Johann Sebastian Bach (1685-1750) Biografie Spitta 3
I.
[330] Der Organistendienst an der Kirche Divi Blasii in der freien Reichsstadt Mühlhausen war durch mehre reich begabte Künstler, welche ihn während der letzten anderthalbhundert Jahre versehen hatten, zu einer besondern Berühmtheit gelangt. Von 1566 bis 1610 (den 24. Mai) wirkte an dieser Stelle Joachim Moller von Burck (geb. 1541), der Freund Johann Eccards, ein Mann, auf dessen Anregung man zum großen Theil den lebendigen musikalischen Sinn zurückzuführen hat, welcher Mühlhausen lange auszeichnete1. Am Ende des Jahres 1654 trat Johann Rudolph Ahle ein (geb. 1625), ein eben so tüchtiger Orgelspieler und Componist, wie praktischer Lenker öffentlicher Angelegenheiten, da er Mitglied des Raths und selbst Bürgermeister wurde. Er starb im besten Mannesalter am 8. Juli 1673; schon vom Beginn des Jahres 1672 an hatte sein Sohn Johann Georg an seiner Statt fungirt, der ihm auch folgte. Ebenfalls durch musikalisches Talent ausgezeichnet, nahm er gleich dem Vater einen Platz im städtischen Rathe ein, und erwarb sich sogar vom Kaiser Leopold I. die Dichterkrone »wegen seiner Tugend und herrlichen Geschicklichkeit, sonderlich aber seiner vortrefflichen Wissenschaft in der edlen teutschen Poesie, wie auch seiner raren und an muthigen Art in der belobten Musik und deren netten Composition halber«2. Auch versuchten sich beide als musikalische Schriftsteller. Johann Georg Ahle starb am 2. Dec. 1706 und wurde drei Tage darauf begraben [331] unter hohen Ehren, wie sie dem Ansehen entsprachen, welches er genossen hatte3.
Einen Ersatzmann fand man dieses Mal nicht sogleich; inzwischen wurde ein Schüler beauftragt, den Dienst, so gut es gehen wollte, zu leisten. An mehren Bewerbern um einen solchen Ehrenplatz fehlte es jedoch nicht; auch Bach muß ihn dafür angesehen haben, denn in einer Aeußerung des Vetters Johann Ernst, der sein Nachfolger in Arnstadt zu werden sich bemühte, klingt zuverlässig seine eigne Ansicht wieder. Dieser sagt in einem Gesuche, das er am 22. Juni 1707 an das Consistorium richtet, es werde demselben bekannt sein, daß seinem Vetter »die vacirende Organistenstelle bei der berühmten Kirche St. Blasii angetragen, und nach erhaltener Vocation auch von ihm willigst acceptirt worden«. Gleichwohl beeilte er sich nicht zu sehr, den Rath zu Mühlhausen mit seiner Person und Kunstfertigkeit bekannt zu machen. Der Orgelbauer Wender hatte den damals noch in Erfurt lebenden Johann Gottfried Walther veranlassen wollen, schon zum Sonntage Sexagesimae des Jahres 1707 zu einem Probespiel herüber zu kommen; dieser war jedoch aus Gründen nicht darauf eingegangen4. Dagegen hatten einige andre die öffentliche Probe abgelegt, die aber Bach, der sich erst zu Ostern einstellte, ohne Mühe aus dem Felde schlug: der Rath, als er einen Monat darauf, am 24. Mai, zur Sitzung sich versammelte, war gleich darüber im Klaren, und liess ihn auffordern, sich zum zweiten Male einzustellen, damit er wegen billiger Gehaltsforderungen »bearbeitet« werde5. Man fürchtete wohl, daß ein so großer Virtuose unerfüllbare Ansprüche machen würde. Allein es war Bach garnicht um pecuniäre Verbesserung zu thun, trotzdem er in kurzem für zwei zu sorgen hatte, und als er nach drei Wochen [332] persönlich mit dem Rathe verhandelte, verlangte er nur so viel Gehalt, wie ihm in Arnstadt ausgesetzt gewesen war, und dazu was sein Vorgänger an Lieferungen erhalten hatte. Zwar überstieg die Besoldungssumme diejenige Ahles auch so schon fast um zwanzig Gülden, da diesem seit 1677 nur sechsundsechzig Gülden und vierzehn gute Groschen ausgeworfen waren6; sein Vater hatte noch weniger bezogen. Bachs Gehalt belief sich demnach auf 85 Gülden7, 3 Malter Korn, 2 Klafter Holz und 6 Schock Reisig als Aequivalent für das früher mit der Stelle verbundene Ackerland. Die Lieferungen wurden ihm vor die Thür gebracht. Außerdem empfing er, wie alle städtisch Angestellten, nach Mühlhäuser Sitte ein jährliches Fischgeschenk von drei Pfunden. Ausdrücklich sprach er noch die Hoffnung aus, daß ihm »zu Ueberbringung seiner Mobilien werde mit Fuhrwerk assistiret werden«: dem Bräutigam lag natürlich die Aussteuer seines demnächstigen jungen Weibes besonders am Herzen. Das alles gewährte auch der Rath ohne Umstände um so eher, als er augenblicklich durch andre Sorgen sehr bedrängt war. Denn vierzehn Tage vorher hatte ein gewaltiger, nächtlicher Brand die Wohnungen der Blasius-Gemeinde, welcher Bach angehören sollte, zum großen Theil zerstört; das Feuer hatte so sehr in der Nähe der Kirche und Pfarrgebäude gewüthet, daß die Bibliothek seines Superintendenten Frohne in einen Keller geworfen war, wo sie mehre Wochen liegen blieb8; mehre Mitglieder des Kirchenvorstandes waren obdachlos geworden, und als der Rathsdiener am andern Tage ihnen das Protokoll zur Unterschrift brachte, fehlte es an Feder und Tinte, und sie ließen sagen, dass sie jetzt für Musik keine Gedanken übrig hätten und mit dem Beschlusse der andern zufrieden wären. Es waren die schönsten und reichsten Theile der Stadt, welche das Feuer verzehrt hatte9, und der erste Eindruck, den Bach von seiner künftigen Umgebung erhielt, mußte ein wüster und trostloser sein. Daß [333] er trotzdem fröhlichen Muthes war, zeigte sich, da es von Arnstadt Abschied zu nehmen galt. Grund genug war auch vorhanden: die Befreiung aus lästigen Dienstverhältnissen, die Gewinnung eines für seine Jugend doppelt ehrenvollen Postens, die nahe Aussicht auf einen eignen Hausstand.
Seine Bestallung datirte vom 15. Juni, also mit dem Quartal Crucis begann das neue Amt. Am 29. Juni erschien er auf dem Rathhause zu Arnstadt, meldete, was geschehen war, bedankte sich mit Höflichkeit für das erwiesene Vertrauen, bat um seine Entlassung und gab die Orgelschlüssel in die Hand des Rathes zurück10. Auf einen rückständigen Theil seiner Besoldung wartete er nicht. Es kam öfter vor, daß kein Geld in den Kassen war; dann blieb der Gehalt einfach aus, und die Betroffenen konnten sehen, wie sie fertig wurden. Diesesmal benutzte Sebastian sein Guthaben zu einer Unterstützung seines hülfsbedürftigen Vetters Ernst, der seit mehren Jahren in Arnstadt ohne Anstellung lebte. Vermuthlich hatte dieser ihn während der Lübecker Reise vertreten, war ihm auch vielleicht früher in Hamburg behülflich gewesen, als Sebastian von Lüneburg aus dorthin pilgerte, denn es läßt sich ungefähr berechnen, daß beide wenigstens einmal dort zusammengetroffen sein werden. Solche Dienste zu vergelten fand sich jetzt die erwünschte Gelegenheit, und nur scheinbar ist die Summe eine geringfügige, denn fünf Gülden sind bei einem Gesammteinkommen von noch nicht 85 Gülden ein Gegenstand von Bedeutung, zumal wenn eine Vermählung und ein Umzug vor der Thüre warten, fünf Gülden bildeten den achten Theil von Ernst Bachs später erlangter Jahresbesoldung11. Daß Sebastian sie glaubte entbehren zu können, zeigt, in welcher gehobenen Stimmung [334] er sich befand, und wirft auch ein helles Licht auf seine einfache und haushälterische Lebensart.
Nun ging es frisch und mit jugendlicher Zuversicht hinein in die neuen Verhältnisse. Nach drei Monaten war alles so weit geordnet, daß er die Gattin ins eigne Haus einführen konnte, und hierzu kehrte er jetzt noch einmal nach Arnstadt zurück. In Dornheim, einem drei Viertelstunden davon entfernten Dörfchen, stand seit 1705 als Pfarrer Johann Lorenz Stauber, der sich zum Bachschen Geschlechte in nahen Beziehungen befand. Vermuthlich gehörte seine erste Gattin, Anna Sophie Hoffmann, zu jener suhlschen Familie, aus welcher sich Johann und Heinrich Bach ihre Ehefrauen holten. Als sie am 8. Juni 1707 gestorben war, vermählte er sich Jahrs darauf mit derselben Regina Wedemann, bei welcher, wie wir muthmaßen durften, Bachs Verlobte, Maria Barbara, sich aufhielt. Es erklärt sich nun, warum er es war, der am 17. October 1707 die Trauung unseres jungen Paares vollzog. Der Graf Anton Günther hatte dies ausdrücklich gestattet, auch wurden ihnen die vorschriftsmäßigen Gebühren für Arnstadt erlassen, und es erhellt aus diesem entgegenkommenden und freundlichen Benehmen, daß man ohne Groll und Verstimmung aus einander gegangen war. Die Notiz, welche Stauber darüber in sein Pfarr-Register eintrug, verräth in ihrer Ausführlichkeit persönlichen Antheil genug. Sie lautet: »den 17. October 1707 ist der Ehrenveste Herr Johann Sebastian Bach, ein lediger Gesell und Organist zu S. Blasii in Mühlhausen, des weyland Wohlehrenvesten Herrn Ambrosii Bachen, berühmten Stadtorganisten und Musici in Eisenach Seeligen, nachgelassener eheleiblicher Sohn, mit der Tugendsamen Jungfrau Marien Barbaren Bachin, des weyland Wohlehrenvesten und Kunstberühmten Herrn Johann Michael Bachens, Organisten im Amt Gehren Seeligen, nachgelassenen Jungfrau jüngsten Tochter, allhier in unserm Gotteshause, auf Gnädiger Herrschaft Vergünstigung, nachdem sie zu Arnstadt aufgebothen worden, copulirt worden«12. Ein besonders willkommener Zufall erhöhte noch [335] das Glück: Tobias Lämmerhirt, ein älterer Bruder von Sebastians verstorbener Mutter und wohlhabender Erfurter Bürger, war im September dieses Jahres mit Tode abgegangen und hatte jedem seiner Geschwisterkinder 50 Gülden als Legat vermacht13. Am 18. September wurde sein Testament eröffnet, und da einer umgehenden Auszahlung der Legate nichts im Wege stand, so wird die Summe grade zur Hochzeit recht gekommen sein. Es konnte Sebastian nun dünken, als habe seine selige Mutter selbst den Segen zu dieser Verbindung gegeben, und froh und dankerfüllt zogen die Leutchen ihrer gemeinsamen Heimath zu.
Mühlhausen erfreute sich eines guten musikalischen Rufes; zu der Zeit jedoch, als Bach dahin kam, zehrte es größtentheils von einer Vergangenheit, in welcher es Joachim von Burck und Johann Eccard, Georg Neumark und Johann Rudolf Ahle die seinigen nennen durfte, und wo eine »musikalische Societät« die singenden und spielenden Kräfte von Stadt und Land in reicher Anzahl zu regelmäßigen Kunstübungen versammelte14. Schon Johann Georg Ahle bewegte sich auf einer Bahn, die, einseitig verfolgt, zuletzt im Sande verlaufen mußte. Freilich auch sein Vater hatte die geistliche Arie mit Vorliebe gepflegt, dieses aus subjectiver Frömmigkeit entsprungene mehr- oder einstimmige Strophenlied mit Instrumental-Ritornellen. Aber einmal wußte er hierin doch einen allgemeiner ergreifenden Ton anzuschlagen, so daß nicht wenige derselben sich auch für den Gemeindegesang tauglich erwiesen, sodann war er mit den größern und complicirteren Formen des geistlichen Concerts sehr wohl vertraut und hatte hierin Hammerschmidts bahnbrechende Richtung mit Glück weiter verfolgt. Eine dritte Seite seines Künstlerthums bilden [336] bisher unbekannt gebliebene hervorragende Leistungen in der Orgelcomposition, denen seine Fertigkeit als Orgelspieler entsprochen haben wird15. In den Chorälen, die meistens motettenhaft behandelt erscheinen, geht es freilich noch ziemlich planlos und willkürlich her, wie es die damalige Kindheit dieses Kunstzweiges erwarten läßt. Hin und wieder zeigen sich aber schon deutliche Ansätze der Pachelbelschen Form, und es ist belehrend und interessant zugleich, zu beobachten, wie hier einem dunkel vorschwebenden Ideale nachgeirrt wird, was, nachdem es einmal enthüllt war, so einfach und selbstverständlich erscheint, wie jede echte Wahrheit. Auch Ahles Fugen sind merkwürdige historische Denkmale. Die Form der Quintenfuge ist bei ihnen noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen: bisweilen beantwortet sich das Thema erst in der Octave und darnach in der Quinte, welche letztere Lage dann wieder eine Beantwortung in der Octave nach sich zieht; es kommt auch wohl eine ganze Weile ausschließlich Octavenbeantwortung vor. Engführungen gleich am Anfange sind beliebt, die Tonart schwankt zwischen alt und neu, die Pedalverwendung ist unregelmäßig und setzt sehr geringe technische Fertigkeit voraus. In der Polyphonie ist die Zweistimmigkeit vorherrschend, und es werden so geführte Partien gern in höherer oder tieferer Versetzung wiederholt. Trotz aller Unentwickeltheit sind diese Orgelcompositionen ein Zeugniß von ernster und eindringender Beschäftigung mit dem Gegenstande und tragen ein unverkennbar instrumentales Gepräge16. Johann Georg Ahle besaß nicht die musikalische Vielseitigkeit Johann Rudolfs, und hat sich, so viel wir wissen, nur auf die geistliche Arie und das kleine Spielstück für mehre Instrumente beschränkt. Beides vereinigte er gern zu kleinen Kunstganzen, indem er einer Arie Vor- und Nachspiel anheftete, häufig darin die Arien-Motive thematisch benutzte, und für letzteres damalige Tanzformen anmuthig verwendete17. [337] Orgelcompositionen wurden selten gedruckt, und daß wir handschriftlich solche nicht kennen, möchte ein Zufall sein; allein die große Fruchtbarkeit, die er in der Arien-Gattung entwickelt hat, bezeichnet doch diese als sein Hauptgebiet, und der großartige, objective Ernst der Orgel ist damit schwer vereinbar. Die geistliche Arie trug weder formell noch ideell die Bedingungen einer reicheren Entwicklung in sich. Sie hat ihre große Bedeutung dadurch gewonnen, daß sie das innerste Gefühlsleben an die Oberfläche lockte und das Tonmaterial auch in seinen feinen Spitzen ausbildete. Aber für die Gestaltung der großen Bachschen und Händelschen Tonformen ist sie nur mittelbar benutzt worden, und vom Anfang des 18. Jahrhunderts an war ihre selbständige Wichtigkeit für die Kunstmusik dahin, die nunmehr, hochfliegenden Geistes voll, nach mächtigem und allgemeingültigem Ausdruck strebte. Bei beständiger Bespiegelung des Ich in den kleinsten Formen verliert man leicht Maßstab wie Interesse für das, was außer uns liegt. So war es bei Georg Ahle geschehen, und die Mühlhäuser, seit lange gewohnt, in ihren Musikern vollgültige Autoritäten zu erblicken, waren ihm gefolgt, und was rings umher in der Musik sich ereignete, hatte sie wenig oder garnicht gekümmert.
In diese Verhältnisse kam Bach, der alle die seither gemachten Errungenschaften in der Orgelkunst und der Kirchencantate völlig beherrschte und schon über sie hinaus kühn nach Größerem strebte. Der Ruhm seiner Vorgänger mußte dem jungen Feuergeiste noch ein besonderer Sporn werden, an seinem Posten etwas tüchtiges zu leisten. Der Bestallung nach war er nur zum Orgelspiel in der Blasiuskirche an den Sonn-, Fest- und Feiertagen verpflichtet. Aber mächtig war bereits der Gedanke in ihm erwacht, die gesammte kirchliche Kunst auf eine höhere Stufe zu erheben, und dies bezeichnete er in einer späteren Eingabe an den Rath zweimal ausdrücklich als den Endzweck seines Strebens. Das sichere und unbeirrbare Gefühl für das Gebiet, auf dem die volle Kraftentfaltung möglich ist, war in allen Zeiten ein Merkmal des Genies, und so wenig Bach damals schon geahnt haben mag, wohin ihn einst dieser klar erschaute Weg führen werde, so bedeutsam ist es doch, eine solche Aeußerung aus dem [338] Munde des 23jährigen Künstlers zu vernehmen. Er erstreckte also seine Thätigkeit auch auf die kirchliche Gesangsmusik, obgleich diese eigentlich in den Wirkungskreis des Cantors fiel; ja, es scheint, als ob er sie ganz allein geleitet hätte. Vielleicht war dies von seinen Vorgängern her üblich und ihm daher ein solcher Uebergriff leichter möglich gewesen. Nach seinen Kunstanschauungen konnte er begreiflicher Weise nicht bei den Ahleschen Compositionen auch nur vorwiegend stehen bleiben, und da außer ihnen in Mühlhausen wenig Kirchenstücke vorhanden waren, so schaffte er sich kurzweg auf eigene Kosten eine gediegene Auswahl derselben an und führte sie auf. Den Kirchenchor nebst dessen begleitenden Instrumenten suchte er zu vervollständigen, und daß er im eignen Orgelspiel sein Bestes gab, versteht sich von selbst. Ihm ging dabei sein erster Schüler zur Hand, Johann Martin Schubart, geb. am 8. März 1690 in Gehra bei Ilmenau, der volle zehn Jahre in seiner unmittelbaren Nähe blieb und durch diese treue Anhänglichkeit bezeugt, eine wie große Anziehungskraft Bachs geniale Jugendlichkeit auf andre Musiker ausüben konnte, wenn sie unbefangen und ohne Eitelkeit ihm nahten. Im Jahre 1717 wurde Schubart seines Lehrers Nachfolger in Weimar, starb aber schon vier Jahre darauf im besten Alter. Auch der Name von Bachs Chorpräfecten läßt sich beibringen: es war Johann Sebastian Koch, der von 1708–1710 diese Stelle bekleidete, geboren 1689 in Ammern bei Mühlhausen und gestorben 1757 als Cantor in Schleiz18.
Bei dem unermüdlichen Eifer für seine Kunst ließ Bach auch den Stand der Musik in Mühlhausens nächster Umgebung nicht unbeachtet, und mußte bemerken, daß dort für die Kirche oft mehr und bessere Mittel verwendet wurden, als in der Stadt. Unter den umliegenden Dörfern hat sich besonders Langula vom Beginn des achtzehnten Jahrhunderts an bis in die neueste Zeit durch eine Reihe tüchtiger Cantoren und regen Musiksinn ausgezeichnet. Daß Bach hier bekannt wurde, offenbart eine in der Cantorei daselbst von mir entdeckte Kirchencantate seiner Composition, die sich als frühes Werk zu erkennen giebt, und wahrscheinlich in seiner Mühlhäuser [339] Zeit dorthin gelangte19. Sie ist unvollständig und auch mit theils nachweislichen, theils wahrscheinlichen Zusätzen der späteren Cantoren zu Langula ausgeputzt, bietet aber für die historische Betrachtung doch einen echten Kern als Stützpunkt. Das erste Stück, ein Duett zwischen Sopran und Baß (F dur) mit dem Textanfange: »Meine Seele soll Gott loben, denn das ist sehr wohlgethan« behandelt den Singbaß freilich noch ganz in der Weise der älteren Kirchencantate, und erinnert auch in der Melodik sehr an sie, ist aber schon in der vollen Form der italiänischen Arie gehalten und hat einige interessante Züge. Die Schlußfuge (B dur): »Alles was Odem hat, lobe den Herrn« ist ein prächtiges Stück feurigen Flusses, wovon das kühne, weitgeschwungene Thema eine Probe geben kann:
Die weiten Melodieschritte zeigen sich ebenso in einer andern zu Mühlhausen componirten Cantate, die, da sie in denkbar bester Ueberlieferung und unverfälschter Gestalt vorliegt, eine genauere Betrachtung erfahren soll, wie sie einem Erstlingswerke des jungen Meisters zukommt.
Die Angelegenheiten der Reichsstadt leitete ein aus 48 Personen bestehender Rath, unter denen sechs Bürgermeister waren und welcher sich in drei Abtheilungen zu je 16 Personen gliederte. Von diesen führte je eine von Februar zu Februar das jährliche Regiment mit dem Vorsitze von zwei Bürgermeistern. Es war Sitte, daß der Rathswechsel durch eine kirchliche Feier und ein eigens dazu componirtes Musikstück ausgezeichnet wurde, welches dann in Stimmen in den Mühlhäuser Officinen von Joh. Hüter oder Tob. Dav. Brückner [340] gedruckt wurde. Die Composition lag seit langem dem Organisten an der Blasiuskirche ob, gegen den der Organist an der zweiten HauptkircheBeatae Mariae Virginis stets zurückgestanden zu haben scheint – zu Bachs Zeiten hieß er Hetzehenn –, und welcher überhaupt nach alter Tradition die höchste musikalische Würde der Stadt repräsentirte. Der Inaugurirung einer neuen Raths-Körperschaft mit den Bürgermeistern Strecker und Steinbach verdankt eine Cantate Bachs zum 4. Februar 1708 ihre Entstehung und auch Drucklegung, wozu es während Bachs Lebzeiten keine andre Cantate, so weit wir wissen, gebracht hat. Nicht nur dieser Druck ist uns erhalten, sondern auch Partitur nebst Stimmen in autographer Schrift von entzückender Zierlichkeit und Anmuth, in der Partitur sind die Taktstriche, wie in des Meisters früheren Werken öfter, sogar mit dem Lineal gezogen20. Die Aufführung fand in der Marienkirche statt, in der auch der Superintendent zu Divi Blasii an bestimmten Feiertagen zu predigen hatte. Der Text besteht aus alttestamentlichen Sprüchen, einigen gereimten Gelegenheits-Strophen und einer Choralstrophe, drückt zuerst die Empfindungen eines ergrauten Dieners aus, der seine letzten Tage in Ruhe hinzubringen sich sehnt und Segenswünsche dafür empfängt21, wendet sich dann an die regierende Allmacht Gottes, bittet sie die Stadt zu schützen, der neuen Regierung Erfolg und endlich dem Kaiser Joseph Glück und Heil zu verleihen. Das Vorherrschen des Bibelworts und Chorals wird Bach veranlaßt haben, der Composition den Namen Motetto zu geben, und nicht Concerto, eine Bezeichnung, welche er späterhin vorwiegend anwendete. Meistens benannte man, so viel ich gefunden habe, die ältern Kirchencantaten nur nach Textanfang und musikalischer Besetzung, der Name Cantate kam erst mit der späteren Form auf. Für die Unsicherheit des Motetten-Begriffs in jener Zeit ist diese Bezeichnung ein Beleg; später unterschied Bach die Gattungen genau. [341] Mit dem Zusatze:diviso in quatuor Chori giebt er den Standpunkt der älteren Cantate hinsichtlich der Begleitung deutlich an, indem er darunter die verschiedenen Instrumentalgruppen versteht: drei Trompeten und Pauken, zwei Flöten und Violoncell, zwei Oboen und Fagott, zwei Violinen, Bratsche und Bass, die meistens nur alternirend oder im vollen Tutti angewendet werden22. Dasselbe Princip tritt darin zu Tage, daß Bach einen schwächern und einen vollen Chor unterscheidet, welch letzterer nur an Kraftstellen hineinschlägt, um sich bald wieder zurückzuziehen, und in der PartiturCapella genannt ist, mit Zurückdeutung auf die Terminologie der Musiker des 17. Jahrhunderts. Faßt man nun endlich noch die Massenhaftigkeit des aufgebotenen Tonmaterials ins Auge, so ist nach allen Seiten klar, wie ganz diese Composition in ihrer äußern Form noch auf dem Boden gewisser Buxtehudescher Kirchencantaten steht; um so interessanter ist es aber, zu beobachten, wie überall ein neuer Geist hindurchdringt. Der erste Chor (»Gott ist mein König« C dur) klingt anfänglich noch ziemlich bekannt, nimmt aber schon vom 16. Takte an, wo zu den Worten »der alle Hülfe thut« die Stimmen in engen Imitationen einander unaufhaltsam forttreiben, einen neuen und ungewöhnlich breiten Charakter an, der nur durch den Schluß wieder etwas abgeschwächt wird. Im zweiten Stück (E moll) singt der Tenor zur Orgelbegleitung die Worte des alten Barsillai aus Sam. II, 19: »Ich bin nun achtzig Jahr; warum soll dein Knecht sich mehr beschweren. Ich will umkehren, daß ich sterbe in meiner Stadt bei meines Vaters und meiner Mutter Grab.« Ihm gegenüber stellt der Sopran die sechste Strophe des Heermannschen Liedes »O Gott, du frommer Gott« auf:
Soll ich auf dieser Welt
Mein Leben höher bringen,
Durch manchen sauren Tritt
Hindurch ins Alter dringen,
So gieb Geduld, vor Sünd
Und Schanden mich bewahr,
Auf daß ich tragen mag
Mit Ehren graues Haar.
[342] Wir wissen, daß die Verbindung von Bibelwort und inhaltsverwandtem Choral keine Erfindung jener Zeit war. Nach Hammerschmidts Vorgange hatte schon Johann Rudolf Ahle sie mit Geschick angewendet, Johann Christoph und Michael Bach hatten sie mit andern auf die Motette übertragen, in Buxtehudes Cantaten fanden wir ein Beispiel, wo Christus und die gläubige Seele, wenn nicht im gleichzeitigen, aber doch im Wechsel-Gesange mit einander verkehrten. All diese Arten der Gestaltung sind ganz verschieden von dem Verfahren, was Bach einschlug. Er ging, mit seiner ganzen Entwicklung von der Orgel herkommend, zunächst auch nur von rein musikalischer Seite an die Aufgabe: die musikalische Verflechtung war ihm das erste und die Choral-Melodie natürlich die Hauptsache. So wenig richtete sich seine Aufmerksamkeit auf den poetischen Zweck solcher Combinationen, daß er ganz übersah, wie die, jedenfalls von ihm selbst ausgewählte, Strophe des Kirchenlieds mit ihrem Inhalte eigentlich garnicht zu der Empfindung der Bibelworte paßte. Denn hier spricht ein Greis, der nur nach einem Platze verlangt, wo er ruhig sterben darf, dort wird gebeten, daß ein später vielleicht bescheertes höheres Alter ein ehrenvolles sein möge; beiden Stimmungen ist nicht viel mehr gemeinsam, als daß sie sich an den Begriff des Alters anschließen. Noch viel weniger kann von einem dramatischen Gegensatze die Rede sein; die mit den Bibelworten betraute Tenor-, nicht Bassstimme deutet es schon an, daß der Componist allenfalls dem Ausdruck geben wollte, was er selbst bei ihnen empfand, nicht aber, was einen alten Mann in Barsillais Lage bewegen mußte. Mehr noch bezeugt es die bewegliche, zwar sehr ausdrucksvolle, aber auch in kühnen Schritten, ja Sprüngen sich auf und nieder bewegende Melodiebildung. Eben da Bach zunächst instrumental dachte, und für keine kunstmäßig gebildeten Sänger schrieb, konnte es ihm entgehen, zu welch excentrischem Ausdrucke ein solcher Gesang gelangen müßte, wenn er von einer Menschenstimme mit aller ihr zu Gebote stehenden Ausdrucksfähigkeit vorgetragen [343] würde. Es währte aber nicht lange, so wurde er auf den großen Unterschied aufmerksam, und späterhin bieten die meisten seiner Einzelgesänge das lautere Gold einer zwar im instrumentalen Feuer flüssig gemachten, aber doch echt poetisch-musikalischen Empfindung, und ebenso lernte er bald den poetischen Sinn der Verflechtung von Choral und Schriftwort in einer Tiefe erfassen, wie kein zweiter vor und nach ihm. Hier bietet er fürs erste nur einen nach Buxtehudes Weise gestalteten Orgelchoral, aber mit einer in die harmonischen Tiefen dringenden Energie, von der Buxtehude nichts geahnt hatte. Das Stück ist eigentlich ein Trio für Sopran, Tenor und einen gleichmäßig gehenden Orgelcontinuo, in dem sich die Stimmen mit größtmöglicher, vor Bach noch nicht gewagter Selbständigkeit bewegen, es tritt aber, zuerst nur schüchtern und echoartig, nachher immer zusammenhängender auf einem Orgel-Positiv noch eine frei figurirende und von den Generalbass-Harmonien unabhängige Stimme hinzu, so daß endlich ein Quatuor entsteht. – Nun folgt eine vierstimmige Doppelfuge: »Dein Alter sei wie deine Jugend, und Gott ist mit dir in allem, das du thust« (A moll), deren Thema im Vergleich mit dem aus der andern Cantate angeführten ziemlich unbedeutend und schleppend ist, und deren Entwicklung etwas mechanisches hat. Die Contrapuncte bleiben durch die ganze Fuge ziemlich dieselben und sind nur durch ihre Lagen unterschieden, die Durchführungen werden auch nur einmal durch einen Zwischensatz unterbrochen und durch einen neuntaktigen freien Nachsatz beschlossen; erst bei diesem spürt man wieder den lebendigen Athem des Bachschen Geistes. Vollauf aber entschädigt für das kleine Stückchen Sandgegend ein blühendes Arioso des Basses: »Tag und Nacht sind dein« (F dur). Mit den Benennungen ist Bach in der Cantate willkürlich umgegangen, denn das Bass-Solo ist vielmehr eine ordentliche Da capo-Arie, wogegen die zweite Nummer, Aria con Corale genannt, in der Tenorstimme eine gänzlich ariose Behandlung aufweist. Auch über die Auffassung der Textworte ließe sich rechten, allein die Musik an sich ist durchaus erfreulich. Die Behandlung der Bassstimme im Arioso hat mit Ausnahme des Mittelsatzes noch den älteren Zuschnitt, nach welchem die Stimme sich nicht frei durch den Tonraum bewegt, sondern meist nur als Grundlage der Harmonien erscheint. Der erste Theil, welcher am Schlusse wiederkehrt, [344] trägt mit seiner nur aus Holzbläsern, Violoncell und Orgel bestehenden Begleitung einen zart pastoralen Charakter, der zur vollen Schönheit erblüht ist in einer reizenden B dur-Arie aus einer acht Jahre später componirten weltlichen Cantate (»Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd«). Im zweiten Theile schweigen die Instrumente bis auf die Orgel, der stolze Ausdruck der Singstimme: »Du machest, daß beide, Sonn' und Gestirn, ihren gewissen Lauf haben« bildet einen schönen musikalischen Gegensatz und ist auch den Worten angemessen. Uebrigens legt die Anordnung des ganzen Werkes Zeugniß dafür ab, daß der Componist sehr wohl wußte, wie man durch Klangcontraste wirken könne, und diese Einsicht ist im Mannesalter nicht geringer gewesen, als in seiner Jugend, wenngleich aus höhern Rücksichten später solche Wirkungen zurücktreten mußten. So folgt nun eine Arie für Alt, bei der außer der Orgel nur drei Trompeten und Pauken mitwirken, in dem folgenden Chore sind alle Instrumente außer diesen angewendet, zum Schlusschore erst vereinigt sich wieder das gesammte Tonmaterial. »Arie« kann man das Altsolo etwa deshalb nennen, weil die Anfangsphrase mit ihrem Ritornell am Schlusse noch einmal gehört wird, sonst ist sie mehr ein Arioso und erinnert endlich in der oberflächlichen Melodik an die ältere deutsche Arie; wir fanden eine Formenmischung von ähnlicher Unsicherheit schon in der Ostercantate des Jahres 1704. Der schon genannte Chor (Larghetto, C moll) ist dagegen wieder ein Stück von Bedeutung und Eigenthümlichkeit. Ganz homophon gehalten wirkt er hauptsächlich durch innigen Ausdruck der Melodie und farbenreiche Begleitung. Die Sechzehntel des Violoncells verfolgen in gebrochenen Accorden den harmonischen Gang der Vocalmasse, eine fortlaufende Figur des Fagotts
verleiht den Charakter des Schweren, Gebundenen, Bass und Orgel gehen staccato nebenher, Flöten und Oboen lassen echoartig die ausdrucksvollste Melodiephrase nachtönen. Am Ausgange theilt sich die Violoncellbewegung auch diesen Instrumenten, endlich gar allen Geigen mit, sie schlingen nun immer reichere, phantastischere Kränze um den Gesang, in dem sich – ein eben so neuer wie wirkungsreicher Gedanke – alle Stimmen zum Einklange vereinigen, auf dem / den Text declamiren, sich zum heben, wieder zum b [345] absenken und nach / zurückkehren, wo sie im langen Klange unter der Durterz verhallen. Der schaurige Ausdruck verhaltener Qual ist die Höhe, zu welcher die Stimmung des ganzen Stücks naturgemäß hindrängt. Prüft man aber am Text die Berechtigung derselben, so ist leicht zu bemerken, daß Bach das Tongemälde viel zu dunkel gefärbt hat. Die Psalmworte: »Du wollest dem Feinde nicht geben die Seele deiner Turteltauben« enthalten bildlich nur die Bitte um Schutz vor Feindesgewalt, und für diese Bitte sowohl wie für den Stimmungsdurchschnitt der ganzen Cantate war eine vertrauensvoll gefaßte Empfindung wohl das einzig Angemessene. So, wie der Chor, äußert sich aber nur ein von innern Schmerzen durchwühltes Herz. Der Componist hat hier sein Ziel weit überflogen und somit verfehlt, allein dieses Verfehlen ist von hohem psychologischen Interesse, weil es die Vorliebe desselben für dunkle, tiefbewegte Seelenzustände so unzweideutig verräth. Diese Saite seines Empfindungsvermögens brauchte nur leise angerührt zu werden, um sofort in volltönenden Schwingungen zu erbeben: die Besorgniß vor möglicher Gefahr verfinsterte sich ihm zur Angst eines von Schrecken und Noth aufs äußerste gepeinigten Gemüthes. Daher kommt es auch, daß man niemals einen Fall finden wird, wo Bachs musikalische Behandlung auch den besten Text verflachte oder seinen Ansprüchen nicht Genüge thäte, eher kommt es vor, daß er zu tief, bis ins Abstruse sich einwühlt. Daher stammt sein Zug zu poetischen Vorlagen, welche von Leid und Thränen, von Sterben und Tod zu sagen haben, daher die Fähigkeit, in dem Riesenwerke einer Matthäus-Passion eine und dieselbe Stimmung in so unerhörter Mannigfaltigkeit zu schattiren. Daß er sich in dem Chor der Rathswechsel-Cantate von subjectiver Neigung habe zu weit fortreißen lassen, mußte ihm später klar werden, als er ein Chorstück von ganz ähnlicher Grundstimmung, ja ähnlicher Einzelbildung (besonders in der seufzenden kleinen Sexte) zu den Worten schuf: »Weinen, Klagen, Sorgen, Zagen, Angst und Noth sind der Christen Thränenbrod«23, was er hernach nochmals zu dem erschütternden Crucifixus der H moll-Messe verwendete. Hier waren jene Töne am Platze, die sich schon so früh und in so überraschender Gestalt hervordrängten. Selbst der [346] an Ernst und Innigkeit so reiche Johann Christoph Bach hatte Farben von solcher Sattheit und Gluth auf seiner Palette nicht. Nur einen wüßte ich zu nennen, der vor Sebastian Bach etwas annähernd ähnliches gebildet, es ist der Rudolstädter Capellmeister Philipp Heinrich Erlebach (1657–1714). Im ersten Theile seiner »Harmonischen Freude musikalischer Freunde« (1697) findet sich unter Nr. XIV eine herrliche Arie in der cyklischen Da capo-Form für Sopran, zwei Violinen und Generalbass, deren ansprechende Dichtung die Stimmung einer gramzerrissenen Seele ausdrückt:
Meine Seufzer, meine Klagen
Schicke ich
Nur vergebens über mich;
Ich muß leben,
Doch in lauter Furcht und Zagen.
Himmel! und du kannst es geben!
Ach, warum verschließt du dich?
Die Composition vereinigt breite strömende Melodik mit echter deutscher Innigkeit, und redet noch heute eine herzergreifende Sprache. Sie steht den Bachschen Chören im Ausdruck sehr nahe, in der Bildung der Hauptmelodie auffällig mit dem früheren, in andern Einzelheiten noch mehr mit dem späteren Chore übereinstimmend. Die Verhältnisse liegen so, daß Bach Erlebachs Ariensammlung sehr wohl gekannt haben kann. Am 28. October 1705 hatte der Graf von Rudolstadt im Auftrage des Kaisers Joseph I. die Huldigung der freien Reichsstadt Mühlhausen entgegen genommen und sein Capellmeister zu diesem Zwecke dort eine große Festmusik aufgeführt. Erlebach war also in Mühlhausen bekannt, und wenn man bei dem Charakter der Bewohner auch nicht annehmen darf, daß er sich durch seine Musik dort viel Freunde erworben hatte, so war die Composition, welche besonders einen vortrefflichen, klar auf Händel weissagenden Chor enthält, doch bedeutend genug, um nicht gleich vergessen zu werden, und Bach, falls er sie kennen lernte, zu näherer Bekanntschaft mit Erlebach anzuspornen, vorausgesetzt, daß er sie nicht schon früher gemacht hatte. – Doch wenden wir uns dem letzten Chore der Rathscantate zu, dessen Bezeichnung Arioso, übrigens nur auf einen Theil davon gemünzt, den bunten Wechsel zwischen [347] homophonen Chorstellen und Ritornellen, zwischen gradem und ungradem Takte andeuten soll. Das Bedeutendste an ihm ist eine in der Mitte stehende Chorfuge auf den Kaiser Joseph, neben der jene frühere Fuge kaum noch zu nennen ist, so hoch wird sie von dieser überragt. Dort war fast nur nüchterne Schulmäßigkeit, hier herrscht überall ein frisches, herbkräftiges Leben. Thema wie Contrapuncte, deren zwei sich so stetig wiederholen, daß man das Stück in seiner musikalischen Gestalt auch Tripelfuge nennen könnte, sind sehr glücklich erfunden, alles fügt sich wie aus einem Gusse zusammen und steigert sich im Klang und in harmonischer Fülle bis ans Ende. Besonders bedeutsam ist die Mitwirkung des Orchesters, sie zeigt, wie Bach schon jetzt sich ganz darüber klar war, daß in dem damals allein möglichen Kirchenstile die Singstimmen mit den Instrumenten zu einer innerlich verbundenen Gesammtmasse zusammengeschmolzen werden müßten, so zwar, daß erstere als vorzüglichste und gattungsbestimmende Factoren die Form bedingten und feststellten, sich aber zu letzteren nicht wie Herren zum Dienervolk, sondern wie die ersten unter ihres gleichen verhielten. Er hatte erkannt, daß das menschliche Organ soviel wie möglich seinen persönlichen, wenn man will, dramatischen Charakter abstreifen und, soweit es irgend angeht, zum Instrumente werden müsse, was selbstlos dem Ausdrucke einer allgemeinen religiösen Lyrik dient; mit dieser Erkenntniß war aber der Empfindsamkeit und der Vereinzelungssucht der ältern Kirchencantate die Freundschaft aufgesagt. Während man sonst das Orchester nur stützend, ausfüllend, verstärkend und mit den Singstimmen abwechselnd verwendet, als äußerstes einem hochliegenden Instrumente gestattet hatte, über dem Chore einen selbständigen Gang zu nehmen, haben bei Bach schon hier alle Instrumente an der Fugirung den lebhaftesten Antheil. Zuerst wird von den vier Stimmen des kleineren Chors das Thema einmal durchgeführt, dann ergreifen es die erste Violine und Oboe, indem der Vocalsatz weiter geht, darnach zweite Violine und Oboe, dann setzt der Sopran des vollen Chors wieder ein und die Contrapunctirung im Orchester verstärkt sich, nun folgen die übrigen Tuttistimmen allmählig nach und mit ihnen mehr und mehr Instrumente, die Harmonie ist mittlerweile fünf – dann sechsstimmig geworden, endlich erfassen gar die hellschmetternden Trompeten das Thema, welche bis[348] dahin absichtsvoll geschwiegen hatten. Man kann Gesang- und Orchesterstimmen nicht angemessener combiniren, eine bis ans Ende andauernde Steigerung nicht geschickter anlegen. Der noch angehängte Schlußsatz, welcher eine frühere Partie wiederholt, ist als Bachsche Composition von geringerer Bedeutung, und den Maßstab, welchen der Meister uns in seinen vorzüglichsten Werken an die Hand giebt, wenden wir bei Beurtheilung dieser Cantate überhaupt an. Verglichen mit Werken seiner Vorgänger würde sie in den meisten Theilen weit über denselben zu stehen kommen, nirgends unter ihnen. Aber ein solcher Vergleich ist auch nur theilweise noch zulässig, weil an mehren Stellen schon das Neue und Andersgeartete zu entschieden hervortritt. Daß dies einer ganz sichern und der einzig richtigen Anschauung entsprang, suchten wir anzudeuten. In der Verbindung von Choral und Bibelwort löschte er alles dramatische aus, um nur einer allgemein-musikalischen Idee zur Gestalt zu verhelfen, durch die zweimalige Anwendung einer strengen Vocalfuge gab er zu erkennen, wie er in diese, alles persönliche möglichst zurückdrängende Form den Schwerpunkt aller Chorbehandlung verlegt wissen wollte, in der letzten Fuge bestrebte er sich, auch den Gegensatz zwischen menschlicher und Instrumentalstimme auf das geringste Maß zurückzuführen. Fugen finden sich in der älteren Kirchencantate äußerst selten und mußten es nach dem Inhalt derselben; solche nun gar, wie unsere letzte, sind ebensowohl wie die Choralcombination etwas gänzlich neues und konnten nur dadurch möglich werden, daß die Orgelkunst zuvor diese Formen ausgebildet hatte. Man muß vocale Fugirungen älterer damaliger Meister vor Augen haben, um den ganz eminenten Fortschritt voll zu würdigen. Einiges in dieser Richtung hatten schon andre vor ihm zaghaft versucht, es verschwindet vor der unfehlbaren Sicherheit, mit welcher der 22jährige Bach das Rechte und allein Mögliche ergriff. Während des Absinkens der unbegleiteten Vocalmusik war es die Orgel gewesen, welche die Idee kirchlicher Kunst in Deutschland am reinsten gewahrt hatte; aus ihr sollte sie neuverjüngt erstehen, subjectiver freilich, da der Wille des Künstlers das todte Instrument schrankenloser beherrscht, als eine Vereinigung lebendiger Menschen, und um so viel innerlicher und schwerer verständlich, als das Gebiet der Instrumentalmusik tiefer und geheimnißvoller ist, aber darum nicht weniger würdig, [349] die erhabensten religiösen Ideale auszudrücken. Es kam nun darauf an, die Mitte zu finden und das dichterische Element von den Wogen der reinen Tonkunst nicht gänzlich überfluthen zu lassen.
Unmittelbar nach Composition und Aufführung der Cantate nahm Bach eine neue Aufgabe in Angriff, deren angemessene Lösung für die Pflege der Kirchenmusik, wie sie ihm im Sinne lag, von großer Bedeutung war. Die Orgel in der Blasiuskirche bedurfte, obwohl sie erst in den Jahren 1687 bis 1691 von J.F. Wender für 450 Thaler weitläufig reparirt war24, doch wieder einer gründlichen Ausbesserung, ja theilweise Neugestaltung. Die Zahl der Bälge war für die Größe der Orgel nicht ausreichend, die Leitung des Luftstroms nach den Bass-Windladen mangelhaft angelegt, ein 32füßiger Sub-Bass fehlte und die Pedal-Posaune hatte keine Kraft, im Hauptwerk war eine Anzahl von Stimmen abgenutzt und das Brustwerk gänzlich unbrauchbar geworden. Bach stellte alle Mängel fest und reichte dem Rathe einen Entwurf der vorzunehmenden Reparatur ein. Als ganz neue Zuthat stellte er ein von ihm selbst erfundenes Pedal-Glockenspiel von 24 Glocken in Aussicht, für das sich die Mitglieder der Blasius-Gemeinde schon so sehr interessirten, daß sie beschlossen hatten, es auf eigne Kosten anzuschaffen25. Außer der Hauptorgel war in der Kirche noch ein kleines Positiv auf dem unterhalb der Orgel gelegenen Sängerchore, was nur zum Einüben des Chores oder discreten Begleiten von Motetten, sonst aber nicht weiter brauchbar war; Bach hatte es im zweiten [350] Satze der Rathscantate sehr fein als Echo der Gesangsmelodie und zum Einweben einer vierten Stimme verwenden wollen, vermuthlich ehe er wußte, daß die Aufführung nicht in der Blasius-Kirche sein würde26. Er machte nun den Vorschlag, dieses kleine Werk daran zu geben, um mit geringeren Kosten zur Herstellung der Hauptsache, der großen Orgel, zu gelangen. Sein Entwurf zeigte eine so überzeugende Sachkenntniß, daß der Rath in einer Sitzung vom 21. Februar nicht nur sofort beschloß, ihn auszuführen, sondern ihm auch vertrauensvoll die Leitung des ganzen Unternehmens übertrug27. Wegen der Arbeit wurde wieder mit Wender unterhandelt, der sich dazu bereit erklärte gegen eine Summe von 230 Thalern, wofür er auch die Materialien anschaffte; das Positiv übernahm er für 40 Thaler. Bachs Entwurf ist ein Zeugniß meisterwürdiger Einsicht in die Technik des Orgelbaues, und auch durch seine originelle, kunstbegeisterte Ausdrucksweise sehr interessant; er folgt hier in seiner wörtlichen Fassung:
»Disposition der neuen reparatur des Orgelwerksad D: Blasii.
