; jetzt ebenfalls Eigenthum von Herrn Dr. Rust in Berlin. Die Handschrift trägt die Datirung: »Bernburg, 1757«.


 

18 Mizler, S. 160.


 

19 Anleitung zur musik. Gelahrtheit, S. 711.


 

20 S. Anhang A. Nr. 15.


 

21 P.S. V, C. 3, Nr. 7. – B.-G. XV, S. 276. S. Anhang A. Nr. 16.


 

22 Mizler, a.a.O., S. 170 und 171.


 

23 Im erwähnten Actenhefte fol. 3.


 

24 M. Just. Christian Uthe (geb. 1680) war von 1704–1709 Prediger an der Neuen Kirche; s. Hesse, Verzeichniß schwarzburgischer Gelehrten und Künstler Nr. 333. Rudolstadt, 1827.


 

25 Die Hauptstütze dieser Vermuthung wird aus der Erzählung ihrer Verheirathung klar werden. Sodann fällt ins Gewicht, daß Maria Barbara in Arnstadt einige junge Freundinnen besaß, welche sie später zu ihren Kindern Philipp Emanuel und Gottfried Bernhard von Weimar aus zu Pathen bat; unter ihnen war eine Tochter des Organisten Herthum.


 

26 Die vier ersten befinden sich auf dem Rathhause zu Arnstadt, die letzte bewahrt jetzt die Ministerialbibliothek zu Sondershausen. Die Quittung vom 16. Dec. 1705 ist natürlich vor- oder nachdatirt, da der Empfänger sich damals nicht in Arnstadt befand.


 

27 Dies berichtet Forkel a.a.O. S. 6, und kann es schwerlich ganz erfunden haben.

 

 

 

 

 

 

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