1. Muß der Mangel des Windes durch drey neue tüchtige Bälge ersezet werden, so da dem Oberwercke, Rückpositive und neuem Brustwercke genüge thun.
2. Die 4 alten Bälge so da vorhanden, müßen mit stärckerem Winde zu den neuen 32 f. Untersaze und denen übrigen Bass-Stimmen aptiret werden.
3. Die alten Bass Windladen28, müßen alle ausgenommen, und von neüen mit einer solchen Windführung versehen werden, damit mann eine einzige Stimme alleine, und denn alle Stimmen zugleich ohne Veränderung des Windes könne gebrauchen, welches vormahle noch nie auff diese Arth hat geschehen können, und doch höchst nöthig ist.
4. Folget der 32 f. Sub Bass oder so genandte Untersatz von Holz, [351] welcher dem ganzen Wercke die beste gravität giebet. Dieser muß nun eine eigene Windlade Haben29.
5. Muß der Posaunen Bass mit neüen und gröserncorporibus versehen, und die Mundstücke viel anders eingerichtet werden, damit solcher eine viel beßere gravität von sich geben kan.
6. Das von denen Herrn Eingepfarten begehrte neüe Glockenspiel ins Pedal, bestehend in 26 Glocken à 4 f.-thon; Welche Glocken die Herrn Eingepfarten auff ihre kosten schon anschaffen werden, und der Orgelmacher solche hernachmals gangbahr machen wird.
Was anlanget das Obermanual, so wird in selbiges anstatt der Trompette (so da herausgenommen wird) ein
7. Fagotto 16 f. thon eingebracht, welcher zu allerhandt neüen inventionibus dienlich, und in dieMusic sehr delicat klinget. Ferner anstatt desGemshorns (so gleichfalls herausgenommen wirdt) kömmet eine
8. Viol di Gamba 8 f., so da mit dem im Rückpositive vorhandenem Salicinal 4 f. admirabel concordiren wird.
Item anstatt der Quinta 3 f. (so da gleichfalls herausgenommen wirdt,) könnte eine
9. Nassat 3 f. eingerücket werden.
Die übrigen Stimmen in OberManuale so vorhanden, können bleiben, Wie auch das ganze Rückpositiv, indem doch solche bey der reparatur von neüem durchstimmet werden.
10. Was denn hauptsächlich anlanget das neue Brustpositiv, so könten in selbiges folgende Stimmen kommen – als:
7. Stillgedockt 8 f., so da vollkommen zur Music accordieret, und so es von guthem Holze gemacht wird, viel beßer als ein Metallines Gedockt klingen muß.
11. Zwischen dieses Brustpositives und Oberwerckesmanualen muß eine Copula seyn.
Und schließlichen muß beynebst Durchstimmung des ganzen Werckes, der Tremulant in seine richtig Wehende mensur gebracht werden.«
Den ernsten Willen, im Interesse der kirchlichen Musik das seinige zu thun, hatte Bach also überall bekundet. Aber bald traten seinem Eifer Hindernisse entgegen, welche sich im Verlaufe weniger Monate so gehäuft haben müssen, daß er noch im Sommer des Jahres den Entschluß fassen konnte, das mit so viel Frische begonnene Werk ganz im Stiche zu lassen. In seinem Entlassungsgesuche spricht er von »Widrigkeiten«, die sich ihm entgegengestellt hätten, und auch wohl nicht so bald aus dem Wege geräumt sein würden. Wir haben darunter zunächst die Gesinnungen eines Theils der Mühlhäuser Bürgerschaft zu verstehen, welcher am Alten hing und Bachs kühnen Flügen nicht folgen konnte noch wollte, auch den Fremdling wohl mit scheelen Augen ansah, der an einer Stelle sich so eigenmächtig gebärdete, wo seit Menschengedenken Einheimische zum Ruhme der Stadt gewaltet hatten. Wie man mit Liebe und Stolz das Thun und Lassen hervorragender Mitbürger verfolgte, so pflegte man sich, zum Theil wenigstens, gegen Auswärtiges abweisend und kalt zu verhalten. Daß J. Georg Ahle im Jahre 1704 zur Einweihung der Kirche Mariae Magdalenae das Lied »Lobt, ihr Frommen, nah und fern« verfertigt hatte, wurde als große Wichtigkeit noch in einer handschriftlichen Chronik im Jahre 1794 vermerkt31. Derselbe Chronist weiß aber bei der ein Jahr später erfolgten Huldigungsfeierlichkeit von Erlebachs großer Festcomposition nicht ein Wort. Und wenn wir lesen, wie Bachs zweiter Nachfolger, [353] Christoph Bieler aus Schmalkalden, sich beim Rath über das »besondere Wesen der Leute« beklagt, und »daß man ihm mehr feindlich als freundlich begegne«32, so liegt die Wahrscheinlichkeit vor, daß Bach hie und da Gleiches erfahren mußte. Am übelsten wurde es genommen, wenn die umliegenden Ortschaften als nachahmenswerthe Muster musikalischer Leistungen aufgestellt wurden, da besonders zwischen Langula nebst den übrigen Dörfern der sogenannten Vogtei und Mühlhausen eine gewisse Opposition herrschte, die, wie mir erzählt wurde, auch heute noch nicht ganz aufgehört haben soll. Aber alles das waren endlich doch unwesentliche Dinge, wo es sich um das Wirken eines großen Künstlers handelte, und Bach genoß andrerseits die Gunst eines höchst achtungswerthen Raths, wie es ihm auch an Privatfreundschaften nicht gefehlt hat33. Hingegen weisen gewisse Ereignisse darauf hin, daß es zwischen ihm und dem obersten Geistlichen der Stadt, dem Superintendenten und Hauptprediger an der Blasiuskirche zu allerhand Conflicten gekommen ist, und daß hierbei verschiedene Ansichten über Kirchenmusik eine wesentliche, vielleicht die hervorragendste Rolle spielten. Wenn sich aber Bach in seinen Bestrebungen durch seinen nächsten und höchsten kirchlichen Vorgesetzten eingeengt und gehemmt sah, dann erklärt es sich leicht, wie ihm so bald seine Stellung dort gründlich verleidet werden konnte.
Es war in jener Zeit, daß die religiösen Streitigkeiten zwischen dem Spenerschen Pietismus und der altlutherischen Orthodoxie allgemein entbrannt waren und von Seite der letzteren um so leidenschaftlicher geführt wurden, je mehr Boden von Jahr zu Jahr der Pietismus [354] im deutschen Volke gewann. In Arnstadt hatte er allerdings, wie wir oben erzählt haben, nur vorübergehend Wurzel gefaßt, und nach dem Tode Dreses sich gegen die Feindseligkeiten der beiden Olearius nicht behaupten können; anders in Mühlhausen. J.A. Frohne, seit 1684 Diaconus daselbst, von 1691 an Nachfolger seines Vaters in der Superintendentur, hatte durch Spener angeregt auf Erweckung einer tiefern christlichen Gesinnung und Bethätigung derselben an sich und andern lebhaft und unangefochten eine Reihe von Jahren hindurch hingewirkt. Speners Pia Desideria (1675), welche zu der ganzen religiösen Bewegung den Anstoß gaben, hatten anfänglich überall keinen Widerspruch, von Seite einsichtiger Theologen sogar volle Billigung erfahren; nur als die Theorie mit Nachdruck zur Ausführung gebracht werden sollte, und die strengen Orthodoxen aus ihrer selbstgefälligen Ruhe und unfruchtbaren Dünkelhaftigkeit unangenehm aufgestört wurden, begann ihre mit wenig Geist und viel Gehässigkeit gepaarte Opposition. Genau so ging es in Mühlhausen. Im Jahre 1699 kam von Heldrungen, wo er Superintendent gewesen war, als Archidiaconus und Pastor an die Kirche B. Mariae Virginis G. Chr. Eilmar, der obgleich 13 Jahre jünger als Frohne doch dem frischen, thatkräftigen Pietismus durchaus feindlich gesinnt war, und nichts eiligeres zu thun hatte, als dies nachdrücklichst hervorzuheben. In seiner am Sonntage Sexagesimae gehaltenen Gast-Predigt hatte er so auffällig gegen Frohne, dessen Gesinnungen er kennen mußte, Stellung genommen, und auch bei gewissen Elementen der Bürgerschaft Anklang gefunden, daß dieser einer solchen Aufreizung und Verwirrung der Gemüther nicht glaubte ruhig zusehen zu dürfen. Eilmars Vorwürfe hatten sich zumeist auf das Verhältniß der Pietisten zur Bibel bezogen: daß es ketzerisch sei, beim Lesen der heiligen Schrift um besondere Erleuchtung zu beten, da der heilige Geist schon im Bibelworte wohne, daß zwischen innerlichem und äußerlichem Worte ein Unterschied nicht zu machen sei, daß die Pietisten das Wort Gottes für einen todten Buchstaben hielten; er war andrerseits so weit gegangen zu behaupten, daß die Verächter der Kirche und der Bibel ohne eigne Bekehrung und Selbsterziehung allein durch die Vermittlung des Geistlichen gerechtfertigt werden könnten. Dies war allerdings der Standpunkt der Orthodoxie, zu dem sich zu bekennen sie jetzt durch den Kampf auch [355] äußerlich gezwungen wurde; das lutherische Princip war ihr schon wieder abhanden gekommen, die Kirche galt ihr, fast wie den Katholiken, als etwas vollkommenes, göttliches, deren Heilsmittel man nur passiv zu empfangen brauche, und die Geistlichen betrachteten sich als Träger einer göttlichen Amtsgnade, die von ihrer sittlichen Führung ganz unabhängig sei, wogegen der Pietismus edelstrebend den Grundgedanken des Protestantismus weiter zu entwickeln suchte. Wie Frohne seine Ansichten Eilmar gegenüber vertrat, darüber hat er sich selbst hernach öffentlich geäußert. »Nachdem ich nun dieses vernommen«, sagt er, »und gemerket, wie es ein Anfang sein sollte zur Zerstörung der guten Erbauung, so zeithero ohne einzigen öffentlichen Widerspruch bei uns geführet worden, da er [Eilmar] die Treibung der Gottseligkeit unter dem Namen der Pietisterei, wie schon andere heimlich gethan hatten, öffentlich hat versuchet verdächtig zu machen, so habe kraft meines Amtes als Superintendens meine Pflicht erachtet, daß ich dieses mit Stilleschweigen nicht dürfte vorbeigehen lassen, sondern weil ich hörete, daß etliche gottlose Leute sich darmit trugen, kitzelten und wider mich glorirten, nun wäre mir das Maul geboten, ich würde sie nun müssen unangetastet lassen, habe deswegen am Sonntag Quinquagesimae, da ich die Predigt zu S. Marien hatte, und von der Erleuchtung occasione textus Luc. 18, v. 34. 41. 42 redete, nicht zwar eine formale Widerlegung angestellt, indem ich ganz keiner Person gedachte, auch keinePersonalia tractiret, doch meine Lehrsätze so eingerichtet, daß das Gegentheil aus Gottes Wort behauptet worden. Habe also gezeiget: 1) Ohne Treibung der wahren Bekehrung soll dem Gottlosen der Trost des Evangelii nicht geprediget werden. 2) Daß dem Gottlosen der Trost nicht bloßhin zu predigen sei, habe bewiesen aus den Sprüchen Es. 1, v. 16. 17. 18; Jer. 3, 12. 13. 14; Ez. 18, 21. 32, in welchen Sprüchen den Sündern der Trost nicht bloßhin, sondern wenn sie sich bekehren verkündiget wird. 3) Wann aber der Trost bloßhin, ohne Meldung der Bekehrung, geprediget wird, so werde der Weg zur Sicherheit aufgethan. 4) Habe ich gezeiget, daß es nicht irrig sei, wenn man die Schrift lesen und zu seiner Herzenserbauung betrachten wolle, daß man Gott um den Heil. Geist anrufe, der das Wort dem Leser öffne, daß er das Wort heilsamlich verstehen und annehmen könne: denn ob zwar der Heil. Geist schon im Worte sei, so muß er doch auch im Herzen sein, wenn er [356] den Menschen durchleuchten und heiligen solle. Solche Einwohnung des Heil. Geistes im Herzen müsse aber von Gott durch ein andächtiges Gebet gesuchet werden, welches bewiesen aus Luc. 11, 13; Eph. 1, 17. 18; 1. Cor. 2, 12; Ps. 119, 18. – 5) Ich habe weiter dargethan, daß es nicht irrig sei, einen Unterschied zu machen zwischen dem innerlichen und äußerlichen Wort Gottes, wenn solches nicht geschieht nach enthusiastischer Art, als wenn das innerliche Wort ganz ein anderes sei, als das äußerliche Wort Gottes; so ferne es in der Bibel gelesen und gehöret wird, sei es das äußerliche Wort, so ferne es aber mit gläubigem Herzen angenommen und bewahret wird, sei es das innerliche Wort. Und daß, wenn die Erleuchtung und Bekehrung geschehen solle, so müsse das äußerliche Schrift-Wort ein innerliches Herzens-Wort werden, und so folge daraus die Erleuchtung und Bekehrung des Menschen. Gleichwie der Same nicht nur Same außer der Erde müsse bleiben, sondern er müsse auch ein innerlicher Same oder ein Same im Acker werden, wenn Früchte erfolgen sollen. Solches habe ich bewiesen aus Luc. 8, 15; Act. 16, 14; Rom. 10, 8. Habe darbei die Zuhörer ermahnet, das 12. Cap. L. 1. im Liebes-Kuß des sel. D. Müllers zu lesen, allwo der Unterschied zwischen dem innerlichen und äußerlichen Wort ganz deutlich und schriftmäßig erkläret wird. 6) Ich habe auch bewiesen, daß die heutigen frommen Theologi, welche die Pietät treiben, und so insgemein Pietisten genennet würden, mit dem Rathmannischen Irrthum nicht könnten beleget werden, als hielten sie das geschriebene Wort Gottes für ein todtes Wort«34.
Diese Ansichten sind diejenigen Speners und wurden vollständig mitgetheilt, weil sie die pietistische Anschauung vom Christenthum klar und bündig darlegen. Gleichwohl konnte Frohne mit Recht von sich behaupten, durchaus auf orthodoxem Boden zu stehen, und in einer Druckschrift vom 12. Aug. 1700 die »falschen wider ihn ausgesprengten Zumessungen, als ginge er von der Evangelischen Orthodoxie [357] ab und wäre dem Chiliasmo und allerley Neuerungen zugethan« mit Grund zurückweisen. Denn es befand sich in ihnen ebenso wenig, wie in Speners Pia desideria, irgend etwas, das sich nicht ganz folgerichtig aus den Grundlehren der protestantischen Kirche hätte ableiten lassen, und separatistische Ausschreitungen wird er in seiner Amtsstellung sicher nicht begünstigt haben. Der Pietismus war ursprünglich doch nur eine von allen dogmatischen Neuerungen entfernte Erscheinung des kirchlichen Lebens. So konnte denn auch der Mühlhäuser Rath und eine Anzahl von theologischen Facultäten ihm seine Rechtgläubigkeit unbedenklich bezeugen, die vorher niemals angefochten war, Eilmar aber für nöthig gefunden hatte alsbald öffentlich zu verdächtigen, indem er ihn nicht nur des Pietismus sondern auch des Majorismus, Weigelianismus, Chiliasmus und Terminismus beschuldigte.
Der Wortstreit, welcher nach jener Predigt Eilmars rasch entbrannt war und auch die übrigen Geistlichen der Stadt angesteckt zu haben scheint, fand jedoch nach kurzer Zeit sein vorläufiges Ende, indem am 23. Mai desselben Jahres der Rath gemessenen Befehl erließ, daß sämmtliche Geistliche sich aller Streitigkeiten in öffentlichen Predigten zu enthalten hätten, wenn aber einer unter ihnen bei seinen Collegen »etwas verdächtiges« bemerkte, solle er es dem Consistorio schriftlich anzeigen, »damit dergleichen Irrungen freundlich und brüderlich abgeholfen, und sonst besorgliche ärgerliche Weiterung und Zerrüttung vermieden bleiben möge«. Gewiß achtungswerthe und maßvolle Ansichten; wie sich denn überhaupt der Rath in dieser ganzen Zeit durchaus taktvoll und besonnen zeigt. Allein nach wenigen Jahren entbrannte in Schrift und Wort der Hader von neuem; wer ihn begonnen, läßt sich nicht entscheiden, beide Theile behaupteten, die angegriffenen zu sein. Aber mag auch die Schuld auf beiden Seiten gelegen haben, gleich vertheilt war sie sicher nicht, und die Ergebnisse des ziemlich reichlich vorliegenden Materials sind der Art, daß der Unbefangene nicht zweifeln kann, wem er seine etwaigen Sympathien zuzuwenden hat.
Eilmar erscheint als würdiger Genosse der gesammten gegen Spener auftretenden Orthodoxie, hart, leidenschaftlich, in todtem Formalismus erstarrt. Nirgends entdeckt sich ein Zug warmen Religionsgefühles, wohl aber ein unerquicklich doctrinäres Wesen, schulmeisterlich pedantische Logik, rechthaberische Geschwätzigkeit [358] und ausfallende Grobheit. In einer im November 1706 an den Rath gemachten Eingabe erwähnt er prahlerisch, daß er innerhalb zehn Wochen »fast ein halb Reiß Papier« gegen Frohne verschrieben, und von seinen theologischen Elaboraten hat er eine gewaltig hohe Meinung. Ueberall wo er etwas wider »die reine Lehre« geschehenes wittert, ist er eifrig bei der Hand, dies dem Rath zu denunciren. Besonders als Frohne, der zugleich als erster Geistlicher das Censoramt verwaltete, den Druck einer Schrift von Johann Kessler, Conrector substitutus in Gotha, betitelt: »Gründliche Rettung der Orthodoxiae D. Breithaupts« gestattet hatte, schien ihm nichts wichtiger, als dies zur sofortigen Anzeige zu bringen (20. Jan. 1707), und mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln Sturm zu läuten.
Frohne war ein Mann von lebendiger Religiösität, sittlicher Tüchtigkeit und Strenge gegen sich und andre. Dies machte ihn bei einem großen Theile der Einwohner unbequem und verhaßt, welcher natürlich nun zu Eilmar hielt und Einfluß genug besaß, um diesen nach Frohnes Tode an dessen Stelle zu bringen. In der zuvor angeführten Vertheidigungsschrift sagt Frohne bedeutungsvoll (S. 1 u. 2): »Die werklosen Christen halten die Predigten eifriger Lehrer, die neben der unverdienten Rechtfertigung auf die nothwendige Heiligung dringen und treiben, für verdächtig, als wären sie von Papistischer Art. Oder, weil man jetzo allenthalben von Pietisten redet, so beschuldigen die Weltgesinnten diejenigen Predigten, die auf die Buße, so vor dem Glauben hergehet, und auf die Werke, so aus dem Glauben fließen müssen, mit Ernst und Nachdruck gerichtet sind, sie seien nichts anders als Pietisterei. Und dies letztere habe ich auch an meinem Orte erfahren müssen. Denn nachdem ich neben der reinen Lehre der gnädigen Rechtfertigung vor Gott, auch die Buße und die Uebung zur Gottseligkeit etliche Jahre mit Anhalten zu rechter Zeit und Unzeit getrieben habe, hat solches den Teufel und die Welt verdrossen, und hat sich bei den Weltgesinneten erzeiget ein Unwille gegen mich, der manche widersinnige Rede wider meine Person und Lehre erreget hat. Dessen ungeachtet aber habe ich meines Berufs abgewartet, und mich an der Welt Ungunst und Verläumdung nicht gekehret. Und weil ich mußte hören, daß diejenigen frommen Bürger in unserer Stadt, welche sich den Sauf- und Spiel-Gela gen entzögen, von Sauf- und Karten-Brüdern für Pietisten ausgeschrieen wurden, so bestrafte [359] ich solches öffentlich, und zeigte den unverständigen, daß fromm sein, der Gottseligkeit sich befleißigen, und neben dem Glauben Buße und gute Werke in Predigten treiben keine Pietisterei, sondern eine heilige und von Gott anbefohlene Uebung und Werk sei.« Es flößt unter allen Umständen Achtung ein, einen Mann mit ehrlichen, selbstgewonnenen Ueberzeugungen im Kampf gegen die Zeitrichtung und zum Dank für seine Gewissenhaftigkeit allerhand Injurien ausgesetzt zu sehen, und wir steigern diese Achtung mit Freuden, wenn er selbst darin sich Milde und Maß bewahrt. Dies that Frohne, der übrigens schon bejahrt, schwächlich und augenleidend war, in seinen schriftlichen Auslassungen auch dem Rathe gegenüber, und genoß die Genugthuung, daß derselbe sich entschieden auf seine Seite stellte. Wenn er ihm einige Male Vermahnungen zugehen ließ, so beweist das nur seine Unparteilichkeit; im übrigen mißbilligte er offen das Eilmarsche Treiben. Schon dessen Entgegnung auf Frohnes Schrift »Das Recht des geistlichen Priesters«, genannt Harmonia Frohniano-Pietistica-Chiliastica (1705) hatte der Rath zurückgewiesen, und gefordert, daß er seine Anklagen in kurzen Thesen formuliren solle. Als er später den Superintendenten wegen Druckes der Kesslerischen Schrift denuncirte, und dieser nach Aufforderung eine Erklärung darüber abgegeben hatte, drückte der Rath dem Eilmar sein besonderes Mißfallen aus, und untersagte ihm, dieser Schrift wegen »dem Herrn Superintendenten etwas weiteres zu imputiren« (21. Febr. 1707); Frohne hatte also sein Verfahren in den Augen des Raths gerechtfertigt. Dies war dem händelsuchenden Orthodoxen sehr unangenehm, und er remonstrirte gegen das Decret (21. und 23. März 1707), aber vergebens. Im Aerger nahm er seine Entlassung, doch wurde dieser Schritt später wieder rückgängig gemacht.
Der Streit sollte endlich geschlichtet werden durch das Urtheil unparteiischer Facultäten. Frohne erklärte ausdrücklich, sich in jedem Falle dabei beruhigen zu wollen, wenn nur Eilmar dasselbe aufgetragen würde. Dies Urtheil wurde am 3. Mai 1708 im Rathe eröffnet und Tags darauf den beiden Geistlichen mitgetheilt. Es hat sich aber keine Kunde davon erhalten, wie es ausfiel. Frohne starb am 12. Nov. 1713, 61 Jahre alt; Eilmar zwei Jahre später35.
[360] Wer, der je versuchte, nach den Werken des Meisters sich ein Bild seiner Persönlichkeit zu entwerfen, dächte nicht sogleich, daß in dieser beklagenswerthen Entzweiung Bach mit Wort und Gesinnung zu seinem Superintendenten und dem Hauptprediger seiner Kirche gestanden hätte? Und doch ist genau das Gegentheil der Fall gewesen. In der Notiz der Pfarr-Register über die Geburt seines ersten Kindes, welche noch desselben Jahres in Weimar erfolgte, lesen wir unter den Pathen an erster Stelle: »Herr Doctor Georg Christian Eilmar, Pastor primarius bei der Kirche zu M. Virginis und Consistorii Assessor in Mühlhausen.«
Die aufmerksame Betrachtung der von Bach seinen Kindern bestimmten Taufzeugen ist für seine eigne Lebensgeschichte von nicht geringer Wichtigkeit, weil dadurch jedesmal ein ganz bestimmtes augenblickliches Verhältniß zu gewissen Menschen sich ergiebt. Der Grundsatz, nahe Verwandte oder Freunde oder sonstige Vertrauenspersonen zu wählen, war natürlich stets derselbe, zudem wurde und wird in den Gesellschaftskreisen, welchen Bach angehörte, ein solches Ereigniß mit ganz besonderer Feierlichkeit behandelt, und dies mußte um so mehr der Fall sein, je patriarchalischer seine Lebensanschauungen waren. Daß er nun gar die erste Pathenstelle bei seinem erstgebornen Kinde für ein ganz ausgesuchtes Ehrenamt hielt, ist selbstverständlich, und Eilmar figurirt zusammen mit den allernächsten Verwandten des Künstlers. Da er damals schon Hoforganist in Weimar war, und zu Mühlhausen in keiner dienstlichen Beziehung mehr stand, so kann dieser Schritt auch nur auf einem ganz freien Entschlusse beruhen und muß als Ausdruck innerster Ueberzeugung gelten. Es ist also nicht zu bestreiten, daß Bach ein Anhänger und Verehrer Eilmars war, und folglich, der Sachlage nach, zu Frohne mehr oder weniger feindlich stand. Wie das möglich sein konnte, wird man mit Erstaunen fragen; und galt nicht überhaupt Bachs Hinneigung zum Pietismus bereits für ausgemacht?
Sie galt für ausgemacht auf gewisse innere Uebereinstimmungen hin. Aber man scheint ganz unerwogen gelassen zu haben, ob denn nicht die pietistischen Kunst- und Lebensanschauungen eine solche Hinneigung von vorn herein verhindern mußten. Alle Kunst, die auch etwas für sich selbst bedeuten wollte, fiel den Pietisten unter den Begriff der »Welt«, zu der, wie sie meinten, jeder wahre [361] Christ sich im ursprünglichen Gegensatze befinde. Bald mehr, bald weniger unumwunden sprachen sie es aus, daß künstlerische Genüsse, welche die Orthodoxie als Mitteldinge (ἀδιάϕορα) bezeichnete, die an sich weder gut noch böse seien, aber nach den Umständen beides werden könnten, sich nicht vereinigen ließen mit einem für jeden Augenblick Gott verantwortlichen Lebenswandel, und darum als verführerisch und verderblich gemieden werden müßten. Nur insofern die Kunst selbstlos in den Dienst der Religion und zwar der subjectiven Erbauung und Erweckung trat, entging sie der Verurtheilung. In musikalischer Hinsicht wurde deshalb in den pietistischen Kreisen auch nur die geistliche Arie in ihrer kleinsten Gestalt gepflegt, die sich der Dichtung eng und bescheiden anschmiegte und zugleich der Empfindsamkeit sehr entgegen kam. Alle die Bestrebungen aber, welche die Formen kirchlicher Kunstmusik erweitern und zu größeren Ganzheiten vereinigen wollten, oder gar neue Formen aus der so verpönten Opernmusik in die Kirche hinübernahmen, mußten vom pietistischen Standpunkte aus absolut verwerflich erscheinen. Denn was im besten Falle auch hier mit erhebender und erbaulicher Kraft hervortrat, war, wie sie nicht übersehen konnten, keineswegs die von ihnen gesuchte und durch Negirung der »Welt« allein für möglich gehaltene contemplative Annäherung an Gott, sondern es war eine Anerkennung und Idealisirung alles geschichtlich gewordenen. Nun sah es Bach nach eignem Geständnisse als ein Stück seiner Lebensaufgabe an, die Kirchenmusik neuen, höheren Zielen durch Vereinigung alles vorher geleisteten zuzuführen, und grade in Mühlhausen zuerst hatte er mit frischem Meistermuthe nach dieser Richtung energisch zu wirken begonnen. Seiner Ueberzeugung gemäß konnte Frohne dies nur in sehr eingeschränktem Maße dulden, er mußte die üppig aufquellende Productionskraft des Künstlers niederzudrücken suchen, und ahnte vermuthlich nicht, daß er diesem damit die Lebensadern unterband. Hier herrschte ein principieller Gegensatz, der groß genug war, Bach aus dem Lager eines edlen Geistlichen zur Partei seines Gegners hinüberzutreiben. Es scheint überdies, daß Eilmar musikalisch und einer Entwicklung der kirchlichen Musik im neueren Sinne zugethan war36.
[362] Aber wir müssen noch weiter gehen und behaupten, daß Bach auch niemals im Lager Frohnes sich befunden hat und nicht nur durch eine Art künstlerischer Nothwehr an Eilmar sich anzuschließen gezwungen wurde. Die nahe Verbindung, in welche er letzteren alsbald zu seiner Familie brachte, fordert durchaus die Annahme einer innern Uebereinstimmung – es braucht kaum daran erinnert zu werden, daß auch in der Lehre von der Wiedergeburt durch die Taufe die Ansichten der Pietisten und Orthodoxen aus einander gingen. Die religiösen Traditionen des Bachschen Geschlechts: ein schlichter, aber tief und lebendig gefühlter Protestantismus, der durch eine lange Thätigkeit im Dienste der Kirche eingewurzelt und erstarkt war, gelangten natürlich unverändert auch in die Kindesseele Sebastians. Seine Erziehung unter den Augen des älteren Bruders und auf dem orthodox gesinnten Lyceum zu Ohrdruf war nicht geeignet, hieran etwas zu ändern. Ebenso wehte in Arnstadt eine dem Pietismus durchaus ungünstige Luft, und da die Eiferer diesen als völlige Revolution gegen die reine, althergebrachte Lehre verdächtigten, mußte Bach nur entschieden gegen ihn eingenommen werden. Selbst geprüft hat er sicherlich schon aus dem Grunde nie, weil er schwerlich je ein religiöses Bedürfniß empfand, das er in dem Glauben seiner Väter nicht hätte befriedigen können. Was darüber hinaus war, das bot ihm eben die Kunst und sein Künstlerthum. Ohne Frage brachte er es hier bisweilen zu Aeußerungen, die mit gewissen Seiten des Pietismus sich nahe berühren. Die Mystik, mit welcher er sich in seine Texte, besonders in die Worte der Bibel hineingraben kann, ist der lebendigen Inbrunst, mit der die Pietisten die heilige Schrift lasen, nahe verwandt. Jener transcendentale Zug, welcher ihn so gern bei der Vernichtung des Erdenlebens durch den Tod und den Wonnen einer himmlischen Seligkeit verweilen läßt, entspricht der weltverneinenden und auf ein herrliches Reich Christi harrenden Stellung der Spenerianer. Ja, das Verlangen derselben, wenigstens auf Augenblicke das Gefühl des völligen und durch nichts vermittelten Einsseins mit Gott zu genießen, und die Unendlichkeit [363] des göttlichen Wesens entzückt im eignen Selbst zu empfinden, hat ein Gegenbild in Bachs Instrumentalmusik. Es ist ja die Aufgabe dieser Kunst, von allem, was der Mensch erlebte, nur die allgemeinsten Formen des Geschehens zur idealisirten Darstellung zu bringen, und unter allen Tonmassen erweist sich das Orgelmaterial gegenüber der Einprägung einer Individualität am sprödesten. Ein Tonstück dieser Qualität ist in Wahrheit das Symbol der ewigen Urharmonie, deren Wogen von Gott aus und zu ihm zurückströmen; ein solches dem menschlichen Empfinden auch ohne Vermittlung zufällig verbundener Begriffe nahe zu bringen, es mit subjectiver Wärme zu umfassen und zu durchglühen, ist wohl ein ähnliches Beginnen, wie wenn die frommen Seelen den unnahbaren, unbegreiflichen Gott ohne Dazwischentreten der Kirche liebeglühend zu umfangen suchten. Wie sehr Bach dies vermocht hat, zeigen seine frei erfundenen Orgelfugen, die auch heute noch ohne irgend ein appercipirtes Gefühl kirchlicher und gottesdienstlicher Feierlichkeit einem jeden von warmer Innigkeit durchtränkt und trotz ihrer Starrheit wundersam belebt erscheinen müssen, wie Felsen vom Abendroth übergossen. Aber alles dieses waren keine Resultate pietistischreligiöser Anschauung, es waren nur die Offenbarungen einer aus der gleichen Wurzel deutschen Gemüthslebens aufschießenden Richtung im Gebiete der Kunst. Und fürwahr dicht neben den übereinstimmenden Merkmalen stehen die größten Verschiedenheiten: die stärkste Zügelung der Subjectivität durch die denkbar strengste Form, die gesunde Weltbejahung in der Anerkennung und Ausnutzung alles neben und vor ihm geleisteten und in der kräftigen, von den Vorfahren ererbten Freude am eignen Dasein. Wenn das Schöne, Gute und Wahre, was der Pietismus enthielt, eben in jener Zeit vielleicht grade in Bachs Musik am reinsten sich gestaltete, so konnte es nur dadurch geschehen, daß ihr Schöpfer ihm nicht angehörte. Freilich auch nicht, wenn er sich in harter Opposition zu ihm befunden hätte. Aber dies kann in der That niemals der Fall gewesen sein. Sein religiöser Standpunkt war ein über allen Streit erhabener und allgemeiner, wie er sich für ein universales Genie geziemte, und wenn ihn die Tradition seines Geschlechts und die Liebe zu seiner Kunst auch in die Reihen der Orthodoxen wies, so wäre doch nichts verkehrter, als ihn für einen fanatischen Parteigänger zu halten. Oder soll man noch fragen, ob sich eine Musik, so voll [364] Leben und Inhalt, wie die seinige, mit dem todten und hohlen Scheinchristenthum eines Eilmair und Genossen vereinbaren lasse?
Vielfach ist die pietistische Ausdrucksweise in den Cantaten- und Passionstexten Bachs in einem Sinne gedeutet, als ob der Componist hierin sein eignes Element gesehen und geliebt hätte. Aber ganz allgemein bemächtigte sich jener zum ersten Male wieder warm zum Herzen redenden Sprache, wer überhaupt einen Funken Poesie in sich trug, und es wäre sehr erfreulich, wenn nur alle von Bach componirten Dichtungen von diesem Tone getragen wären, man würde so mancherlei Schwülstigkeiten und Geschmacklosigkeiten schon in den Kauf nehmen können, zumal sie in den Wogen der Töne fast ganz verspült werden oder ohne Mühe sich tilgen lassen. In Wahrheit befindet sich unter allen Bachschen Textdichtern, soweit sie bis jetzt sich feststellen ließen, nicht ein einziger Pietist, und konnte es auch garnicht, da ihnen allen die neuere Kirchencantate ein sündhafter Gräuel war, vielmehr war der eigentliche Erfinder dieser Form, soweit es dabei auf die Dichtung ankam, einer der eifrigsten orthodoxen Vorkämpfer. Von andrer und im übrigen sehr urtheilsfähiger Seite ist zu beweisen versucht, daß Bach an den Melodien des Freylinghausenschen Gesangbuchs sich selbsterfindend und Fremdes bessernd betheiligt habe37. Johann Anastasius Freylinghausen, Schwiegersohn August Hermann Franckes und dessen Pfarr-Adjunct, nach dem Tode desselben Pastor an der Ulrichskirche und Director des von Francke gegründeten Waisenhauses zu Halle, gab im Jahre 1704 ein »Geistreiches Gesang-Buch« heraus, »den Kern alter und neuer Lieder, wie auch die Noten der unbekannten Melodeyen in sich haltend«. Halle war seit dem Ende des 17. Jahrhunderts durch Männer wie Francke und Breithaupt zu einer Hauptstätte des Pietismus geworden, und das »zur Erweckung heiliger Andacht und Erbauung im Glauben und gottseligen Wesen« herausgegebene Buch der volle Ausdruck jener religiösen Lebensanschauung. Es fand ungemeine Verbreitung, Auflage folgte der Auflage, im Jahre 1714 erschien trotz heftiger Anfeindungen der Gegenpartei als zweiter Theil das »Neue geistreiche Gesangbuch«, das ebenfalls den größten Beifall erfuhr und 1741, zwei Jahre nach Freylinghausens Tode, von dem Sohne Franckes mit dem ersten Theile zu einer Liedersammlung von nahezu 1600 Nummern mit mehr als 600 Melodien vereinigt wurde. [365] Die Behauptung einer Theilnahme Bachs an dem musikalischen Theile des Gesangbuches, gegen die man nach des Meisters eben entwickelter Stellung zum Pietismus von vorn herein mehr als mißtrauisch sein muß, stützt sich auf ein »Musicalisches Gesangbuch«, was der Schloßcantor zu Zeitz, Georg Christian Schemelli, im Jahre 1736 ber Christoph Breitkopf in Leipzig erscheinen ließ; in ihm befinden sich 69 Melodien, die sämmtlich laut Vorrede von Sebastian Bach »theils ganz neu componiret, theils auch von ihm im General-Bass verbessert« waren. Eine genaue Prüfung hat ergeben, daß 40 dieser Melodien schon in früheren Quellen sich finden, und zwar 18 davon zum ersten Male in dem genannten Gesangbuche Freylinghausens38. Bachs Thätigkeit für dasselbe wäre also unter der Bedingung erwiesen, daß sich seine Autorschaft bei diesen 18 Melodien, oder einigen von ihnen, darthuen ließe. Für die ersten Auflagen vereiteln diesen Versuch sofort Freylinghausens eigne Worte, da er in der Vorrede sagt: »Den alten und gewöhnlichen Kir chen-Liedern hat man Melodeyen in Noten vorzusetzen, weil sie überall bekannt sind, unnöthig erachtet; die neuern aber sind damit sämmtlich versehen, und zum Theil aus dem darmstädtischen Gesang-Buch genommen, zum Theil von christlichen und erfahrnenMusicis hieselbst aufs neue darzu componiret worden.« Die Vorrede datirt vom 22. September 1703 aus der halleschen Vorstadt Glaucha; Bach war damals 18 Jahr alt und Organist in Arnstadt, es ist also einfach unmöglich, ihn unter die »erfahrnen Musici hieselbst« (d.h. in Halle) einzubegreifen. Damit scheiden alle die Melodien aus, welche zuerst in der frühesten Auflage des Gesangbuches vorkommen, und es ist dies nicht weniger als die Hälfte. Von den übrigen neun stehen drei in der fünften, 1710 erschienenen Auflage, welche in ihrer Vorrede die allgemeiner gehaltene Bemerkung hat, daß alle Melodien »nach den Regeln der Composition von christlichen und erfahrnen Musicis aufs neue fleißig untersuchet und an sehr vielen Orten verbessert« seien. Eine dieser Melodien: »Seelenweide, meine Freude« (Nr. 436) sollte denn auch als hauptsächliches Beweismittel dienen. Zu diesem Liede Adam Dreses war in den ersten beiden Auflagen eine, vermuthlich vom Dichter selbst erfundene Melodie im ionischen Metrum () gefügt, deren tänzelnder Charakter übrigens schon [366] in der dritten Auflage (1706) durch Umsetzung in den Viervierteltakt getilgt war. Die fünfte Auflage bietet eine ganz neue Melodie, und weil man irriger Weise glaubte, daß Bach in Arnstadt noch mit Drese zusammengelebt und zu ihm in Beziehung gestanden habe, entstand die Vermuthung, er sei der Componist. Dieselbe sollte dadurch begründet werden, daß die Melodie in Schemellis Gesangbuche fast unverändert wiederkehre, während der Vergleich ergäbe, daß Bach an nachweislich fremden Melodien immer reichlich geändert habe, zumal in der Bassführung; an seiner eignen Composition sei ihm das nicht nöthig erschienen. Dieses kritische Instrument erweist sich aber als unbrauchbar, da es in Bachs Natur lag, fremde wie eigne Melodien, so oft sie ihm wieder unter die Hände kamen, mit neuen Harmonien auszustatten: es beweisen dies unter anderm die von ihm erfundenen Melodien zu den Liedern »Dir, dir, Jehovah, will ich singen« und »Gieb dich zufrieden und sei stille«, die beide in zwei verschiedenen, gleich meisterhaften Harmonisirungen vorliegen, und fremde Melodien beweisen es ebenfalls in ungezählten Fällen, daß seine verschiedenen Satzarten durchaus nicht immer aus dem Bestreben, mangelhaftes zu verbessern, sondern meistens aus dem Drange schöpferischer Bildkraft entsprangen. Dazu kommt weiter, daß die andern beiden Melodien, welche in Freylinghausens fünfter Auflage und dann wieder im Schemellischen Gesangbuche stehen (Freyl. Nr. 592 und 614; es sind die Lieder: »Die güldne Sonne voll Freud und Wonne« und »Der lieben Sonnen Licht und Pracht«), sich im letzteren mit vollständig veränderten Bässen und Harmonien, auch mit mehrfach umgebildetem Melodiegange finden, so daß das an der ersten Melodie scheinbar erhaschte Resultat allein hierdurch wieder jede Sicherheit verlöre39. Endlich ist noch zu sagen, daß doch auch die Weise des Dreseschen Liedes bei Schemelli einige nicht unerhebliche [367] Abweichungen zeigt. Wollte man aber alle diese Einwände nicht gelten lassen, so ist folgendes sicherlich entscheidend. Es war die fünfte Auflage, welche sich durch die Aufnahme der drei Melodien von den ersten Auflagen unterscheiden sollte40. Man hat nicht bemerkt, daß die fünfte nur ein wörtlicher Abdruck der vierten ist, und das Erscheinen dieser fällt in das Jahr 1708. Die baare Unmöglichkeit, daß Bach sich grade in diesem Jahre, wo er in dem erbitterten Streite eines Orthodoxen gegen einen Pietisten auf der Seite des ersteren stand, an einer erklärt pietistischen und von den Gegnern aufs heftigste angefeindeten Unternehmung betheiligt haben könnte, leuchtet wohl einem Jeden ein. Damit sinkt aber auch das ganze Conjecturen-Gebäude in sich zusammen. Denn die Wahrscheinlichkeit einer Theilnahme muß in dem Verhältniß geringer werden, als die Zahl der Melodien zusammenschmilzt, bei denen sie möglich erscheint. Hier stützte eins das andere, jetzt bleibt für die letzten sechs Tonweisen nur die sehr trügerische Handhabe der harmonischen Aehnlichkeit, die in dem Maße, wie vorgegeben wird, nicht einmal vorhanden ist. Wenn Bach dem Anfange des Unternehmens fern geblieben war, und den Lenkern desselben stets fern stand, wie sollte man dazu gekommen sein, für die Fortsetzung seine Hülfe zu begehren? Und erwägt man endlich, daß offenbar jenes Gesangbuch Schemellis ein Gegenstück zu dem Freylinghausenschen werden sollte, und zwar ein zwischen den Parteien vermittelndes, wie denn in der That Lieder von den Führern sowohl der Pietisten als der Orthodoxen dort einträchtig neben einander stehen – sogar von Freylinghausen selbst ist eines darunter41 –, dann begreift man, wie Bach zur Aufnahme von 18 Freylinghausenschen Melodien kam, begreift aber auch, wie grade ihm, dessen parteilose Religion man kannte, die musikalische Herstellung des Gesangbuches übertragen werden konnte. Daß er unmittelbar mit Freylinghausens Liedersammlung niemals das geringste zu thun gehabt hat, dies dürfte nunmehr wohl eine unanfechtbare Thatsache sein. –
[368] Einige Monate waren vergangen, seit Bach die Erlaubniß zur Orgelreparatur vom Rathe eingeholt, und sofort das Werk kräftig in Angriff genommen hatte. Während dieser Zeit war ihm klar geworden, daß sei nes Bleibens in Mühlhausen nicht sei. Rascher als er gehofft hatte, bot sich ein neuer Wirkungskreis dar: in seinem altbekannten Weimar war der Dienst eines Hoforganisten frei geworden, und da ihm ohnehin daran lag, als Virtuose weiter bekannt zu werden, so beschloß er, sich an dem herzoglichen Hofe zu produciren. Er verband mit dieser Reise noch einen andern Zweck. Am 5. Juni wollte der Pfarrer Stauber mit Regina Wedemann, der Muhme von Bachs Gattin, zu Arnstadt seine zweite Ehe schließen. Sebastian hatte den Gedanken, dem würdigen Manne, der im Jahre vorher ihren eignen Bund eingesegnet hatte und nun in nähere verwandtschaftliche Beziehungen zu ihnen trat, jenen Tag durch Aufführung einer Cantate zu verschönen. Da er am 25. Juni in Mühlhausen sein Entlassungsgesuch einreichte, so wird er zuerst nach Arnstadt gegangen sein, wohin er jedenfalls seine Frau mitnahm; diese blieb dann wohl dort bei ihren Freundinnen, oder ging mit nach Dornheim hinüber, von wo der Gatte sie auf seiner Rückkehr von Weimar wieder abholte.
Die Cantate, welche hier in Frage kommt, und die über die Verse 12–15 des 115. Psalms gesetzt ist (»Der Herr denket an uns und segnet uns« u.s.w.)42, trägt in ihrer handschriftlichen Gestalt keinen Hinweis auf ihre Bestimmung, ja, daß überhaupt eine Cantate von Bach an jenem Tage geschrieben wurde, ist nur eine auf mehre sehr deutliche Anzeichen hin gewagte Combination. Daß das gemeinte Werk in die früheste Zeit Bachs gehört, erkennt sofort jeder, der sich gewisse Stilunterschiede einmal klar gemacht hat, ebenso, daß es sich darin um eine Hochzeitsfeierlichkeit handelt. Die Vermuthung aber, es sei auf eine gewöhnliche Trauung abgesehen, wird unzulässig durch die Textworte: »Der Herr segne euch je mehr und mehr, euch und eure Kinder«, und an eine Jubelhochzeit, mit welcher doch eine kirchliche Feier nicht verbunden ist, kann man auch nicht denken. Wohl aber paßt alles auf die zweite Verehelichung eines von Kindern umgebenen Wittwers, wie es Stauber war. Und [369] da die Psalmstelle sich direct auch an das Haus Aarons wendet, so liegt es nahe genug, aus ihrer Verwendung für die Cantate, und besonders aus den Worten: »Ihr seid die Gesegneten des Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat«, gradezu die Beziehung auf einen Geistlichen herauszufinden. Die Gelegenheit, für einen sich zum zweiten Male verheirathenden Prediger eine Cantate zu componiren, bot sich in den ersten Jahren von Bachs Meisterzeit jedenfalls nicht so häufig dar, daß die in diesem Falle genau zutreffenden Umstände unbeachtet zu lassen wären. Das Werk besteht aus zwei Chören, zwischen denen eine Arie und ein Duett stehen. An Instrumenten sind nur Geigen und Orgel verwendet, dieselben führen zu Anfang eine Sinfonia aus, die über das Anfangsthema des ersten Chors gebaut ist: die beiden Violinen arbeiten es in kurzen Abschnitten durch, welche immer durch ein paar überleitende Takte verbunden werden. Es lassen sich im allgemeinen zwei Behandlungsweisen an den Bachschen Kirchen-Symphonien oder -Sonaten bemerken. Das Hauptmerkmal der einen und älteren ist, daß über ruhigen, bald breitgezogenen, bald sanft schwebenden Harmonienfolgen zwei obere Stimmen ausdrucksvoll und gesangreich imitiren. Die Form der späteren schließt sich eng an die Construction eines Instrumental-Concertsatzes an, und ist eine geistvolle Uebertragung aus dem weltlichen Gebiete, während die erstere, in der Bach auf den Leistungen seiner Vorgänger weiterbaute, ganz dem kirchlichen Boden entsprossen ist. Was er nach dieser Richtung schuf, haben wir als die letzte Vollendung der Gabrielischen Sonate anzusehen: die harmonischen Massen sind noch dem Auge nicht entzogen, aber ihren breiten Rücken bedecken die Blumen und Ranken der neueren Instrumentalpolyphonie. Auch die Sinfonie der vorliegenden Cantate gehört dahin. Doch betheiligen sich die Bratschen und Violoncelle häufiger an der Contrapunctirung, als es in andern Fällen geschehen ist, wenn auch meist in Terzen- und Sextenverdoppelungen, die Stimmführung ist vortrefflich und strömend.
Die vier Vocalstücke sind vorwiegend milden und innigen Ausdrucks, was ja im allgemeinen der Zug der älteren Cantate ist, hier aber zuversichtlich durch Bestimmung der Composition mit veranlaßt wurde. Beide Chöre sind fugirt, der erste wird durch einen frei imitirenden Abschnitt eingeleitet, in dessen Stimmgewebe zweimal die [370] Instrumente tutti hineinschlagen; schon aus diesem Zuge, in Verbindung mit ähnlichen Stellen und den Zwischenspielen des letzten Chors könnte man den frühen Ursprung des Werkes ableiten. Die Fuge, in der das Thema mit einer Freiheit beantwortet wird, welche Bach später sich nicht mehr gestattete, stimmt in der Einflechtung der Instrumente ganz mit dem letzten Satze der Rathswechselcantate überein, zum Schluß kehrt, als wäre er ein Ritornell, der Anfangsabschnitt wieder. Die Arie hat eine knappe Da capo-Form und geringere Bedeutung, es waren der Textworte auch zu wenige, um ein ausführlicheres Stück zu machen. Desto wärmer und ergreifender ist das Duett zwischen Tenor und Bass: »Der Herr segne euch je mehr und mehr«, ein Stück von echt evangelischer Milde, wie es Bach nicht zum zweiten Male geschrieben hat. Eine weiche, breitathmige Melodie, welche die Imitation einer zweiten Stimme schon gleichsam in sich trägt, beherrscht bald instrumental bald vocal fast das ganze Duett, und obschon die gleichmäßige Abwechslung zwischen bei den Tonkörpern noch einen ältlichen Zuschnitt hat, so sind sie doch so geistreich und gewandt in einander geflochten, daß Bachs spätere Weise ganz deutlich durchschimmert. Sehr schön und überraschend ist der Schluß, wo nach einem, wie man meint, abschließenden Ritornell die Stimmen noch einen letzten Segensspruch thun, während die Geigen im C dur-Accorde harfengleich durch vier Octaven abwärts steigen. Der letzte Chor, welcher homophon und unter glänzender Instrumental-Figuration anhebt, geht nach sechzehn Takten in eine Amen-Doppelfuge über voll Frische und Kraft, deren Wirkung allerdings durch einige zu instrumental gedachte Stellen etwas geschädigt werden möchte, auch fehlt ihr der große unaufhaltsame Zug, da die Entwicklung sich in zu kurzen Abschnitten zwischen Singstimmen und Instrumenten, und Singstimmen mit Instrumenten vertheilt; dies war ein Stück Erbschaft seiner Kunstvorgänger, das Bach vollständig erst mit der Zeit seinem eignen Besitz assimilirte, wenngleich es ihm auch jetzt schon ungleich höhere Interessen abwarf. Ganz prächtig und kühn nimmt es sich aus, wenn im 54. Takte beide Violinen das Hauptthema auf dem ergreifen, während darunter in Sechzehnteln und Achteln alles durcheinander braust, das glänzt wie ein ritterlicher Held auf steigendem Schlachtrosse! Aber der leise verhallende Schluß leitet schön in die Grundstimmung des Ganzen [371] zurück. Verglichen mit der Rathswechsel-Cantate ist diese weniger reichhaltig, aber entschieden einheitlicher, ein köstliches Erzeugniß echter religiöser Innigkeit. Und da sie von den meisten Schwierigkeiten andrer Bachscher Werke frei ist, so könnte die Kunstwelt sie bald in ähnlicher Weise lieb gewinnen, wie ihren wohl nur wenig jüngeren Bruder, den schönen, ernsten Actus tragicus, wenn man sie eben nur aufführen wollte.
Die Vorstellung in Weimar hatte günstigen Erfolg gehabt, und Bach über diese unvermuthet glückliche Wendung dankbar erfreut, beeilte sich, seine Verbindungen in Mühlhausen zu lösen. Nur dem Rath gegenüber that ihm die schnelle Trennung leid, der sich stets in wohlwollendster Weise zu ihm gestellt hatte, und dem er sich verpflichtet fühlen mußte. Deutlich merkt man dies aus seinem sehr artigen Entlassungsgesuche heraus:
Welcher gestallt Eür: Magnificenz, und Hochgeschäzte Patronen zu dem vor dem Jahre verledigtemOrganisten Dienste D. Blasii meine Wenigkeit Hochgeneigt Haben bestellen, darneben auch Dero Milde zu meiner beßeren subsistenz mich genießen laßen wollen47, habe mit gehorsahmen Danck iederzeit zu erkennen. Wenn auch ich stets den Endzweck, nemlich eine regulirte kirchen music zu Gottes Ehren, und Ihren Willen nach gerne aufführen mögen, und sonst nach meinem geringen Vermögen der fast auf allen Dorfschafften anwachsenden kirchen music, und offt beßer, als allhier fasonierten48harmonie möglichst aufgeholffen hätte, und darümb weit und breit, nicht sond kosten, einen guthen apparat der auserleßensten kirchen Stücken mir angeschaffet, wie nichts weniger das project zu denen abzuhelffenden nöthigen Fehlern der Orgel ich pflichtmäßig überreichet Habe, und sonst aller Ohrt meiner Bestallung mit lust[372] nachkommen währe: so hat sichs doch ohne Wiedrigkeit nicht fugen wollen, gestalt auch zur zeit Die Wenigste apparence ist, daß es sich anders, obwohl zu dieser kirchen selbst eignen Seelen, vergnügen künfftig fügen mögte, über dießes demüthig anheim gebende, wie, so schlecht auch meine Lebensarth ist, bey dem Abgange des Haußzinses und anderer äußerst nöthigen consumtion49, ich nothdürftig50 leben könne.
Alß hat es Gott gefüget, daß eine Enderung mir unvermuthet zu Handen kommen, darinne ich mich in einer hinlänglicheren subsistence und Erhaltung meines endzweckes wegen der Wohlzufaßenden kirchen-music ohne verdrießligkeit anderer ersehe, Wenn bey Ihro Hochfürstl: Durchlaucht zu Sachsen-Weymar zu dero Hof capelle und Cammer music das entree gnädigst erhalten habe.
Wannenhero solches Vorhaben meinen Hochgeneigtesten Patronen ich hiermit in gehorsahmen respect habe hinter bringen und zugleich bitten sollen, mit meinen geringen kirchen Diensten vor dießesmahls vor willen zu nehmen, und mich mit einer gütigen dimission förderlichst zu versehen. Kan ich ferner etwas zu Dero Kirchen Dienst contribuiren, so will ichs mehr in Der That, als in Worten darstellen, verharrende Lebenslang
An Die | Allerseits respective | Höchst und Hochgeschäzten | Herrn Eingepfarrten | D. Blasii, | unterthäniges | Memoriale. |«
[373] Ungern aber liberaldenkend ertheilte denn auch am folgenden Tage der Rath die Entlassung, jedoch mit dem Vorbehalt, daß Bach zur Vollendung der Orgelreparatur seine fernere Hülfe verspreche. Da das neue Brustpositiv, wie die erwähnte Chronik erzählt, erst im Jahre 1709 fertig wurde, so wird Bach während dieser Zeit mindestens noch ein Mal, vermuthlich aber öfter von Weimar herübergekommen sein. Uebrigens blieb die Stadt Mühlhausen bei ihm sein Leben lang in gutem Andenken, und noch mehr als 25 Jahre später veranlagte ihn die »alte Faveur« des Rathes für seinen Sohn Bernhard um die Organistenstelle an der Marienkirche mit Erfolg nachzusuchen. In den von ihm aufgegebenen Dienst rückte, wie wir erzählt haben, sein Vetter Johann Friedrich Bach.
Fußnoten
II.
Unter den kleinen Herrschern des damaligen Mitteldeutschland, welche meistens ihr Deutschthum möglichst verleugneten, nur ihr eignes Wohl im Auge hatten und von Regentenpflichten keine Vorstellung, ragt Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar als eine eigenartige, gewissenhafte und tiefer angelegte Persönlichkeit hervor. Er regierte schon seit 1683 und stand, als Bach von ihm berufen wurde, im 46. Lebensjahre. Von seiner Gemahlin nach kurzer, unglücklicher Ehe getrennt, lebte er kinderlos und still auf der »Wilhelmsburg«, dem weimarischen Residenzschlosse. Seine Hofhaltung war einfach, sein Sinn rauschenden und glänzenden Vergnügungen abgewandt; im Sommer um 9 Uhr, im Winter schon um 8 Uhr Abends pflegte auf dem Schlosse alles Leben zu verstummen. Je weniger Zeit und Geld er aber für persönliche Interessen verbrauchte, desto nachhaltiger gab er sich den Verhältnissen seines Ländchens hin, und hier war es vorzüglich die Sorge für geistliche und Schul – Angelegenheiten, welche ihn erfüllte. Wilhelm Ernsts Charakter war im hohen Maße ein kirchlich – religiöser. Schon bei dem Knaben hatte sich dieser Zug stark geäußert, indem er im achten Jahre unter Anleitung des Hofpredigers vor seinen Eltern und einer auserlesenen Versammlung eine ordentliche Predigt hielt über Apostelg. 16, 31 »mit Anstand und mit einer außerordentlichen edlen Freimüthigkeit und vielem Aeußerlichen«, wie erzählt wird. Seine [374] 45jährige Regierungszeit ist denn auch von Beginn bis Ende mit einer Anzahl trefflicher Einrichtungen und Verordnungen dieser Art erfüllt, welche ihm bis heute ein lebendiges Angedenken erhalten haben. Die alte verfallene Jakobskirche ließ er 1713 neu erbauen, die Stadt-Schule verwandelte er 1712 in das jetzige Gymnasium und versorgte sie mit einem neuen Gebäude und wohlthätigen Stiftungen zur Unterstützung armer Schüler, noch zwei Jahre vor seinem Tode gründete er ein Prediger- und Lehrer-Seminar, zum zweihundertjährigen Jubelfeste der Reformation; am 30. October 1717, auf welchen Tag er zugleich seinen Geburtstag feierte, machte er eine Stiftung, deren Zinsen jährlich den Geistlichen, Lehrern, Schülern und Annen zu gute kommen sollten, hierzu ließ er auch eine Gedächtnißmünze schlagen, auf deren Avers sein Kopf zu erblicken ist: ein scharfgezeichnetes mageres Gesicht mit zurückliegender Stirn, großer vorstehender Nase und etwas vorstehendem Kinn. Er führte die Confirmation der Kinder wieder ein, die seit mehr als anderthalb hundert Jahren außer Gebrauch gekommen war, und legte den Geistlichen den Katechismus-Unterricht dringend ans Herz. Mit wirklichem und edlem Eifer betrieb er ferner die Bildung des niedern Volkes, oder, was damals dasselbe war, dessen Unterweisung in der christlichen Lehre, so daß er oftmals auf dem Lande von einem Orte zum andern reiste, um sich vom Stande des Kirchen- und Schulwesens selbst zu überzeugen. Ebenso trat im eignen Leben die Richtung auf das Religiöse hervor; sein Wahlspruch war: Alles mit Gott. Täglich hielt er seine Andachten, und verlangte dasselbe von der Dienerschaft; wenn er das Abendmahl genießen wollte, schloß er sich Tage vorher von allem ab und beschränkte auch die Vorträge seiner Räthe auf das Nöthigste, in Betreff der Hofdiener hatte er gleich am Anfange seiner Regierung eine bestimmte Communionordnung erlassen. Unter ihnen hielt er streng auf Frömmigkeit und gute Sitten, wird aber im übrigen als ein milder und sorgsamer Herr gerühmt, besonders gegen alte und erprobte Diener. Sein liebster Verkehr waren Geistliche, die er gern im vollen Ornate um sich sah. Ueber die Bedürfnisse des damals etwa 5000 Einwohner zählenden Ortes hinaus1 vermehrte er die Zahl der ordentlich angestellten [375] Geistlichen auf mindestens sieben, und im Jahre 1710 berief er sie einmal aus dem ganzen Lande, über hundert, zu einer Synode nach Weimar, deren Verhandlungen er von Anfang bis zu Ende beiwohnte. Es ist natürlich, daß ihn alle die kirchlichen Streitfragen, welche der mehr und mehr erstarkende Pietismus aufgeregt hatte, aufs höchste interessirten; mit seiner Ueberzeugung stand er aber durchaus bei der altkirchlichen Partei2. Für die Jakobskirche wollte er, laut Verordnung, nur einen Prediger zulassen, der auf »unverdächtigen« Universitäten studirt hätte, was gegen Halle gerichtet ist, im Jahre 1715 verbot er die mit Mißbräuchen verbundenen religiösen Privatzusammenkünfte, drei Jahre darauf empfahl er den Predigern zur allgemeinen Vertretung den dogmatischen Satz, daß die Amtsgaben auch unbekehrter Geistlicher schon vermöge ihres Amtes heilig und wirkungsfähig seien. Unter den Studenten in Jena veranlaßte er genaue Untersuchungen über die wichtigsten Differenzpunkte, und entschied dann in einem ausführlichen Rescript, wie er jene Fragen gelöst wissen wollte. Uebrigens ist es nach allem, was vorliegt, doch ziemlich klar, daß Wilhelm Ernsts Interesse keineswegs im Kirchenthum und der Wahrung der »reinen« Lehre aufging, sondern ein mächtiger Zug lebendiger Frömmigkeit in ihm wohnte. Deshalb war ihm auch orthodoxer Zelotismus zuwider, er untersagte streng allen Kanzelstreit, und forderte, daß etwa herrschende religiöse Irrthümer »bescheiden und gründlich« widerlegt würden.
Nächstdem war er den Wissenschaften und Künsten wohl gewogen, und zeichnete sich auch hierin vor den meisten seiner Standesgenossen aus, daß er diese Neigungen nicht nur äußerlich und aus Ostentation hegte, sondern nachhaltig und aufrichtig bethätigte. Er hatte seiner Zeit drei Jahre in Jena studirt, und schon seine theologischen Interessen hielten ihn mit der Wissenschaft in steter Verbindung. Außer der dem herzoglichen Archive zugewendeten Sorgfalt hat er durch verschiedene werthvolle Ankäufe den Grund zu der jetzt so bedeutenden großherzoglichen Bibliothek gelegt, und ließ [376] dieselbe mit der ihm eignen geschäftlichen Genauigkeit von Anfang an durch einen besondern Bibliothekar verwalten. Auch besaß er eine bedeutende Münz-Sammlung und war auf deren stete Vermehrung bedacht. Trotz seines ernsten Sinnes hatte er sich doch bewogen gefunden, im Jahre 1696 ein Opernhaus erbauen zu lassen, und besaß zeitweilig in Gabriel Möller einen »Hof-Comoedianten«, was so viel heißt, als daß eine unter der Leitung dieses Mannes stehende Truppe das Privilegium genoß, in Weimar und den übrigen Orten des Landes zu spielen. Im Jahre 1709 bestand jedoch dies Privilegium schon nicht mehr3. Das freundschaftliche Verhältniß, was zwischen dem weimarischen und dem lebenslustigen Hofe zu Weißenfels stattfand, blieb auf derartige Vergnügungen nicht ohne Einfluß: 1698 feierte Wilhelm Ernst daselbst mit großem Gefolge einen vieltägigen Carneval, auch blieben die Vettern bis in spätere Decennien treue und eifrige Jagdgenossen. Die Hofcapelle war für damalige Zeiten nicht unbedeutend, und zählte schon im Jahre 1702 einige hervorragende Künstler. Ein Lebensabriß des Herzogs aus dem Jahre 1730 berichtet treuherzig: »Sein Gehöre belustigten zuweilen sechzehn in Heyducken-Habit gekleidete wohlabgerichtete Musikanten«; da dies natürlich die besten der Capelle gewesen sein werden, so ist die Folgerung fast zwingend, daß auch Bach sich zeitweilig im »Heyducken-Habit« hat präsentiren müssen – eine komische Vorstellung! Indessen war das Interesse für Kammermusik wohl mehr noch bei seinem jüngeren Bruder Johann Ernst, in dessen Diensten Bach im Jahre 1703 auf einige Monate gewesen war, und nach seinem 1707 erfolgten Tode bei einem der Söhne desselben aus zweiter Ehe, dem Prinzen Johann Ernst, von welchem noch mehr zu erzählen sein wird. Des Herzogs Neigung mußte sich seiner Natur gemäß überwiegend der kirchlichen Musik zuwenden4.
[377] Es ist auf den ersten Blick klar, daß sich für Bach und seine Zwecke gar kein günstigerer Ort denken ließ. Jede Kunstpflanze, mag sie in noch so fruchtbarem Erdreich stehen, bedarf doch Licht und Luft zu ihrer Entwicklung, und für die wahre Kirchenmusik waren jene Elemente damals äußerst schwer zu finden, besonders an Höfen, die doch vorzugsweise die Mittel zum Gedeihen der Kunst darbieten konnten. Wirkliches Interesse für Religion zeigte sich fast nur in Gestalt des kunstfeindlichen Pietismus, im übrigen verbarg sich hinter den kirchlichen Formen meistens die religiöse Gleichgültigkeit, welche es am liebsten sah, wenn die herkömmliche Kirchenmusik ein Compromiss mit der Oper abschloß, und möglichst zu Gunsten der letzteren, denn in dieser war der Schwerpunkt des allgemeinen musikalischen Interesses gelegen. Ganz anders war es am Hofe Wilhelm Ernsts. Der Herzog hatte die tiefe Ueberzeugung, daß die kirchlich protestantische Religion das höchste der menschlichen Güter sei, welches aber nicht das übrige Leben mit all seinen Aeußerungen und Beziehungen ausschließe, sondern nur in sich verdichte und einem reineren Ideale zuwende. Künstlerische Bestrebungen im Gebiete der Kirche mußten ihm daher als etwas ausnehmend löbliches und fördernswerthes erscheinen, besonders wenn er bemerkte, wie ein hochbegabter Mann den größten Theil seiner gewaltigen Kraft an diese Aufgabe wandte. Was aber seine Ansicht war, bildete zugleich die des größten Theils seiner Umgebung, und Bach konnte sich überzeugen, daß seiner Musik schon deshalb, weil sie kirchlich war, Theilnahme geschenkt wurde. Er fühlte sich getragen von der Gunst einer Mehrheit, in deren Schätzung alles was mit der Kirche zusammenhing den obersten Platz einnahm. Zustimmung und Antheil seiner Mit menschen ist aber auch für den stärksten Geist zum Theil nothwendig wie die Lebensluft, zum andern Theil wenigstens erwärmend und stärkend wie Sonnenschein. Der weimarische Hof nimmt sich unter den Fürstenhöfen jener Zeit ganz so [378] ernst und überragend aus, wie Bach schon damals unter den Kirchencomponisten; beide scheinen wie für einander bestimmt gewesen.
Das neue Amt war ein doppeltes, das eines Hoforganisten und Kammermusicus. Hierfür bezog Bach die ersten drei Jahre hindurch einen Gehalt von 156 Gülden 15 ggr., welcher pünktlich ausbezahlt wurde, da die Finanzverwaltung exact war5. Um Johannis 1711 stieg er auf 210 Gülden 12 ggr., zu Ostern 1713 auf 225 Gülden, von 1714 an gar noch höher – ein deutliches Zeichen, wie sehr man ihn zu schätzen wußte6. Die Schloßkirche stammte noch aus dem Jahre 1630 und hatte später den Namen »Weg zur Himmelsburg« erhalten; der Herzog ließ, um sie noch mehr zu zieren, im Jahre 1712 fünf neue Glocken für sie gießen7. Wie oft Bach dienstlich in ihr zu thun hatte, ist nicht genau zu sagen, da häufig wohl auch außerordentliche Gottesdienste dort gehalten wurden. Die Orgel war ziemlich klein, besaß aber ein kräftiges, volles Pedal, worin sie die Orgel der Stadtkirche übertraf, während diese ihr an Reichthum der Manual-Register überlegen war. Es wird von Interesse sein, die Disposition kennen zu lernen:
In der musikalischen Capelle konnte Bach als Cembalo- und Violinspieler verwerthet werden, da er aber späterhin zum Concertmeister aufrückte, so wird letzteres das Gewöhnliche gewesen sein, ausgenommen natürlich bei kirchlichen Aufführungen, wo er seinen Platz an der Orgel hatte. Ein Verzeichniß der herzoglichen Musiker, welches zwischen 1714 und 1716 angelegt ist, zählt ihrer 22 auf; darunter sind freilich auch die Sänger begriffen, die aber mehr oder minder alle nebenher ein Instrument zu spielen pflegten, so wie auch die meisten Spieler auf mehren Instrumenten Bescheid wußten. Es waren auch immer einige darunter, die noch ganz anders geartete Amtspflichten hatten: man wußte sich eben sehr zu behelfen. Die vier Stimmen des Vocalchores pflegten doppelt besetzt zu sein, zur Verstärkung kamen sechs Capellknaben hinzu; auch war noch der Stadt-Musicus vorhanden, welcher mit seiner Gesellschaft eine etwa erwünschte Unterstützung leisten konnte.
[380] Einen würdigen Kunst- und Amtsgenossen fand Bach an dem Organisten der Stadtkirche zu St. Petri und Pauli, Johann Gottfried Walther. Derselbe war ein Erfurter, durch seine Mutter, eine geborne Lämmerhirt, mit Bach ziemlich nahe verwandt und außer dem diesem Geschlechte durch Johann Bernhard Bach, seinen ersten Lehrer in der Musik, verbunden. Geboren den 18. Sept. 1684 stand er Sebastian an Alter fast gleich, und schon war für beide einmal Gelegenheit gewesen, nach demselben Ziele zu rennen, als die Stelle Georg Ahles in Mühlhausen neu besetzt werden sollte. Doch hielt sich Walther von einer Bewerbung, die ihm nahe gelegt war, zurück, und wurde einige Monate darauf, am 29. Juli 1707, von Erfurt an die Stadtkirche zu Weimar berufen, wo der bisherige Stadtorganist Heintze kurz vorher gestorben war9. Auf diesem Posten ist er bis zu seinem am 23. März 1748 erfolgten Tode geblieben; mit der Hof capelle hatte er zu Bachs Zeit nichts zu thun, da er erst 1720 zum Hof-Musicus ernannt wurde, dagegen erhielt er schon im Jahre seines Antritts den Clavierunterricht bei dem Prinzen Johann Ernst und dessen Schwester Johanne Charlotte10. Walthers Name ist in der Kunstgeschichte durch sein musikalisches Lexicon allgemein bekannt; es erschien 1732 zu Leipzig und ist der erste deutsch verfaßte Versuch, die Gesammtmasse des musikalisch Wissenswertheil in lexicalische Form zu bringen. Besonders macht die Fülle der mit großem Fleiße zusammengetragenen biographischen Notizen das Buch noch heute zu einem schwer entbehrlichen Quellenwerk, wenn es natürlich auch von vielen Ungenauigkeiten nicht frei ist; der Verfasser suchte es übrigens unablässig zu vervollkommnen und wollte eine Fortsetzung erscheinen lassen, starb aber darüber hin11. Und doch war dies nur die Frucht freier Nebenstunden in dem Leben des arbeitsamen Mannes, seine Hauptthätigkeit galt der musikalischen Praxis in Spiel, Lehre und Composition. Zur Unterweisung befähigte ihn sein höchst exactes, unverdrossen ausharrendes Wesen, [381] verbunden mit gründlichen musikalischen Kenntnissen so sehr, daß er sich hierin neben Bach wenigstens als Lehrer der Composition vollständig behaupten konnte. Sein Spiel muß nach Ausweis der von ihm erhaltenen Compositionen tüchtig und gediegen gewesen sein. Von diesen wurden einige wenige Hefte zu Lebzeiten des Künstlers in Kupfer gestochen12, aber eine große Anzahl derselben ist uns in seiner eignen Handschrift überliefert, und zwar ausschließlich Tonwerke für Orgel oder Clavier; von seinen Kirchencompositionen, über welche er uns selber unterrichtet, ist mir wenigstens nichts zu Gesicht gekommen. Fünf Fugen (in A dur, C dur, D moll, C dur, F dur) sind respectable, auf dem Grunde seiner thüringischen Vorgänger weitergeführte Arbeiten, noch mehr die Praeludien, beziehungsweise Toccaten, welche vieren derselben voran gehen13. Dem Orgelchoral aber war sein Hauptinteresse zugewendet, er sammelte unermüdlich, was er an guten Choralbearbeitungen früherer, theilweise auch zeitgenössischer Tonsetzer erreichen konnte und hat selbst viele Hunderte solcher Stücke gefertigt. Noch existiren fünf mehr oder minder umfassende Choralsammlungen von seiner Hand, in ihnen finden wir auch Böhm ziemlich häufig vertreten und Buxtehude, für welchen ihn Andreas Werkmeister zu interessiren gewußt hatte. Sein hauptsächliches Vorbild aber blieb Pachelbel, dessen Geist die Erfurter Organisten damals insgesammt beherrschte, und dessen Sohn er im Jahre 1706 eigens in Nürnberg besuchte. Einen ganzen Jahrgang von Choralvorspielen in der Weise jenes Meisters hatte er ausgearbeitet14. Man kann in das hohe Lob vollkommen einstimmen, was Mattheson ihm spendet, welcher ihn den zweiten, »wo nicht an Kunst den ersten Pachelbel« nennt, und behauptet, daß Walthers Choräle an Nettigkeit alles überträfen, was er jemals gehört und gesehen, und er habe doch viel gehört und noch mehr gesehen15. In dieser Specialität wird er nach Sebastian Bach als der größte Meister gelten müssen, wenn man von den weit [382] ausgesponnenen Formen des norddeutschen Orgelchorals absieht, in welchen er sich nur ganz flüchtig versucht hat. Alles was Pachelbel technisch mehr oder weniger unausgeführt gelassen hat, ist von Walther vollendet. Die Contrapuncte stehen freier noch der Melodie gegenüber und bilden einen selbständigem Organismus unter sich, in dem die einzelnen Stimmen in großer Ungebundenheit sich bewegen; mit gleicher Leichtigkeit führt bald der Bass, bald eine Mittel- oder Oberstimme den Cantus firmus, die Pedaltechnik ist voll entwickelt. Dazu gebietet er über einen bedeutenden Reichthum combinatorischer Erfindung, und über jene Gewandtheit im Lösen schwieriger contrapunctischer Probleme, welche nur durch ausdauernden Fleiß gewonnen wird. Seiner Stärke sich bewußt arbeitet er gern im künstlicheren Canon. Zu der Melodie »Wir Christenleut hab'n jetzund Freud« setzte er z.B. einen zweistimmigen Canon in der Octave und im Abstande eines Vierteltaktes und legte den Cantus firmus ins Pedal16. Sehr gern führt er die Choralmelodie zwischen Oberstimme und Pedal canonisch, und in mannigfaltigster Abwechslung, indem z.B. der Bass mit der einfachen Melodie einherschreitet und die Oberstimme um einen Takt mit der colorirten nachfolgt (in einer Bearbeitung von »Ach was soll ich Sünder machen«), oder die Oberstimme in halben Noten sich voranbewegt und nach zwei Takten das Pedal in Viertelnoten hinterher eilt und so jede Zeile am Schlusse wieder einholt (»Mitten wir im Leben sind«)17. Auch wo eine intimere Verknüpfung zwischen zwei Choralzeilen möglich ist, weiß [383] er sie herauszufinden, und arbeitet demnach eine Choralfuge über die erste Zeile von »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« dergestalt durch, daß er die zweite als Gegenthema verwendet und zwar sowohl im doppelten Contrapunct als in der Verkleinerung18. Ein eben so kunst- wie geistreiches Experiment ist einmal an der vermuthlich von Pachelbel stammenden Dur-Melodie zu »Wo soll ich fliehen hin« vorgenommen, die so bearbeitet ist, daß sie den doppelten Contrapunct in allen vier Stimmen zuläßt, und somit bei der zweiten Strophe der Tenor zum Alt, der Alt zum Tenor, der Sopran zum Bass und der Bass zum Sopran wird19. Aber eben diese contrapunctische Virtuosität begründet auch manche Mißgriffe Walthers. Eine solche vollentwickelte Technik ist ein zweischneidiges Schwert, sie wendet sich oft gegen den, der sie handhabt, indem sie sich selbstsüchtig hervordrängt und des Künstlers Gebilde in ihrem natürlichen Wachsthum schädigt. Um sie zu zügeln und in jedem Augenblicke dem Ideal unterthänig zu halten, bedurfte es einer genialen Großartigkeit, die man dem engumgränzten, zum Kleinlichen neigenden Walther absprechen muß. Die Idee des Pachelbelschen Orgelchorals, die Choralmelodie in einfacher Größe hervortreten zu lassen, damit sich an ihr die religiöse Einzelempfindung empor und weiter ranke, wird oft durch Walthers überkünstliche und mehr auf die einzelne Combination als einen umfassenden Plan gerichtete Canonik ganz verdunkelt. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen. Eine Behandlung von »Hilf Gott, daß mirs gelinge«20 ist ganz nach Pachelbels Weise angelegt: zwei Oberstimmen fugiren die betreffende Choralzeile, welche nach einer Weile langsam und groß hervortönend im Pedal erscheint. Das genügt aber dem Componisten noch nicht, sondern er bringt zu der Melodie im Pedale dieselbe auf dem stark registrirten Hauptmanuale noch einmal im Quinten-Abstande und zwar verkleinert, colorirt, theilweise verkürzt, je nachdem es sich schicken will. Ein jeder empfindet das peinlich Beunruhigende dieser verkünstelten Verbindung, da das Ohr zwischen der ruhigen, einfachen Melodie unten, und der unruhigen, verzierten oben, ja was noch schlimmer ist, zwischen Tonika- und Quint-Gefühl unten[384] und oben unaufhörlich hin und her schwankt. Ein schönes edles Bild ist hier häßlich verzerrt. Das zweite Mal handelt es sich um den Choral »Gott der Vater wohn uns bei«. Es werden zuerst die beiden Anfangszeilen von der Oberstimme in halben Noten unter schöner Sechzehntel-Contrapunctirung vorgetragen. Zu den drei letzten Tönen setzt schon das Pedal mit der Wiederholung ein, und das Gehör wird, ehe es ans Ziel der eingeschlagenen Richtung gelangt ist, bereits nach einer andern Seite hingedrängt. Nachdem das Pedal sich seiner Aufgabe entledigt hat, übernimmt die Oberstimme von neuem die Führung, hat aber eben nur zwei Töne erklingen lassen, als das Pedal mit der doppelten Verkleinerung hineinfährt und wie der verstummt. Die folgende Zeile führt das Pedal und die Oberstimme geht canonisch hinterher, die nächste führt wieder die Oberstimme allein, die nachfolgende wird abermals zum Canon; dann tritt Repetition ein. Die Schlußzeilen sind zwischen Oben und Unten so verschränkt, daß die Fortentwicklung der Melodie fast unkenntlich wird. Hier führt uns ein Uebermaß von Künstlichkeit fast auf den Standpunkt Samuel Scheidts, also um hundert Jahre zurück. Durch einen Irrthum ist dieser Orgelchoral unter Bachs Namen in die Griepenkerlsche Ausgabe seiner Orgelcompositionen gelangt21. Aber niemals, darf man wohl behaupten, hätte Bach ein solches Stück geschrieben, das der interessanten Einzelcombination den Plan und Organismus des Ganzen so völlig aufopfert. Der ganze Unterschied zwischen beiden Künstlern tritt an solchen Productionen klar hervor, und bestätigt in oft überwältigender Weise die Höhe des Bachschen Genius. Bei einer noch viel größeren polyphonischen Virtuosität, als sie Walther eigen war, läßt er sich doch niemals zum Schaden des Ideals von ihr übermannen und bleibt groß und einfach auch in den complicirtesten Formen. In der canonischen Führung einer Choralmelodie den schwierigsten Aufgaben gewachsen, wovon er grade in seinen weimarischen Orgelchorälen die glänzendsten Beispiele gegeben hat, wendet er dieses Mittel doch fast niemals in der eigentlich Pachelbelschen Form an, offenbar weil er die Tendenz derselben in ihrer ganzen poetischen Tiefe erfaßte. Nur zwei Ausnahmen kennen wir, und [385] hier rechtfertigt die unbeschreiblich großartige Ausführung sich selbst22. Und danach ist der eigentliche Vollender des Pachelbelschen Ideals dennoch Bach allein, ebenso wie auch er nur mit Entschiedenheit jenen letzten Schritt that, und in seinen Contrapuncten die poetischen Vorstellungen des der Melodie zugehörigen Liedes abspiegelte, wozu sich auch bei Walther nur schwache Ansätze finden. Eine möglichst vollständige Veröffentlichung der Orgelchoräle des letzteren würde ihm aber nur das gebührende Recht erweisen, denn ihre Feinheit und technische Vollendung, die Mattheson mit Glück »Nettigkeit« nennt, verdienen bewundert zu werden.
Das persönliche Verhältniß zwischen beiden Männern, schon durch Familienbeziehungen vorbereitet, ward bald ein freundschaftlich vertrautes, und Bach vertrat bei Walthers ältestem Sohne, Johann Gottfried, Pathenstelle (26. Sept. 1712)23. Ein von Bach mit vierstimmigem Canon und Widmung beschriebenes Stammbuchblatt werden wir auch wohl auf Walther beziehen dürfen, um so mehr, da von diesem ein ganz gleiches und ebenfalls mit Canon versehenes Blättchen vorhanden ist24. Bachs Erinnerungszeichen hat folgende Form:
»Canon à 4. Voc: perpetŭũs.
Dieses Wenige wolte dem Herrn | Besizer zu geneigtem An- | gedencken hier einzeichnen |
[386] Die Canon-Liebhaberei war ihnen damals gemeinsam; sie tritt, wie schon bemerkt, auch in einem Theil von Bachs weimarischen Orgelchorälen stark kervor. Wie sie noch in einer andern musikalischen Beschäftigung mit einander wetteiferten, werden wir hernach sehen. Ueberhaupt aber ist es selbstverständlich, daß Leute von so gleicher Lebensstellung und Strebsamkeit ihre Ansichten und Erfahrungen über die Kunst gegenseitig austauschten. So paßt denn auch am besten auf Walther eine Anekdote, welche durch die Erzählung eines der älteren Bachschen Söhne der Nachwelt erhalten sein muß. Sebastian hatte bald einen solchen Grad von Fertigkeit im Orgel- und Clavierspiel erreicht, und stellte sich in seinen eignen Arbeiten so schwierige Aufgaben, daß er die Compositionen andrer ungesäumt und unbesehen herunterspielen konnte. Er äußerte nun einst gegen einen Freund (unter dem wir also Walther vermuthen), er glaube wirklich, alles und jedes vom Blatte spielen zu können, und dieser machte sich einen Scherz daraus, ihn binnen acht Tagen eines andern zu belehren. »Er lud ihn«, erzählt unser Gewährsmann26, »eines Morgens zum Frühstück zu sich, und legte auf das Pult seines Instruments außer andern Stücken auch eines, welches dem ersten Ansehen nach sehr unbedeutend zu sein schien. Bach kam und ging seiner Gewohnheit nach sogleich zum Instrument, theils um zu spielen, theils um die Stücke durchzusehen, welche auf dem Pulte lagen. Während er diese durchblätterte und durchspielte, ging sein Wirth in ein Seitenzimmer, um das Frühstück zu bereiten. Nach einigen Minuten war Bach an das zu seiner Bekehrung bestimmte Stück gekommen, und fing an, es durchzuspielen. Aber bald nach dem Anfange blieb er vor einer Stelle stehen. Er betrachtete sie, fing nochmals an, und blieb wieder vor ihr stehen. Nein, rief er seinem im Nebenzimmer heimlich lachenden Freunde zu, indem er zugleich vom Instrument wegging: Man kann nicht alles wegspielen, es ist nicht möglich!«
[387] Später muß eine Entfremdung zwischen ihnen stattgefunden haben; man erkennt dies aus der Art, wie Walther sich im Lexicon über Bach äußert. Wenn man jenen mehr als dürftigen Artikel ansieht, glaubt man nicht, daß er von einem Manne verfaßt sei, der länger als neun Jahre mit Bach an einem kleinen Orte, in gleichen Verhältnissen, durch Kunstgemeinschaft und die nächsten persönlichen Beziehungen verbunden zusammen lebte. Kein Wort verräth, daß es sich um jemanden handelt, der schon damals einer der größten Orgelspieler Deutschlands und als solcher nicht nur am weimarischen Hofe hochgeschätzt, sondern auch weit und breit berühmt war. Keine Erwähnung seiner in Weimar geschriebenen vielen Cantaten, Orgel- und Clavier-Compositionen, welche Mattheson schon im Jahre 1716 in Hamburg bewunderte. Nichts von jenem so viel besprochenen und für alle deutschen Musiker so ehrenvollen Wettstreite zwischen Bach und Marchand im Jahre 1717. Das alles waren Ereignisse, die Walther unmittelbar mit erlebt hatte, und doch unmöglich bis zur Abfassung des Lexicons wieder vergessen haben konnte. Man kann nicht dagegen einwenden, daß er sich in allen biographischen Artikeln immer nur auf die hauptsächlichsten Daten in kürzester Fassung beschränkt habe; wie weitläufig er bei persönlich Bekannten werden konnte, zeigt beispielsweise der Aufsatz über Georg Oesterreich. Wie viel interessantes wäre aus seinem eignen Verkehr mit Bach zu erzählen gewesen! Aber auch seine spätem handschriftlichen Zusätze beziehen sich nur auf Bachs Leipziger Zeit und stützen sich auf allgemein zugängliche Quellen; das lebendige Interesse an seinem großen Kunstgenossen muß vollständig erkaltet gewesen sein. Daß die Trennung ihrer Lebenswege davon der einzige Grund gewesen ist, kann man kaum glauben, so gern man es möchte. Es liegt zudem ein äußeres Anzeichen vor, daß in den letzten Jahren von Bachs Aufenthalt in Weimar schon die alte Vertrautheit zwischen beiden nicht mehr herrschte. Bach besuchte von dort aus seinen Vetter Johann Ludwig Bach, Capellmeister in Meiningen, den er sehr schätzen lernte und von dem er viele Compositionen eigenhändig abschrieb. Hätte er noch intimeren Umgang mit Walther gehabt, so würde es höchst auffällig sein, daß dieser im Lexicon den Meininger Bach garnicht kennt, denn er hätte jedenfalls durch Sebastian viel und lobenswerthes über ihn erfahren müssen. [388] Was aber der Grund der Entfremdung gewesen sein kann, darüber lassen sich höchstens Vermuthungen aufstellen. Vielleicht sah sich Walther durch Bachs überragende Bedeutung allmählig tiefer in den Hintergrund gedrängt, als sein ja ganz berechtigtes Selbstgefühl ertragen mochte, und wie leicht ergeben sich auf so beschränktem Terrain, wenn einmal Verstimmung eingetreten ist, Veranlassungen zu Empfindlichkeiten und Reibereien! Bedeutsam ist, daß Walther in seinen Sammlungen von Orgelchorälen, ein Kunstgebiet, auf dem er sich mit Recht als Meister fühlen durfte, verhältnißmäßig wenige von Bach aufgenommen hat.
Noch zu einer andern an der Stadtkirche angestellten Persönlichkeit trat Bach in nahe Beziehungen, zu dem Cantor Georg Theodor Reineccius. Auch hier ist es wieder ein Pathenverhältniß, was uns Kunde davon giebt27. Reineccius war 1660 in Neu-Brandenburg geboren und von 1687 bis 1726 Stadtcantor in Weimar, dazu Lehrer der Quarta, später der Tertia des Gymnasiums. Sein Amtsgenosse Walther giebt ihm das Zeugniß, daß er ein tüchtiger Tonsetzer gewesen, »ob er gleich die Composition bloß aus guten Partituren erlernet«, und fügt hinzu, der Capellmeister Theile in Naumburg, den man wohl den Vater der Contrapunctisten nannte, habe ihn wegen einer Messe aus E dur einen »gelehrten Componisten« genannt. Dies Urtheil sind wir im Stande prüfen und bestätigen zu können auf Grund einer doppelchörigen Motette »Preise, Jerusalem, den Herrn«. Jene »guten Partituren« müssen hiernach vorzugsweise die von italiänischen Meistern gewesen sein, denn die Motette verräth so viel vocales Wesen, Gewandtheit sowohl in der doppelchörigen, als in der achtstimmigen Behandlung, und Fluß der Stimmführung, wie ein damaliger Deutscher sich schwerlich ohne italiänisches Vorbild aneignen konnte. Sie besteht aus mehren breit ausgeführten Sätzen und schließt mit einer Hallelujah-Fuge28. Ein Jahrgang selbstgedichteter Cantaten-Texte über die Evangelien, welchen er um 1700 in Druck [389] gab, und jedenfalls großentheils auch selbst componirt haben wird, zeigt ihn als einen seine Muttersprache wohl beherrschenden und der gebundenen Wortfügung mächtigen Mann. Er scheint für jüngere Leute eine vertrauenerweckende Persönlichkeit besessen zu haben, denn neben Bach war ihm auch der noch um fünf Jahre jüngere Johann Matthias Gesner, welcher seit den ersten Monaten des Jahres 1715 bis 1729 Conrector am weimarischen Gymnasium war, in Freundschaft zugethan, und hat dies lange nachher noch öffentlich ausgesprochen29. Gesner war äußerst musikliebend, und da die Neigungen sich in der Person des wackern Reineccius begegneten, so ist es sicher, daß schon jetzt der große Gelehrte und der große Künstler in freundschaftliche Beziehungen traten, die sich dann nach mehr als zwölfjähriger Unterbrechung in Leipzig fortsetzten, und von Seiten Gesners ihren begeisterten Ausdruck fanden in jener bekannten und ihn selbst wie Bach gleich ehrenden Anmerkung seiner Ausgabe des Quinctilian30. Mit dem Gymnasium stand Bach unmittelbar in keiner Verbindung, denn die von dort zum Kirchenchor entnommenen Schüler waren natürlich dem Cantor unterstellt, und besondere Musikstunden für die Gymnasiasten wurden erst 1733 eingerichtet31; aber doch übte er auf den Chor, wenigstens in seiner spätern Stellung als Concertmeister, einen durchgreifenden Einfluß aus. Daß er übrigens in Weimar seinem alten Rector vom Ohrdrufer Lyceum, dem Magister Joh. Christoph Kiesewetter, wieder begegnete, welcher 1712 an die Spitze des neuen Gymnasiums berufen wurde, ist früher schon bemerkt.
Weniger ist über die Mitglieder der herzoglichen Capelle zu sagen. Capellmeister war Johann Samuel Drese, geboren um 1644, Vetter und Schüler von Adam Drese, der zuerst ebenfalls bei Herzog Bernhard von Sachsen-Jena, und zwar als Hof-Organist fungirte, mit dem Regierungsantritte Wilhelm Ernsts aber (1683) in sein Amt [390] nach Weimar berufen wurde32. Er war auch seit 1671 mit einer Weimaranerin vermählt. Schwach an Gesundheit konnte er jedoch die letzten zwanzig Jahre seinen Berufspflichten nur nothdürftig nachkommen; trotzdem ließ ihn der Herzog, der viel auf alte und treue Diener hielt, nicht fallen, sondern durch einen Vice-Capellmeister unterstützen. Als solcher wirkte von 1695 bis gegen 1705 Georg Christoph Strattner, der in der Hymnologie durch die Melodien bekannt ist, welche er zu Joachim Neanders »Bundesliedern und Dankpsalmen« setzte33. In seiner Bestallung wird ihm aufgetragen, daß er »in Abwesenheit des jetzigen Capellmeisters Johann Samuel Dresens oder wann derselbe seiner bekannten Leibesbeschwerung halber nicht fortkommen könne, jederzeit bei der gesammten Capelle dirigiren solle, und auf solchem Fall in gedachten Dresens Hause die gewöhnliche Probirstund halten, wie nicht weniger alle Zeit den vierten Sonntag in der fürstlichen Schloßkirche ein Stück von seiner eignen Composition unter seiner Direction aufführen, auch jederzeit, er möge dirigiren oder nicht, den Tenor singen« u.s.w., wofür er 200 Gülden jährlich erhielt34. Später war Samuel Dreses Sohn Johann Wilhelm, vermuthlich unter ähnlichen Verpflichtungen, Vice-Capellmeister, und rückte nach des Vaters Tode (1. Dec. 1716) in dessen Stelle. Ueber die Qualität der Kunstleistungen beider kann garnichts gesagt werden; die des Jüngern scheinen ganz unbedeutend gewesen zu sein, da Walther im Lexicon ihn nicht einmal nennt, und der alte, kranke Vater machte sich während Bachs Anwesenheit wohl nur noch sehr wenig geltend, so daß es letzterem auch hier leicht wurde, mit seinem Talent und seiner Persönlichkeit durchzudringen. Der Violinist Westhoff war schon 1705 gestorben, und irgend eine Celebrität läßt sich in der Capelle, soweit sich ihr Bestand erforschen ließ, nicht namhaft machen. Daß aber der Gesammtkörper ein tüchtiger und brauchbarer war, muß man bei dem lebhaften Antheil, den der Hof auch an der Kammermusik nahm, als gewiß voraussetzen. Noch verdient unter Weimars musikalischen Persönlichkeiten an dieser Stelle erwähnt zu werden Johann Christoph Lorbeer, Hofadvocat [391] und kaiserlich gekrönter Poet, der seiner Kunstbegeisterung zuerst durch ein »Lob der edlen Musik« (Weimar, 1696) Luft gemacht und ein Jahr darauf seine geliebte Kunst gegen ein mißverstandenes Programm des gothaischen Rectors Vockerodt ritterlich vertheidigt hatte. Er stand sehr gut mit Samuel Drese, der dem »Lob der edlen Musik« ein Preisgedicht auf seinen »Herzens-Freund« vorausschickte.
Fußnoten
III.
Der neunjährige Aufenthalt Bachs in Weimar ist die Zeit seiner glänzendsten Wirksamkeit als Orgelspieler und Orgelcomponist, denn zunächst und vor allem auf dieses Gebiet wies ihn seine amtliche Stellung. Die sachkundigen Verfasser des Nekrologs erzählen: »Das Wohlgefallen seiner gnädigen Herrschaft an seinem Spielen feuerte ihn an, alles mögliche in der Kunst, die Orgel zu handhaben, zu versuchen. Hier hat er auch die meisten seiner Orgelstücke gesetzet«1. Die ihm eigne Energie des Strebens, verbunden mit einer Begabung höchsten Ranges, ließen den Erfolg nicht ausbleiben. Rasch verbreitete sich sein Ruhm durch Mittel- und Norddeutschland: auf den Kunstreisen, die er von Weimar aus unternahm, bedeckte er sich mit Ehren aller Art, und Mattheson in Hamburg schrieb ums Jahr 1716 von ihm die Worte: »Ich habe von dem berühmten Organisten zu Weimar, Herrn Joh. Sebastian Bach, Sachen gesehen, sowohl für die Kirche, als für die Faust, die gewiß so beschaffen sind, daß man den Mann hoch aestimiren muß«, und ersuchte ihn zugleich um seine Biographie für die damals schon geplante, aber erst 24 Jahre später erschienene Ehrenpforte2. Wie er zur Erreichung der höchsten Vollendung eine eigenthümliche Art der Fingertechnik verwendete, auf der auch zum beträchtlichen Theile seine Größe als Claviervirtuos beruhte, darüber ist späterhin das Seinige zu sagen. Hierzu gesellte sich noch eine bis damals unerhörte Sicherheit, Kühnheit und Gewandtheit im obligaten Pedalspiel3. Seine Werke, deren technische [392] Schwierigkeiten auch heute noch nicht überboten sind, legen dafür Zeugniß ab, daß er sich mit der Zeit die unumschränkteste Gewalt über das mächtige Tonwerkzeug aneignete, und weil bei ihm stets das Aeußere nur dem Innern diente, dürfen wir annehmen, daß die darin zu erfüllenden Anforderungen an Spielfertigkeit noch nicht einmal das Höchste seiner technischen Leistungsfähigkeit darbieten, was er wohl in freien Improvisationen zeigte, wo es zu glänzen galt, oder bei der Prüfung eines neuen Orgelwerks. Auch in der Kenntniß des Orgelbaues, von welcher schon der Mühlhäuser Entwurf eine so bedeutende Probe giebt, vervollkommnete er sich bald dermaßen, daß er als ein den angesehensten Kunstveteranen ebenbürtiger Sachverständiger galt. Wir werden ihn seine hohe Einsicht im Laufe der Zeit noch oft genug bethätigen sehen. Für die eignen Orgelproductionen aber erwuchs aus derselben ein Element, was leider an ihrer überlieferten Gestalt nicht haften geblieben, und doch für ihre volle Wirkung so wesentlich gewesen ist: eine ganz eigenthümliche und erfindungsreiche Art des Registrirens. Bachs Scharfsinn war in harmonischen und klanglichen Combinationen gleich eminent, und wie in ersterer Hinsicht sein Auge Pfade zu finden gewußt hat, die Niemand vorher ahnte, so war er auch in neuen Klangmischungen unerschöpflich, oft eigenartig bis zum Befremden, aber niemals stillos und raffinirt4. Diese dem Instrumentiren späterer Orchestercomponisten ähnliche Kunst entfaltete er besonders da, wo ihm ein mächtiges, stimmenreiches Werk unter die Hände kam; leider hat er grade an seinen Aufenthaltsorten niemals eins besessen, was des Meisters ganz würdig gewesen wäre. Wie nun die Tonfarbe vorzüglich geeignet ist, ein poetisches Element in der Musik zum Ausdrucke zu bringen, so mußte auch besonders den Orgelchorälen die Registrirung zu gute kommen. Ob sich noch einmal die Mittel bieten werden, bei einer Anzahl derselben die Spuren seiner klanglichen Intentionen zu finden, ist dem Zufalle anheim zu geben. Aufgezeichnet hat sie Bach wenigstens in den erhaltenen Autographen nicht, da die oft sehr verschiedene Qualität der Orgelregister hierbei ein entscheidendes Wort hat, und man damals, wie in der Ausführung des Generalbasses, so in der angemessenen Stimmenverbindung für ein Orgelstück [393] der Intelligenz des Spielers sehr vieles überließ. Aus Form und Charakter der Composition lassen sich nur ganz allgemeine Winke entnehmen. Aber bei einem einzigen Orgelchorale ist es möglich, freilich auf mittelbare aber doch ganz sichere Weise zu Bachs ursprünglicher Registrirung zu gelangen. Walther bietet in seinen beiden umfassendsten Sammlungen eine Bachsche Bearbeitung des Chorals »Ein feste Burg ist unser Gott«, die er, wie alle von ihm überlieferten Bachschen Choräle, zur Zeit ihres weimarischen Zusammenlebens sich angeeignet haben muß; auch weist die Anlage mit Bestimmtheit auf eine frühe Entstellungszeit5. In der älteren Sammlung findet sich darüber die Bezeichnung:à 3 Clav:, sodann steht über dem Anfangsgange der linken Hand: Fagotto, über der nach drittehalb Takten hinzutretenden rechten: Sesquialtera. Nun besaßen weder Walthers noch Bachs Orgeln in Weimar drei Manuale6, es fehlte auch beiden ein Fagott-Register, so daß jene Bezeichnungen unmöglich von Walther selbst herrühren können, freilich konnten sie ebensowenig von Bach mit Rücksicht auf die Schloßorgel gemacht sein. Erinnern wir uns jedoch, daß nach Bachs eigner Angabe der zu reparirenden Mühlhäuser Orgel ein Fagott 16' statt der unbrauchbar gewordenen Trompete eingefügt wurde, daß ferner in das neue Brustpositiv seinem Entwürfe gemäß eine Tertia gelangte, »mit welcher man durch Zuziehung einiger anderer Stimmen eine vollkommene schöne Sesquialteram zuwege bringen kann«, daß endlich Bach verpflichtet war, den Bau bis zur Vollendung zu beaufsichtigen, und somit gewissermaßen Bürgschaft dafür zu übernehmen, so ist wohl kein Zweifel mehr, daß eine für die renovirte Mühlhäuser Orgel berechnete Composition vorliegt, in der vor allem die neu hineingebrachten Stimmen zur Geltung kommen sollten. Da der Neubau im Jahre 1709 beendigt wurde, muß die Composition in diese Zeit fallen; specieller noch scheint der behandelte Choral auf das Reformationsfest hinzuweisen, an welchem demnach Bach der Gemeinde und [394] dem Rath die Orgel zuerst im vollen Glänze vorgeführt haben dürfte. Die Combination des ins Geschlecht der Zungenregister gehörigen Fagotts mit der Sesquialtera ist eine von den »allerhand neuen inventionibus«, von denen Bach an der betreffenden Stelle des Entwurfs redet, und giebt von den frappanten Klangmischungen, welche er zu bereiten liebte, eine ziemlich deutliche Ahnung. Die Composition bringt beide Register gleichmäßig gut zur Geltung, indem die Anfangszeilen mit ihrer Wiederholung fast nur zweistimmig und zwar so durchgearbeitet werden, daß rechte und linke Hand abwechselnd den Cantus firmus führen. Im zwanzigsten Takte weist die Bezeichnung R.=Rückpositiv beide Hände aufs dritte Manual, von wo die fünfte Melodiezeile in Böhms Weise umspielt und thematisch fortgesponnen wird und zum ersten Male Pedal eintritt. Obwohl dieses nun keine Registrirungsanweisung führt, so erkennt man doch aus den ruhig gleitenden und eine präcise Ansprache fordernden Achteln desselben in Verbindung mit dem geringeren Klang-Volumen des Rückpositivs sofort, daß hierin der neue Subbass 32' (s. den Entwurf unter Nr. 4) sich ausweisen soll. Von Takt 24 an werden wieder, wie am Anfang, die Manuale des Ober- und Brustwerks in Thätigkeit gesetzt, welche sich, vermuthlich mit stärkerer Registrirung, in Sechzehntelpassagen durchkreuzen, während für die sechste und siebente Zeile das Pedal den Cantus firmus übernimmt, unzweifelhaft um den verbesserten Posaunenbass (s. Entwurf, Nr. 5) eine Probe ablegen zu lassen: obgleich die Bezeichnung fehlt, spricht doch die ganze Anlage aufs deutlichste dafür. Die Durcharbeitung der achten Zeile, Takt 33–39, entspricht der fünften, und jedenfalls auch in der Stimmenmischung, da der Rhythmus der Pedalfigur zur Erprobung einer prompten Tonangabe sehr geeignet ist, worauf ja beim Subbass, zumal dem 32füßigen, so viel ankommt. Zu den drei letzten Sechzehnteln des 39. Taktes findet sich nur die Bezeichnung: Oberwerk, was der weimarischen Orgel Walthers gelten wird; unschwer erkennt man, schon aus der bequemen Möglichkeit der Registerveränderung, daß von hier an Brust- und Oberwerk gekoppelt wirken mußten (s. Entwurf, Nr. 11), und daß endlich mit der zweiten Hälfte des 50. Taktes bis zum Schlusse das volle Werk eintrat. Walther, der als Bekannter des Orgelbauers Wender vielleicht Bach nach Mühlhausen begleitete, notirte sich beim Eintragen des Chorals [395] in seine ältere Sammlung die überraschende Registrirung des Anfangs, paßte aber im Verlauf des Abschreibens den Klangwechsel mehr und mehr seiner eignen zweiclavierigen Orgel an (daher die einfache Bezeichnung »Oberwerk« im 24. und 39. Takte) und ließ anderes, wie den Eintritt der vollen Orgel in Takt 50 als selbstverständlich ganz fort; in der jüngeren der beiden Sammlungen unterdrückte er auch die Zusätze: »à 3 Clav:; Fagotto; Sesquialtera«, weil sie für seine Praxis zwecklos waren. Was aber Bach in diesem Orgelchoral geleistet hat: wie er den Farbenreichtum der Orgel in schönster Mischung und Abstufung verwendet, und doch diese äußere Veranlassung in der Idee eines Kunstwerks so ganz aufzulösen vermag, daß alles aus musikalischen Gründen an seinem Platze steht – hierfür kann man nur die höchste Bewunderung empfinden. Es war natürlich nicht jede Form für diesen Zweck gleich geeignet, und Bach, der eben alle Mittel beherrschte, hat mit richtigem Blicke den Böhmschen Choraltypus gewählt. Ebensowenig darf man glauben, daß er immer sehr mannigfaltig registrirt habe; er richtete hierin sich natürlich nach dem Charakter der Composition, und die einfache Größe des Pachelbelschen Chorals durch bunten Farbenwechsel zu verunzieren, ist ihm sicher niemals eingefallen7.
Gehen wir nun von der äußerlichen Technik, dem Mittel, zu dem eigentlichen Zwecke derselben, den Tonschöpfungen, weiter, so kann an dieser Stelle nur erst von einer Anzahl freier Orgelstücke die Rede sein. Feste chronologische Anhaltepunkte sind für Bachs Orgelcompositionen in viel geringerem Maße vorhanden, als für seine Cantaten, ja selbst Kammermusikwerke. Was in dieser Hinsicht zu [396] gewinnen war, ermöglicht jedoch, in Verbindung mit inneren Kriterien einen ziemlich scharf begränzten Ueberblick der Leistungen des weimarischen Hoforganisten8. Unter den freien Orgelschöpfungen stellen sich dem nur einigermaßen geübten Auge auch bald zwei verschiedene Gruppen dar, eine frühere und eine spätere. Bei den Choralbearbeitungen wage wenigstens ich eine solche Scheidung nicht durchzuführen. Ganz offenbar ist dies der Kunstzweig, in welchem Bach am frühesten zur Reife gelangte und seine volle Originalität am ehesten zur Erscheinung kam. Was Walther an Bachschen Orgelchorälen aufbewahrt hat, ist zum Theil so außerordentlich groß und kühn, daß es auch von den Leistungen der späteren Leipziger Zeit kaum übertroffen wird, und man erinnere sich nur, wie vollendet schon jene Choralpartiten in Böhms Manier uns erschienen, welche ein etwa 17jähriger Jüngling schrieb. Ein einzelnes Stück, wie die Bearbeitung von »Ein feste Burg«, deren Entstehungszeit wir entdecken konnten, genügt aber als Handhabe um so weniger, weil grade dieses für einen besondern Zweck geschaffen war; hier müssen wir uns also bis auf weiteres mit einer Gesammtdarstellung begnügen, welche am Beschlüsse der weimarischen Periode gegeben werden soll.
Den Zug eröffnen drei alleinstehende Praeludien aus G dur, A moll und C dur9. Das erste dürfte unter die allerfrühesten weimarischen Compositionen gehören, mag auch schon vor 1708 entstanden sein. Eine Art von thematischer Entwicklung ist wohl vorhanden, der Hauptzweck aber war Entfesselung eines brausenden Tonstroms, in dem die ungestüme Seele des jungen Schöpfers jauchzend auf- und niedertaucht: die hin und wieder strömenden Sechzehntelgänge und die vollgriffigen, schallenden Accorde sagen es. Helle Besonnenheit spricht aus dem zweiten: es entspinnt sich ganz aus dem thematischen Stoffe eines einzigen Taktes, dessen einzelne Bestandtheile in erfinderischer Versetzung und mit großer harmonischer Mannigfaltigkeit [397] durch alle Stimmlagen wandern. Höchstens wirkt der lange festgehaltene, gleichmäßig-ruhige Rhythmus etwas monoton, dem nur gegen das Ende Sechzehntelgänge größeres Leben bringen; ganz besonders fein ist hier noch das Doppelpedal eingeführt. Das dritte und kürzeste Praeludium führt zum Theil einen absteigenden Tonleitergang imitirend durch, und ließe sich seines saubern vierstimmigen Satzes wegen auch einer etwas spätem Zeit zuweisen, wenn nicht die Takte 20 bis 26 dagegen sprächen, welche im Widerspruch mit Bachs nachmaliger Consequenz dem gebundenen Stile des übrigen Stückes untreu werden. Weiter ist eine Fantasia aus C dur für Manual allein zu erwähnen, deren treibender Keim in dem Rhythmus besteht; diese scheint einem technischen Zwecke ihre Entstehung zu verdanken, indem sie ein sehr sorgfältig gebundenes Spiel und Leichtigkeit im Ablösen der Finger auf derselben Taste voraussetzt. Da schon jetzt Schüler um Bach sich zu sammeln anfingen, so mag er für einen solchen das Stück geschrieben haben10. Vielleicht hing damit eine Fuge derselben Tonart ursprünglich zusammen, die auch fast nur für Manual gesetzt ist und einen ähnlichen Grundrhythmus hat11. Ihre frühe Entstehungszeit ergiebt sich, von allem andern abgesehen, schon aus den fünf Schlußtakten, einmal weil die Accordbildungen derselben sich ganz an Buxtehudes Weise anschließen, wovon der Componist schon in den letzteren weimarischen Jahren keine Spur mehr zeigt, sodann aus dem nur hier eintretenden Pedale. Daß die Fuge ein hervorragendes Kunstwerk sei, kann man nicht sagen, obwohl sie tüchtig und fließend gearbeitet ist12. Es folgen acht zusammen überlieferte kleine Praeludien und Fugen13. Wie man dieselben für Anfängerarbeiten Bachs hat halten können, ist nicht [398] recht begreiflich, da sie durchweg den Stempel gebietender Meisterschaft tragen, auch entsprachen grade in der frühesten Zeit die knappen, einfacheren Formen ebensowenig Bachs Neigung, wie der jedes andern jungen Genies. Dagegen ist bei aller Selbständigkeit im Allgemeinen doch eine Anzahl von Einzelzügen darin, welche deutlich auf gewisse Manieren der nordländischen Meister hinweisen, z.B. die Bildung der Themen zur ersten und vierten Fuge, vieles in der achten Fuge und Figurationen, wie im 13. und 14. Takt des fünften Praeludiums. Man muß demnach annehmen, daß diese acht Compositionen geschrieben wurden, als der Verfasser den Einflüssen jener großen Orgelkünstler sich noch nicht ganz entzogen hatte. Hierzu kommt aber noch, daß die meisten der Praeludien sowohl in ihrer Gesammtgestalt, als in ihrer auffälligen und abweichenden Figuration bestimmt die Einwirkung der Vivaldischen Violinconcerte erkennen lassen, welche Bach grade damals in großer Anzahl auf Clavier und Orgel übertrug. Diese Einwirkung ist so einleuchtend, daß es überflüssig wäre, sie im Besonderen nachzuweisen, zumal die Vivaldischen Arrangements veröffentlicht sind und jedem zur Vergleichung vorliegen. Es empfiehlt sich nun die Vermuthung, daß die Stücke wiederum für einen oder einige hervorragend tüchtige Schüler aufgesetzt wurden: sie verlangen eine nicht unbedeutende Technik, zumal auch im obligaten Pedalspiel, sind aber für des Meisters eignen Gebrauch technisch nicht entfaltet und inhaltlich nicht schwerwiegend genug. Als besonders vortrefflich kann man das zweite, dritte, fünfte und siebente nennen. In der, übrigens auch sehr gelungenen, sechsten Fuge setzt im 38. Takte das Pedal nach langer Pause nicht mit dem Thema, sondern nur mit harmonischen Hülfsnoten ein, was nicht ganz ordnungsgemäß ist und auch von Bach später nicht mehr zugelassen wurde. Dagegen ist im 31. Takte die Einführung der C moll-Tonart grade wegen ihrer Natürlichkeit und Leichtigkeit ein rechter Meisterzug.
Von der Zahl der an Umfang und innerm Werth hervorragenderen Compositionen nennen wir zuerst eine Fuge aus G moll14, deren sehr schön erfundenes Thema und meisterlich strömende Ausführung ihr mit Recht eine große Beliebtheit erworben hat. Man [399] wird darum die Eigenschaften, durch welche sie hinter den Werken nachfolgender Jahre noch zurücksteht, nicht übersehen. Zu ihnen gehört vor allem die sich stets gleichbleibende Contrapunctirung des Themas, die auch meistens nur einstimmig ist, denn harmonische Füllnoten und Sextenverdopplungen (Takt 41 und 42) kommen billiger Weise nicht in Betracht; nur im fünften Takte vor dem Schlusse wird sie einmal dreistimmig, während die schönen freien Zwischensätze ein reicheres polyphones Leben zeigen. Die unregelmäßige Bildung des Gefährten darf man nicht beanstanden; das hier übertretene Kunstgesetz hat für ein so langes, melodisches Thema kaum irgend welche Gültigkeit, da, wenn auch dem Schritt auf die Dominante mit dem Schritt auf die Tonika geantwortet würde, doch schon mit den nächsten Noten die Tonart D moll klar zur Geltung kommen müßte, und nur für einen Augenblick noch das Ohr in der Haupttonart festgehalten wäre. Dies ist hier aber um so weniger nothwendig, als die ganze Composition in ihrer Entwicklung nicht nach der Dominant-Tonart, sondern nach der Durparallele ausweicht, nicht zu gedenken, daß unter der regelrechten Beantwortung die Schönheit des Themas gelitten hätte. Dagegen ist wieder der bedeutungsleere Pedaleintritt im 26. Takte ein Merkzeichen der Zeit, ein stärkeres noch der gleichsam vorbereitende Themaeintritt der linken Hand im 25. Takte, welche nach wenigen Tönen ihre Rolle an die rechte Hand abgiebt. Solche Züge, die jedes objectiven Formgrundes baar nur in der augenblicklichen Laune ihre Erklärung finden, wird der nachdenkende Künstler, welcher nach dem Vorbilde der Natur die möglichste Zweckmäßigkeit der Einzeltheile seiner Kunstorganismen anstreben muß, mehr und mehr zu beseitigen suchen. Findet sich nun dieselbe Willkürlichkeit gar wiederholt, so ist dies eins der sichersten, innersten Beweismittel für nahe an einander liegende Abfassungszeiten der Tonstücke. Die Erscheinung liegt vor bei einem Praeludium mit Fuge aus C dur15. Im 23. Takte der letzteren sehen [400] wir das Pedal, was bis dahin geschwiegen hatte, mit einem dem Thema ähnlichen Gange eintreten, wonach im nächsten Takte das eigentliche Thema in der obersten Stimme nachfolgt, das Pedal aber bald darauf wieder gänzlich verstummt, und erst im 36. Takte seinerseits das wirkliche Thema bringt. Außerdem setzt es gegen Ende nach mehr als zwanzigtaktiger Pause plötzlich noch einmal mit einem Orgelpunkt ein. Fuge wie Praeludium bieten übrigens auch in ihrer ganzen Gestalt sichre Handhaben genug zur Bestimmung ihres Alters: die Massenhaftigkeit der Zusammenklänge, die virtuosenhafte Brillanz der Schlüsse, die Freiheit der Stimmigkeit. Die Wirkung dieser Composition ist bei gutem Vortrag und entsprechend starkem Orgelwerke eine außerordentliche; es braust hindurch, wie Frühlingssturm in der Märznacht, und man fühlt, daß eine solche Kraft wunderbares vollbringen wird. Ganz andrer Art ist Praeludium und Fuge aus E moll16. Im Praeludium kämpfen düsterer Stolz mit tiefer Schwermuth, und diese behauptet in der Fuge allein das Feld; der innere Zusammenhang beider Stücke ist viel enger, als er sonst meistens bei Bach zwischen Praeludium und Fuge zu sein pflegt. Jenes beginnt mit breitrollenden Passagen (die geschüttelten Zweiunddreißigstel in Takt 6, 8, 9, 10 und 28 sind Buxtehudesch17, leitet aber schon vom elften Takte an in eine ruhigere Entwicklung über, aus der das ernst sinnende Antlitz des Künstlers unverschleiert hervorschaut. Das ist jene erhabene Melancholie, die als tiefer Grundton so viele, ja wohl die Mehrzahl der Bachschen Compositionen durchzieht; nur Beethoven noch war ähnlicher und gleich ergreifender Stimmungsäußerungen mächtig, wenn sie gleich eine andre Farbe tragen! Wie tiefe Seufzer irrt es, von nachschlagenden, unwillig abwehrenden Accorden begleitet, durch die Stimmen:
Dann bäumt sich wohl das Pedal gewaltig in die Höhe, zuletzt in mächtigen Decimensprüngen, aber umsonst – es gilt sich zu ergeben! [401] So zieht die Fuge dahin, in ihrem Gesammtsinne jedem gleich verständlich, im Einzelnen voll unbeschreiblichen und doch stets deutungverlangenden Ausdrucks. Gleich das Thema, schwebend und schüchtern, dann still seinen Weg wandelnd, ist von unendlichem Zauber18, wie Antwort und Frage entwickelt sich die Contrapunctirung, und in milder Festigkeit schließt das Thema mit einem überraschend schönen Pedaleintritte ab und in derselben Lage, wie es zuerst ertönte.
Bei einem Künstler, der sich freudig im schwer erworbenen Besitz aller technischen Mittel fühlt, ist es begreiflich, daß er Gelegenheit sucht, sein Vermögen allseitig zu zeigen. So kommt es, daß grade in Bachs Compositionen aus den ersten weimarischen Jahren neben nie vernachlässigtem Gedankengehalt auch nicht selten das virtuose Moment stark hervortritt. Die Orgelschöpfungen, welche uns dies beweisen sollen, gehören noch heutigen Tages zu den glänzendsten Concertstücken, welche es giebt, wie denn ja überhaupt schon Bachs Spielfertigkeit kaum von jemandem hernach erreicht, gewiß nicht überboten ist, und weil der Satz aus der genauesten Bekanntschaft mit dem Instrumente hervorwuchs, ist ihre Wirkung, wenn sie mit ganzer Beherrschung vorgetragen werden, auch jetzt noch eine gewaltige, oft ganz ungeheure, allerdings nicht so nachhaltige und tiefe, wie die seiner späteren Werke. Wir führen zuerst eine Toccate und Fuge in D moll auf19. Auch diese zeigt, ohne ein großes Originalgenie zu verleugnen, noch im Einzelnen manche Spuren der nordländischen Schule. So ist gleich für die Toccate nicht die einfache, ruhige Form Pachelbels, sondern die bunte und [402] aufgeregte Buxtehudes gewählt: abgerissene »recitativische« Gänge, breithallende Accorde, fliegendes, rollendes Laufwerk im Klangwechsel verschiedener Claviere bilden ihre Elemente. Das Fugenthema gehört zu jenen auch von Bach mit Vorliebe gepflegten Gebilden, welche durch gebrochene Harmonien eine Grundmelodie durchklingen lassen und so Bewegung mit Ruhe auf eine orgelgemäße Art verbinden, besonders auch für das Pedal sich wirkungsreich erweisen. Die Ausführung ist frei und phantastisch; lange Strecken hindurch wiegt sich das klangschwelgende Ohr auf den Wogen von Tönen, die mit dem Hauptgedanken in gar keiner Verbindung stehen (er steckt höchstens einmal den Kopf hervor, um schnell wieder unterzutauchen), auch die Durchführung einer gewissen Stimmenzahl ist nicht zu erkennen. Der Schluß leitet in das Spiel des Anfangs, zu Orgelrecitativen und dröhnend sich wälzenden Accordmassen zurück; im 137. Takte tritt eine Figur auf, welche Bach einem selbständigen Clavierstücke großentheils zu Grunde gelegt hat, und auf die wir im Voraus aufmerksam machen. Der vergleichende Leser wird auch an der Factur mancher Stellen (z.B. Takt 87 ff., Takt 105 ff.) eine Aehnlichkeit mit der zuvor besprochenen G moll-Fuge nicht übersehen. – Ferner: Praeludium und Fuge aus G dur20. Beide Sätze sind sehr weit ausgeführt, der erste zählt 58 Dreizweitel-Takte, der zweite nach einer dreitaktigen Ueberleitung noch 149 derselben im Vierviertelmaß. Die Hauptbedeutung ist dieses Mal bei dem Praeludium, das, wie es schon Buxtehude mit Geist und Erfindung gethan hatte, über ein imitatorisch und motivisch durchgeführtes Motiv gesetzt ist, nur viel reicher und prächtiger als es jener vermochte. Ein zehntaktiges Pedalsolo, was den ganzen Umfang der Claviatur von oben bis unten durchmißt, giebt dem Virtuosen wie der Orgel Gelegenheit, sich im besten Lichte zu zeigen (das Pedal war an der weimarischen Schloßorgel besonders gut), entwickelt sich aber ganz logisch aus dem Grundmotiv. Nach diesem mächtigen Stücke fällt die allerdings rauschende und brillant klingende, aber mehr nur äußerlich bewegte Fuge ab, zumal sie etwas zu lang ist. – Weiter: Praeludium und Fuge aus D dur21 – eine der blendendsten [403] Orgelcompositionen des Meisters! Das Praeludium führt nach einigen vorbereitenden Gängen und Klängen den Gedanken:
in Imitationen und motivischen Erweiterungen unablässig durch; alla breve ist es überschrieben, ohne daß aber diese Bezeichnung von der Temponahme zu verstehen wäre, sie bezieht sich vielmehr nur auf den streng gebundenen, durch viele Syncopirungen gezierten und immer im vollen harmonischen Glanze sich zeigenden Stil. Mit dem 96. Takte macht es einen Trugschluß nach E moll und ergeht sich sodann bis ans Ende nach Buxtehudes Weise in frei-phantastischen Harmonien, die durch den kühnen Gebrauch des Doppelpedals eine großartige Klangkraft erhalten. Auch aus der nun folgenden Fuge klingt die Manier des Lübecker Meisters hin und wieder hervor: eine früher besprochene Fuge desselben aus F dur, deren Thema mitgetheilt wurde, gegen den Schluß hin auch gewisse Gestaltungen aus der Fis moll-Fuge haben offenbar eingewirkt. Sie ist ein Bravour-Stück von Anfang bis zu Ende, aber im besten Sinne des Wortes. Das fünf Takte lange Thema rauscht in lauter Sechzehnteln dahin, nur einmal durch eine kecke Pause zerschnitten. Auf harmonische Vertiefung und kunstvolle Stimmenverflechtung ist es hier weniger abgesehen. Besonders findet ein virtuoser Pedalspieler seine Rechnung, da der Fußtechnik das Thema ganz vorzugsweise angepaßt ist. Bei diesem Wirbeltanz der Töne, der nach dem Schlusse zu toller und toller wird, lernt man die Worte des Nekrologs würdigen: »Mit seinen zweenen Füßen konnte er auf dem Pedale solche Sätze ausführen, die manchem nicht ungeschickten Clavieristen mit fünf Fingern zu machen sauer genug werden würden«22. Daß die Composition für eine bestimmte Gelegenheit, etwa für eine von seinen Kunstreisen gesetzt wurde, ist wohl unzweifelhaft, es weist auch der Zusatz concertato, welcher sich in einer alten Handschrift des Praeludiums findet, darauf hin23. Uebrigens scheint es, daß Bach später das allzu üppig wuchernde Virtuosenwerk dieser Fuge beschnitten [404] und das Ganze concentrirter gemacht habe, da sie auch in einer um 39 Takte verkürzten Fassung vorkommt, die wohl kaum von einem andern, als dem Componisten selber, herstammen kann24. – In vollständigem Gegensatze zu diesem Werke steht eine Fuge mit Praeludium aus G moll25; letzteres, dort eine festgefügte Einheit, ist hier ohne bestimmten thematischen Kern, beginnt mit herrlichen, ruhig ziehenden Harmoniengängen, nachher steigen in Zweiunddreißigstel-Bewegung aufgelöst Quintsext-Accorde chromatisch und taktweise abwärts, jedesmal mit vorgehaltener Septime für die erste Takthälfte. Die Fuge dagegen, dort im vergänglichen Glanz der Passage vorüber eilend, ist hier ein markiges, mit Strenge, Tiefsinn und großer Meisterschaft ausgeführtes Bild, von allen, die wir bis jetzt kennen lernten, unstreitig die bedeutendste, und in ihrem keuschen Ernst schon auf die Stücke der späteren weimarischen Zeit hinüberdeutend. Um den Abstand zu erkennen, braucht man nur zu beachten, wie mit jedem neuen Thema-Eintritt frisches und größeres Leben in den Contrapuncten erblüht, wie sich keine einzige bequeme Wiederholung findet, die Zwischensätze sich gemächlich einfügen und auch die Vierstimmigkeit bis auf eine Stelle (Takt 46) streng beobachtet ist. Dagegen verleugnet das Thema mit seinem viermal wiederholten und und dem ganzen vierten Takte noch nicht den Typus der nordländischen Schule, und darin liegt der Grund, warum wir von der Composition an dieser Stelle reden. Einige andre Orgelstücke dieser Zeit verlangen, in einem andern Zusammenhange dargestellt zu werden. Wir gehen jetzt darüber fort, mit der Bemerkung, daß Bach, wie er frühere Compositionen gern neu zu bearbeiten liebte, so auch Stücke von solchen mit späteren Erzeugnissen zuweilen in Verbindung brachte. Die berühmte Orgelfuge in A moll26 hat ein Praeludium, welches unbedingt nicht mit ihr zusammen entstand, sondern in der Periode componirt sein muß, mit welcher wir uns jetzt beschäftigen: davon überzeugt ein Blick auf seinen freifigurirenden und eine thematische Entwicklung kaum andeutenden Charakter, [405] worin es mit dem oben erwähnten großen C dur-Praeludium27; übereinstimmt. Mehr und mehr bildete aber Bach auch die Praeludien zu inhaltreichen, strenger entwickelten Organismen heraus. –
Von großer Bedeutsamkeit für Bachs gesammtes Künstlerthum war die Richtung, in welche er durch seine Stellung als Kammermusicus mit Macht gedrängt wurde, und in der er sich bis dahin nur erst wenig vorgewagt hatte, wenn sie ihm gleich nicht ganz fremd geblieben war. Zum ersten Male fand er hier Gelegenheit, mit der instrumentalen Kammermusik der Italiäner sich gründlich bekannt zu machen. Für jemanden, der das ganze Gebiet der Instrumentalmusik durchmessen und überall mit dem glücklichsten Erfolge anbauen sollte, war diese Bekanntschaft durchaus nothwendig. Denn der für Formenbildungen so ungewöhnlich begabte Sinn der Italiäner hatte auch hier fast überall die Grundlagen gelegt, die allein ein sicheres Weiterbauen ermöglichten. Die Kunst des Orgel- und Clavierspiels hatte sich freilich jetzt von ihrem Einflüsse losgelöst und nach eigentümlichen, nationalen Bedingungen selbständig entwickelt, aber in Violin-Spiel wie -Composition und in allen den Gattungen, welche auf das Zusammenwirken mehrer Instrumente sich gründeten, war das Uebergewicht der Italiäner noch immer ein anerkanntes. Die von ihnen hierfür geschaffenen Hauptformen waren die der Sonate und des Concerts, jene mehr die Anordnung verschiedener Sätze zu einem Ganzen, diese den Bau des einzelnen Satzes bestimmend. Das Formprincip der Sonate kam insoweit mit dem der Suite überein, als in ihr Stücke verschiedenen Charakters in angemessener Abwechslung vereinigt wurden; während aber die eigentliche Suite sich auf eine Folge idealisirter Tanztypen beschränkte, stützte sich die Sonate überwiegend auf frei Erfundenes, ohne jedoch die Tanztypen unbedingt auszuschließen. Als maßgebend galt hier vor allem der Wechsel zwischen langsamen gebundenen und gesangreichen und andrerseits rasch bewegten fugirten und figurirten Stücken; die sogenannte Kirchensonate, welche aber nicht mit der alten Gabrielischen verwechselt werden darf, sondern nur eine in die Kirche getragene Kammermusik war, ließ jedoch keine Tanztypen zu. Vorzugsweise beliebt war die Dreistimmigkeit von [406] zwei Violinen, Bass und unterstützendem Cembalo oder Orgel: die maßvollen Italiäner hatten rasch herausgefunden, daß zur Aussprache des Wesentlichen eine dreistimmige Harmonie vollständig genüge; freilich gehörte Kunst zur Behandlung eines so durchsichtigen Klangkörpers, aber diese galt es ja eben zu beweisen. Das Concert acceptirte von der Sonate den Satzwechsel; aber während dort vier und mehr Abschnitte gefunden werden, ging der Concertcomponist in der Regel nicht über drei hinaus und brachte den langsamen Satz in die Mitte. Die Form der einzelnen Sätze, zumal des ersten und gewichtvollsten, bildete sich nun gradeswegs aus dem Gegensatz und Wetteifer zwischen Soloinstrument und Gesammtkörper. Ein möglichst prägnantes Tutti-Thema beginnt ausnahmslos den ersten Satz, dem sich so wie es geendet hat und in derselben Tonart das concertirende Instrument mit einem mehr oder minder hervorragenden neuen Motiv, oft auch nur in figurirendem Tonspiel gegenüberstellt. Dies Verfahren wiederholt sich mit Umbildungen, Erweiterungen und gegenseitigen Verschlingungen in den nächstverwandten Tonarten. Von dem modernen Sonatensatze ist also die Form, trotz der beiden Themen als Angelpunkten der Entwicklung, noch ganz verschieden: sie ist nicht aus dem innern Wesen des Tonsystems, sondern äußerlich durch die Verbindung von zwei verschiedenen Klangmaterien hervorgerufen. Der langsame Satz sollte dem Spieler zu großem Ton und geschmackvollen Verzierungen Gelegenheit geben; ist er, wie gewöhnlich, kurz, so tritt das Tutti in die bescheidene Begleiterrolle zurück, bei längeren Ausführungen zerschneidet es an geeigneten Stellen das phantastische Solospiel, oder giebt auch wohl durch ein markirendes, stetiges Bassmotiv dem Ganzen Halt und Zusammenhang. Der letzte Satz hat meistens ein ungerades Zeitmaß und lebhaft bewegten Charakter, seine Entwicklung ist entweder dem ersten gleichgestaltet, oder er ist liedhaft zweigetheilt, mit Repetition, nicht selten eine Gigue oder Corrente, und erinnert damit an die Suite oder – wegen der Dreisätzigkeit des Concerts – noch mehr an die Scarlattische Ouvertüre. Was nun Bach betrifft, so hat er sich die Errungenschaften der Italiäner zunächst weniger auf dem eignen Gebiete derselben zu Nutze gemacht, als sie vielmehr in sein Wirkungsfeld, d.h. auf die Orgel, das Clavier und die Kirchencantate selbständig übertragen. Er war eben kein Kunstjünger mehr, sondern [407] ein Meister, der zum Bewußtsein seiner Kräfte und Ziele gekommen war, und dessen scharfer Blick die Verwerthbarkeit dieser Formen sogleich erkannte. Erst eine geraume Zeit nachher, soweit wir wissen können, wandte er sich auch der Sonate und dem Concert an sich zu, um dann auch hierin das Höchste zu leisten.
Die Pflege der instrumentalen Kammermusik am herzoglichen Hofe war grade zwischen den Jahren 1708 und 1715 eine um so eifrigere, als ein jüngerer Neffe des Herzogs, Johann Ernst, bedeutende Anlagen für Violin- und Clavier-Spiel, ja auch für die Composition zeigte. In den beiden letzteren Fächern war er von Walther unterwiesen, der auch ein Compendium der musikalischen Theorie für den Prinzen verfaßte und es ihm am 13. März 1708 dedicirte; die Fertigkeit auf der Geige, seinem Hauptinstrumente, hatte er sich unter Anleitung seines Kammerdieners Eilenstein erworben und später vermuthlich unter Bachs Einwirkung weiter ausgebildet28. Seine Leidenschaft für die Musik war so groß, daß in Krankheitszeiten nicht selten Walther des Nachts über bei ihm wachen mußte29. Daß aber auch Bach dem Prinzen musikalisch nahe verbunden war, kann man besonders noch aus einem Briefe des Meisters schließen, in welchem er eine Verzögerung damit entschuldigt, daß er zu des Prinzen Geburtstage am Hofe einige musikalische »Verrichtungen« gehabt habe. Walthers dreivierteljähriger Compositionsunterricht trug als Früchte 19 Instrumentalstücke; sechs Concerte von diesen wurden in Kupfer gestochen und von Georg Philipp Telemann herausgegeben. Johann Ernst starb schon im 19. Lebensjahre am 1. August 1715 zu Frankfurt a.M., und in diesem Jahre oder frühestens im vorhergehenden müssen auch die Concerte erschienen sein. Telemann war damals in Frankfurt Capellmeister, bis 1712 aber vier Jahre lang in Eisenach Concert- und Capellmeister gewesen, stand zu Bach in sehr freundschaftlichen Beziehungen, und muß auch wegen der nahen Verwandtschaft der beiden Höfe oft in Weimar verkehrt haben; er widmete dem Prinzen im Jahre 1715 ein Werk von sechs Violinsonaten mit Clavierbegleitung30. Jene [408] prinzlichen Compositionen nun scheinen in der That musikalischen Werth gehabt zu haben, denn Mattheson schrieb noch sechzehn Jahre später darüber die Worte: »Es hat der berühmte Herr Telemann ehemals sechs Concerte herausgegeben, und gar sauber in Kupfer stechen lassen, die der weiland Durchlauchtige Prinz Ernst von Sachsen-Weimar mit eigener Hand und aus eigener Erfindung gesetzet hat: in selbigen ist das Concerto V. aus obigem Ton [nämlich E dur], und eins der schönsten. Freie Fürsten zu finden, die musikalische Schriften verfassen und angeführt werden können, ist sonst eine Sache, die nicht alle Tage aufstoßet, der Musik aber einen sonderbaren Vortheil giebt«31.
Da die Italiäner die besten Violinconcerte componirten, ergab sich ihre Bevorzugung von selbst. Die Musiker, welche den Prinzen umgaben, mußten sich nun schon aus Rücksichten gegen ihn dafür interessiren, fanden aber auch vom künstlerischen Standpunkte in den durchsichtigen Formen, den natürlich-schönen Gedanken Veranlassung genug zu einer eingehenderen Beschäftigung damit. Walther und Bach begannen wetteifernd italiänische Concerte für die Orgel und das Clavier spielbar zu machen. Jener übertrug Concerte von Albinoni, Manzia, Gentili, Torelli, Taglietti, Gregori und einigen Deutschen, zusammen dreizehn, auf die Orgel32. Dieser arrangirte von Vivaldi sechzehn Violinconcerte fürs Clavier, und drei für die Orgel, außerdem von einem jener sechzehn den ersten Satz noch einmal für Orgel33. Antonio Vivaldi galt im Anfange des vorigen Jahrhunderts [409] für einen der hervorragendsten Meister der Instrumentalcomposition. Er lebte seit 1713 als Concertmeister am Ospitale della Pietà in Venedig, nachdem er zuvor einige Zeit im Dienste des Landgrafen von Hessen-Darmstadt gewesen war, und starb 1743. Als überaus fruchtbarer Tonsetzer hat er sich um die Ausbildung der Concertform, wie wir sie oben schilderten, thatsächliche Verdienste erworben. Auch schrieb er Concerte für zwei und drei, ja vier Soloviolinen mit Begleitung, stattete das Orchester durch Verwendung von Blasinstrumenten reicher aus und war überhaupt auf die Herstellung neuer Ausdrucksmittel eifrig bedacht. Im Formalen lag seine Hauptstärke; seine Gedanken sind häufig matt und unbedeutend, zuweilen jedoch auch feurig und ausdrucksvoll34. Wie Bach bei Uebertragung der Concerte verfuhr, würde sich vollständig nur dann beurtheilen lassen, wenn sämmtliche Originale vorlägen. Mir war nur eines und keineswegs das bedeutendste erreichbar, welches dem zweiten der Clavierarrangements zu Grande liegt und in G dur steht35. Da sie sich aber sämmtlich im Baue sehr gleichen, so ist doch von dem einen auf alle ein ungefährer Schluß möglich. Daß Bach Vivaldis Tonreihen nicht mechanisch auf die zwei Liniensysteme des Clavierspielers zusammengezogen habe, wird man unbewiesen glauben, der Vergleich lehrt aber, daß er sich nicht selten gradezu nach- und umschaffend zu ihnen verhielt, indem er die gleichsam abstracte Idee des Tonstückes aus der Idee des Claviers reproducirte. An den Hauptthemen durfte er freilich um des Ganzen willen nicht ändern und mußte, wenn sie so spindeldürr und steif waren, wie der Tutti-Ge danke des ersten Satzes in jenem G dur-Concerte, die Verantwortung dafür ihrem Schöpfer überlassen. Aber durch eine beweglichere Führung der Bässe, Verlebendigung der Mittelstimmen, Hinzufügung von Contrapuncten zu dem einsamen Gange der Violine, Auflösung der langgezogenen Töne und Umschreibung besonderer Geigeneffecte hat er doch in den meisten Fällen wirkliche Clavierstücke geschaffen und zugleich den musikalischen [410] Gehalt um ein sehr Wesentliches bereichert. Alle seine Zusätze machen sich so natürlich und selbstverständlich, daß es den Anschein gewinnt, als wären sie ihm beim bloßen Umschreiben aus der Feder geflossen, woraus eben wieder hervorgeht, daß nur ein gewiegter Künstler solches vermochte. Vivaldi läßt im G dur-Concert das Soloinstrument mit einem Tonkörper von zwei Violinen, Violoncell und Cembalo concertiren, die Tutti-Violinen pflegen im Einklänge zu gehen, das Tutti-Violoncell schließt sich dem Clavierbasse an, das rhythmisch wie harmonisch aus den einfachsten Elementen bestehende Accompagnement besorgt fast allein das Cembalo, nur zu besonderen Effecten werden die Streichinstrumente herbeigezogen. Mit feinem Kunstverstande hat Bach die vorzugsweise auf Klangverschiedenheit gebaute Entwicklung des ersten Satzes durch stets gesteigerte innere Mittel in dem spröden Tonmateriale des Cembalo wiedergespiegelt36. Den Anfang ließ er unverändert, vom 46. Takte an zeigt sich seine umbildende Hand in den gleichmäßig fließenden Achtel-Bässen statt der Viertel und jambisch vorschlagenden Achtel des Originals und in den verbindenden Sechzehnteln des 59. und 67. Takts, sowie er auch die Violinstimme von Takt 60–67 in fortlaufende Sechzehntel aufgelöst hat, während sie im Original mit abwärts springenden Achteln wechselt. Vom 76. bis zum 90. Takte treten zu der Sechzehntelfigurirung der Solovioline hoch liegende Accorde der Tutti-Streicher in Achteln; um diese Klangwirkung anzudeuten, hat Bach Zweiunddreißigstel eingemischt. Vom 91. Takte an bis zum Schlusse stammt alle Sechzehntel- und Achtel-Bewegung der linken Hand vom Uebertrager, der Schöpfer hat nur simple Accorde verlangt, die durch drei Octaven gehende Endpassage ist aus einer dreimal wiederholten Tonleiter der eingestrichenen und kleinen Octave entstanden. Fast zu einem ganz neuen Stücke wurde das Largo (im Original: Larghetto). Vivaldi schrieb einen getragenen, nur in Viertel- und punktirter Achtelbewegung verlaufenden Violin-Gesang vor und als Begleitung einfache accordische Viertel. Bach, die Unwirksamkeit einer solchen Melodie auf dem Claviere erkennend, löste ihre Verhältnisse arabeskenhaft auf und versah die Haupttöne mit eindringlichen Trillos[411] und Mordenten, dazu aber erfand er noch eine ganz freie Mittelstimme, bei deren herrlichem melodischen Flusse Niemand glauben würde, daß sie nicht von Anfang dagewesen sei. Im letzten Satze sind namentlich wieder viele Bass-Stellen ganz neu erfunden, wie im 7. und 8. Takte (und dem entsprechenden 33., 34. und 35.), von Takt 21 bis 28, und ganz besonders Takt 43 bis 49, wo überall das Original sich mit dem dürftigsten Accordgerüste begnügt. Auch den Schluß hat Bach reicher und glänzender gestaltet.
Wendet man den thatsächlichen Befund dieser Vergleichung auf die andern Uebertragungen an, so kann es nicht schwer fallen, bei natürlich zurückbleibender Unsicherheit im Einzelnen doch im Allgemeinen die Bachschen Zuthaten zu erkennen: die leicht schreitenden Bässe, melodischen Mittelstimmen, Imitationen strengerer und freierer Art. Durch sie sind manche der Concerte in der That zu Clavierstücken geworden, die man auch neben den Bachschen Originalschöpfungen mit Genuß und Vergnügen spielt. Es ist dies natürlich, da Bach, wie die Menge der Arrangements zeigt, mit Liebe bei der Sache gewesen ist. So muß man z.B. das dritte Concert in D moll durchweg interessant nennen, das Adagio ist von Anfang bis Ende wahrhaft schön, und man darf die Erfindungskraft dessen, dem eine solche Melodie einfallen konnte, nicht unterschätzen; das eilig dahinrauschende Presto von echt italiänischem Gepräge ist von Bach durch die anmuthigsten Nachahmungen vertieft. Ganz besonders viel scheint das achte Concert in H moll dem deutschen Meister zu verdanken und die leicht zu machende Beobachtung neu zu bestätigen, daß H moll eine Lieblingstonart desselben war, ähnlich wie Händel sich dem F moll, Beethoven dem C moll mit Vorliebe zuwendete. Dieses Concert weicht auch in der größeren Anzahl der Sätze von den übrigen ab. Die zweistimmige Führung des ersten, heftigen Allegros rührt ohne alle Frage von Bach her, das folgende kurze Adagio-Sätzchen wirkt durch eine echt Bachische Harmonisirung merkwürdig ergreifend. Auch in den beiden andern Allegros erkennt man fast an jedem Takte die Hand des Deutschen. Durch hervorragenden harmonischen Reichthum zeichnet sich das Adagio des zwölften Concerts aus, dessen Melodie an gewissen Stellen die Möglichkeit canonischer Nachahmungen bietet, was Bach natürlich sofort herausfand. Gewisse, hier und anderwärts vorkommende [412] rhythmische Manieren, wie
oder
verdienen Erwähnung, weil sie als eine Erfindung Vivaldis angesehen und eifrig nachgeahmt wurden; man nannte das: Spielweise im lombardischen Geschmack.
Freier noch hat sich Bach in den Orgelarrangements seinem Originale gegenübergestellt. Scheint bei den Uebertragungen aufs Clavier nur ein Ausbau nach Innen vorgenommen zu sein, so haben wir hier auch mit einem Weiterbau nach Außen zu thun. Derselbe läßt sich aufs genaueste beobachten durch Vergleichung des ersten Satzes eines C dur-Concerts, welcher sowohl in der claviermäßigen als orgelgerechten Gestalt vorliegt37. In dieser zählt es 81, in jener nur 66 Takte. Vivaldi hat im allgemeinen den Satz ganz klar disponirt: er zerfällt in sechs Abschnitte, je nach den erneuten Eintritten des Tuttithemas, welche nach einander in G dur, E moll, D moll, A moll und endlich C dur stattfinden. Aber beim Beginn der zweiten Periode hat er einen Formkeim ausgestreut, ohne ihn zu zeitigen, denn nachdem das Thema folgendermaßen erklungen ist:
läßt er es sogleich noch einmal in A moll wiederholen, und sich dann erst die Passagen anschließen. Diese nachdrucksvolle Verdopplung hielt Bach für werth, durch Bildung entsprechender neuer Perioden aus dem Charakter des Zufälligen zur organischen Notwendigkeit zu erheben, und fügte deshalb noch zwei Abschnitte ein, die ebenfalls mit dem verdoppelten Thema beginnen, so daß nunmehr dem Tonstück an Rundung und Ebenmaß nichts mehr fehlt. Die ersten sechs Takte gehen beide Bearbeitungen zusammen, dann wendet sich das Original, wie wir die Clavier-Uebertragung wohl nennen können, durch eine fortgesetzte Figurirung nach drei Takten zur zweiten Periode in G dur, während Bach nach C dur zurückkehrt, hier schon die erste Verdopplung des Themas bringt, und erst im 16. Takte mit dem Original in G dur wieder zusammen trifft. Zum zweiten Male [413] weicht er mit dem 22. Takte des Originals von der ursprünglichen Fassung ab, kehrt wieder nach E moll zurück und bringt hier die andre Periode mit verdoppeltem Thema. Nach Einlenkung in den ersten Entwicklungsgang verlaufen dann beide Bearbeitungen mit kleinen Abweichungen übereinstimmend. Die größere Klangmannigfaltigkeit der Orgel bedingte aber auch eine ganz andre Behandlung der musikalischen Gedanken: es ließ sich der Gegensatz zwischen Solo und Tutti durch den Wechsel von Oberwerk und Rückpositiv darstellen, die Harmonien konnten durch das Pedal bequem gestützt werden und die Figuren daher freier, reicher und in den passendsten Tonlagen sich bewegen. Manche auf der Orgel unwirksame Gänge erlitten aus diesem Grunde Veränderung; aber auch abgesehen von den äußern Rücksichten hat Bach gestrebt, auf diesem seinem Hauptinstrumente alles noch voller und quellender zu schaffen, selbst das Thema erfuhr eine kleine wesentlich bessernde Abänderung. Wie die drei andern Orgelconcerte sich ihren Vorlagen gegenüber verhalten, können wir freilich durch keine Vergleichung feststellen, zum wenigsten bedingte jedoch der Orgelcharakter dieselben Freiheiten in Behandlung der Tongedanken. Dem zweiten lag jedenfalls eine Composition für zwei Soloviolinen zu Grunde, und es ist höchst interessant zu beobachten, wie fein die beiden concertirenden Instrumente aus einander gehalten sind und welch neue Klangwirkungen dadurch entstanden. Das dritte erwuchs, wegen des großen Umfangs, den die concertirende Stimme durchmißt, vielleicht aus einem Gamben-Concert; es ist sehr viel Virtuosenhaftes darin, besonders in den übermäßig ausgesponnenen Cadenzen.
Die neue Tonform, mit der sich Bach durch eine so energische Beschäftigung vertraut gemacht hatte, verwendete er nun für seine besonderen Zwecke. Es entging ihm nicht, daß das Princip der beiden im Nacheinander contrastirenden Themen auch für die Orgel-und Claviercomposition ergiebig sei, wenngleich mit Beschränkung. Die Kernformen dieser Instrumente mußten immer die polyphonischen bleiben, aber wie vor der Fuge ein Praeludium, so war dort auch ein nach dem Concertprincip gestaltetes Stück denkbar, und je nach dem Charakter desselben konnte auch ein Adagio an mittlerer Stelle nicht unpassend sein. Daß es bei einem Meister überhaupt nur auf das Wie? ankomme, hat er später in seinem für Cembalo [414] geschriebenen italiänischen Concerte gezeigt38, daß die Form dem Wesen des Claviers nicht voll entspreche, durch die Isolirtheit dieses Werkes unter seinen Compositionen. Ueberhaupt blieb er in den überwiegenden Fällen der alten, bewährten Weise treu, aber sein bildkräftiger Geist wurde einmal durch jede berechtigte Form unwiderstehlich angezogen.
Allem Anschein nach hat ihn die Combination von Fugen- und Concert-Satz schon in seinen Ausbildungsjahren beschäftigt: es liegt eine Composition vor, welche in ihrem theils unbehülflichen, theils maßlosen Wesen nur eines Anfängers Arbeit sein kann. Concerto betitelt und in C moll stehend hat sie die offenliegende Absicht, im ersten Satze durch Gegenüberstellung von zwei contrastirenden Tongruppen – Themen kann man nicht sagen – etwas concerthaftes zu liefern. Hernach geht derselbe in ein unbändiges Figuriren über, kehrt aber am Schlusse ganz richtig zu seinem Tuttigedanken zurück. Dann kommt eine in Contrapunctirung und Entwicklung sehr frei gehaltene Fuge; in ihr, wie auch im ersten Satze finden sich einige Male Stellen, die wie mißverstandene Nachahmungen jener Tutti-Accorde aussehen, welche in Adagiosätzen von Concerten die Gänge des Solo-Instruments zu unterbrechen pflegen. Dieses Stück könnte auf Anregung seines ersten Aufenthalts in Weimar im Jahre 1703 entstanden sein, wenigstens muß man es in die früheste Zeit eigner Versuche zurückverlegen39. Als Werk eines bewußt bildenden Künstlers stellt sich dagegen eine sogenannte Toccata und Fuge aus C dur dar, die diese Benennung mit geringem Rechte trägt, denn sie besteht nach dem Muster der italiänischen Concerte aus drei [415] selbständigen Sätzen40. Der erste beginnt freipraeludirend mit einem strömenden Passagen-Ergusse auf dem Manual, dem sich ein langes Pedalsolo mit Vorandeutung der beiden Hauptmotive des Satzes anschließt. Von diesen ist das eine mehr melodisch, das andre, ganz dem Gebrauche gemäß, mehr gangartig. Zwischen beiden abwechselnd entwickelt sich der Satz, von den gewöhnlichen Praeludien- und Toccaten-Formen durchaus abweichend, ganz concertmäßig, ohne doch dem Orgelwesen irgend Gewalt anzuthun; man sieht, daß hier keine bloße Nachahmung, sondern eine schaffenskräftige Ausnutzung fremder Kunstarbeit vorliegt. Das Adagio in A moll besteht aus einer sehr schönen, ununterbrochenen Gesangsmelodie mit durchweg homophoner Begleitung, ein Stück, zu welchem sich in Bachs Werken keine Analogie findet, und bei dem sich doch das Gefühl aufdrängt, daß alles wohl in diesem einzelnen Falle eigens für die Orgel erfunden, die allgemeine Art der Behandlung aber nicht aus dem Geiste der Orgel geboren ist. Die durchgehende Pedalfigur in Octavenschritten und die auf besonderem, schwach registrirtem Manuale zu spielenden Begleitungs-Accorde erwecken die Erinnerung an ein Solo-Adagio mit accompagnirendem Cembalo gar zu lebhaft. Ein Orgelrecitativ leitet zu acht Takten Buxtehudescher Harmonienfolgen hinüber, den letzten Satz bildet eine lebhafte Fuge im 6/8 Takt, deren Thema mit seinen verwegenen Pausen und dem in dieselben hineingefügten Contrapunct stark an die oben charakterisirte große D dur-Fuge mahnt. Dieser dreisätzigen Orgelcomposition ist eine gleichconstruirte für Cembalo an die Seite zu setzen41. Sie führt ebenfalls den Namen Toccata, was hier wie dort dem fugirten Schlußsatze zu Liebe geschehen sein wird, wodurch allein noch ein Unterschied von der vollständigen Concertform gegeben ist. Die ersten Takte des Tutti-Gedankens sind von ähnlicher Gestalt, wie der Anfang des zweiten Allegrosatzes in Vivaldis H moll-Concert, während gewöhnlich gangartige Tonreihen an dieser Stelle nicht auftreten, und die wuchtig absteigenden Dreiklänge in beiden Händen erinnern an Spielmanieren, welche in den Clavierübertragungen Vivaldis häufiger vorkommen. Den Solo-Gegensatz enthalten die Takte 5–7, und mit [416] ihm entwickelt sich der Satz in tibersichtlichster Anordnung durch fünf Perioden und in dem Modulationskreise: G dur, D dur, E moll H moll, G dur. Das Adagio von inniger Melodik ist doch auch polyphonisch mit Fürsorge bedacht, indem besonders dieser Gang
schön und vielfältig nachgeahmt wird, so daß sich hier deutscher Inhalt mit italiänischer Form zu einem ungemein anziehenden Dritten verschmelzen. Wie sehr in der That diese dem Componisten im Sinne lag, sieht man auch aus der Beibehaltung gewisser Aeußerlichkeiten, z.B. aus dem Adagioschlusse. Das Endigen in der Grundtonart, und das nochmalige Anheben, um zu dem spannenden Halbschlusse zu gelangen, der den Eintritt des letzten Satzes vorbereiten soll, war ganz und gar Manier italiänischer Tonsetzer. Auch hier rufen der 6/8 Takt und das muntere Wesen der Schlußfuge, sowie die motivische Neckerei mit den fünf ersten Noten ihres Themas uns in Erinnerung, daß sie den Schluß eines nach Concertweise angelegten Ganzen bildet. Dieses froh und sonnig dahin gaukelnde Stück macht zu dem elegischen Adagio einen vortrefflichen Contrast und ist, wie das ganze Werk, in glücklichster Stunde geschrieben.
Um nicht Gesagtes an einem andern Orte wiederholen zu müssen, geschehe gleich hier noch einer Composition Erwähnung, die jedenfalls in eine spätere Schaffensperiode fällt, aber ebenfalls das Bestreben offenbart, die Formen des Concertsatzes und der Fuge zu verbinden. Mit Sicherheit wissen wir nur, daß sie vor dem Jahre 1725 geschrieben wurde; die Möglichkeit, daß sie wenigstens in den letzten Jahren des weimarischen Aufenthalts entstand, scheint mir jedoch aus inneren Gründen nicht unstatthaft42. Es ist eine Fuge mit sogenanntem Praeludium, aber dieses Praeludium ist eben ein concertmäßig angelegter, breit und glänzend ausgeführter Satz. Wie bestimmt die Absicht Bachs war, läßt sich hier besonders deutlich aus dem Umstande erkennen, daß er in späteren Lebensjahren diese [417] beiden Sätze mit Zwischenschiebung eines Adagio zu einem wirklichen Concert für Flöte, Violine und Clavier mit Begleitung erweiterte43, beiläufig gesagt eine Umgestaltung von förmlich schwindelerregender Kunst und Großartigkeit. Durch beide Sätze strömt ein feuriges, rastlos arbeitendes Leben, in dem unablässigen Rollen immer neu sich bildender Gänge, in der Fülle der Harmonien, überhaupt in der Totalconception, nicht in der Beschaffenheit der einzelnen Gedanken liegt ihre Bedeutung. Das Tutti- Motiv des ersten Satzes ist sogar ganz unscheinbar, aber es erscheint wie eine Zauberformel, die Tongeister zu entfesseln; wo es nur ertönt, öffnen sich neue Schleusen, aus denen die klingenden Quellen rauschend und perlend hervorhüpfen. Es ist ein sichrer Wegweiser durch eine unübersehbar scheinende Tonfluth. Die Fuge, welche kein geringeres Maß von Spieltechnik und Ausdauer erfordert, als der erste Theil, ist mit ihrem 12/16 Takt wiederum ganz im Charakter eines letzten Concertsatzes gehalten. In der Bearbeitung ist sie auch formell dazu gemacht, indem Bach ein Tutti-Motiv davor erfand, und dieses nicht nur zwischen einzelnen Abschnitten der Fuge höchst geschickt eintreten ließ, sondern auch ohne irgend eine Aenderung des Originals nebenher führte.
Bei diesem Eifer, mit welchem Bach aus den Kunstleistungen der Italiäner Nutzen zu ziehen suchte, wäre es verwunderlich, wenn er nicht auch sein Augenmerk auf ihre Orgelmusik gerichtet hätte. Die Beweise dafür liegen vor, und zwar griff er mit der richtigsten Erkenntniß auf den epochemachenden Meister Frescobaldi zurück, dessen im Jahre 1635 erschienenen Fiori musicali er sich auch in einer sehr sorgfältigen, 104 Folioseiten starken und auf besonders gutem Papiere hergestellten Copie zu verschaffen wußte, und eigenhändig mit der Signatur »J.S. Bach. 1714« versah44. Frescobaldis Bedeutung für die Entwicklung des fugirten Spiels ist eine sehr hohe, wenn er auch schon in Johannes Gabrieli einen wichtigen Vorgänger hatte. Die Fuge bildete sich in Italien vorzugsweise in der sogenannten Canzone aus, ein Name, der durch die französischen Chansons (Canzone [418] francese) veranlaßt wurde, welche man gern auf der Orgel und dem Claviere spielte und deshalb zuerst als Stoffe für imitirende Formen benutzte. Dabei blieben an diesen Fugensätzen auch im Verlauf der Zeiten gewisse rhythmische Eigenthümlichkeiten jener Chanson-Melodien haften, indem auf die gehalteneren Anfangstöne geschwindere Notenwerthe in stereotyper Form zu folgen pflegten, auch wurde nicht selten der Anfangston mehre Male wiederholt45. Durch solche Vorbilder Frescobaldis angeregt, hat nun auch Bach eine Canzone geschrieben, in welcher er den italiänischen Typus möglichst wahrte, aber doch nicht umhin konnte, das Ganze mit eignem Geiste zu durchdringen46. Dem fremdartigen Reize des schönen Stückes wird sich nicht leicht jemand entziehen. Schon dem flüchtig Betrachtenden muß die Themabildung als ungewöhnlich auffallen, bei genauerer Beobachtung findet man auch bald den typischen Canzonen-Rhythmus darin wieder. Ein chromatisches zweites Thema wird dem ersten gegenüber gestellt, und gemessen zieht der Satz dahin, streng vierstimmig, ohne jede Concession an virtuosischen Effect, jeden Versuch zur Entfaltung instrumentalen Glanzes. Nach einer Durchführung in 70 Vierviertel-Takten ertönt ein Halbschluß, und ein neuer Abschnitt beginnt im Dreizweiteltakt, der prolatio perfecta nach alter Terminologie. Dieser aus den Werken der nordländischen Orgelmeister bekannte Rhythmuswechsel ist gleichwohl schon eine Gepflogenheit der italiänischen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, und scheint auf Nachahmung der Vocalmusik zu beruhen, in welcher z.B. Johannes Gabrieli sich gern des gleichen Kunstmittels bediente. Noch mehr aber: Frescobaldi kennt auch schon die motivische Umbildung des Themas in der neuen Taktform, welche bei Buxtehude und Andern fast principielle Bedeutung gewonnen hat. Und so bildete auch Bach aus dem Material des ersten Gedankens ein höchst geistreiches neues, und dem Canzonen-Rhythmus wieder [419] in andrer Weise folgendes Thema. Wie sehr er aber sich des hier herrschenden Stilunterschiedes bewußt war, zeigt eine Vergleichung nicht einmal mit Buxtehudes Werken, sondern auch schon mit dem Schlußsatz seiner eignen früher beurtheilten Arbeit47. Dort ist der Charakter frei musikalisch, hier kirchlich gebunden, soweit dies Bachs Richtung überhaupt zuließ. Denn er hat so wenig den fortgeschrittenen Standpunkt seiner Kunst, als seine eigne Natur verleugnet, und das Bedürfniß nach gesteigertem und individueller gefärbtem musikalischen Leben veranlaßte ihn, zu dem bewegteren Rhythmus des zweiten Abschnitts auch harmonisch tiefer und in der Stimmführung kühner sich zu gebärden. Immerhin aber würde eine ins Einzelne durchgeführte Untersuchung eine Menge harmonischer Eigenthümlichkeiten ergeben, die als Wirkungen der Anlehnung an Frescobaldis Stil sich am ungezwungensten erklärten. Um nur eines zu nennen, so erfolgen die Thema-Einsätze der ganzen ersten Abtheilung ausschließlich in der Grundtonart D moll.
Die Canzone steht in ihrer Eigenart unter den Werken Bachs nicht ganz allein. Ein Allabreve in D dur ist ebenfalls der Setzart Frescobaldis, oder allgemein gesagt der italiänischen Orgelcomponisten jener Zeit, in klar erkennbarer Weise nachgeschaffen48. Es ist eine unzertheilt fortströmende vierstimmige Fuge, und eben in der Art der Fugirung liegt das Merkzeichen dieser Composition. An das Hauptthema schließt sich sogleich ein Gegenthema an, welches dasselbe im wesentlichen durch das Stück begleitet, mit Vorliebe sind Engführungen angewendet, die Themaeintritte wenig, oft garnicht markirt, indem die Contrapuncte unvermerkt ins Thema hinüberfließen, dieses selbst bewegt sich in den einfachsten diatonischen Schritten. Alles ist darauf angelegt, nicht sowohl einen individuell ausgeprägten Gedanken in den mannigfaltigsten Verhältnissen leben- und gestaltenzeugend sich bewähren zu lassen, als einen großen Organismus darzustellen, dessen Grundprincip nur ganz allgemeine Züge trägt, und in seiner Bewegung stets durch andre Mächte oder durch sich selbst gebunden ist. Daß man ein Recht hat, zwischen [420] protestantischem und katholischem Orgelstil zu unterscheiden, und daß der Componist selbst den Unterschied gefühlt hat, läßt sich hier leicht aus der Vergleichung mit den andern Orgelstücken Bachs beweisen. Der feierlich allgemeine Eindruck wird noch verstärkt durch die breite, nur bis zu Viertelnoten beschleunigte Bewegung, und durch die langhallenden Vorbereitungen der dissonirenden Harmonietöne, welche die Erinnerung an den alten Vocalstil erwecken, dessen eigentliche Heimath ja die katholische Kirche war. Andrerseits konnte doch wieder nur Bach dieses Stück schreiben: schon die gewaltigen Dimensionen, in denen es sich über 197 Takte wie ein mächtiger Bogen ausspannt, wären wohl kaum einem andern construirbar gewesen; und diese frischtreibenden motivischen Erweiterungen, wie in der Altstimme von Takt 32 bis 46, diese großen organischen Zwischensätze, wie von Takt 113 bis 134, diese phantastisch leuchtenden Harmonienfolgen von Takt 183 bis 186! Wenn man die Canzone ein romantisches Kind nennen kann, von deutscher Sinnesart und italiänischer Haltung, so muß man bei diesem Allabreve an den lichtblauen Himmel denken, dessen Bild von der ruhigen Fläche der tiefklaren Fluth zurückstrahlt.
Auch die Compositionen des Giovanni Legrenzi, der als gefeierter Orgelspieler und Tonsetzer in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebte und Lehrer des großen Venetianers Antonio Lotti war, blieben dem deutschen Meister nicht unbekannt. Es bezeugt dies ein Thema Legrenzis, was Bach zu einer Orgelfuge verarbeitete49. Auffällig sind bei dieser die oft wiederkehrenden vollständigen Cadenzen vor einem neuen Themaeintritte, wodurch sie etwas zerschnittenes und kurzathmiges bekommt, während sonst auf das überraschende und wie von Ungefähr in das continuirliche Tongewebe hineinfallende Einsetzen des Themas von Bach so großer Fleiß verwendet wird. Dieses, sowie der in Buxtehudes Manier gehaltene Virtuosenschluß, macht es wahrscheinlich, daß die Fuge nicht später als 1708 oder 1709 geschrieben ist. Nicht auf die frühe Entstehungszeit läßt [421] sich aber die Vereinfachung schieben, welche das zweite Thema in Takt 43, 49, 66, 77 und 88 erfährt, wenigstens können technische Gründe unmöglich maßgebend gewesen sein, da das Thema auch in seiner eigentlichen Gestalt auf dem Pedale unschwer auszuführen ist. Der nachahmende Contrapunct am Anfange wird wohl auf das Legrenzische Original zurückgeführt werden müssen, Bachs eigentliche Weise zeigt sich vom 34. Takte an. Neu für damals ist die breite Auseinanderlegung der Doppelfugenform, insofern beide Themen vor ihrer Vereinigung selbständig durchgearbeitet werden, denn wenn man bis dahin die Doppelfugen den einfachen vorzog, so geschah es nicht um größeren Reichthums willen, sondern der Bequemlichkeit und Einfachheit zu Liebe: das zweite Thema begleitete vom Beginn das erste, wie sein Schatten. Schon hieraus also entspringt ein voller, mächtiger Organismus, dessen reichliche Schönheiten den erwähnten Mangel weit überbieten.
Aus welchem Werke Legrenzis Bach jenen Gedanken entnahm, können wir nicht angeben; besser ist die Sache bei drei anderen Fugen bestellt, denen Themen aus Violinsonaten von Corelli und Albinoni zu Grunde liegen. Arcangelo Corelli, geb. 1653 und gestorben 1713, gleich hervorragend als Componist wie als Spieler und Lehrer auf der Geige, war der eigentliche Begründer der Violinsonaten-Form und das Haupt der römischen Schule. Tomaso Albinoni lebte um 1700 als musikalischer Dilettant in Venedig und erwarb sich nicht nur als Instrumentalcomponist sondern auch als Verfasser vieler Opern und als Sänger und Violinspieler Berühmtheit. Corelli hatte als opera terza 12 dreistimmige Kirchensonaten herausgegeben, unter welchen die vierte als eine der schönsten angesehen wurde50. Der zweite Satz ist eine Fuge mit folgenden Themen:
[422] Diese entlehnte sich Bach für eine vierstimmige Orgelfuge, welche mit Corellis Stück auch noch die Engführungen des ersten Gedankens, sonst aber garnichts weiter gemeinsam hat51. Wenn Corelli mit 39 Takten alles erschöpft hatte, was er über die beiden Themen zu sagen wußte, so bedurfte Bach deren über hundert, um dem Reichthume der aufquellenden Gedanken Gestalt zu geben. Natürlich konnte er nun auch von der Disposition des Italiäners keinen Gebrauch machen. Dieser arbeitet schon vom siebenten Takte an mit Engführungen und bleibt einer solchen knäuelartigen Behandlung bis ans Ende getreu, wogegen der Deutsche das letzte Steigerungsmittel erst mit dem 90. Takte anwendet und den Vollgehalt der Themen frei und unbedrängt entfaltet, auch durch ausgeführtere Zwischensätze die Hauptperioden anmuthig gruppirt. Wie erfindungsreich und ungezwungen grade jene Verbindungspartien sich entwickeln, beweisen unter andern die Takte 25 bis 30, in denen die halben Noten des ersten Themas stufenweise immer tiefer hinabgeführt werden, indessen sich über und unter ihnen das reizendste Wechselspiel in Sechzehnteln aufthut und graziös in das Thema zurückleitet. Wenn aber Bach aus den Corellischen Themen grade eine Fuge für Orgel machte, so liegt darin vielleicht eine Andeutung, daß auch in Weimar die italiänische Sitte der Kirchen-Violinsonaten in Aufnahme gekommen war. Ueberdies werden wir bald erfahren, daß er eine daher entlehnte Form sogar in einer seiner Cantaten zur Anwendung brachte. – Für Albinonis Compositionen muß Bach eine gewisse Vorliebe gehabt haben. Noch in späteren Jahren benutzte er in seinen Lehrstunden die Continuostimme derselben zur Uebung im Generalbass-Spielen, und Gerber erzählt, daß er in der Art, wie sein Vater, ein Schüler Bachs, nach der Manier des Meisters diese Bässe ausführte, nie etwas vortrefflicheres gehört habe, dies Accompagnement sei schon an sich so schön gewesen, daß keine Hauptstimme etwas zu dem Vergnügen, was er dabei empfunden, hätte hinzuthun können52. Es stimmt damit überein, wenn wir zwei Fugen besitzen, zu denen Albinonische mehr oder weniger von Bach[423] benutzt wurden53. Die italiänischen Arbeiten sind abermals dreistimmig, die Bachschen, beide für Clavier gesetzt, sind es dieses Mal auch, die Waffen also gleich. Von den Fugen steht die erste in A dur54; Albinoni hat sich die Sache leicht gemacht und genug zu thun geglaubt, wenn er einen einzigen Contrapunct zum Thema erfände:
den er in den nöthigen Versetzungen stets genau wiederholt. Er giebt sich aber auch keine Mühe mit vielen Durchführungen und bringt in dem 48 Takte langen Stücke das Thema nur achtmal, alles übrige füllt er mit freien und nicht eben bedeutungsvollen Gängen aus. Von dem gesammten Materiale konnte Bach nicht viel gebrauchen. Den angeführten Contrapunct benutzt er nur beim ersten Eintreten des Gefährten und auch da schon mit einer wesentlichen Verschönerung, hernach aber das ganze, hundert Takte lange Stück hindurch nie wieder, als ob er recht deutlich lehren wollte, daß eine ordentliche Fuge mehr sei, als ein mechanisches Versetzen der Stimmen nach oben und unten, daß sie vielmehr stets neue Zweige aus demselben Stamme treiben müsse. Außerdem hat er noch einen Zwischengedanken aus Takt 8 und 9 entlehnt:
mit dem Albinoni nichts weiter zu beginnen weiß, der aber bei Bach zu den schönsten motivischen Gebilden erblüht (vergl. Takt 24–27 und 44–47). Alles andre in der ausgezeichnet schönen Composition ist ureigne Erfindung, eine herbe Frische, wie die eines schönen Herbstmorgens, schwebt um sie, und wie aus unerschöpflichem Born quillen die Gestalten, gesundheitstrahlend und lebenstrotzend. Das [424] Zeitmaß, bei Albinoni Allegro, muß es jedenfalls auch bei Bach bleiben. Der voll in die Saiten greifende Schluß mit dem Pedalgebrauch athmet noch etwas von jugendlichem Uebermuth, ist aber mit dem Uebrigen so sehr aus einem Gusse, daß der Componist auch in älteren Jahren, wie es scheint, keine Aenderungen mehr vorgenommen hat. Dagegen hielt er solche bei der andern Fuge in H moll für nothwendig, wie zwei neben einander erhaltene Bearbeitungen zeigen. Der Grund lag wohl darin, daß er hier nicht so unbehindert aus sich selbst gestaltete, sondern das Albinonische Vorbild etwas reichlicher für seinen Zweck zu verwerthen strebte. In der That hat es einen großen Reiz zu sehen, wie Bach alle hervortretenden Züge in seiner Phantasie gesammelt und hier gleichsam eine neue Stoffmischung vorgenommen hat, so daß sie am eignen Werk nun zwar sämmtlich wieder erscheinen, aber in ganz anderm und viel wirkungsreicherem Zusammenhange55. Von dem Contrapunct des Gefährten ist ein Mittelstück häufiger verwendet, nämlich das letzte Achtel des dritten Taktes und die erste Hälfte des folgenden bei Albinoni:
zuerst in Takt 12 und 13 für die Oberstimme, in Takt 58, sowie 80 und 81 für die Mittelstimme bei Bach. Das Anfangsstück kommt nur einmal, aber klar erkenntlich, in Takt 63 auf 64 vor. Zu überraschendem Ausdruck gelangt jener Terzengang von drei Achteln im fünften Takte
der sich im 29. wiederholt, durch die Verwendung bei Bach in Takt 59 und 60; hier wetterleuchtet es aus der Tiefe seines Genius schaurig ergreifend herauf! Der chromatische Gang der zweiten Violine im zwanzigsten Takte tritt im vierzigsten der Clavierfuge gleichfalls in der Mittelstimme, dann im fünfzigsten noch einmal in der Oberstimme zu Tage; eine kleine hüpfende Sechzehntelfigur des 22. Taktes geräth im 25. der Bachschen Composition unvermerkt auf die Oberfläche und treibt dort eine Zeit lang ihr Wesen fort. Die chromatischen, zwischen zweite und erste Geige[425] vertheilten, aufwärts steigenden Gänge des 33. Taktes scheinen bereits im 14. und 15. Takte des Clavierstückes deutlich hindurch, quirlen, in abgerissene Sechzehntel zertheilt, in Takt 34 und 35 unruhig herum, und arbeiten sich endlich vom 81. Takte an vollends in die Höhe. Eine Palingenese, in der ein Künstler das Werk eines andern in dem seinigen so vollständig aufzehrt, daß die Existenz jenes nunmehr eigentlich überflüssig erscheint, und doch wieder etwas so grundverschiedenes liefert, daß beide Compositionen, vom Thema abgesehen, kaum mit einander verglichen werden können, gehört wohl zu den seltensten Erscheinungen der Kunstwelt. Doch waren an der ersten Bearbeitung noch einige Härten und Steifheiten haften geblieben56; ganz vollendet wurde der Process erst in der zweiten Bearbeitung, welche Bach nunmehr ohne irgend eine Rücksicht auf Albinoni nur aus dem Wesen seiner eignen Composition heraus vornahm. Hier schlossen sich alle Fugen, ründeten sich alle Linien, ordneten sich alle Verhältnisse zur herrlichsten Schönheit; Takt für Takt muß man die hohe Weisheit des Meisters bewundern. Man betrachte beispielsweise nur die Umbildung des 30. Taktes, und wie diesem im 94. ein Gegenbild ersteht; wie in der Gruppe vom 34. Takte an bis zum nächsten Einsatze des Themas sich alles dehnt und reckt und dabei die chromatische Figur des Basses wie eine Hülse abgestreift wird, aus welcher der lebendige Keim endlich hervorbricht! Vom 68. Takte der zweiten Bearbeitung an wird die Entwicklung ganz abweichend und strömt noch weit über die Gränzen der ersten hinaus, um erst mit dem 102. Takte zu Ruhe zu kommen. Die Gesammtstimmung dieser Fuge ist von der vorigen durchaus verschieden; sie webt ganz in jener geheimnißvollen Dämmerregion des Gefühles, in welcher Bach vor andern Tonsetzern heimisch ist, und die sich dem begreifenden Worte traumhaft entzieht. Das italiänische Original hat hiervon nichts, und aus dieser innerlichen Grundverschiedenheit wird es zu rechtfertigen sein, wenn man die dort vorgeschriebene Bewegung Allegro für die Bachsche Fuge entsprechend [426] mäßigt. Uebrigens kann die zweite Bearbeitung wohl nur zur Zeit von Bachs höchster Reife vorgenommen sein, da sie ein Werk ergeben hat, was zu den vorzüglichsten des Meisters überhaupt gehört. Er selber war ihm besonders zugethan und setzte dazu, wie es scheint, auch ein großes phantastisches Praeludium57.
Es ist, um mit den italiänisch beeinflußten Compositionen Bachs aus dieser Zeit abzuschließen, noch die Erwähnung eines Variationenwerks alla maniera italiana übrig58. Diese auf ein köstliches Thema in Liedform gearbeiteten Clavierstücke sind der italiänischen Violin-Variation angeähnelt. Die Figuration liegt mit kaum nennenswerther Unterbrechung in der Oberstimme, der Bass geht einfach stützend darunter her, wenn es ihm gleich nicht an freier Bewegung fehlt; der Satz ist überwiegend zweistimmig und bildet dadurch freilich zu dem herrlich harmonisirten Thema, was als letzte Variation etwas verändert wiederkehrt, einen starken Contrast. Wohl mit Absicht ahmen manche Stellen die Passagen-Art der Geige nach, auch tritt die Spielweise der arrangirten Vivaldischen Concerte häufig entgegen59. Hinter den 30 Goldbergschen Variationen im 4. Theile der »Clavierübung« stehen diese allerdings bescheiden zurück; es sind saubre, feine Bleistiftzeichnungen gegenüber saftig colorirten Gemälden. Aber der Bachsche Funke fehlt ihnen nicht; er glüht mit intensiver Stärke in dem melancholisch holden Thema, was nur wie ein Schatten durch die Variationen wandelt, in der letzten aber wieder mit berauschendem harmonischen Zauber aufblüht. –
Es folgen nun als dritte Gruppe solche Instrumentalwerke, die sich nicht auf die italiänische Kunst stützen und ausschließlich fürs Clavier bestimmt sind. Denn, um es zu wiederholen, wo Bach an die Italiäner sich anschloß, geschah es nicht in schülerhafter Unsicherheit, sondern mit bewußter Ueberlegung und darum konnte er neben den zuvor aufgezählten Werken zugleich andre von ganz verschiedener Gattung mit Meisterschaft produciren. Es werden bei ihrer Betrachtung noch einige Male Elemente französischer wie [427] italiänischer Kunst zu Tage treten, deren Benutzung aber nur die unumschränkte Beherrschung aller Mittel kund giebt. Eine vollständige Ouverture nach französischer Weise setzte Bach an die Spitze einer kleinen Suite in F dur60. Das ganze Werkchen, was nur drei knappgeformte Tanzstücke, Menuett, Bourrée und Gigue enthält, gewinnt erhöhtes Interesse, wenn man es mit den späteren Suiten vergleicht, die ebenso kühn und ideal gestaltet sind, wie dieses sich anspruchslos noch in den einfachen Tanzformen bewegt. An die Ouverture schließt sich als Zwischenstück eine Entrée, die eigentlich mit jener denselben vorbereitenden Zweck hatte; auch im Charakter pflegte sie dem Eingangssatze der Ouverture ähnlich zu sein, jedoch zweitheilig und mit doppelter Reprise, wie eben hier. Am werthvollsten erscheint der anmuthig gaukelnde Fugensatz der Ouverture, und der Menuett mit seinem reizenden Trio.
Von einzelnen Clavierfugen wäre vor allen eine treffliche aus A dur zu nennen61. Sie hat eine unverkennbare allgemeine Aehnlichkeit mit der über das Albinonische Thema in gleicher Tonart gesetzten, obwohl im Besondern Thema sowohl wie Construction ganz abweichen. Die Entwicklung erfolgt vom 35. Takte an mittelst Umkehrung des Themas, dem sich zeitweilig das Gegenthema:
zugesellt, hernach werden beide Bewegungen sinnreich unter einander gemischt. Zum Schlusse treten wieder einige jener Cembalopedal-Töne ein, die mit ihrem äußerlichen Effect jedesmal auf eine mehr oder weniger frühe Entstehungszeit weisen. – Weniger bedeutend ist eine andre Fuge in A dur62 mit hastigen und doch nachlässigen Engführungen in grader und verkehrter Bewegung, und einer Themabeantwortung im dritten Takt, durch welche man anfänglich E dur für die Grandtonart zu halten verleitet wird. Sie ist sicherlich um vieles früher, als die andre, oder zur ungünstigen Stunde geschrieben. – Ein reizendes, geheimnißvoll neckisches [428] Stück besitzen wir in einer frei und jugendlich ausgeführten A moll-Fuge63: aus ihr meint man der Elfen Gewisper und Getrippel zu vernehmen, sie klingt, wie ein um hundert Jahre vorweg genommenes Scherzo von Mendelssohn. – In vielen Zügen verwandt ist eine andre derselben Tonart, die deshalb ungefähr gleichzeitig mit ihr sein mag, obgleich weitere chronologische Anhaltepunkte fehlen64.
Wir hatten oben von einigen allein stehenden Orgelpraeludien gesprochen. Ob dieselben wirklich als selbständige Stücke gedacht oder etwa die zugehörigen Fugen nur verloren gegangen sind, darüber läßt sich nichts entscheiden. Mit größerer Sicherheit kann das erstere von zwei Clavierpraeludien behauptet werden, welchen beiden eine ungewöhnliche Form gemeinsam ist, und die, obwohl sie sich nirgends zu festen Gebilden verdichten, doch eine gewisse Stimmung erschöpfen, eine träumerisch verhüllte, leidenschaftlich suchende, in ungestillter Sehnsucht hinschwelgende. Bis Beweise vom Gegentheil aufgebracht werden, muß ich es für eine ausschließlich Bachische Eigenthümlichkeit erklären, an solchen subjectiven Tonbildern sich Genüge zu thun, ohne durch ein nachfolgendes formfestes Stück den Zusammenhang zwischen Individuum und Allgemeinheit wieder herzustellen, eine Eigenthümlichkeit jedoch, die in den gereifteren Mannesjahren naturgemäß zurücktrat. Das Vorbild zu solchen Compositionen liegt in einem früher erwähnten Clavierwerke Georg Böhms vor, welches allerdings auf ein träumerisches Praeludium eine Fuge folgen ließ, nach derselben aber in die Anfangsstimmung zurückkehrte und unter dem Gesäusel melancholischer Accorde hinstarb. Von dem einen nun der beiden Bachschen Praeludien kennen wir schon aus dem Jahre 1713 die Abschrift eines fremden Musikers, es erscheint deshalb passend, die Zeit der Composition etwa um das Jahr 1710 zu suchen65. Das andere wird ungefähr ebendann entstanden sein; dies deutet die formelle Uebereinstimmung[429] beider an und die durchgängig zu beobachtende Thatsache, daß Bach, wenn es die Anwendung neuer Formen galt, nie bei einem einzigen Versuche stehen blieb, sondern sie durch wiederholte Pflege möglichst zu erschöpfen strebte66. Eine hervorspringende melodische Blüthe fehlt dem einen wie dem andern durchaus, sie bieten nur Harmonienfolgen, welche sich an einem festen rhythmischen Spalier weiterranken. Der Rhythmus allein gliedert auch ihre Form in zwei Haupttheile, die von vorbereitenden oder ausklingenden Accorden und Passagenwerk eingerahmt werden. Grundtonart des ersteren ist C moll, aber die große Subjektivität tritt gleich daraus hervor, daß außer in den Anfangs- und Endtönen diese Tonart sich fast garnicht geltend macht. Schon die schwermüthig arppeggirenden Einleitungsaccorde führen sofort nach G moll hinüber, und in G moll beginnt auch der erste Haupttheil:
welcher durch die verwandten Tonarten fortmodulirend mit dem vollen Eintritt von Es dur in den zweiten Haupttheil, 4/8 Takt, hinüber führt. Die Sechzehntel der linken Hand weichen der Achtelbewegung, zu der oben erst Viertel, dann mit Sechzehnteln gemischte Achtel, endlich nur Sechzehntel ertönen. Der Schluß besteht aus zwei kleinen Gruppen, im Vierviertel-Maß und 24/16 Takt, die letztere braust zu kurzen Pedaltönen heftig auf, sie liegt fast nur in der Unterdominante und kehrt erst mit den Schlußaccorden:
[430] fragend zur Haupttonart zurück. Das andre Praeludium in A moll ist breiter ausgeführt, die Einleitung wird aus flüchtigen Zweiunddreißigstel-Figuren und Clavier-Recitativen gewoben. Mit dem 14. Takt beginnt der erste Theil, dessen Rhythmus eine innerliche, wachsende Unruhe ausdrückt, ihr entsprechend arbeiten sich die Harmonien aus dunklen Regionen in immer höhere Lagen hinauf, bringen es zu einem leidenschaftlichen Ausbruche (Takt 32) und sinken in die Tiefe zurück. Die rhythmische Figur, welche den zweiten Theil beherrscht, bemerkten wir schon am Schlusse der Orgeltoccate in D moll67; dort huschte sie unausgenutzt vorüber, hier wird sie durch 52 Takte hindurch fast zu sehr erschöpft. Aus dem Epilog von Takt 87–106 heben wir noch eine Stelle von wunderbarer Wirkung heraus: Sechzehntelgänge stürmen in der E dur-Tonart aufwärts, kurze Pause, und dann unvermittelt dieses:
[431] Den beiden Praeludien haben wir vier Fantasien gegenüber zu stellen. Es ist durchaus ein Irrthum, zu glauben, daß Bach mit diesem Namen fessellos schweifende Improvisationen bezeichnet habe, zu denen er überhaupt wenig geneigt war. Die Fantasie schließt bei ihm regelmäßig festgegliederte und aus melodischen Motiven entwickelte Formen ein, besteht nicht selten nur aus solchen. Ganz entscheidend für die Frage ist, daß Bach seine im strengsten Stile gehaltenen dreistimmigen Clavier-Sinfonien ursprünglich mit dieser Bezeichnung versah69, es ergiebt sich das Resultat aber auch schon aus einer Zusammenstellung dessen, was sonst unter dem Namen von ihm existirt. Allein der Raum für das freie Spiel des schöpferischen Geistes ist keineswegs immer ganz versperrt; die Benennung scheint eben solchen Stücken beigelegt zu sein, deren Bau mit keiner der gebräuchlichen Formen vollständig übereinstimmte, sondern immer wenigstens durch einige freigestaltete Züge sich bemerkbar machte. So verhält es sich auch mit den vorliegenden Fantasien. Die eine, G moll70, ist auf drei zusammengepaßte Motive gebaut, welche alle den doppelten Contrapunct in der Octave zulassen und an deren Versetzungen und Durchführungen sich das Stück in kräftigem Flusse entwickelt. In der andern, aus H moll, wird der erste Satz aus dem Keime
sinnreich hervorgelockt, der zweite aus diesem Gedanken
frei entwickelt71. Wiederum abweichend ist die dritte, aus A moll, gebildet. Diese beginnt mit einem toccatenartigen, höchst glänzenden [432] Satze, bringt dann eine sehr lebhafte, aber etwas flache Fuge über das Thema:
und kehrt zum Schlusse in das toccatenhafte Wesen zurück, was nunmehr mit Tempowechsel und Recitativen noch 35 Takte andauert72. Die vierte ist von allen die längste und merkwürdigste, ein Bild wunderbarer Formenmannigfaltigkeit73. Nach einigen praeludirenden Takten in D dur hebt der erste Satz mit diesem Gedanken an:
der zuerst ganz quintenmäßig beantwortet wird, als ob es eine Fuge gölte, bald aber in der linken Hand unter kurzen Accorden der rechten sich in freien Wiederholungen weiter arbeitet, bis ihm als neuer Gedanke diese Tongruppe entgegentritt:
welche sich, indem die Achtel bald oben bald unten liegen, eine Weile fortspinnt. Mit dem dreizehnten Takte treten sich beide Gruppen wetteifernd gegenüber, und aus diesem Widerstreit entwickelt sich der ganze weitere Verlauf. Es leuchtet ein, daß hier der Bau [433] eines Concertsatzes maßgebend gewesen ist. Nun folgt ein bunter, echt toccatenhafter Adagio-Satz: ein kleines, viernotiges Motiv thut sich, von Tremolos unterbrochen, darin hervor, und führt in den Takten 4–7 Gebilde herbei, welche genau mit einer Stelle des eben geschilderten A moll-Praeludiums (Takt 87 ff.) übereinstimmen und anzeigen, daß beide Stücke kurz nach einander geschrieben sein werden. Wir kommen zu einem dritten, wiederum bewegteren Satze, der im Bau gänzlich der zuvor erwähnten G moll-Fantasie gleicht: auch hier sind es drei mit einander verflochtene Themen, welche im doppelten Contrapunct der Octave versetzt werden, zu motivischen Zwischensätzen Veranlassung geben und so die Mittel zur Entwicklung des ganzen Satzes gewähren. Nur erfolgen hier die ersten Eintritte nach dem Quintenverhältniß, so daß man eine ordentliche Tripelfuge vor sich hat. Die Tonart war Fis moll, der nächste Satz soll langsam zur Haupttonart zurückleiten; er ist noch bunter, wie das erste Zwischenstück, voll von pathetischen Clavier-Recitativen (con discrezione zu spielen, wie einige Handschriften bemerken) und breiten Verbindungs-Harmonien; die oben durch ein Beispiel verdeutlichte Tonfolge des A moll-Praeludiums kommt auch hier vor (Takt 9 und 10). Endlich gelangt man zur Schlußfuge im 6/16 Takt, die flüchtig dahinschwebt wie ein Schmetterling, und auch nicht schwerer wiegt, als ein solcher.
Diese letzte Fantasie ist eine Mischung aus jenen zuvor besprochenen dreitheiligen Toccaten mit concerthaftem ersten Satze und einer andern Toccaten-Art, von der Bach ebenfalls mehre Exemplare hinterlassen hat. Sicherlich erhielt sie ihren Namen, weil sie eben weder auf jenes noch dieses Muster völlig paßte. Für die Beurtheilung von Bachs Künstlernatur ist es durchaus nicht unwesentlich, zu beobachten, wie er auch in der Gattung, welche zur formlosesten Spielwillkür berechtigte, nach festen Principien größere Organismen herauszuarbeiten suchte und dieselben dann reinlich von allem fremdartigen absonderte. Das Gebot höchster Formenstrenge beherrschte sein gesammtes Thun. Und aus eben diesem Grunde suchte er, wenn er einen glücklichen Griff gethan zu haben glaubte, durch Wiederholung der Arbeit sich neuerdings davon zu überzeugen und die Ausgiebigkeit der geschaffenen Form zu prüfen. So geschah es auch mit der Toccaten-Gattung, in welche die D dur-Fantasie[434] hinübergreift74. Sie hat vier Sätze, zwei fugirte und zwei freier gestaltete in Abwechslung, doch so, daß die fugirten die zweite und vierte Stelle einnehmen. Die D moll-Toccate wäre nach einem Zeugniß aus dem Hause Kittels, eines Schülers von Bach, des Meisters erste Toccate überhaupt, und wir haben kein Recht, daran zu zweifeln75. Der erste Satz ist ganghaft bis zum 15. Takte, wo wie im ältesten Toccatenstil gebundenes Spiel ablösend eintritt und zwar in sauberster vierstimmiger Harmonie und gesättigt von warmer Empfindung. Eine Doppelfuge bildet den zweiten Satz, bei welcher nur auffällig ist, daß beide Themen in Melodie und Rhythmus sich fast ganz gleichen: der einzig wesentliche Unterschied besteht darin, daß das erste einen Schritt von d nach đ, das zweite einen solchen von đ nach macht. Welche Absicht der Componist mit dieser merkwürdigen und in seinen Instrumentalwerken sonst beispiellosen Anlage gehabt hat, ist unerfindlich, die natürliche Folge davon eine gewisse Monotonie. Die Stimmenführung ist in hohem Grade flüssig und elegant, mit zwei Ausnahmen, wo die Mittelstimmen ganz rücksichtslos und unmelodisch herumgeworfen werden (Takt 10–12 und 73–74). Es folgt ein zartklagendes Adagio, was an der Hand eines eintaktigen Motivs ruhelos von Tonart zu Tonart irrt und im 25. Takte auf der Dominante von D moll stille hält. Der Harmonienwechsel ist offenbar [435] Hauptsache, er wirkt lösend und erfrischt zu neuer Anspannung und das Stück hat in der Oekonomie des Ganzen dieselbe Bedeutung, wie die freien Zwischensätze der Buxtehudeschen Orgelfugen, nur ist mehr Zusammenhang in ihm. Unter dem letzten Satze hat man wieder eine Doppelfuge zu erkennen, deren Themen:
allerdings winzig und unbedeutend genannt werden müssen im Vergleich zu dem, was wir schon jetzt von Bach gewohnt sind, selbst zu den Themen der andern Doppelfuge dieses Stückes. Der Componist konnte nicht einmal bei der ersten Durchführung die Eintritte ohne Zwischensätze erfolgen lassen, wollte er nicht von vorn herein den Eindruck athemloser Hast hervorrufen. Andrerseits aber lief er Gefahr, durch solche Zwischensätze die unscheinbaren Themen ganz zu erdrücken; er wählte daher einen befremdlich scheinenden, aber durch die Unbestimmtheit der Gattung zu rechtfertigenden Ausweg, und schickte dem eigentlichen Beginn der Fuge in elf Takten eine freie Exposition des motivischen Materials vorher. Die Themen ertönen, werden im 3. und 4. Takt nach dem doppelten Contrapunct der Octave versetzt, und in den übrigen Takten wird der Stoff für die Zwischensätze aufgespeichert. Darnach beginnt die Entwicklung, die manche feine Züge trägt, es aber trotz ihrer 140 Takte doch zu keinem Gefühl der Breite und Fülle bringt, weil alle Perioden einen ganz kurzen, engbrüstigen Zuschnitt haben, und die Themen so wenig ergiebig sind, daß man sie bald satt gehört hat. Auch ermüdet der einförmige Rhythmus. – Ueber die zweite Toccate, in G moll76, ist wenig hinzuzufügen. Ihre Form stimmt genau mit der vorigen überein. Der erste Satz beginnt mit abwärts stürzenden Passagen, an die sich ein frei phantasirendes Adagio (an Stelle der schönen vierstimmigen Partie der D moll-Toccate) anschließt. Der zweite Satz ist eine Doppelfuge in B dur von straffer, militärischer Haltung, [436] deren Themen zusammen einsetzen, sieh aber besser von einander abheben; die ersten Einsätze sind wieder merkwürdig, denn die Themen beantworten sich in der Octave, wie am Anfang des letzten Satzes der vorigen Toccate, jedoch mit einigen Aenderungen, aus denen sich neue Harmonien ergeben. Als dritter Satz dient wieder ein mäßig ausgedehntes Adagio ohne festen thematischen Kern, und den letzten Platz füllt eine breit angelegte Fuge aus, deren treffliches, höchst energisches Thema:
das auch in der Verkehrung durchgearbeitet wird, wobei, es einen Ausdruck trotziger Wildheit erhält, nur nicht immer frei genug hervortritt, um voll zu wirken. Der Schluß läuft cyklisch in den Anfang des ersten Satzes zurück. – Die dritte Toccate, in E moll77. weicht formell nur insofern ab, als im ersten Satze sich keine langsamen Harmoniengänge befinden und dieser überhaupt nur ganz kurz und praeludirend gehalten ist. Alles andre ist gleich gestaltet: die Doppelfuge an zweiter Stelle, das recitativisch phantasirende Adagio als dritter Satz und die Schlußfuge. Inhaltlich aber steht diese Toccate bedeutend über ihren Schwestern, und gehört zu jenen von Melancholie und Sehnsucht tief getränkten Stücken, die nur Bach zu schreiben wußte. Gleich die köstliche kurze Doppelfuge ist vom Anfange an, wo der Septimenvorhalt aufseufzt, bis zum Schlusse, wo die Themen, als könnten sie sich nicht Genüge thun, zweimal nach einander in derselben Lage ertönen, ganz voll von schmerzlichem Verlangen. Und nun der letzte Satz – so leicht und schlank, wie eine holde Gestalt, dahin wandelnd, und doch mit so thränenschwerer, bleicher Miene, daß man von Wehmuth bezwungen das künstlerisch Empfundene hinüberziehen möchte in den Gefühlskreis selbst erlebten Leides, um es dort erst völlig auszukosten! Es wurde darauf aufmerksam gemacht, daß diese schon in einer frühern Fuge78 dargestellte Stimmung hier zur erschöpfendsten Aussprache gelange; [437] die Aehnlichkeit zwischen beiden zeigt sich auch in feineren Zügen, namentlich der stockenden und abgerissenen Contrapunctirung des Themas, von welcher ein wesentlicher Theil des unsäglichen Reizes ausgeht. –
Wir dürfen nicht daran zweifeln, daß in der ganzen ersten Hälfte der weimarischen Zeit, die sich kurz und gut durch das Jahr 1712 begränzen läßt, Bachs Beschäftigung mit der kirchlichen Vocalmusik in den Hintergrund getreten war und keine bedeutenden Verluste zu beklagen sein werden, wenn wir nur drei Cantaten für diesen Zeitabschnitt namhaft zu machen haben. Ihre Merkmale sind eben die der älteren Kirchencantate, und da alsbald nachgewiesen werden soll, daß spätestens seit 1712 sich Bach mit Entschiedenheit der neuern Cantaten-Form zuwendete, so ist der Raum für ihre Entstehungszeit dadurch abgesteckt. Sie sind der Anlage und dem Können ihres Schöpfers gemäß wohl die vollendetsten Cantaten dieser Gattung überhaupt. Aber auch jener eigentlich Bachsche Cantaten-Stil, dem die Instrumentalmusik in ihrer ganzen Breite zur Grundlage diente, bricht hier schon ungleich mächtiger hervor, als in der Mühlhäuser Festcomposition und der etwa gleichzeitigen Hochzeitsmusik. Der Tonsetzer hatte eben nicht nur in der Orgelkunst wieder eine höhere Stufe erklommen, sondern auch durch die Kammermusik vorzugsweise der Italiäner ganz neue Anregungen erhalten; beides kam den Cantaten sofort zu gute. In welchem chronologischen Verhältnisse sie unter einander stehen, ist mit Sicherheit nicht zu bestimmen, da dies nur nach innern Merkzeichen geschehen könnte; sie haben aber sämmtlich sehr viele Züge gemeinsam und stehen auch hinsichtlich des Aufwandes an Technik ziemlich auf gleicher Stufe. Eine enthält sich des Chorals, setzt jedoch ihren Text nicht ausschließlich aus Bibelsprüchen zusammen, wie die zuletzt besprochene Hochzeitscantate, sondern schließt nach Brauch auch gereimte Dichtung ein. Schon der erste Blick auf die Partitur zeigt uns den Einfluß der italiänischen Kammermusik: die Cantate beginnt mit einer Sinfonia in H moll nach dem Muster der dreistimmigen italiänischen Violinsonaten. Zwei Violinen und Continuo, d.h. die stetig mitgehende Orgel, deren Basse sich verstärkend ein Fagott zugesellt, bilden den Instrumentalkörper; derselbe wird auch im Verlaufe der Cantate nicht verstärkt, nur tritt das Fagott zuweilen[438] obligat auf79. Wie in der Sinfonie der Hochzeitscantate wird auch hier das Anfangsthema des ersten Chors vorbereitend durchgeführt. Dieser selbst ist über die ersten Verse des 25. Psalms gesetzt, welche in vier Sätzen eben so viele musikalisch zugängliche Gedanken enthalten, nämlich: »Nach dir, Herr, verlanget mich. Mein Gott, ich hoffe auf dich. Laß mich nicht zu Schanden werden, daß sich meine Feinde nicht freuen über mich.« Dadurch ist die Form des Chorstückes äußerlich vorgezeichnet. Bach würde in späterer Zeit sich mit weniger Textmaterial, etwa mit den beiden ersten Sätzen begnügt, und auf diese zwei contrastirende Tonbilder gebaut haben. Für seine jetzigen Formideale war auch das Ganze nicht zu viel. Er bildete einen Satz mit streng fugirter Anfangs- und Endpartie, wozu er den ersten und letzten Textabschnitt und beide Male dasselbe Thema in verschiedener Bearbeitung benutzte, dazwischen fügte er ein freigestaltetes Mittelstück über den zweiten und dritten Abschnitt. Die Uebertragung der Buxtehudeschen Fugenform auf die Vocalmusik ist hier unverkennbar. Das erste Thema ist, mit einigen Modificationen am Ende, dieses:
Es wird, nach alter Manier in Engführungen, in drei Perioden kurz durchgearbeitet, und zwischen dieselben tritt jedesmal ein Sätzchen aus der Einleitungs- Sinfonie als das in der älteren Kirchen-Cantate übliche Ritornell. Das Thema der Schlußfuge erscheint in beweglicherer Gestalt und beschleunigtem Zeitmaß:
und wird ohne Unterbrechung 21 Takte lang durchgearbeitet, zuerst in Engführungen, dann freier und freier heraustretend. Wie hier [439] das Verhältniß zwischen ruhig und bewegt, gewichtig und leicht ganz dasselbe ist, wie bei den zwei Fugensätzen der Buxtehudeschen Orgelstücke, so stimmt auch der Zwischensatz mit seinem instrumentalen Vorbilde an ungebundenem und aphoristischem Wesen überein. Die auf einer Fermate aushallenden Worte »Mein Gott!« leiten nach Fis moll hinüber, wo im dreitaktigen Allegro unter Sechzehntel-Bewegung des Soprans und einfallenden Achteln der übrigen Stimmen die Worte »ich hoffe auf dich« ertönen. Dann ein paar Accorde der Instrumente, und es folgen un poco allegro vier Takte hindurch in engen Imitationen und interessanten Harmonienfolgen die Worte »laß mich nicht zu Schanden werden«. Darnach wird der Ausruf »zu Schanden« imAdagio-Tempo noch einige Takte mit abwechselndem Einfallen der Instrumente fortgesetzt, bis endlich ein kurzes Ritornell in die letzte Fuge hinüberleitet. Die polyphonische Arbeit ist sehr reich und gewandt: die beiden Geigen sind immer, das Fagott ist sehr häufig obligat; besonders ist eine Begleitungsfigur:
anzumerken, die in allen drei Cantaten, mehr oder weniger übereinstimmend sich findet. Bedürfte es noch eines weiteren Nachweises für die durchaus instrumentale Wurzel dieses ersten Chorsatzes, so wäre es der, daß Bach das hier geschaffene Tongebild in seiner Fis moll-Toccate für Clavier wieder aufgriff, und den Bedingungen dieses Instrumentes gemäß weiter ausgestaltete. Dieser Process muß auch schon in Weimar, doch wird er der größeren Gereiftheit der Toccate wegen nicht sofort nach Composition der Cantate vor sich gegangen sein; es wäre auch psychologisch befremdlich, da der Künstler doch für den Augenblick sein Material erschöpft zu haben glauben mußte. Die zweite Nummer besteht nun aus einer kurzen, von den unisonen Violinen und der Orgel begleiteten Sopranarie, deren gereimter Text ein muthiges Vertrauen im Unglück ausspricht. Ihrer Gestalt nach paßt sie weder auf die italiänische noch die deutsche Arie, selbst nicht auf das Arioso, obwohl sie von diesem einige Züge trägt. Es ist eine unruhige Uebergangsbildung; die [440] Sopranarie der Hochzeitscantate, auch wie ein Trio angelegt, war doch schon formvoller. Der Chor fährt nach dieser kurzen Unterbrechung mit dem fünften Psalmverse fort: »Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich, denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Seine Gestalt ist hier eine motettenhafte, insofern jeder der vier Text-Gedanken kurz für sich durchgeführt, und ohne instrumentale Unterbrechung vom einen zum andern weiter gegangen wird; die Instrumente sind nur selbständig, indem sie den harmonischen Bau höher aufthürmen. Für jeden Abschnitt hat Bach einen geistvollen Durchführungs-Gedanken. Zuerst veranlaßt ihn das »Leite mich« zu einem in gemessenen Viertelnoten aufsteigenden Tonleitergange von H bis , in dem sich vom beginnenden Basse an die Stimmen taktweise ablösen, während die übrigen dazu in vollen Accorden und großartig-ruhigem Harmonienwechsel das »Leite mich« () declamiren. Zuletzt läßt je eine Stimme sich mit den Tönen:
auf verschiedenen Tonstufen vernehmen, gegen welche dann die übrigen in drängenden Sechzehnteln figuriren, endlich erschallt im h des Basses der durch mehre Takte hinaustönende Ruf, und unter und über ihm drängen die Stimmen leidenschaftlich nach oben, wie Arme, welche sich dem Retter sehnsüchtig entgegenstrecken. Es folgt eine Arie in D dur für Alt, Tenor und Bass, mit der zum ersten Male die Haupttonart verlassen wird, in der Form einer einfachen Choralstrophe. Da im Text vom Sturme die Rede ist, so figuriren die Bässe in malerischen Sechzehnteln und Achteln. Zwischen den Strophenzeilen ist zuweilen ein Takt Instrumentalspiel, auch werden dieselben hier und da durch kleine Imitationen etwas ausgedehnt, sonst verläuft alles ganz ebenmäßig. Wiederum geht der nächste Chor auf das Bibelwort zurück und singt mit Vers 15: »Meine Augen sehen stets zu dem Herrn, denn er wird meinen Fuß aus dem Netze ziehen.« Er beginnt in D dur, wendet sich aber bald über Fis moll wieder nach H moll. Der erste Theil ist homophon, aber von einem genialen Instrumentalspiel durchflochten und umkränzt, welches das sehnsüchtige Aufblicken zu dem Herrn eben so neu wie schön versinnlicht [441] in dem wetteifernden Aufstreben der Geigen über den leise wallenden Sechzehnteln des Fagotts. Der zweite Theil, eine Fuge mit selbständiger Betheiligung der Violinen, hat sein Charakteristisches ebenfalls durch die Vorstellungen erhalten, welche der Text hervorruft. Das verwickelte Stimmengewebe gleicht einem dicht gesponnenen Netze, und die Befreiung daraus wird unter anderm durch einen Octavenschritt nach aufwärts, mit dem das Wort »ziehen« erfaßt wird, und am Schlusse durch die gewaltsam hindurch drängenden Harmonien:
sprechend genug versinnlicht. Der letzte Chor endlich zeigt die von Bach genommene Richtung noch einmal nachdrücklich an. Er ist nichts weniger als eine auf den begleiteten Vocalkörper übertragene Ciacona. Daran daß diese ursprünglich ein Tanz war, brauchte sich Bach nicht zu stoßen. Denn längst war sie als eine zur Entfaltung polyphoner Kunst und Erfindungskraft höchst geeignete Form von den Clavier-und Orgelcomponisten so viel und frei behandelt, daß eine zerstreuende Erinnerung an ihre anfängliche Bestimmung schwerlich noch in jemandem aufkommen konnte. Pflegte man sie doch, wie G. Kirchhoff an der Melodie »Herzlich lieb hab ich dich« that, auch zum Orgelchoral zu benutzen. Aber ihre Uebertragung auf das Gebiet kirchlicher Vocalmusik war mindestens eben so neu, wie die der Buxtehudeschen Fugenform. Bach löste die unerhörte Aufgabe, in der es doch auch galt, Chor und Instrumente richtig gegen und mit einander wirken zu lassen, mit wunderbarem musikalischen Takte und Scharfsinne. Das Ciacona-Thema ist dieses:
In dem ersten Theile, welcher die sechs ersten Verszeilen verbraucht, wechseln die Instrumente in ruhigeren und bewegteren Gängen bald mit dem vollen Chore, bald mit einzelnen Stimmen desselben ab, und durch geschickte Ausweichungen nach D dur, Fis moll, A dur und E dur wird jede Spur von Eintönigkeit entfernt. Im zweiten Abschnitte (von Takt 53 an) wird die Haupttonart nicht mehr verlassen, aber über das simple Bassthema ein sechsstimmiger imitatorischer Bau gethürmt von größter Pracht und Fülle, »sieghaft« sowohl im Ausdruck wie in der Ueberwindung aller technischen Forderungen, so daß hierdurch nicht nur für den Schlußchor, sondern für das ganze Werk ein überragender Gipfelpunkt gebildet wird. Es kann für den Historiker keinen größeren Genuß geben, als in der fortschreitenden Betrachtung der älteren Kirchen-Cantate endlich auf Werke zu stoßen, wie dieses und die nächstfolgenden Bachschen. Man fühlt noch denselben Boden unter sich, aber ringsherum ist wie mit einem Zauberschlage alles verändert. Ein ungeahnter Reichthum der Erscheinungen dringt von allen Seiten herein: große Tonbilder von neuen, fremdartigen Formen und jedes fast anders, als das andre, Einzelgedanken von kühnem Wuchs und adlig-freiem Gebahren, poetische Stimmungen von einer Tiefe und Unaussprechlichkeit, daß es uns wie Schauer aus der andern Welt umweht. Diese Thatsache, die ohnehin in der Kunstgeschichte kaum ihres gleichen haben mag, wäre vollends unerklärlich und wunderbar, wenn sich nicht ihre instrumentalen Quellen nachweisen ließen, wie wir das zu thun versuchten und auch weiterhin thun werden. Was an Kunst-Resultaten und Erfahrungen auf einem andern Gebiete gewonnen war, wurde plötzlich mit energischer Hand in ein neues, spärlich gefülltes Wasserbette geleitet – was Wunder, [443] wenn der Strom rauschend dahin schoß! Freilich bleibt trotz dieses Nachweises noch genug zurück, was eben nur als Ausfluß von Bachs eignem Wesen begriffen werden kann, der ja auch auf instrumentalem Gebiete selbst erst einen großen Theil von dem produciren mußte, was er später als Material für seine Kirchenmusiken zu verwenden unternahm.
Die poetische Grundlage für die zweite der drei Cantaten bildet der gesammte 130. Psalm, in den die 2. und 5. Strophe des Kirchenliedes »Herr Jesu Christ, du höchstes Gut« verwoben sind80. Die Cantate steht in G moll und umfaßt fünf große Sätze; der Chor ist vierstimmig, neben der Orgel wirken als Instrumente mit eine Violine, zwei Violen, Bass, Oboe und Fagott. Der Text des Anfangschores lautet: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir. Herr, höre meine Stimme, laß deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens«, und bot von selbst die Gliederung in zwei Abschnitte dar, einen langsamen (Adagio3/4) und einen bewegten (Vivace) Voran geht eine Symphonie von der oben beschriebenen Art, in welcher Bach Gabrielis Kirchen-Sonate vollendete, daß nämlich über den breiten Accordlagen der andern Instrumente zwei obere, hier Oboe und Violine, einen imitatorisch fortschreitenden Satz ausführen. Das Motiv der Symphonie bildet auch dieses Mal der Hauptgedanke des angeschlossenen Chors:
eines wehmuthsvollen, weichen und für Bachs Gefühlsleben doppelt bedeutsamen Charakterstückes, wenn man es mit der tragischen Majestät jener riesenhaften Choralchöre »Ach Gott vom Himmel sieh darein« und »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir« aus seinen späteren [444] Mannesjahren vergleicht. Auch in der Form verläuft es wesentlich nach älterer Weise, ohne große Ausdehnung, homophon, mit den Instrumenten chorisch abwechselnd. Doch ist im 5. Takte vom Ende die frei einsetzende Septime ein wirkungsreicher, für damals kühner Zug. Leidenschaftlich erregt stellt sich das folgende Vivace dar, und ist zugleich formell vom höchsten Interesse, weil es in der Fugirung die auffallendsten Analogien zu der vorhin besprochenen viersätzigen Claviertoccate in D moll bildet. Wie im letzten Satze derselben, finden wir auch hier dem eigentlichen Fugenbeginn eine Exposition des Materials vorhergeschickt, indem das Thema zweimal von einer Stimme in verschiedenen Lagen vorgetragen und jedesmal wieder vom einfallenden vollen Chore unterbrochen wird. Vor allem aber: wie im zweiten Toccatensatze eine Doppelfuge aus demselben, für den Gegensatz nur wenig veränderten Thema entwickelt wurde – eine Erscheinung, die sich sonst unter Bachs Instrumentalwerken nicht wiederfindet – ganz genau so wird hier vom 12. Takte an verfahren:
[445] Und endlich: wie im zweiten Satze der gleichfalls besprochenen G moll-Toccate die Themen der Doppelfuge sich in der Octave beantworten, ebenso auch hier: erst beim dritten Einsatze ergreift das Vorderthema die Dominante, um sich von da aus wiederum in der Octave beantworten zu lassen. Solche Beobachtungen, über den formenschöpferischen Geist Bachs an sich schon äußerst belehrend, sind wie mir scheint auch das stärkste innere Beweismittel für eine gleiche Entstehungszeit. Es ist dieselbe Sache, wie mit den vorbereitenden Thema-Einführungen einiger früher erwähnten Fugen. Daß Bach auf solche Experimente der Willkür zu verschiedenen Zeiten seiner rastlosen Entwicklung zurückgekommen sei, ist so unwahrscheinlich, wie möglich. – In dem zweiten Satze, welcher den 3. und 4. Psalmvers mit der 2. Strophe des genannten Chorals combinirt, sehen wir Bach auf dem in der Rathswechsel-Cantate betretenen Wege fortschreiten, den Orgelchoral auf das Gebiet der Vocalmusik zu verpflanzen. Dort überwog noch allzusehr das rein musikalische Element, hier ist schon den poetischen Forderungen gebührend Rechnung getragen. Aus der Angst, welche die Worte des alttestamentlichen Dichters erfüllt: »So du willst, Herr, Sünde zurechnen, Herr, wer wird bestehen« zeigen mit evangelischem Trost den Ausweg die Zeilen:
Erbarm dich mein in solcher Last,
Nimm sie aus meinem Herzen,
Dieweil du sie gebüßet hast
Am Holz mit Todesschmerzen.
Die Psalmworte singt der Bass, den Choral der Sopran, natürlich Solo; dazu ist eine Oboenstimme gesetzt, welche wundersam klagend und wieder tröstend zwischen beiden und über ihnen schwebt; das Ganze stützt ein in Achteln wandelnder Continuo – also ein richtiges Quatuor! Sich in den Stil solcher Bachschen Stücke hinein zu finden, gelingt nicht einem jeden sogleich; den einzig sichern Schlüssel zum Verständniß bietet die Erwägung, wie er sich aus dem Orgelchoral gebildet hat. Absolute Hauptsache ist die Choralmelodie, deren ganzer poetisch-musikalischer Gehalt zu greifbarerer Objectivität entwickelt werden soll, als dies der reinen Instrumentalmusik möglich ist. So dient denn der gegensätzliche Bibelspruch, oder was[446] es sonst ist, nur dazu, das Gefühl tiefer aufzuwühlen und in quellenderem Ergusse an die Oberfläche zu ziehen, aber nicht dazu, dramatische Gegensätze mit einander in Kampf zu bringen. Dies zeigt außerdem in unserm Falle die hineinspielende Oboe, welche musikalisch genau so viel Bedeutung hat, als der singende Bass, mit wünschenswerthester Deutlichkeit. Eine Gesammtstimmung schließt alles ein, die zu möglichster Innigkeit gesteigert und doch wieder auf das äußerste verallgemeinert ist. Bach erreicht es, scheinbar unverträgliche Gegensätze zu einigen, den Choral zum Gefäß der subjectivsten Empfindungen zu machen, und ihm doch seine kirchliche Würde und Bedeutung zu wahren. Er fußte ganz auf jener in der ältern Kirchen-Cantate hervortretenden Richtung, wußte aber die isolirte Empfindsamkeit mit kräftiger Hand und zur Stärkung ihres eignen kränklich zarten Wesens wieder in den allgemeinen Zusammenhang einzufügen. Das Geflecht der contrapunctirenden Stimmen hängt so fest in einander, daß keine sich hervordrängen darf, ohne die Haltbarkeit desselben zu gefährden. Danach hat der Sänger seinen Vortrag zu bemessen. Er soll nicht mechanisch seinen Part heruntersingen, was er bei den überaus eindringlichen Wendungen auch garnicht vermögen wird, aber er soll sich im Mittelpunkte des Ganzen fühlen, den Gesang der gleichmäßigen Fülle des Orgeltones anähneln und alle leidenschaftlichen Ausschreitungen vermeiden. Für die choralführende Singstimme gilt dasselbe, obwohl hier die Gefahr des Dramatisirens weniger nahe liegt, so lange man sich nur irgendwie noch der Bedeutung einer Choralmelodie bewußt ist; um Bachs Intentionen ganz zu verstehen, wolle man sich besonders bei derartigen Gebilden erinnern, daß er seine Soprane und Alte mit neutralen Knabenstimmen besetzt hatte. Wer nun eine solche contrapunctirende Behandlung der Singstimme als stilwidrig tadelt, der muß überhaupt jede Art von vocalen Choral-Formen, außer den chormäßigen oder den einstimmigen mit Instrumentalbegleitung, als unberechtigt abweisen. Daß damit dann gewisse Stimmungsgebiete verschlossen werden, ist klar. Aber allerdings muß Bach solcherlei Erwägungen angestellt haben, denn er fand bald noch eine andre und in gewisser Hinsicht vorzüglichere Form; in späteren Jahren aber zog er sich in der That immer mehr auf die ebengenannten beiden Behandlungsarten zurück. – Der im zweiten Satze angstvoll gesuchte [447] Trost wird im dritten erhofft, wenn auch noch nicht gefunden: »Ich harre des Herrn, meine Seele harret, und ich hoffe auf sein Wort.« Ergreifend wirkt nach dem trüben G moll der ruhige Anfang des Chors in Es dur, da diese Tonart im vorhergehenden Stücke so gut wie garnicht berührt war. Lange wird jedoch nicht darin verweilt, die im 6. Takte einsetzende Fuge durchwandelt nur Molltöne. In F moll beginnend erhebt sie sich largo über C moll und G moll nach D moll, um sodann nach G moll abschließend zurückzusinken. Dieses sinnvolle Herauftauchen aus dunkleren in hellere Regionen ist aber nur ein einziger Zug des Stückes, das man von allen Seiten nur mit Bewunderung und Rührung betrachten kann. Es gehört zu den schönsten Erzeugnissen Bachs überhaupt: inbrünstigere und edlere Töne der Sehnsucht sind wohl niemals erklungen, reicher und gesättigter kann kein Tonquell sich ergießen. So wie sich von gewissen früheren Claviersonaten Beethovens sagen läßt, daß sie von späteren Werken wohl an Kühnheit des Ideenflugs überboten werden, aber doch des Meisters reine und hohe Künstlerseele schon in vollster Originalität und vollendetster Form ausprägen, so daß man nicht weiß, was weiter zu wünschen wäre, ebenso sind Bachs spätere Chöre wohl viel höher und majestätischer gebaut, aber keiner unter ihnen ist meisterlicher, keiner unmittelbarer das Herz bewegend. Das folgende Beispiel bietet, um wenigstens von dem Thema und der herrlichen Begleitung einen Begriff zu geben, die Anfangstakte:
[448] Wie alles immer reicher sich gestaltet, die Thema-Einsätze immer überraschender, leidenschaftlicher ertönen, das zur Vorstellung zu bringen müßte man die ganze Fuge mittheilen. – Der vierte Satz entspricht dem zweiten: im Alt liegt die fünfte Choralstrophe, im Tenor der sechste Psalmvers, dazu im Continuo einbasso quasi ostinato, wie wir ihn aus Böhms Orgelchorälen kennen lernten. Der Gesang des Tenors ist sehr melodisch und die Gesammtstimmung weniger trüb als im zweiten Satze, wie es psychologisch auch geboten war, doch scheint das Stück etwas zu ausgedehnt, und besonders sind die Zwischensätze zwischen den Choralzeilen so lang, daß man das Gefühl[449] für deren Zusammengehörigkeit verliert. An der Wahl der Choralstrophe fällt noch auf, daß sie im Kirchenliede nur den Vordersatz zur folgenden bildet; man muß sie, wenn sie nicht ganz in der Luft schweben soll, als Nebensatz zum Texte des vorigen Chores auffassen, wobei freilich das »Und« immer unverständlich bleibt. – Der fünfte Satz ist natürlich wieder ein Chor und umfaßt die abschließenden Verse: »Israel hoffe auf den Herrn; denn bei dem Herrn ist die Gnade und viel Erlösung bei ihm. Und er wird Israel erlösen aus allen seinen Sünden.« Da auf dem letzten Gedanken das Hauptgewicht liegt, so hat Bach die vorangehenden wie zur Einleitung in drei durch Tempowechsel unterschiedenen Chorsätzchen behandelt, von denen besonders der mittlere durch herrlichen Ausdruck sich hervorhebt, während der erste mit seinen echoartigen piani und kleinen Imitationen sich mehr in den conventionellen älteren Formen bewegt, und der letzte etwas instrumental zerhacktes hat. Jener Hauptgedanke aber ist zu einer trefflichen, dem Charakter nach ernsten und gefaßten Tripelfuge verwendet; daß ein heller Freudenchor nach allem vorausgegangenen nicht den Schluß bilden dürfe, hat der Componist jedenfalls gefühlt. In der Durchführung von drei Themen aber tritt uns wieder der Instrumentalcomponist entgegen, denn der Text gab dazu durchaus keine Veranlassung. Ist es eine billige Forderung, daß in der Vocalfuge jedes Thema auch einen selbständigen poetischen Gedanken repräsentire, so hat hier Bach einen ästhetischen Fehler begangen. Wenn es aber sein Grundsatz war, das Individuelle der Gesangstimmen möglichst auszulöschen und in ein Allgemeines aufzulösen, so ist er sich hier nur consequent geblieben. Die Berechtigung dieses Grundsatzes für die Kirchenmusik ist selbstverständlich eine volle, und darin besteht ja Bachs einzigartiges Verdienst, daß er in einer Zeit des allgemeinen Gefühls-Egoismus in Kirche und Theater das subjective Wollen zur Demuth beugte vor den Erhabenheiten der Religion. Nur werden doch immer die Menschen nicht gänzlich als Singmaschinen anzusehen sein, und es giebt eine Gränze, die nicht überschritten werden darf. Bach aber beginnt die Fuge so:
[450] verhindert also durch das Zusammenfallen von Worten, die nach einander gehört werden müßten, daß der einzige poetische Gedanke, der das Ganze beherrscht, klar ins Bewußtsein trete. Dies ist ein Uebermaß instrumentaler Anlage, was man nicht gutheißen darf, und man muß es bezeichnend nennen, daß Schüler und Verehrer Bachs Lust verspürten, diese Fuge als bloßes Orgelstück zu executiren81.
Die dritte Cantate ist unter dem Namen Actus tragicus, oder nach ihrem Anfange: »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit« überall bekannt82. Aus dem Inhalte ergiebt sich ihre Bestimmung für die Todtenfeier eines wahrscheinlich schon bejahrten Mannes, auf den man Simeons Gesang: »Mit Fried und Freud fahr ich dahin« anwenden konnte. Im herzoglichen Hause kam ein solcher Todesfall in jener Zeit nicht vor, denn der Prinz Johann Ernst starb als Jüngling, und auch dann erst, als Bachs Compositionsweise schon eine ganz[451] andre war. Vielleicht galt die Cantate dem letzten Rector der weimarischen Schule vor deren Reorganisation, dem Magister Philipp Großgebauer, dessen Tod in das Jahr 1711 fällt83; ich weiß wenigstens keine andre Veranlassung ausfindig zu machen. Der Gegensatz zwischen alt- und neutestamentlichem Geiste, zwischen dem Zorn des strafenden Gottes und der versöhnenden Liebe Christi, welcher schon im 130. Psalm künstlerisch ausgebeutet wurde, bildet von dieser Cantate so sehr den Kern und Schwerpunkt, daß man sieht: Bach war sich der musikalischen Ergiebigkeit desselben nunmehr voll bewußt geworden. Um deswillen halte ich sie für später geschrieben, als den Psalm, obgleich ihr Chöre von solcher Fülle und Macht, wie dort, nicht eigen sind. Sie hat vielmehr einen ganz intimen, noch viel mehr verinnerlichten Charakter, und dabei einen Tiefsinn und eine Innigkeit, die bis an die äußersten Gränzen des künstlerisch Darstellbaren gehen. Die Anordnung des poetischen Stoffes ist vortrefflich; nicht alles darin besteht aus Bibelstellen und Choralversen, und in einigen frei zugefügten, angemessen ausgedrückten Gedanken möchten wir gern Bachs eignes Werk erblicken. Dann würde auch die poetische Gesammtgestaltung mit Grund ihm zuzuschreiben sein. Eine zartschwebende Sonate (Es dur Molto adagio) für zwei Flöten, zwei Gamben und Continuo, in welcher gewisse Wendungen aus den Mittelsätzen der Cantate vorangedeutet werden, leitet ein; diese Instrumente werden während der Dauer des Werkes durch keine andren ersetzt und geben ihm ein verhülltes und träumerisches Colorit. Der erste Chor: »Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit. In ihm leben, weben und sind wir, so lange er will. In ihm sterben wir zu rechter Zeit, wenn er will«84, drückt zunächst nur das Gefühl der Abhängigkeit von Gott in Leben und Tod aus, und auf dem ersteren Moment liegt gar der größere Nachdruck, da nach wenigen schönen Takten langsamer Bewegung sich über dem zweiten Textsatze eine lebhafte Fuge entspinnt, so recht eindringlich die bunte Beweglichkeit des Erdenlebens schildernd. Erst mit dem letzten Textsatze (Adagio assai), dem nur sieben, aber tief ausdrucksvolle Takte [452] in C moll gegönnt sind, sinken Todesgedanken wie verdüsternde Nebel herab, und nach dem bangen Halbschlusse »wenn er will« erwarten wir unsicher, was kommen wird. In derselben Moll-Tonart (Lento) lenkt nun der Tenor mit den ernsten Worten des 90. Psalms: »Ach Herr, lehre uns bedenken, daß wir sterben müssen, auf daß wir klug werden« den Sinn nachdrücklicher auf unser gemeinsames Menschenloos. Ein traurig klingender Gang der Flöten, von den übrigen Instrumenten getragen:
wiederholt sich – gleichsam eine umgekehrte Ciacona – immer von neuem, wie ein nagender, nie ablassender Gedanke; er bleibt lange in der Haupttonart, wendet sich dann nach G moll und über Es dur nach C moll zurück und bildet das eigentliche Motiv des Ganzen. Der arios gehaltene Gesang flicht sich, von Pausen oft unterbrochen, hinein. Und jetzt naht das bang Erwartete wirklich! »Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben«, so tönt es, wie einstmals aus dem Munde Jesaias' zum Könige Hiskia, nun im düstern Gebot des Basses, und augenblickliche Folge heischt der furchtbar ausdrucksvolle Schluß. Und wenn wir im Angesichte der Vernichtung fragen: Warum?, so lehrt der Psalmist: Das macht dein Zorn, daß wir so vergehen, und dein Grimm, daß wir so plötzlich dahin müssen. Denn unsere Missethat stellest du vor dich und unsere unerkannte Sünde ins Licht vor deinem Angesicht. Auf diese finstere Anschauung sich beziehend beginnt der Chor einen neuen Satz, denn das Bass-Solo bildete zu dem Tenor-Solo formell den zweiten Theil, über die Worte aus Jesus Sirach 14, 18: »Es ist der alte Bund: Mensch, du mußt sterben« (F moll Andante). Wir stehen vor dem Hauptstücke des Werks. Drei musikalische Mächte bedingen seine Gestaltung. Zuerst über einem gleichmüthig wandelnden Continuo die drei tieferen Stimmen in Doppelfugirung des eben genannten Spruches. Ihnen gegenüber der Sopran allein mit den Worten der Hingebung und des Verlangens: »Ja komm, Herr Jesu!« Endlich die Flöten und Gamben dreistimmig mit der Melodie des alten Sterbeliedes:
Die Absicht ist klar: der Fluch des Todes hat sich durch Christi Erscheinung in Segen verwandelt, und was der Mensch vordem mit Entsetzen floh, dem streckt er jetzt verlangend die Arme entgegen; die Seligkeit des neuen Zustandes erscheint in zauberischer Glorie auf dem dunklen Hintergrund einer überwundenen Religionsanschauung. Dies ist die Idee der concertirenden Singstimmen; und daß Tausende auf Tausende im Glücke dieses Glaubens sich vereinigen, das sagt der nun sich einmischende Choral, in dessen wortlosen Klängen sich für den Verstehenden der ganze Inhalt des so mild vom Trost in Todesnoth redenden Liedes zusammenzieht, Klänge, die in jedem frommen Gemüthe die Summe dessen wachrufen, was er empfand, so oft im Wechsel des Lebens ihm dieser Choral sich darbot, sei es zur Theilnahme an Anderer Leid, sei es um des Herzens eigne Bangigkeit in Gott zu beschwichtigen. Diese Klänge sind es, die den ganzen Gefühlsstrom zu sich aufziehen. Sie bauen einen unsichtbaren Tempel um und über uns her, in dessen Wölbungen der Gesang tausendfältig widerhallt und sich fortsetzt. Freilich in demselben Maße verliert er an Deutlichkeit und wird weniger verständlich. Vor der im 130. Psalm angewendeten Form, welche auch den Choral einer Singstimme zuertheilt, hat diese den Vorzug, daß die contrapunctirenden Singstimmen nicht zu tief ins Instrumentale hinabgedrückt werden, da sie sich Flöten, Geigen oder Oboen gegenüber viel freier geltend machen können. Aber die eigentliche Hauptsache, der Choral, verschwimmt ins Mystisch-Unbestimmte, zumal wenn er wie hier durch Umspielung und Zerdehnung von seinem stetigen Gange oft abweicht, und verflüchtigt mit sich den ganzen [454] übrigen Gehalt. Nur für Stimmungen, welche uns die tiefsten Mysterien des Daseins ahnen lassen sollen, ist die Form wunderbar geeignet, und wahrlich, wer beugte sich nicht vor der Größe des Genius, welcher dem jugendlichen Künstler hier den Weg wies! Vom technischen Standpunkte betrachtet, was ist es weiter, als ein übertragener Orgelchoral in Böhms Manier mit Zwischensätzen aus selbständigen Motiven? Und doch, wie ist die Form so ganz und gar einer neuen, erhabenen Idee dienstbar gemacht; wie ist andrerseits die Idee so völlig in die Form aufgegangen! Diese fordert mit der bei Orgelstücken am wenigsten erläßlichen Consequenz die Wiederkehr des motivischen Materials nach jeder Choralzeile, und eben hierdurch erhält auch das kirchliche Vocalstück sein gattungsgemäßes Gepräge. Die Gegenüberstellung der gesetzhaften und evangelischen Anschauung vom Tode, so könnte man meinen, sei von Bach dahin entwickelt, daß jene, wie sie von dieser in Wirklichkeit besiegt wurde, entsprechend auch im Kunstwerk mehr und mehr zurückgedrängt werde und zuletzt ganz verstumme. Das wäre ein dramatischer Conflict jener beiden Mächte, aber alles dramatische liegt, wie es überhaupt der echten Kirchenmusik fremd ist, gänzlich außerhalb des Gebietes der Bachschen Kirchencantate. Gluck läßt vor dem Gesange des Orpheus die Furien allmählig zurückweichen und ihm das Feld räumen, bei Bach bleibt das drohende Bild des »alten Bundes« bis zuletzt auf dem Platze. Es gilt immer nur die dem Gegensatze entströmende lyrische Gesammtstimmung, ebenso wie in den Choralstücken der Raths-Cantate, des 130. Psalms und überall sonst. Das Streben nach größtmöglicher Intensität des Gefühlsergusses ist es denn auch, was Bach mit dem durch die beschriebenen Mittel Erreichten sich noch nicht begnügen läßt. Einige Momente, die mit dem Kunstmaterial nicht nothwendig zusammenhängen, müssen die beabsichtigte Wirkung vollenden. Zunächst sind die Worte des Soprangesanges der Offenbarung Johannis entnommen (22, 20), diesem Erzeugnisse hochfliegender religiöser Schwärmerei, und leiten die Stimmung derselben mit all ihren geheimnißvollen Schauern auf den bibelkundigen Hörer hinüber86. Und was ist das [455] für eine flackernde Bewegung der tiefliegenden Flöten nach dem letzten Choraltone und der irre Triller, der erstirbt, ohne zum Ende zu kommen?:
»Wenn mein Herz und Gedanken
Zergehn als wie ein Licht,
Das hin und her thut wanken,
Wenn ihm die Flamm gebricht« –
diese Worte eines herrlichen alten Liedes, zu dem vor mehr als hundert Jahren ein weimarischer Cantor, Melchior Vulpius, die Melodie gesetzt hatte87, geben die Antwort. Gewiß! sie waren es, die dem tiefsinnigen Tondichter vorschwebten und ihn zu jenem einzigen Tonbilde inspirirten, wenn die tiefern Stimmen ihren Sterbefluch murmelnd zuletzt in Dreiklängen unter Gegenbewegung der Gamben leise aufwärts ziehen und wie Nebel in Luft zerrinnen, der Sopran aber über den schwächer und schwächer pulsirenden Bässen einsam hängt wie ein schwankender Falter über dem Abgrund, und als endlich alles todtenstill geworden ist, sterbend den Namen »Jesu« haucht. Man erwäge zusammenfassend noch einmal, aus wie vielen Quellen Bach die Gefühlsströme zusammenleitet, um die Stimmung so zu mischen, wie sie seine Phantasie erfüllte. Alttestamentlicher Schrecken, evangelische Tröstung, Erhebung zu kirchlicher Gemeinschaft, verzückte Hoffnung auf unsägliche Herrlichkeit, das ergreifende Bild menschlicher Hinfälligkeit, über wel che dennoch der Geist triumphirt, und als dichter Kern in dieses unstet schillernde Farbenmeer ein fest und einfach gefügter musikalischer Organismus. Wer es vermag, alle diese verschiedenen Elemente zusammenfassend zu empfinden, der wird in seinem Innern Unerhörtes erleben. Aber sicher ist auch, daß bei einer so ausgedehnten Herbeiziehung subjectiver Nebenempfindungen zur Construction eines Kunstwerks von einer allgemeinen Wirkung nicht die Rede sein kann. Wenn Bach [456] kein zweites Stück von dieser Art geschrieben hat, so wußte er, warum?
Der Weg des Trostes ist gezeigt; nun faßt das Vertrauen auf Christi erlösendes Werk immer tiefere Wurzeln. Mit Umschreibung seiner am Kreuz gesprochenen Worte singt der Alt zu unbeschreiblich milden und innigen Weisen: »In deine Hände befehle ich meinen Geist; du hast mich erlöset, Herr du getreuer Gott« (B moll ). Nur der Continuo begleitet und stellt mit seinem fünfmal wiederkehrenden Bass-Motiv eine Form her, die aus Ciacone und Böhmschem Orgelchoral combinirt erscheint. Ja! das inbrünstig betende Gemüth glaubt des Erlösers eigne Worte an sich gerichtet zu hören, wenn nun der Bass, wie antwortend und ebenfalls arioso, einsetzt: »Heute wirst du mit mir im Paradiese sein«. Nach dem Empfang dieser Verheißung strömt wie unwillkürlich Simeons Sterbelied aus der beruhigten Brust: »Mit Fried und Freud fahr ich dahin in Gottes Wille«, mit dem sich der Alt dem Basse zugesellt, während dieser seinen herrlich ausdrucksvollen Gesang fortsetzt und zwei hinzutretende selbständige Gamben das Bild vervollständigen. So wird die Einzelempfindung wieder zum kirchlichen Gesammtgefühl geläutert, und dies tritt auch darin noch besonders hervor, daß der Bass den Choral nur bis zur Hälfte seines Weges begleitet, dann verstummt und ihn allein weiter ziehen läßt, da nichts mehr zu sagen ist, was der Choral mit seiner tiefsinnig ausdeutenden Instrumentalbegleitung nicht schon in sich trüge. Hiermit schließt dieser vierte Satz ab, der von dem anfänglichen B moll mit Eintritt der Choral-Melodie nach C moll zurückkehrte, um von da aus den Schlußchor in der Haupttonart zu erreichen. Seine ganze Anlage weist klar darauf hin, daß der Choral nur durch eine Solostimme zu besetzen ist, obwohl neuerdings mehrfach die entgegengesetzte Ansicht laut wurde. Auch Analogien aus andern Cantaten sprechen dafür, z.B. aus »Ein feste Burg ist unser Gott«, wo der choralführenden Stimme Figurirungen vorgeschrieben sind, die nur ein Solosänger ausführt, ganz abgesehen davon, daß mehrfache Besetzung zu der contrapunctirenden Singstimme leicht ein unschönes Verhältniß ergiebt. Im übrigen ist bei solchen Fragen nicht zu vergessen, daß ein so merkbarer Klangunterschied zwischen Solo und Chor, wie wir ihn jetzt gewohnt sind, für Bach überhaupt nicht existirte. [457] Die eigentliche Vocalcapelle hatte nur doppelte Besetzung, und selbst wenn die Ripienchöre der Capellknaben und vielleicht einiger Adjuvanten hinzukamen, was aber nur bei vollen Chorsätzen zu geschehen pflegte, zählte doch sicherlich nie eine Stimme mehr als fünf Repräsentanten. Selbst wenn also Bach mehrfache Besetzung zugelassen hätte, würde eine Chorausführung mit den heutigen Massen dadurch immer noch nicht berechtigt; ebenso würde aber auch eine Benutzung von zwei oder drei Stimmen in solchen Fällen, wenn nur das akustische Ebenmaß nicht gestört wird, ästhetischen Bedenken nicht unterliegen. Das Vivace des Basses »Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben« ist sicherlich ebenfalls nur für Solo-Bass beabsichtigt, oder man müßte den vorhergehenden Tenor-Gesang, der formell ganz eng mit ihm zusammenhängt, auch dem Tutti zuschreiben. Man sieht ja gleich, daß das Verhalten beider Stimmen zu einander ganz dasselbe ist, wie im vierten Satze zwischen Alt und Bass. Ueberhaupt weist der Charakter der Cantate größere Massen ab mit etwaiger Ausnahme der Ecksätze, in denen, wenn irgendwo, die Ripienchöre allein mitgewirkt haben werden88. Diese beiden Sätze entsprechen sich in ähnlicher Weise, wie die Sätze 2 und 4, so daß der F moll-Satz als eigentlicher Kern von doppelten, correspondirenden Gliedern eingeschlossen wird. Der letzte Chor besteht aus dem sogenannten fünften Gloria zur Melodie »In dich hab ich gehoffet, Herr«:
Glori', Lob, Ehr und Herrlichkeit
Sei Gott, Vater und Sohn bereit't,
Dem heilgen Geist mit Namen.
Die göttlich' Kraft
Mach uns sieghaft
Durch Jesum Christum. Amen.
Die Behandlung des Chorals ist mit ihren melismatischen Ausschmückungen, Zwischenspielen und der Gestalt des Vorspiels noch jene ältere, die uns aus Buxtehudes Cantaten bekannt wurde. Die Zeilen werden in breiter vierstimmiger Harmonie vorgetragen, die letzte aber dient als Fugenthema; ein Gegenthema auf »Amen« in [458] Sechzehnteln gesellt sich dazu und imAllegro rauscht das glänzende Stück dahin. Durch das spätere Hinzutreten der Instrumente, durch die endliche Vergrößerung des Themas im Sopran wird eine fortwährende Steigerung hervorgebracht. Darnach wird es besonders bemerkbar, daß die letzten Accorde des Chors mit einem instrumentalen Echo im piano verhallen, eine übrigens damals beliebte Schlußart, welche wohl einem Orgeleffect ihren Ursprung verdankt und auch schon in der Hochzeitscantate sich findet. Hier sollen diese Accorde, die, um zur Geltung zu kommen, breit und etwas zurückhaltend vorgetragen werden wollen, dem Hörer die Grundstimmung des Ganzen lebendig erhalten89. Es liegt aber auf der Hand, daß auch in der Stimmung dieser Chor das Gegenbild des ersten ist. Wie dort von dem Leben in Gott ausgegangen wurde, so behält auch hier der Gedanke des Lebens durch göttliche Kraft endlich Recht, wenngleich gedämpft durch den Gegensatz des Todes. Und so soll es sein; die weltabgewendeten Betrachtungen am Grabe eines theuren Entschlafenen sollen wir durch das Bewußtsein sittlicher Lebenspflicht zurückzudrängen lernen.
So steht ein abgerundetes, in allen Theilen fest gefügtes, und von innigster Empfindung bis in die feinsten Spitzen erwärmtes Kunstwerk vor uns. Die Bewunderung, welche es seit seinem erneuten Bekanntwerden allgemein gefunden, erfährt es mit Recht. Mit der zeitlich wie innerlich nahestehenden Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« ist diese aus den etwa hundert jetzt veröffentlichten Bachschen Cantaten die beliebteste geworden. Ganz naturgemäß hat sich der musikalische Instinct dieser jugendlich weicheren und das Gemüth unumwundener ansprechenden Religiosität eher zugewendet, als der strengen Hoheit späterer Compositionen. Denn nicht durch das Medium der Kirche fand unsere Zeit zu Bach wieder den Zugang, sondern durch das der abstracten Musik: seine Instrumentalcompositionen waren niemals ganz vergessen gewesen. Einen ähnlichen Weg nahm der Meister selbst, der von der Orgel und dem Clavier ausgehend zuerst der persönlich empfundenen älteren Kirchencantate [459] stärkend verallgemeinernden Inhalt zuführte und sich von ihr aus mehr und mehr dann zur kirchlichen Erhabenheit aufschwang. In dieser Uebereinstimmung begründet sich die Hoffnung auf ein fortschreitend wachsendes Verständniß unserer Zeit auch für die spätere Bachsche Kirchenmusik, in welche jene früheren Cantaten gradesweges hineinführen. Freilich, wie dieselben mehr als bloße Vorstufen, wie sie in sich vollendete Kunstwerke sind, so besitzen sie auch gewisse Eigenschaften, welche den nachfolgenden Werken fehlen. Die Texte haben den erheblichen Vorzug, größtentheils aus gehaltreichen Bibelsprüchen und Kirchenliedern zu bestehen, an deren Stelle in der neueren Cantate eine oft sehr wässrige Reimerei trat. Die Musik ist leichter ausführbar, besonders auch wegen der sehr zurückhaltenden Verwendung der Blasinstrumente. Vor allem aber herrscht hier eine Ursprünglichkeit, die auf jede, auch die nebensächlichste Forderung ihr Bestes giebt, die zuweilen vielleicht zuviel thut, aber überall das Gefühl einer unerschöpflichen Kraft erweckt. Nicht nur die einzelnen Gedanken, auch die Gesammtformen, alles ist von Grund aus neu. Man beachte nur die fabelhafte Mannigfaltigkeit und Fülle der Formen, welche unsere drei Cantaten umschließen, und wie diese Formen garnichts bloß beabsichtigtes haben, sondern sämmtlich mit bewundernswerther Kraft ausgestaltet sind. Als Bach sich bald darauf mit der italiänischen Da capo-Arie vertraut gemacht hatte, wurde er einer Kraftverschwendung inne, da er in jener vieles einfacher und darum besser sagen konnte, ohne seiner Originalität etwas zu vergeben, während nach andern Seiten seine Begabung für das Schaffen von Gesammtformen noch offenes Feld genug behielt. Erleichterte er sich hierdurch die Production, so stellte sich doch auch wenigstens die Möglichkeit des Formalismus ein, dem er in Wahrheit freilich höchst selten verfiel, für den aber in seinen älteren Cantaten auch gänzlich die Bedingungen fehlten. Wer diese mit jenen vergleicht und wohl aus ihnen zu begreifen sucht, dem müssen sie wie von allem stofflichen losgelöst in einer Welt für sich schwebend erscheinen. Wenn es gelungen ist, die Stellen nachzuweisen, wo sie dennoch ihre Wurzeln in das damalige musikalische Erdreich einsenken, so ist damit zugleich der Vorwurf der Formlosigkeit entkräftet, der nur mit [460] Uebersehung des historischen Zusammenhanges erhoben werden konnte90.
Fußnoten
90 In einem Briefe an O. Jahn (mitgeth. Grenzboten, Jahrgang XXIX. S. 95 f.) sagt M. Hauptmann, begründetes Lob mit unbegründetem Tadel vermischend: »– Da ward gestern im Euterpeconcert Bachs ›Gottes Zeit‹ aufgeführt; was ist das für eine wundervolle Innerlichkeit, kein Takt Conventionelles, Alles durchgefühlt. Von den mir bekannten Cantaten weiß ich keine, in der für die musikalische Bedeutung und ihren Ausdruck Alles und Jedes so bestimmt und treffend wäre. Wollte man und könnte man sein Gefühl aber für diese Seite der Schönheit einmal verschließen und das Ganze als ein musikalisch-architektonisches Werk betrachten, dann ist es ein curioses Monstrum von übereinander geschobenen, ineinander gewachsenen Sätzen, wie sie die ebenso zusammengewürfelten Textphrasen sich haben zusammenfügen lassen, ohne alle Gruppirung und Höhenpunct« u.s.w. Andre Aeußerungen Hauptmanns über die Cantate in seinen Briefen an Hauser (Leipzig, Breitkopf und Härtel) I, 86 und II, 51. Daß Mendelssohns eminentes Kunstgefühl das Verhältniß zu den späteren Bachschen Cantaten sicher herausfand, ist höchst bemerkenswerth (Briefe II, 90).
IV.
Während Bach in stiller, gesammelter Thätigkeit seinen reinen Idealen nachtrachtete, gingen draußen in der Welt die trüben Fluthen eines gedankenlosen Kunsttreibens höher und höher, und näherten sich in bedrohlichem Andrange auch jenem Gebiete, das noch als Stätte ernster Besinnung auf des Menschenlebens höchste und letzte Ziele gegolten hatte. Die Oper war es, welche durch inländische und fremde Künstler im Wetteifer gefördert mehr und mehr alles Interesse an sich zog. Von den Italiänern am Beginn des 17. Jahrhunderts gewissermaßen erfunden, als ein Luxus für die Fürstenhöfe bald nach Deutschland verpflanzt, aber durch den großen Krieg am Emporkommen verhindert, schoß sie in den letzten Jahrzehnten üppig empor, nicht ohne nationale Eigenthümlichkeiten, besonders seit auch der Bürgerstand nach dem Vorgange Hamburgs sich ihrer bemächtigte. Bald jedoch wurde sie wieder von den originalern und für diese Art begabteren Ausländern ganz abhängig und kehrte in dieser Gestalt noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts an die Fürstenhöfe als ihre angemessenste Pflegestätte ganz zurück, um dem Glanze, der Verschwendung, der Zerstreuung zu dienen: in ihrer Gattung [461] ein blattreiches, doch fruchtloses Gewächs auf deutschem Boden. Was der Oper fördernd bei uns entgegen kam, ist zum Theil wenig rühmlicher Natur. Ein mattlebiges, unkräftiges Geschlecht, ermangelnd aller höheren gemeinsamen Ziele und zu ernsterem Kunstgenusse unfähig, fand in den bunten sinnlich bestechenden Gaukelbildern, deren Stoffe ihm meistens eben so fremd wie gleichgültig waren, nur das erwünschteste Mittel, die Jämmerlichkeit des wirklichen Daseins zu vergessen. Allein es gab doch auch edle, ernst ringende Geister, welche in die unversehrt gebliebenen Tiefen des Menschenthums zurückgingen und von dort aus zu neuen und bessern Verhältnissen zu gelangen strebten; es gab als Anzeichen wieder erwachender Kräfte eine Anzahl frischer, reich begabter Künstler, welche der eignen Existenz gespottet hätten, wenn sie ihre Gaben nur zur dumpfen Belustigung hohler Massen hätten vergeuden wollen. Da trotzdem die Hingabe an die Oper eine fast allgemeine war, so mußte noch ein tiefer liegender Grund hierfür vorhanden sein, und dieser ist in der That bald zu erkennen. Die Richtung der gesammten musikalischen Kunst der letzten drittehalb Jahrhunderte ging, hierin dem allgemeinen Zuge der Zeit entsprechend, immer mehr auf Herausbildung des Individuellen hin; die Persönlichkeit, durch die mehrstimmige Musik der vorhergehenden Periode gebunden gehalten, verlangte das Recht, ihre eigensten Empfindungen, zu äußern. Hier für die Mittel und Formen zu erfinden vermochten die Deutschen zwar nicht: die Eigenart ihrer Begabung und die Ungunst der Zeiten hinderten sie daran. Aber nachdem ihnen die Italiäner vorgearbeitet hatten, konnten doch nur sie es sein, die das Gewonnene in der bezeichneten Richtung fortbildeten, weil keinem andern Volke so tief das Streben nach Individualisirung inne wohnt; seit dem Beginne des 18. Jahrhunderts übernahm Deutschland unter den musikalischen Völkern die Führerschaft und hat sie bis heute behauptet. In der damaligen Oper nun fand jenes Streben die schrankenloseste Genüge, da sie fast nur aus Sologesang bestand, auch den dramatischen Organismus zur Maschine für Herbeiführung solistischer Gelegenheiten erniedrigte und also der Persönlichkeit weder musikalische noch poetische Fesseln anlegte. Wo alles endlich auf die Befriedigung virtuosischer Eitelkeit hinauslief, konnten lebenskräftige Kunstwerke von veredelnder Wirkung nicht erstehen. Aber nur die [462] Art, wie der herrschende Drang sich äußerte, war verfehlt, weil er in unüberlegter Nachahmung sich abarbeitete, an sich war er berechtigt und gesund, ein natürliches Resultat geschichtlicher Entwicklungen. So hat denn zwar die Oper jener Epoche auf ihrem eignen Gebiete es zu keinen bleibenden Leistungen gebracht, mittelbar aber die Gattungen, in welchen die damalige vocal-instrumentale Kunstentwicklung gipfeln sollte, die Cantate Bachs nebst dessen Passionen und das Händelsche Oratorium in der Weise beeinflußt, daß in diesen die reinsten Ergebnisse ihrer Pflege, natürlich neben mannigfachen andern Elementen, zu erkennen sind.
Die persönliche Empfindungsweise hatte seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts auch in der Kirchenmusik schon merklich Platz gegriffen. Allein für einen umgestaltenden Einfluß war hier die Gelegenheit vorläufig ungünstig, sowohl aus historischen Gründen, da die Kirchenmusik an eine Vergangenheit herrlich blühenden chorischen Gesanges sich noch immer anlehnte, als aus ästhetischen, da die Heiligkeit des Gegenstandes anmaßlichen Gefühlsäußerungen des Einzelnen zu wehren schien. Erst als auf dem Gebiete, wo der Einzelgesang gattungsbestimmender Factor war, die neue Musikweise sich voll Kraft gesogen und einen sympathischen Widerhall in den Herzen der Menschen überall geweckt hatte, klopfte sie dreist auch an die Pforten der Gotteshäuser und brauchte, durch allgemeine Gunst empfohlen, auf willigen Einlaß nicht zu warten.
Zweierlei hauptsächlich war es, worauf sie ihre eindringende Wirkung stützte: das Recitativ und die Arie. Den recitirenden Gesang in seiner älteren Form und noch sehr gebundenen Bewegung hatte die Kirche bereits recipirt. Es war daraus das Arioso geworden, was gern zum Einzelvortrag von Bibelworten verwendet wurde und mit ziemlich reicher Instrumentalharmonie ausgestattet einen meist formlosen aber doch nicht grade unwürdigen Eindruck machte. Dagegen hatte sich das Recitativ allmählig auf dem Theater zur größten Biegsamkeit und Beweglichkeit ausgebildet; es war geworden, was es sein soll, ein Sprechen in fixirten Tonhöhen auf einfachster Harmoniegrundlage, fähig zugleich den leidenschaftlichsten Regungen Ausdruck zu geben, ohne diese in geschlossener Form zu objectiviren. Die Arie, vorher mit dem ein- oder mehrstimmigen und durch Ritornelle geschmückten Strophenliede gleichbedeutend, [463] hatte trotz ihres empfindsamen Charakters doch in dem Zwange, welcher alle Strophen einer Melodie unterordnete, eine gewisse Schranke gegen die Subjectivität gehabt. Mehr und mehr aber verschaffte sich nun die italiänische Arie Eingang, welche in breiter dreitheiliger Form cyklisch abgerundete und eine Stimmung dialektisch erschöpfende Tonbilder hinstellte. Diese beiden neuen Formen des Solo-Gesanges, zur Aufnahme des freiesten Empfindungsausdrucks in vollendeter Weise geeignet, bedurften aber, um sich voll entfalten zu können, einer entsprechenden textlichen Grundlage. Das Deutsch der lutherischen Bibel war für das geschmeidige Recitativ zu fest gefügt und wuchtig, schien auch wohl wegen seines ehrwürdigen Inhalts mit dem flüchtigen Sprechgesange nicht vereinbar. Für die Arie kam es der dreitheiligen Form zu wenig entgegen und widersprach mit seinem großartigen Empfindungsgehalte dem Sologesange überhaupt. Die kirchliche Dichtung jener Zeit aber mit ihrem zu wenig concentrirten Wesen und mit dem engen Reimgefüge, dem kurzathmigen Zeilenbau ihrer Strophen und nun gar die in der dramatischen Poesie herrschenden klapprigen Alexandriner waren für einen frei strömenden Erguß des Einzelgefühls völlig unbrauchbar. Da die Italiäner die musikalischen Formen geliefert hatten, suchte man bei ihnen auch für die poetischen Hülfe, und fand sie im Madrigal. Der erste Hinweis auf diese Dichtungsart ging noch von Heinrich Schütz aus, dessen Schwager Caspar Ziegler, ein musikalisch begabter Theolog in Leipzig, der später Rechtswissenschaft studirte und als juristischer Professor 1690 in Wittenberg starb, im Jahre 1653 zuerst das Madrigal durch eine Abhandlung über sein Wesen nebst beigefügten Proben in die deutsche Litteratur einführte, auch einen Brief Schützens an ihn der Schrift Vordrucken ließ, aus dem sich des Altmeisters Einfluß auf das Unternehmen deutlich erkennen läßt1. Ziegler, der das italiänische Madrigal gründlich studirt hatte, definirt es als eine epigrammatische Dichtung, »darinnen man oftermals mehr nachzudenken giebt und mehr verstanden haben will, als man in den Worten gesetzt und begriffen [464] hat«, und deren Grundgedanke jedesmal in den letzten Zeilen erscheine. Formell aber sei es unter allen Gattungen die freieste. Man sei an keine bestimmte Anzahl von Zeilen gebunden, wie etwa im Sonnett, doch seien fünf und sechzehn Zeilen die Gränzen; zwischen denen die italiänischen Dichter sich bewegten; es dürften auch die Zeilen nicht gleich lang sein, sondern der Dichter könne kurze und lange willkürlich durch einander mischen, obschon die Italiäner nur Sieben- und Elfsilbler zu verwenden pflegten; endlich sei es nicht gestattet alle Zeilen zu reimen, »weil ein Madrigal so gar keinen Zwang leiden kann, daß es auch zu mehrmalen einer schlichten Rede ähnlicher als einem Poemati sein will«. Von allen Dichtungsarten in der deutschen Sprache eigne sich keine besser zur Musik, und die Redeformen, welche die Italiäner in ihren Singspielen anwendeten, seien nur ein fortgesetztes Madrigal, »doch solcher Gestalt, daß je zuweilen dazwischen eine Arietta, auch wohl eine Aria von etlichen Stanzen laufe, welches denn sowohl der Poet als der Componist sonderlich in Acht nehmen und, eines mit dem anderen zu versüßen, zu rechter Zeit abwechseln« müsse. In wie weit Zieglers Vorgang für andere musikalische Gebiete damals Nachfolge gefunden hat, ist mir unbekannt; in der Kirchenmusik aber dauerte es fast noch funfzig Jahre, ehe man die italiänische Praxis ergriff, die dann alsbald allgemein herrschend wurde.
Der Mann, welcher durch energische That die vielfach entgegenstehenden Bedenken überwand, hieß Erdmann Neumeister. Seine Heimath war Mitteldeutschland, wo er zu Uechtritz bei Weißenfels als Sohn eines einfachen Schulmeisters am 12. Mai 1671 geboren wurde. Die kernhafte Natur des Knaben fand Anfangs an dem frischen Landmannsleben größeres Gefallen, als an den Büchern; erst mit dem 14. Jahre trat die Lust zu wissenschaftlicher Beschäftigung zugleich mit vortrefflichen Geistesgaben bei ihm hervor. Nach vierjährigem Aufenthalte in Schulpforte studirte er von 1689 in Leipzig Theologie, wo August Hermann Francke einen starken, aber vorübergehenden Eindruck auf ihn machte. Neben seinem Hauptstudium beschäftigte ihn auch hier schon die Dichtkunst, und nachdem er 1695 Magister geworden, hielt er auf Grund einer Dissertation über die Dichter und Dichterinnen des 17. Jahrhunderts2 Vorlesungen über Poetik. Zwei Jahre darauf trat er zu Bibra in Thüringen seine erste [465] Pfarrstelle an, wurde kurz nachher als Adjunct an die Superintendentur zu Eckartsberge berufen und im Jahre 1704 als Hofdiaconus nach Weißenfels. Schon durch seine acht Jahre zuvor vollzogene Vermählung mit einer Weißenfelserin stand er zu diesem Orte in engeren Beziehungen; beim Herzoge wurde er bald sehr beliebt und mit der Unterweisung seiner Tochter beauftragt. Gewandtheit der Sprache, Klarheit der Darlegung und ein männliches, unerschrockenes Auftreten kennzeichneten ihn als Kanzelredner. Obwohl er nicht lange in Weißenfels blieb, denn er zog 1706 nach Vermählung der Prinzessin mit ihr an den gräflichen Hof zu Sorau, bewahrte er dem herzoglichen Hause doch eine dauernde Anhänglichkeit, wie eine Reihe von Gratulations-Schreiben aus den Jahren 1736–1741 beweist, welche auch regelmäßig vom Herzog beantwortet wurden3. Seine theologische Richtung war mittlerweile eine streng orthodoxe geworden, und demgemäß begann er in Sorau seinen Kampf gegen den Pietismus und hat denselben sein Leben lang fortgeführt als einer der streitbarsten, angesehensten und intelligentesten Vorkämpfer seiner Partei. Von Sorau, wo er sich durch rücksichtslosen Freimuth die gräfliche Ungnade zugezogen hatte, folgte er im Jahre 1715 einem Rufe als Hauptpastor an die Jacobi-Kirche zu Hamburg. Hier wirkte er in ungeschwächter Kraft bis ins hohe Alter, hielt zu seinem 50jährigen Amtsjubiläum noch selbst die Predigt und starb, ein 85jähriger Greis, von Kindern und Enkeln in großer Anzahl umgeben, am 18. August 17564. Seine litterarische Thätigkeit war nur zum Theil eine theologisch-polemische: er veröffentlichte nach und nach eine große Anzahl viel gelesener Predigt-Sammlungen, und von seinen geistlichen Liedern gingen nicht wenige in den kirchlichen Gebrauch über; manche wie der Epiphanias-Gesang »Jesu, großer Wunderstern« gehören auch zu den besten Liedern nicht nur jener Zeit, sondern der lutherischen Kirche überhaupt.
[466] Neumeisters erstes Auftreten als Dichter von Cantaten-Texten fällt genau auf das Jahr 17005. Da er selber jeder näheren Kenntniß der Musik entbehrte6, so wird die Anregung dazu von außen gekommen sein, und da es die Weißenfelser Hofcapelle war, für welche er die ersten verfaßte, so sieht man auch, was die Anregung gab. Am dortigen Hofe blühte damals unter Leitung des talentvollen, kunst- und welterfahrenen Capellmeisters Johann Philipp Krieger die Oper; der unmittelbarste Einfluß derselben auf die Gestalt der Texte ist also dargethan, auch sind dieselben nach Neumeisters eigener Aussage von Krieger mit besonderer Vorliebe componirt, und dieser gilt dem Dichter als der weißenfelsische Chenania7, »welcher unter den Virtuosen in Kirchenstücken wohl den Preis davon« trüge. Die Dichtungen beziehen sich auf die Sonn- und Festtage des gesammten Kirchenjahres; sie wurden einzeln gedruckt und jedesmal zum Nachlesen an die Gemeinde vertheilt. Als Neumeister 1704 als Prediger nach Weißenfels kam, wurden sie in ein Octavbändchen vereinigt und von ihm mit einer ausführlichen Vorrede versehen8. Hier verbreitet er sich zuerst im Allgemeinen über die Bezeichnung »Cantate« und fährt dann fort: »Soll ichs kürzlich aussprechen, so siehet eine Cantata nicht anders aus, als ein Stück aus einer Opera, von Stylo Recitativo und Arien zusammengesetzt. Wer nun weiß, was zu beiden erfordert wird, dem wird solch Genus carminum zur Ausarbeitung nicht schwer fallen. Jedoch auch den Anfängern in der Poesie zu Dienste von beiden etwas zu berühren, so nimmt man zum Recitativ jambische Verse. Je kürzer aber, je angenehmer und je bequemer sie zu componiren sind. Wiewohl auch in einem affectuösen Periodo dann und wann ein oder ein paar trochäische wie nicht weniger daktylische sich gar artig und [467] nachdrücklich mit einschieben lassen. Sonst hat man hier Licenz eben als in einem Madrigal, die Reime und Verse zu verwechseln und zu vermischen, wie man will. – Nur ziehe man überall das Gehör zu Rathe, damit aller Zwang und Härtigkeit vermieden, und dagegen die von selbst fließende Lieblichkeit durchgehends beobachtet werde. Was die Arien belanget, sollen selbige aus einer, zum meisten aus zweien, sehr selten aus dreien Strophen bestehen und allemal einen Affect, oder ein Morale, oder sonst etwas besonderes in sich halten. Und hierzu mag man nach eignem Gefallen ein bequem Genus erkiesen. Kann bei einer Arie das sogenannte Capo, oder der Anfang derselben am Ende in einem vollkommenen Sensu wiederholt werden, läßt es in der Musik gar nette.« Dazu wird nun noch die Bemerkung gefügt, daß man Recitative und Arien nach Belieben unter einander mischen könne, und dann der große Vortheil aufgezeigt, den solche Dichtungen der Composition böten. Ueber die vorliegenden im Besonderen bemerkt er, daß ihr Gedankengehalt auf den von ihm gehaltenen Predigten beruhe. »Wenn die ordentliche Amts-Arbeit des Sonntags verrichtet, versuchte ich das Vornehmste dessen, was in der Predigt abgehandelt worden, zu meiner Privat-Andacht in eine gebundene Rede zu setzen und mit solcher angenehmen Sinnenbemühung den durch Predigen ermüdeten Leib wieder zu erquicken. Woraus denn bald Oden, bald poetische Oratorien und mit ihnen auch gegenwärtige Cantaten gerathen sind.« Die Herausgabe aber sei auf Veranlassung von einigen Künstlern und Musikfreunden geschehen, denen dieselben bekannt geworden wären. In der That zeigte ein schon im nächsten Jahre in der Rengerischen Buchhandlung zu Halle erschienener Nachdruck9, einen wie großen Anklang Neumeisters Neuerung fand. Auch die 1707 wider sein Wissen und Wollen durch Chr. Fr. Hunold erfolgte Veröffentlichung eines in Leipzig gehaltenen Collegium poeticum unter dem Titel: »Die allerneueste Art zur reinen und galanten Poesie zu gelangen«, eine Schrift, die im Verlauf der Jahre mehrfach aufgelegt wurde, hängt wohl mit dem Aufsehen zusammen, was er jetzt allgemein erregte. Im Jahre 1708 folgte auf jenen ersten Versuch ein zweiter Cantaten-Jahrgang[468] über die Evangelien, der an die gräfliche Capelle nach Rudolstadt kam und von Erlebach in Musik gesetzt wurde. Ein dritter und vierter wurde 1711 und 1714 für die Kirchenmusik des Herzogs von Sachsen-Eisenach geschrieben, wo damals Telemann Capellmeister war10. Sie alle wurden mit einem neu hinzugedichteten fünften Jahrgange zusammen im Jahre 1716 unter Zustimmung des Verfassers neu herausgegeben von Gottfried Tilgner und dem Herzoge Christian von Weißenfels zugeeignet; ein sauberer Kupferstich, Neumeister in seinem Studirzimmer darstellend, ziert diese Ausgabe und in der Vorrede stellt ihn Tilgner als den Mann dar, »welchem ohne Widerspruch der Ruhm gebühret, daß er der erste unter uns Deutschen gewesen, der die Kirchen-Musik durch Einführung der geistlichen Cantaten in besseren Stand gebracht und in den jetzigen Flor versetzt hat«11. Diese Collection von Poesien erfuhr im Laufe der Zeiten noch zwei Fortsetzungen, von denen eine: »Fortgesetzte fünffache Kirchen-Andachten«, 1726 zu Hamburg, die andere aber als »Dritter Theil der fünffachen Kirchen-Andachten« ebendaselbst 1752 erschien. Neumeister wurde von allen Seiten um Texte bestürmt, er gab sie einzeln fort und ohne sein Wissen wurden sie oftmals gedruckt. Die Sammlung von 1726 enthält außer den Zugaben für öffentliche Feierlichkeiten und Privat-Andachten wieder drei vollständige Jahrgänge, von denen aber der erste schon 1718 zu Eisenach unter dem Titel »Neue geistliche Gedichte« erschien, und mehre Cantaten dieses Jahrganges finden sich wieder in einer 1725 zu Weißenfels anonym gedruckten Sammlung. Der im dritten Theile enthaltene Cantaten-Jahrgang war durchweg von Telemann componirt worden, an dem Neumeister überhaupt einen fleißigen und dankbaren [469] Verarbeiter hatte. Auch für Mattheson setzte er in Hamburg seine Feder in Bewegung und dichtete ihm die Oratorien »Die Frucht des Geistes« (1719) und »Das gottselige Geheimniß« (1725)12. Ein anders gearteter poetischer Cursus durch das Kirchenjahr fand in den zwei Theilen des »Evangelischen Nachklangs« (Hamburg, 1718 und 1729) statt, aber obgleich dies nur Strophenlieder waren, so wurden sie doch, bestimmt wenigstens der zweite Theil, der wieder für die Schloßkirche in Weißenfels geliefert wurde, ebenfalls zu Kirchenmusiken verwendet. Außerdem kamen nun die Nachahmer in Schaaren: es war mit dieser Form ja gefunden, was man nöthig zu haben glaubte, und da es auf Gedankenreichthum nicht eben ankam, so war die Verfertigung eines Cantaten-Textes keine zu schwere Aufgabe. Aber nur wenige gab es, die Neumeisters Leistungen übertrafen, die meisten standen vielmehr beträchtlich hinter ihrem Vorbilde zurück.
Das Hauptwerk bleiben immer die durch Tilgner herausgegebenen »Fünffachen Kirchen-Andachten« und es liegt uns ob, deren Beschaffenheit noch etwas genauer zu prüfen. Neumeister nannte den ersten Jahrgang selbst gleichsam den poetischen Niederschlag seiner Predigten. Irrig aber wäre es zu glauben, daß sich auch die Form der Predigt in ihnen wiederspiegelte, und noch irriger ist die Ansicht, die Gestalt der neueren Kirchencantate sei überhaupt von der Predigt genommen oder allgemeiner ein idealisirtes Abbild des gesammten protestantischen Gottesdienstes13. Ganz andere und viel äußerlichere Grundsätze waren maßgebend: vor allem die Nachahmung der zeitentsprechenden opernhaften Formen, dann die einfache Rücksicht auf die der Kirchenmusik zu Gebote stehenden Ausdrucksmittel. In den ersten beiden Jahrgängen und in dem fünften werden weder Bibelworte noch Choralstrophen zur Benutzung herbeigezogen, der letzte enthält überhaupt nur Strophenlieder, denen jedesmal ein Motto von drei gereimten Zeilen vorangesetzt ist. Die Cantaten des [470] ersten Jahrganges bestehen nur aus Recitativen und Arien; man muß sich allerdings erinnern, daß am Anfange des Jahrhunderts das Wort »Arie« noch nicht ausschließlich für Sologesang gebraucht wurde, und manches ist so gestaltet, daß es die deutsche Arienform verlangt und somit auch mehrstimmig gesungen werden konnte. Aber bei weitem das Meiste ist doch für Einzelgesang berechnet. Die Recitative sind, wie uns der Verfasser selbst belehren durfte, jambisch gebildet, die Arien meist jambisch oder trochäisch und mit größerer Regelmäßigkeit in der Zeilenlänge; doch aber herrscht in Reimverknüpfung, Anzahl und Ausdehnung der Zeilen eine viel bedeutendere Freiheit, als in den damaligen Kirchenliedern, so daß auch hier das Madrigal eingewirkt hat. Nicht immer ist ein Da capo möglich, oft nur ein ganz kurzes; vereinzelt taucht auch noch, wenngleich durch Recitativ getrennt, die strophische Composition auf. Seltener werden Daktylen angewendet, zuweilen nur am Ausgange einer Arie; zweimal finden sich gar Alexandriner, und einmal noch mit Jamben und Trochäen untermischt; doch haben sie wenigstens immer männliche Ausgänge. Eine Arie leitet die Cantate ein und schließt sie auch, selten ein Recitativ, zuweilen werden diesem kurze ariose Zeilen zwischengeschoben, die auch unter einander in Zusammenhang stehen können; dies Verfahren ist in späteren Jahrgängen noch weiter ausgebildet. Gewöhnlich enthält jede Cantate drei Arien mit den entsprechenden Recitativen, zuweilen auch mehr. Der zweite Jahrgang weist einen Fortschritt auf, insofern der Alexandriner ganz abgethan und die Betheiligung des Chors vorgeschrieben ist. Da einmal die Kirchenchöre überall vorhanden waren, konnte man sie doch nicht ganz unberücksichtigt lassen. Die Verwendung geschieht immer in derselben Weise: drei gereimte Zeilen beginnen und werden am Schlusse wiederholt, in der Mitte sind dann dem Chor noch einmal vier Zeilen zugetheilt. Diesen Tuttis fehlt es fast durchweg an jener Kraft und Allgemeingültigkeit des Inhalts, welche ein Chortext erfordert. Entweder empfand Neumeister das selbst, oder seine Componisten machten ihn darauf aufmerksam: im dritten und vierten Jahrgange sind Choräle und Bibelsprüche eingefügt und damit ist die Form der neuern Kirchencantate in ihrer Vollendung hingestellt. In der Anordnung läßt sich ein anderes Princip als das der Abwechslung nicht erkennen, und es bildet ebensowenig ein Choralvers [471] jedesmal den Schluß als ein Bibelspruch den Anfang. Der einheitliche Gedanke war in der kirchlichen Bedeutung des jedesmaligen Sonn- oder Festtages gegeben; der Text that nun weiter nichts, als denselben von verschiedenen Seiten beleuchten, das Weitere war Sache des Componisten. Sieht man Neumeisters Productionen sich im Einzelnen an, so ist an ihnen vor allem eine ungezwungene Glätte, ja Anmuth der Sprache zu rühmen. Nicht selten findet man wirklich melodischen Wohllaut, auch läßt sich ein gewisses Streben nach concretem, bildhaftem Ausdruck nicht verkennen. Reeitativ und Arie sind meist gut auseinandergehalten, indem ersteres die reflectirende Betrachtung, letztere eine einheitliche und ungetrübte Empfindung zum Ausdruck zu bringen bestrebt ist. Der nahedrohenden Gefahr freilich, im Recitativ einem prosaischen, redseligen Moralisiren zu verfallen, ist Neumeister häufig erlegen; ein erschreckendes Beispiel findet sich in der Cantate für den vierten Trinitatis-Sonntag im ersten Jahrgang. Zuweilen verfällt er in wunderliche Plattheiten, wie in der Laetare-Cantate des zweiten Jahrgangs, wo das erste Recitativ alle vier Species der elementaren Rechenkunst durchnimmt; hier und da ist er übermäßig derb und geschmacklos im Ausdruck, so in der Cantate des ersten Jahrgangs zu Sexagesimae. Seinen Arien fehlt oft das erforderliche bescheidene Maß von Innigkeit und Schwung; er besaß keine ausgiebige Dichterphantasie und schrieb zu viel und zu formalistisch. Aber nicht selten findet er doch auch warme und überzeugende Worte. Alles zusammengerechnet kann man von diesen Leistungen so gar gering nicht denken. Sie erfüllten nicht nur ihren Zweck und erwiesen sich als wohl componirbar, sondern zeigen für den damaligen Stand der deutschen Litteratur ein nicht zu unterschätzendes formales Talent, und manche von ihnen sind wirkliche Gattungsmuster und können, wie beispielsweise die auch von Bach componirte Adventscantate »Nun komm, der Heiden Heiland«, selbst unsern so sehr gesteigerten Ansprüchen noch recht wohl genügen14.
Noch keiner Neuerung hat es an Widerspruch gefehlt, der um [472] so heftiger ertönte, je tiefer sie griff. Die Uebertragung des theatralischen Stils auf die Kirchenmusik war eine Art von Kunst-Revolution. Daß sie von einem hervorragenden Geistlichen ausgehen mußte, der ein langes Leben hindurch mit Wort und That bezeugt hat, wie sehr ihm seine Kirche am Herzen lag, beweist aber, ein wie tiefes Bedürfniß danach den Zeitgeist erfüllte. Ganz frei von Bedenken war auch Neumeister nicht geblieben, doch wußte er sie niederzuschlagen. »Ich hatte oben gesagt«, äußert er sich in der Vorrede zum ersten Jahrgange (1704), »eine Cantata sähe aus wie ein Stück einer Opera; so dürfte fast muthmaßen, daß sich mancher ärgern möchte und denken, wie eine Kirchen-Musik undOpera zusammen stimmten? Vielleicht wie Christus und Belial? Etwa wie Licht und Finsterniß? Und demnach hätte man lieber, werden sie sprechen, eine andere Art erwählen sollen. Wiewohl darüber will ich mich rechtfertigen lassen, wenn man mir erst beantwortet hat, warum man nicht andere geistliche Lieder abschaffet, welche mit weltlichen und manchmal schändlichen Liedern eben einerlei Genus versuum haben, warum man nicht die Instrumente musica zerschlägt, welche heute sich in der Kirche hören lassen und doch wohl gestern bei einer üppigen Weltlust aufwarten müssen? Sodann, ob diese Art Gedichte, wenn sie gleich ihr Modell von theatralischen Versen erborget, nicht dadurch geheiliget, indem daß sie zur Ehre Gottes gewidmet wird? Und ob nicht diesfalls die apostolischen Sprüche I. Cor. VII, 14; I. Tim. IV, 5; Phil. I, 18 in applicatione justa mir zu einer genügsamen Verantwortung dienen können?«15 Es gab jedoch viele, die sich dadurch nicht überzeugen ließen, in der neuen Art nur eine Entweihung des Gotteshauses sahen und ihr deshalb mit Unwillen und Entrüstung entgegen traten. So erfolglos nun auch diese Opposition war, indem die neuere Kirchencantate von Jahr zu Jahr mehr an Boden gewann, eine so große Hartnäckigkeit zeigte sie doch, und da die Vertreter des neuen Princips sich nicht begnügten, nur durch Kunstthaten zu kämpfen, entbrannte bald auf der ganzen Linie ein erbitterter litterarischer Krieg, der sich in unübersehbaren Streitschriften herüber und hinüber äußerte. Die entschiedensten [473] Gegner bildeten natürlich die Pietisten, die schon der früheren Kirchenmusik abhold gewesen waren, und nichts außer dem einfachen Strophenliede gelten lassen wollten. Merkwürdig, wie wenig sich oft gleichzeitige und gleichartige Richtungen unter einander verstehen! Als ob die Sucht, auf dem Theater die Persönlichkeit hervorzudrängen, etwas anderes gewesen wäre, als auf dem religiösen Gebiete der Pietisten übersubjective Gesänge? Aber mit ihnen war nun einmal nicht zu reden; das wußte auch Neumeister recht gut und besann sich nicht, ihnen derb ins Gesicht zu schlagen, wenn er im Recitativ einer Cantate singen ließ:
So laßt uns seinem Worte gläuben,
Im Glauben heilig leben
Und in der Heiligkeit voll guter Früchte stehn,
Als rechte, fromme Christen,
Und nicht als Pietisten,
und dadurch, daß er den ersten Vers des Kirchenliedes »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« vorhergehen ließ, sie in wenig schmeichelhafter Weise mit dem Papst und den Türken zusammen brachte16. Eine zweite, freilich dünn gezählte Schaar von Widersachern erhob sich in gewissen Musikern alten Schlages, welche eine allgemeine Antipathie gegen die theatralische Musik erfüllte, ohne daß sie freilich hätten sagen können, auf welchem anderen Wege eine wirksame Kirchencantate herzustellen sei. Da sie auch meistens mit der Feder nicht umzugehen wußten, so war ihre Lage eine ziemlich ungünstige. Zu ihnen gehörte der in seiner Art tüchtige Erfurter Organist Johann Heinrich Buttstedt, für den es ein Unglück war, daß er in seinem »Ut re mi« u.s.w. eine nun doch verlorene Sache und gegen einen so stilgewandten Mann, wie Mattheson, zu halten unternahm. Eine dritte Gattung von Feinden bestand aus ernst denkenden Laien und Dilettanten, wie dem Pastor Christian Gerber, der in seinem Buche: »Unerkannte Sünden der Welt« den Mißbrauch in der [474] Kirchenmusik nachwies, und besonders dem Göttinger Rechtsprofessor Joachim Meyer, dessen »Unvorgreifliche Gedanken über die neulich eingerissene theatralische Kirchenmusik und die darin bisher üblich gewordenen Cantaten« (1726) ihn ebenfalls in einen Streit mit Mattheson verwickelten; ihm gesellte sich hernach als Kampfgenosse noch der Theologe Guden zu Göttingen, jenem dagegen ein pseudonymer Musiker zu, und so wurde denn aller Staub der Arena noch einmal gründlich aufgewirbelt.
Der Behauptende muß beweisen, und die Neuerer gaben sich viele Mühe damit. Man kann aber nicht sagen, daß alle die Mattheson, Motz, Tilgner und wie sie weiter heißen, zur Rechtfertigung ihrer Sache etwas mehr und andres beigebracht hätten, als was in kurzen Worten schon Neumeister ausspricht. Auch dieser frischte nur alte Vertheidigungsmittel auf; denn man hatte schon bei der älteren Kirchencantate über Verweltlichung gestritten17. Vor allem sollte immer aus der Bibel bewiesen werden, daß die angefeindeten musikalischen Mittel und Formen etwas Gott wohlgefälliges und von ihm gebotenes wären. Die Erlaubniß zur Anwendung rauschender Instrumente holte man z.B. aus Chronica II, 5, 12, wo erzählt wird, daß bei Einweihung des Salomonischen Tempels die Leviten mit Cymbeln, Psaltern und Harfen gesungen und hundert und zwanzig Priester die Trompete geblasen hätten. Einen muntern, lebhaften Ausdruck mußten Mirjams Danklied und der Lobgesang Zachariae sanctioniren. Die häufigen Textwiederholungen in den Arien wurden durch den Parallelismus der Glieder bei den hebräischen Dichtern belegt, und sogar die Da capo-Form wies Tilgner im achten Psalme nach, dessen Anfangsvers sich am Schlusse wiederhole18. Auch aus der alten Kirchenmusik borgte man die Waffen: den Tadlern [475] des Recitativs wurde der psalmodirende Altargesang entgegen gehalten; wer sich an der Verwendung opernähnlicher Weisen stieß, wurde gefragt, ob denn nicht auch sehr viele geistliche Melodien ursprünglich weltliche, und oft sehr bedenklichen Inhalts gewesen wären? Und endlich berief man sich immer darauf, daß doch alles zur Ehre Gottes geschehe, daß es gleichgültig sei, wodurch die Gemüther zur Andacht gestimmt würden, wenn nur die Andacht überhaupt sich einstelle, und daß schon durch die religiösen Texte allein der Sinn vom Weltlichen abgewendet werden müsse. Neumeister hatte es außerdem als seinen Grundsatz hingestellt, in der Ausdrucksweise sich möglichst an biblische und theologische Redewendungen anzuschließen. Keineswegs sollten deshalb theatralischer und kirchlicher Musikstil ganz übereinstimmen. Gegner wie Buttstedt behaupteten freilich, kein gescheuter Musicus könne die völlige Gleichheit leugnen, ja man bringe »allen liederlichen Kram in die Kirche, und je lustiger und tänzlicher es gehe, je besser gefalle es, daß es zuweilen an nichts fehle, als daß die Mannsen die Weibsen anfasseten und durch die Stühle tanzten, als wie es je zuweilen auf Hochzeiten über Tisch und Bänke gehe«19. Mattheson aber erwiederte, es sei sehr übel gethan, wenn man keinen Unterschied mache zwischen einem kirchlichen und Opern-Recitativ, und daß »ungeschickte Notenschmierer allen liederlichen Kram in die Kirche brächten, sei eine Sünde und Schande; es bliebe aber doch deswegen der Kirchenstil ein besonderer Stil«20. Fragte man nun weiter, worin denn die Besonderheit zu erkennen sei, so war die Verlegenheit da. Mattheson sagte, verständige Musiker wüßten schon, wie zu verfahren und Maß zu halten sei; Tilgner, der Componist müsse seine Sachen schlecht weg und andächtig machen, ohne jedoch »Gott die alten Schlacken der verlegenen Einfälle zu opfern, die auserlesensten Gedanken aber dem sündlichen Zeitvertreib vorzubehalten«; Niedt21 räth, sich nach dem Geschmacke der Zuhörer zu richten, ob sie Motetten, Concerte oder Arien liebten, Recitative und Arien möglichst einfach zu setzen, alle Fugen »mit Amen,[476] Hallelujah und dergleichen« abzuschaffen, weil sie nur »einem Gelächter und Possen-Spiel ähnlich schienen und insgemein von den Leuten in der Kirche mit Ekel und Verdruß angehört würden«, und den Sänger beständig zu ermahnen, vom Herzen zu singen, so würde er auch die Herzen rühren. Er habe es so gemacht; allerdings sei er dabei für einen Pietisten gehalten und beinahe durch eine Inquisition von Stadt und Land gejagt worden, und in Wahrheit wisse jetzt auch kein Mensch, welches der rechte Kirchenstil sei.
So war es. Und Niemand suchte mit unparteiischem Urtheil der Sache auf den Grund zu kommen. Die Vertheidiger interessirten sich viel zu persönlich für den Gegenstand: es waren theilweise, Mattheson voran, Musiker, die für Haus und Herd kämpften, oder ihnen stand doch die Praxis von reichbegabten Leuten, wie Keiser, Telemann, Stölzel, überredend zur Seite. Hätte sie auch Jemand mit unwidersprechlichen Beweisen ihres Irrthums überführt, der schaffende Künstler würde sich mit ungläubigem Lächeln abgewendet und die begonnene theatralisch-kirchliche Composition unbeirrt beendigt haben, die andern hätten vielleicht bis zur Aufführung der nächsten Kirchenmusik geschwankt, um durch sie der alten Ueberzeugung gänzlich wieder zugeführt zu werden. Der Zug großer Culturbewegungen ist allemal stärker, als der Wille des Einzelnen, und verurtheilen zu sollen, was man als eigne Lebensbedingung empfindet, wäre eine unbillige Zumuthung. Sonst wäre es nicht schwer gewesen, zu erkennen, daß jeder Kunstzweig eine besondere Richtung der Culturgeschichte zur Voraussetzung hat, und daß es andere geistige Kräfte waren, welche die Oper hervortrieben, als die sind, welche in der kirchlichen Kunst sich äußern. Tief in sich, nicht nur äußerlich an sich trägt jede Kunstpflanze den Charakter des Bodens, aus dem sie erwuchs, und es war namentlich eine arge Unterschätzung der Macht der Musik gegenüber dem Worte, wenn man durch Anwendung auf geistliche Texte ihr Wesen erheblich zu ändern glaubte. Doch stellt dies wohl nur einen auf Selbsttäuschung berechneten Scheingrund dar. Wer aber behauptete, durch die religiöse Opernmusik eben so sehr und mehr als durch andre andächtig erhoben zu werden, der verwechselte in seiner Stimmung Kunstandacht mit kirchlicher Andacht. Der ruhelose Schreibetrieb der zahlreichen Apologeten des neuen Stils, mit dem sie sich unaufhörlich [477] in demselben Kreise herumbewegen, verräth übrigens auch zur Genüge ihre Unsicherheit in der Sache. Natürlich! der reflectirende Verstand läßt sich wohl zeitweilig zum Schweigen bringen, nicht so das unmittelbar urtheilende Gefühl.
Die Berechtigung zu energischem Widerspruch fehlte also den Gegnern nicht. Aber darin hatten nun sie wieder Unrecht, wenn sie verlangten, daß um der Reinheit der kirchlichen Tonkunst willen jede Berührung mit außerkirchlichen Kunstelementen vermieden werden solle. Was ist Kirchenmusik? Diese Frage ist seit bald 200 Jahren unzählige Male aufgeworfen, und sieht man genauer hin, so stehen die Meisten mit der Beantwortung heute noch auf dem Standpunkte Matthesons und Genossen. Und doch ist die Antwort so einfach: Kirchenmusik ist die im Schooß der Kirche gewordene Musik. Aber während anfänglich die Kirche alle musikalische Kunst allein umschloß, gediehen bei gesteigerter Cultur auch im Weltleben einzelne Zweige zur fröhlichen Blüthe. Will die Kirche sich nicht in den verderblichen Wahn einspinnen, als sei sie etwas absolut-fertiges, keiner Fortbildung bedürftiges, und sich damit selbst die Lebensquellen verstopfen, so muß sie auch in dieser Hinsicht auf die Ergebnisse freier Entwicklung Bedacht nehmen. Im 16. Jahrhundert hatte der weltliche Volksgesang gradezu erneuernd auf die kirchliche Tonkunst eingewirkt trotz seiner leichtfertigen, ja obscönen Texte; warum sollte der Opernmusik nicht etwas ähnliches möglich sein? Eins jedoch war dazu die unerläßliche Bedingung. Es mußte noch eine wirkliche lebenerfüllte kirchliche Tonkunst geben, welche die fremden Elemente in sich hineinziehen, läutern und mit ihren Säften ganz durchdringen konnte. Der einzige Kunstzweig aber, welcher sich das 17. Jahrhundert hindurch ausschließlich im Gebiete der Kirche zu kräftiger Höhe emporgerichtet und die herrlichsten Blüthen getrieben hatte, war die Musik der Orgel. Sie allein war am Beginn des 18. Jahrhunderts die echte Kirchenmusik, und mit ihr mußte sich vereinigen, was zu diesem erhabenen Kunstgebiete mehr als äußerlichen Zugang zu haben wünschte. Auch schien ihr eignes Wesen dem entgegenzustreben. Denn eine ihrer Hauptformen, der Orgelchoral, griff schon aus dem Gebiete der rein-musikalischen Ideen in das der poetisch-musikalischen hinüber, und verlangte mit dem gemeinsamen Triebe alles natürlich gewordenen aus einer durch Begriffe [478] nur dämmrig erhellten Gefühlsregion ins helle Tageslicht emporzutauchen. Ja die Orgelmusik bedurfte des Zuflusses eines dichtunggetragenen Musikstromes, insofern sie die Forderung einer Kirchenmusik ganz erfüllen wollte. Das Ideal instrumentaler Tonkunst ist zu allgemein, als daß es dem kirchlichen Bedürfnisse genügen könnte; es kann im eminenten Sinne religiös sein, aber das Wesen der Kirche beruht auf gemeinsamen Glaubensgrundsätzen, welche in der Musik nur das gesungene Wort verdeutlicht. Und wie das naturgemäß Entstandene immer zugleich auch das Zweckmäßigste ist, so bot andrerseits der zunächst nur durch das mechanische Wesen der Orgel bedingte strenge und bis zur scheinbaren Leidenschaftslosigkeit erhabene Stil der Orgelmusik wie von selbst das Correctiv dar gegen den excentrischen Individualismus der Oper. Ganz verleugnen ließ sich dieser nicht, so lange noch das Absehen überhaupt auf eine lebensfähige Kirchenmusik gerichtet war. Denn jede Kunst hat die Aufgabe, die bewegenden Mächte ihrer Zeit zu begreifen und zu gestalten.
Beide streitenden Parteien schossen also übers Ziel hinaus, wie es bei solchen Gelegenheiten immer zu geschehen pflegt. Derjenige, welcher nicht stritt und theoretisirte, aber mit der Sicherheit des Genies in der allein richtigen Weise handelte, war Sebastian Bach. Sein Geist, der alle Formen, welche die musikalische Atmosphäre erfüllten, im centripetalen Zuge an sich riß, ergriff auch die der Oper, und daß er sie sein ganzes Leben hindurch pflegte, zeigt, wie wohl er ihren hohen Werth erkannte. Aber ihren sinnlich-trüben Inhalt drängte er durch die keuschen, hellen Fluthen seiner Orgelkunst völlig hinaus. Bach unternahm die Verbindung der beiden so verschiedenen Stilarten und schuf dadurch die einzig mögliche Gestalt der damaligen Kirchenmusik. Er war es allein, der sie unternahm, und die unzähligen kirchlichen Compositionen seiner reichbegabten Zeitgenossen sind ausnahmslos wie taube Blüthen vom Baume der Kunst abgefallen, seine Werke aber leben noch heute unter uns und wirken lebenzeugend in immer weiterem Umfange. Daß man ihm die Benutzung theatralischer Formen zum Vorwurf gemacht und deshalb seinen Werken die Kirchlichkeit abgesprochen hat, ist sehr wenig protestantisch, noch weniger historisch rationell, und müßte ganz unbegreiflich heißen, wären nicht die Ansichten über das Wesen [479] der Bachschen Cantaten noch so verworren und über deren Aufführung noch so unklar. Freilich wenn man sie ohne Orgel zur Erscheinung bringen will, sind sie wie künstlich galvanisirte Organismen, denen das Herz herausgenommen ist, wogegen im andern Falle sich alle Räthsel und Bedenken wie von selbst lösen, zum mindesten für den, der kein feststehendes Ideal einer evangelischen Kirchenmusik kennt, sondern diejenige für eine solche ansieht, welche im Schooße des kirchlichen Lebens ungewollt erwuchs. Allerdings da die Orgelmusik der letzte Kunstzweig war, den die Kirche selbständig producirte, so ist auch Bach bis heute der letzte Kirchencomponist geblieben; seit ihm haben wir nur noch religiöse Musik erlebt. Daß die Geschichte diesen Gang nehmen würde, liegt aber in der Orgelkunst angedeutet. Es wäre ganz irrig, ihre Entwicklung zur Kirchencantate als ihr letztes und einziges Ziel anzusehen, zu dem sie als selbständige Instrumentalmusik nur Vorstufe gewesen sei. Sie war, wenn wir die Orgelchoräle mit einem gewissen Vorbehalt ausnehmen, etwas in sich ganz vollendetes und so, ohne das Gebiet des Kirchlichen zu verlassen, doch schon über dasselbe hinausgewachsen, das kirchliche Ideal in das religiöse zu verallgemeinern. Während sie also einerseits den Weg zur rechten Kirchenmusik zeigte, führte sie nach einer andern Richtung davon hinweg. Diese letztere Richtung nahm fürs erste der Entwicklungsgang des Volksgeistes und so kam es, daß Bach in der Kirchencantate ohne Nachfolger blieb, ja zu seinen Lebzeiten schon theilweise nicht mehr verstanden wurde. Es scheint aber fast, als sollten wir den damals fallen gelassenen Faden jetzt wieder aufnehmen.
Bach machte die Bekanntschaft der Neumeisterschen Cantaten-Dichtungen durch den herzoglichen Hof zu Eisenach. Für die dortige Capelle waren, wie erwähnt ist, der dritte und vierte Jahrgang der fünffachen Kirchen-Andachten in den Jahren 1711 und 1714 verfaßt. Bei den verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den Häusern Sachsen-Weimar und Sachsen-Eisenach, besonders aber bei dem Freundschafts-Verhältnisse, was der eisenachische Capellmeister Telemann mit Bach unterhielt, der auch bei dem zweiten Sohne desselben, Karl Philipp Emanuel, Pathenstelle vertrat, ergab sich eine Mittheilung sehr leicht. Nach dem jetzt vorliegenden Bestande seiner Kirchencantaten hat Bach aus dem vierten Jahrgange vier, aus [480] dem dritten zwei und eine aus dem ersten Jahrgange componirt. Von den erstgenannten sind zwei nachweislich in einer späteren Zeit zu Leipzig entstanden, und kommen hier noch nicht in Betracht22. Da auf den Befehl Wilhelm Ernsts im Jahre 1715 durch einen heimischen Dichter ein Jahrgang, und vom 1. Advent 1716 an noch zwei auf einander folgende Jahrgänge eigens für die weimarische Capelle angefertigt wurden, an deren Composition sich Bach, so lange er in Weimar war, zu betheiligen hatte, so ist die Entstehungszeit der andern beiden ganz sicher bestimmt. Wegen der letzten drei wird man zwischen den Kirchenjahren 1712/13 und 1713/14 die Wahl haben23. Wir betrachten sie nach der muthmaßlichen Reihenfolge, und beginnen mit einer Cantate auf den ersten Weihnachtstag24. Ihre Aufschrift Concerto Festo Nativitatis Christi bietet die Bezeichnung, welche Bach seinen Kirchencantaten zu geben pflegte, wenn er sie überhaupt anders, als durch den Textanfang und den Tag ihrer Bestimmung kennzeichnete, oder wenn er sie nicht auf Veranlassung ihres Inhalts Dialogi nannte. Den italiänischen Namen Cantata, worunter man zu seiner Zeit dramatische Scenen für eine und mehre Solostimmen verstand, vermied er und behielt mit der BenennungConcerto die Gewohnheit des 17. Jahrhunderts bei, zugleich damit die wesentliche Betheiligung der Instrumente andeutend. Glücklicherweise hat sich Telemanns Composition desselben Textes dazu finden lassen25 und wir werden vergleichen können. Der Unterschied ist so groß, wie die Charaktere der beiden Künstler verschieden, und ganz durchgreifend; er erstreckt sich bis auf die Tonart. Telemanns Composition steht in C dur. Er behandelt den an der Spitze stehenden Spruch des Jesaias: »Uns ist ein Kind geboren, ein [481] Sohn ist uns gegeben« im fünfstimmigen durchaus homophonen Chor, mit abwechselnd einfallenden Geigen und Trompeten, und hat sich nach 42 6/8 Takten seiner Aufgabe entledigt, wobei ihm das Da capo-Schema gute Dienste leistet. Dieses vermuthlich aus dem Handgelenk in einer halben Stunde hingeschriebene Stück zeigt uns die damalige sogenannte Kirchenmusik von ihrer übelsten Seite: ganz noch die Enge und Dürftigkeit der älteren Cantate, aber mit dem Anspruche, breite Formen auszufüllen. Bach wählte als Tonart A moll; zunächst veranlaßt dadurch, daß er den Text in abgeänderter Form componirte, worin derselbe nicht mit dem mixolydischen Chorale »Gelobet seist du, Jesu Christ« schloß, sondern mit dem aeolischen »Wir Christenleut hab'n jetzund Freud«26. Dieser äußere Anstoß war ihm aber ein willkommener, denn er hat die gedämpfte Moll-Stimmung, welche mit der hellen Weihnachtsfreude so seltsam contrastirt, auf die ganze Cantate ausgedehnt. Es ist in ihr etwas wie wehmüthige Rückerinnerung an das reine Weihnachtsglück der Kindheit, die im holden Farbenwechsel durch die Seele des Mannes zieht; hiergegen nimmt sich Telemanns ewiges C dur oft unbeschreiblich schal und flach aus, Bach beginnt auch nicht gleich mit dem Gesange, sondern läßt ein selbständiges Instrumentalstück voraufgehen für Streichquartett, zwei Flöten und zwei Oboen nebst Continuo, das – ein Zeichen seiner damaligen Entwicklungsstufe – streng in der Form des italiänischen Concerts gehalten ist, und zuletzt sinnig auf den nachfolgenden Chor vorbereitet. Dieser ist eine Doppelfuge mit folgenden Themen:
Der Anfang bietet ein neues Beispiel zu jener merkwürdigen Gestaltungsweise, die wir im letzten Satze der D moll-Toccate für Clavier und in der ersten Fuge des 130. Psalms antrafen: vor dem [482] Beginn der Fuge wird das thematische Material expositionsartig dargelegt. So wie die beiden Gedanken eben angeführt sind, stellen sie sich anfänglich dar, mit dem Beginn der eigentlichen Durcharbeitung aber (vom 4. Takte an) tritt das zweite Thema schon nach dem vierten Tone des ersten ein, ertönt also mit dem längeren Theile desselben zusammen. Es erhellt aber, daß die Exposition hier noch einen andern, als rein musikalischen Grund hat: beide Text-Gedanken sollten zuvor deutlich vernommen werden. Was wir also kürzlich noch an der Schlußfuge des 130. Psalms tadeln mußten, ist hier durch eins jener einfachen Mittel umgangen, welche nur das Genie findet. Der Chorgesang strömt 19 Takte ununterbrochen mit mehrfachen Engführungen fort, wird dann einige Male von motivischen Instrumentalsätzen abgelöst und wandelt vom 29. Takte an wieder ungestört seine Bahn zu Ende, nunmehr mit vorwiegender Betonung des zweiten Themas, das im Nachspiel noch eine Weile sein Wesen weiter treibt. Man vergleiche mit diesem gediegenen Satze nur einmal das Hauptmotiv des Telemannschen Chores!:
Es folgt nun ein Solosatz: »Dein Geburtstag ist erschienen«, von Telemann in C dur für zwei Sopranstimmen mit Continuo durchcomponirt, von Bach in E moll für einen Bass-Sänger mit zwei Violinen und Continuo in der italiänischen Arienform gesetzt. Das Duett ist eigentlich keines, sondern mit geringen Ausnahmen nur ein zweistimmiger Gesang von allseitiger Oberflächlichkeit. Die Bachsche Arie hat eine milde, innige Melodik und ist von sorgfältigster technischer Ausarbeitung. Der eigentlich Bachsche Arienstil kündet sich in der Durchführung eines kleinen Bassmotivs schon vernehmlich an, wenn auch sonst allzu häufige Ritornelle noch den Gesang zerstückeln, und jenes wunderbare melodische Weben der Instrumente um die Singstimme noch wenig ausgebildet ist. Der nächste Satz besteht bei beiden Componisten in einem Chor aus C dur zum Text des Psalmverses (69, 31): »Ich will den Namen Gottes loben mit einem Liede, und will ihn hoch ehren mit Dank«. Telemann giebt [483] hier in einer Doppelfuge sein Bestes: das erste Thema bedeutet freilich sehr wenig, durch das zweite kommt aber mehr Schwung hinein, und an leichtem Fluß fehlt es diesem Componisten ja niemals. Bei Bach hat dieser Satz den geringsten Werth. Die anfänglich zwischen je zwei enggeführten Stimmen angestellte Fugirung macht bald einer altmodigen Homophonie Platz, und das Stück verläuft des weiteren ganz bedeutungslos. Man siehts ihm an der Stirn an, daß es Bach mit größter Theilnahmlosigkeit, ja Unlust schrieb. Er glaubte dem Weihnachtsfeste auch einen heiter glänzenden Chor schuldig zu sein, und konnte so garnicht die Stimmung dazu finden. In der folgenden Arie erst, wo wieder Molltöne angeschlagen werden, sehen wir ihn sich selbst zurückgegeben. Der Dichter bietet nunmehr drei Arien, welche zu einander im Strophenverhältnisse stehen, deren zwei aber durch ein Recitativ getrennt sind. Alles das hat Telemann componirt, abwechselnd für Alt, Bass, Sopran und wiederum Bass, alle drei Arien auch in C dur, wobei aber zugestanden sein muß, daß sie in Rhythmus und Melodie sehr geschickt unter einander contrastiren. Die Form mußte nach Anleitung des Gedichts allemal die italiänische werden. Die ersten beiden Male sind Violinen zur Begleitung herbeigezogen, die aber fast nur Zwischenspiele executiren, der zweite Arientheil erscheint um des Gegensatzes willen nur mit Continuo; so war es gebräuchlich. Die dritte Arie ist über eine Art von Ciaconen-Bass gesetzt, und macht wenigstens ein etwas ernsthafteres Gesicht:
[484] Auch ist die Combination auf dem Papiere mit Telemannscher Gewandtheit ausgeführt; klingen kann sie schon deshalb nicht, weil Singbass und Instrumentalbass sich beständig ins Gehege gerathen. Das von Bach gesetzte Recitativ ist um mehr als die Hälfte abgekürzt, ferner hat er nur die erste und dritte Strophe benutzt und zwar zu derselben Musik, das eine Mal in A moll für Tenor, und für Alt in D moll das andere Mal. Die Worte, voll von Dank- und Preis-Gefühlen, sind in eine ganz wehmüthige Musik getaucht:
Auch hier fehlt noch der große Zug, in dem die vollentwickelte Bachsche Arie den Gesang unablässig fortströmen läßt, nur die Haupteinschnitte durch eintretende Ritornelle markirend, auch hier tritt jenes in der Schule der Orgelkunst erworbene Vermögen, mit den Instrumenten die Singstimme stützend, widersprechend, fortspinnend, ausdeutend und vergeistigend zu umschlingen, erst in bescheidenem Maße hervor. Nur wenn man Telemanns Leistung dagegen hält, merkt man unverzüglich, daß beider Wege schon jetzt ganz verschiedene sind. Den Beschluß macht hier und dort ein einfach vierstimmiger Choral, dessen Stimmen von Bach interessant und melodisch, von Telemann leichtfertig und nur harmoniemäßig geführt werden. Bach hat eine Sechzehntelbegleitung hinzu gesetzt, die sich aber darauf beschränkt, die Melodie zu umspielen, so daß von hier bis zu jenen Choralchören, in denen die Instrumente ein selbständiges Bild vorführen, das der Choral mit seinem magischen Scheine durchstrahlt, noch ein ziemlich weiter Weg ist.
Die zweite Cantate des dritten Neumeisterschen Jahrgangs bezieht sich auf den Sonntag Sexagesimae, wird also entweder am 19. Februar 1713 oder am 4. Februar 1714 zur Aufführung gebracht [485] sein27. Auch dieses Mal liegt die Telemannsche Composition zur Vergleichung vor28. Der Text beschäftigt sich im Anschluß an das Sonntags-Evangelium mit der wunderbaren Kraft des göttlichen Wortes, geht von der Bibelstelle Jesaias 55, 10 und 11 aus, wo dasselbe mit dem zur Erde niedergesandten, befruchtenden Regen verglichen wird, und richtet dann in einem Recitativ die Bitte an Gott, das Herz zur Aufnahme des Wortes geeignet zu machen. Zwischen das Recitativ sind verschiedene Male je zwei bezugnehmende Zeilen der deutschen Litanei eingeschoben, auch wird damit das Recitativ abgeschlossen. Dann folgt eine Arie, welche Gottes Wort als das höchste und einzige Gut preist, und den Schluß macht die 8. Strophe des alten Spenglerschen Kirchenlieds »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«. Bach beginnt wieder mit einer Instrumentalsymphonie für zwei Flöten, vier Bratschen, Fagott, Streichbässe und Orgel, G moll 6/4 Takt. Die Form dieses großartigen und äußerst geistvollen Tonstücks ist ciaconenartig: ein mächtiges von allen Instrumenten ohne die Flöten eingeführtes Thema:
zieht sich hindurch, meist streng wiederholt, zuweilen mit Ciaconen-Freiheit motivisch ausgesponnen, einmal auch aus dem Bass in die Mittellage emporsteigend. Einige Züge sind vom italiänischen Concertsatze hergenommen, so gleich am Anfang der Zwischensatz, ehe das Thema zum zweiten Male eintritt, nach welchem man eine Entwicklung zwischen zwei Gedanken erwartet, auch die unveränderte Wiederkehr der ersten 20 Takte am Schlusse, und die Gestalt des[486] Themas überhaupt, welche sehr an die unisonen Concert-Tuttis mahnt. Da Bach die Formen der italiänischen Kammermusik in das Orgelgebiet hineinzog, durfte er sie auch für die Kirchencantate verwenden; nur mußte sich der Stileinheit wegen die Orgel als herrschender Factor zeigen, was in der Symphonie der Weihnachtscantate noch kaum der Fall ist. Die Ciacone dagegen durfte, wie wir früher bemerkten, schon lange als echte Orgelform angesehen werden, und von diesem Standpunkte aus hat Bach das vorliegende Stück geschaffen, ohne darum die Eigenthümlichkeit der Blas- und Streichinstrumente unberücksichtigt zu lassen. Auch in der klanglichen Gestaltung war das Wesen der Orgel maßgebend, durchweg verdoppeln nämlich die Flöten die beiden ersten Violen in der oberen Octave, als wenn zu einem achtfüßigen Register ein vierfüßiges hinzugezogen wäre. Dieser Effect findet sich bei Bach mehrfach, z.B. in der herrlichen Alt-Arie der Pfingstcantate »O ewiges Feuer, o Ursprung der Liebe« (B.-G. VII, Nr. 34), und ist für die Grundsätze, welche ihn beim Instrumentiren leiteten, äußerst belehrend29. Eine Frage wäre noch, ob der Componist mit dieser Symphonie etwas besonderes habe sagen, vielleicht die gewaltige Fülle der Wirkungen, welche vom göttlichen Worte ausgehen, habe musikalisch versinnlichen wollen. Ich glaube dies nicht, da Bach in allen seinen Instrumental-Einleitungen nur ganz allgemein auf die Stimmung vorbereitet und niemals schildernde Zwecke verfolgt, ein Grund, weshalb er auch so häufig einzelne Stücke aus selbständigen Instrumentalwerken als Einleitungsmusiken für Cantaten verwendet hat. Nur einen dem ernsten Charakter der Cantate entsprechenden Satz wollte er gestalten; daß er aber überhaupt nicht sofort mit dem Gesange begann, geschah aus seiner vorwiegenden Liebe und Anlage für Instrumentalmusik. In Behandlung der Dichtung stimmen beide Componisten ziemlich überein, wenn man die Formen im Allgemeinen betrachtet. Aber im Einzelnen ergeben sich, den verschiedenen Standpunkten und Anlagen gemäß, wieder die größten Verschiedenheiten. So vor allem im Recitativ. Schon das einleitende Bibelwort ist von ihnen als solches behandelt, jedoch mit baldiger Hinüberführung ins Arioso, das für Fälle, wo ein Chor nicht angemessen war, seines [487] größeren Nachdrucks wegen als die geeignetere Form erschien. Telemanns Satz hat ohne Zweifel den Vorzug der natürlichsten und nächstliegenden Auffassung für sich: er giebt v. 10, den Vordersatz, welcher das Gleichniß enthält, als Recitativ dem Tenor, v. 11, den Nachsatz mit der Anwendung, dem Basse als Arioso; hier läßt er nur die Orgel und den Violonbass begleiten, dort schildert er durch rauschende Zwischenspiele der Streichinstrumente das biblische Bild: »Gleichwie der Regen und Schnee vom Himmel fällt«. Bach läßt die ganze Bibelstelle nur vom Bass unter Begleitung der Orgel mit unterstützendem Fagott singen, und erst zu der recitativischen Dichtung eine andere Stimme und den vollen Instrumentenchor eintreten; er bewirkt hierdurch einen schärferen Gegensatz zwischen Bibelwort und freier Dichtung, schwächt dagegen die in ersterem selbst enthaltenen Gegensätze; beide Verse behandelt er gleichmäßig, nämlich recitativisch beginnend und arios auslaufend. Das malerische Element fehlt auch bei ihm nicht, aber wie dort in den Instrumenten, so liegt es hier in der Singstimme selbst. Streng genommen ist es ungenau, von Malerei zu reden, wenn die Musik Bewegungen der sichtbaren Welt in ihrer Weise nachahmt. In jeder bewegten Erscheinung der Außenwelt erkennt der Mensch ein Spiegelbild gewisser eigner Gefühlsströmungen, und das Gefühl ist uns das unmittelbarste Zeugniß des Lebens. Das Leben aber, diesen im tiefen Grunde rauschenden Strom, in den alle in die Erscheinungswelt aufragenden Dinge ihre Wurzeln hinabsenken, künstlerisch darzustellen ist die eigentliche Aufgabe der Musik. Hierin beruht die innere Berechtigung der sogenannten Nachahmungen von dem Rieseln der Quelle, dem Wogen des Meeres, dem Niederströmen des Regens, dem Ziehen der Wolken, dem Zittern der Blätter, ja selbst dem Schwärmen der Vögel und Insecten: sie stellen das unlösliche Band dar, welches uns mit dem zu Eins verbindet, was uns entgegengesetzt scheint, die Kräfte, welche mit gleicher Intensität die übrige Welt wie unser eignes Wesen durchziehen. Weil aber die Berechtigung nur dann zu finden ist, wenn man in die Tiefe des Wesens der Musik hinabsteigt, wo alles individuelle aufhört, so fallen solche Aufgaben auch naturgemäß der reinen d.h. instrumentalen Musik zu. Daß Bach darauf keine Rücksicht nahm, zeigt uns, welches Princip im Innern seiner schaffenden [488] Natur vorzugsweise thätig war, das allgemein musikalische nämlich, dem die Singstimme in erster Reihe Tonwerkzeug ist. Dies Princip ist auch für seine Behandlung des Recitativs im Allgemeinen maßgebend, obgleich dadurch das Wesen dieser Form scheinbar auf den Kopf gestellt wird. Das Recitativ ist ursprünglich ein dramatisches Kunstmittel, und soll in erzählender oder dialogischer Form die Darstellung einer fortschreitenden Handlung ermöglichen. Daher liegt das Hauptgewicht auf dem, was singend gesprochen, nicht was sprechend gesungen wird. Aber es besaß doch auch eine musikalische Seite, und daß es mit dieser mächtige Wirkungen hervorbringen und eine leidenschaftliche Rede bis zur erschütternden Eindringlichkeit um so mehr steigern könne, als es eben der aussöhnenden Gleichmäßigkeit der Form entbehrte, mußte bald bemerkt werden. Demnach eignete es sich andrerseits auch dazu, durch musikalische Spannung und Aufregung ein in geschlossener Form sich darstellendes Musikstück vorzubereiten. In jener ersteren Eigenschaft hat es für die Kirchenmusik keinen Sinn, in der letzteren wenigstens nicht sofortige Berechtigung. Denn unmöglich kann das selbstherrliche Auftreten individueller Leidenschaftlichkeit kirchlich heißen. Das dramatische Moment wurde nun auch durch die Poesie beseitigt, das musikalische aber nahmen die Componisten unverändert in die Kirchenmusik hinüber. Wie in der Oper behandeln sie das Recitativ als Sprechgesang mit einzelnen schärferen musikalischen Accenten, wo eben die Poesie dazu Veranlassung bot; höchstens verlangten sie, daß der Sänger sich im Vortrage etwas mäßigen solle, aber die Nöthigung zu diesem Maßhalten in die Composition selbst zu legen, fiel ihnen nicht ein. Bach ist der einzige, der auch hier nicht äußerlich übertrug, sondern innerlich neu schuf. Ausdrucksvolle Declamation ist keineswegs sein einziges Streben. Ein allgemein musikalisches Princip waltet in seinen recitativischen Tonreihen, was über den Declamationsgesetzen schwebt, sich häufig mit ihnen deckt, nicht selten aber auch ihnen entgegentritt und sie zwingt, sich ihm zu bequemen. Und dieses eben ist es, was sie stilgemäß für die Kirchenmusik macht. Man fühlt beständig: die subjective Willkür wird gebändigt durch eine erhabenere Kunstidee, welche ihre unsichtbaren Schranken um sie zieht. Der melodische Strom in Bachs Recitativen ist zuweilen so voll und [489] gleichmäßig, daß man ihn getrost von den Textworten ganz abstrahiren kann. Gleich der Anfang des zweiten Recitativs in der vorliegenden Cantate (S. 238 und 239) ist hierzu das treffendste Beispiel. Man vergleiche dagegen einmal Telemanns Composition derselben Stelle:
[490] Daraus entwickeln sich auch ganz folgerichtig alle die auffallenden Erscheinungen, welche uns sonst noch in Bachs Recitativen aufstoßen. Da finden wir in der Cantate »Aus tiefer Noth schrei ich zu dir«30 ein Recitativ, zu dem die Bass-Stimme der Orgelbegleitung einen vollständigen Choral durchführt, wir finden die gleiche Combination mit einer instrumentalen Oberstimme in den Cantaten »Du wahrer Gott und Davids Sohn« und »Wachet, betet, seid bereit«31. Und wäre es anders möglich gewesen, ein vierstimmiges fugirtes Recitativ zu schreiben, wie es im sechsten Theile des Weihnachts-Oratoriums steht32, oder ein recitativisches Duett, wie es die Cantate auf den 23. Trinitatis-Sonntag vom Jahre 1715 enthält? Man hat von der Unruhe der Bachschen Recitative gesprochen. Aber unruhig erscheinen sie nur so lange, als man sie in der gewöhnlichen Weise declamiren will. Sobald das Absolutmelodische in ihnen klar zur Darstellung gelangt, wird das scheinbar Gewaltsame natürlich und harmonisch, die scharfen Zacken der Accente mildern und ründen sich im Lichte rein musikalischer Formschönheit. Dann erst ergiebt sich auch ein Vortrag, der mit dem gleichmäßig strömenden Klange der begleitenden Orgel nicht im grellen Widerspruche steht. Da diese Ansicht über das Bachsche Recitativ der jetzt herrschenden einigermaßen entgegen ist, so wiederhole ich, daß darum eine eindringliche Wortdeclamation durchaus nicht fehlt. Im Gegentheil; nicht weniger als bei andern Meistern finden sich bei ihm jene Betonungen, welche blitzartig den Begriff bis in die dunklen Tiefen des Gefühlslebens beleuchten, wo er seine Wurzeln hat, und wer Bach nur etwas kennt, wird es glauben, daß diese Blitze von dämonischer Farbe und Helligkeit sind. Aber das ist sicherlich ganz irrig, zu meinen, Bach habe seine recitativischen Tonfolgen den Sprechaccenten abgelauscht und nachgebildet, und gehe immer nur darauf aus, das Wort in seiner Tiefe zu deuten; mit großer Leichtigkeit lassen sich Stellen in Fülle zusammen bringen, die im gemeinen Verstande einfache Declamationsfehler sind33. Vom rechten Gesichtspunkte [491] aus betrachtet, sind sie das freilich keineswegs, und wer an solchen Stellen einmal zu ändern versuchen wollte, würde meistens rasch bemerken, daß es nicht angeht, ohne den melodischen Zug empfindlich zu schädigen. So muß man sagen, daß seine Recitative im schönsten Verhältniß zum Stile seiner Arien stehen; sie führen zu denselben hinüber und hinan, wie auf dem Gebiete der Orgelmusik die Praeludien zu den Fugen, und wie jene oft gegensätzlich registrirt sind, so singt jeder dramatischen Auffassung entgegen häufig gar eine andre Stimme das Recitativ, eine andre die Arie. – Um auf die Sexagesimae-Cantate zurückzukommen, so laufen deren Recitative sämmtlich in Ariosos mit oft recht verwickelter Begleitung und malerisch bunter Führung der Singstimme aus, welche den jedesmaligen Uebergang zur Litanei-Strophe gehörig vermitteln. Auch dieser Zug muß auf das eben erörterte Verhältniß zurückgeführt werden; fast stehend findet er sich in den Cantaten jener Periode, und der Instrumentalbass pflegt die Gänge des Arioso zu imitiren. Ferner läßt Bach allemal die erste Zeile der Litanei nur vom Sopran mit bewegter Orgelbegleitung singen, und erst mit dem Anrufe »Erhör uns, lieber Herre Gott« den Chor und alle andern Instrumente hineinschlagen. Telemann macht nicht so viele Umstände, sondern fährt mit seinem vollen Chore immer gleich hinter dem Recitative her. Im allgemeinen ist der Text etwas zu breit angelegt und theilweise von moralisirender Trockenheit; deshalb erzielt Telemann einen günstigeren Gesammteindruck, da er rascher über die Solostellen fortgeht, als Bach, der sich musikalisch tiefsinnig einwühlt. Zu der nun folgenden Arie hat Telemann eine anmuthige Tenor-Composition in D moll (seine Grundtonart ist A moll) gesetzt, viel bedeutender als irgend eine Arie seiner Weihnachtscantate, wenngleich es nur eine einfache Melodie mit simpel begleitenden Violinen ist. Dies der Anfang:
[492] Trotzdem fällt sie gänzlich ab gegen die hohe Originalität und quellende Frische der Bachschen Musik. Er wählte den Sopran und als Tonart das nach dem fortwährenden Moll der vorigen Abschnitte doppelt erquickende Es dur; zur Begleitung dienen Orgel und sämmtliche vier Bratschen im Einklang, ein Effect, den Bach nicht erfunden hatte34, dem er aber durch die »vierfüßige Registrirung« d.h. dadurch, daß die Flöten in der höheren Octave mitgehen mußten, eine besondere Würze gab. Mit einer herrlichen, ganz von Freude und Zuversicht erfüllten Gesangsmelodie wird nun dieser Begleitungsapparat in köstlicher Weise combinirt: bald schwimmt die Sopranstimme leuchtend auf den dunklen Wogen der auf- und niedertauchenden Violen und Flöten, bald spiegeln diese ihr zitterndes Bild zurück, bald fliehen die Stimmen in froher Eile vor einander her, um sogleich sich wieder glückstrahlend hin und her zu wiegen. In der Stimmung ähnliche Arien werden wir noch in der gleich zu besprechenden Ostercantate und in der Adventscantate von 1714 kennen lernen; wer sich nur irgend in den Charakter der verschiedenen Bachschen Schaffensperioden eingelebt hat, kann nicht übersehen, daß hier noch jene Frühlingsfrische herrscht, die jedem Menschenleben nur einmal beschieden ist, und die der Meister in späteren Jahren durch gesteigerte Größe, Tiefe und Reife wohl aufwog aber nicht ersetzte. Der Schlußchoral ist von Telemann einfach und würdig harmonisirt, nur durch eine unbegreifliche, koboldartig springende Bassfigur:
u.s.w. verunziert. Bachs Tonsatz, einfach vierstimmig und durch alle Instrumente verstärkt, ist von jenem wundervollen Reichthum und jener kühnen Lebendigkeit in der Stimmführung, welche sich aus seiner Orgelmeisterschaft entwickeln mußten, und an denen er unter allen, die damals Choräle für Singstimmen setzten, sogleich heraus zu erkennen ist. Während andre den Schlußchoral meistens flüchtig und flach hinschrieben, nur um der Sitte zu genügen, sehen [493] wir Bach von früh an auch in den einfachen Choralsatz sich mit voller Hingebung und Liebe vertiefen. Andre, die weltliche Tonformen nur äußerlich dem kirchlichen Gebrauche anpaßten, konnten freilich für den Choral, mit dem man bald ganz allgemein die Kirchencantate zu schließen pflegte, kein Verständniß noch Interesse haben. Denn blos vom musikalischen Standpunkte aus gesehen ist es befremdlich und künstlerisch unwirksam, ein Werk, das mehr oder minder den ganzen damals bekannten Formenreichthum in Anspruch nimmt, in einen schlichten vierstimmigen Liedsatz auslaufen zu lassen. Für das kirchliche Gefühl war aber immer noch der einfache Choral die bedeutsamste und inhaltreichste vocale Musikform, und wenn Bach auf seine Ausgestaltung die größte Sorgfalt verwandte, so beweist das eben wieder, wie nur ihn allein das richtige Gefühl für Kirchenmusik erfüllte. Der Schlußchoral war das knappe Gefäß, in welches der ganze Stimmungsgehalt der Cantate gesammelt werden sollte; ihn mit liebevoller Vorsicht zu halten und sinnig zu schmücken mußte eine wahre Ehrenaufgabe für den Künstler sein. Merkwürdiger Weise hat man in neuerer Zeit mehrseitig gemeint, in diese Endchoräle habe die Gemeinde mit eingestimmt. Dann hätte sich Bach seine kunstvolle Arbeit sparen können. Wer in der Kirchencantate eine wirkliche Kunstform erblickt, wird es unbegreiflich finden, wie nur jemand im Ernst an solch eine naturalistische Entstellung denken kann. Nicht einmal soviel ist zuzugeben, daß der Sängerchor der ideale Repräsentant der Gemeinde sei. In der Kirchenmusik kommt es durchaus garnicht darauf an, wer singt; was und wie gesungen wird, ist allein die Frage. Auch der Irrthum mag gleich hier zurückgewiesen werden, dem freilich Bachs eigner Sohn durch die Herausgabe von Sebastians Choralsätzen zur Entstehung verholfen hat, als seien diese Choralsätze in sich geschlossene Meisterwerke, analog etwa den Haßlerschen vierstimmigen Kirchengesängen35. Grade nur als Schlußsteine der Cantaten sind sie gedacht und gewinnen sie ihre volle Bedeutung und erfordern als solche auch nothwendig den Glanz und die Unterstützung mitgehender [494] Instrumente. Für den a cappella-Gesang sind sie durchweg zu kühn in der Stimmführung und klingen gewaltsam und erzwungen, wenngleich einzelne Sätze, gut vorgetragen, auch so eine ergreifende Wirkung machen können.
Die Dichtung, welche Bach dem ersten Cantaten-Jahrgange Neumeisters entnahm, ist für den ersten Ostertag bestimmt. Daß die Composition früher als in Weimar erfolgt sein sollte, ist durchaus unwahrscheinlich, und einzelne besonders vorzügliche Partien und auffällige Züge weisen darauf hin, daß sie gar später, als die beiden Cantaten des dritten Jahrgangs geschrieben ist36. Danach würde ihre Aufführung wohl auf den 16. April 1713 oder den 1. April 1714 zu setzen sein. Sie ist durchweg Solo-Cantate für Tenor, und wahrscheinlich die erste dieser Gattung, welche Bach verfaßt hat37; an Instrumenten wird nur die Orgel mit bassverstärkendem Fagott und eine Solo-Violine verwendet. Der Beschaffenheit des ganzen Jahrganges gemäß besteht der Text nur aus freier Dichtung, drei Arien und zwei Recitativen. Die ersten beiden Arien stehen im Strophenverhältniß und sind durch das erste Recitativ geschieden; Bach hat, anders als in der Weihnachtscantate, zu jeder eine besondere Musik gesetzt. Die gesammte Composition zeigt jene Mischung von weicher Innigkeit und frischer Lebensfülle, die wir noch eben in einer Arie der Sexagesimae-Cantate zu bewundern hatten. Ein getragener Charakter ist der ersten Arie eigen. Es ist ein geistvoller Zug, wenn das Hauptmotiv, was das Ritornell vorspielt:
von der Singstimme gleich zum ersten Male in der Vergrößerung gebracht wird:
[495] ein wahres Aufblühen aus der Knospe, wozu der tiefsinnige Meister vielleicht durch die Textesworte veranlaßt wurde:
Blüht doch der Trost im Herzen:
Ich weiß, daß mein Erlöser lebt!
Das zweite Mal erscheint dann das Motiv in seiner einfachen Gestalt. Reize und Feinheiten aller Art entwickelt auch der weitere Verlauf. Zu dem nachfolgenden Recitative hatte der Dichter einen sehr brauchbaren Text geliefert, indem er des Heilands ganze Leidensgeschichte bis zur Erstehung aus dem Grabe in Ausdrücken von lobenswerther Plastik noch einmal kurz vorüberführte und andeutete, was das Gemüth des theilnehmenden Christen dabei empfunden. Was Bach daraus gemacht, ist ein wahres Kleinod an ergreifender Declamation und herrlichem melodischen Zuge. Zum Beweis sei wenigstens der Anfang hergesetzt:
[496] Für den Ausdruck, der in den letzten beiden Takten liegt, mit dem Septimenvorhalte und der Wendung nach F dur, wird wohl nicht leicht jemand unempfindlich bleiben können. Mit überraschender Wahrheit ist der Accent äußerster qualerzeugter Erschöpfung getroffen zu den Worten »folgt ich halbtodt bis Golgatha ihm nach« ist der Ausdruck für durchdringenden Schmerz bei der Betonung der Zeilen gefunden: »Hab ich So manchen Stich Mit Ach und Weh empfunden, Da man sein Haupt mit Dornen stach«. Und alles nur durch einfache melodische und harmonische Wendungen ohne besondere instrumentale Beihülfe. Nur einmal wird durch eine Coloratur der Begriff »Freuden-Thränen« musikalisch stark hervorgehoben, der in der That dort einen Höhepunkt bezeichnet. Ariose Stellen fehlen ganz, vielleicht weil der Componist das schon sehr lange Recitativ nicht noch mehr ausdehnen wollte. Die zweite Arie, welche, wie auch die dritte, wieder in C dur steht, besingt in feurigen Weisen die heilbringende Kraft von Christi Auferstehung und hat schon einen viel breiteren melodischen Strom, als ihre Gattungsgenossinnen in den früheren Cantaten. Der Gesang steht zu den Instrumentalstimmen schon annähernd in dem Verhältniß eines ersten zu seines gleichen, wie dies das Ideal der Bachschen Kirchenarie ist. Zu dem mittleren Arientheile pflegte man keinen hervorstechend neuen Gedanken zu erfinden, und auch Bach verwendet dort regelmäßig etwas vom früheren Stoffe zu neuen Bildungen. Es ist interessant, wie er an der genannten Stelle hier das Motiv, aus dem eigentlich die ganze Arie erwächst:
in den Bass legt, wo es zum Gesange emsig fortarbeitet, obgleich dieser fast garkeine Rücksicht darauf nimmt. Noch ist eine Stelle anzumerken, wo der Gesang nach einer vollständigen Cadenz auf die Dominante von dort sich durch einen jauchzenden Melodiegang mit Hülfe des Grundmotivs in die Haupttonart zurückschwingt:
[497] Eine ganz ähnliche Stelle findet sich in der Cantate »Ach ich sehe, jetzt da ich zur Hochzeit gehe« aus dem Jahre 1715 (Duett, Takt 25), und da diese Wendung sonst bei Bach ungewöhnlich ist, so enthält sie eine Andeutung, daß zwischen beiden Cantaten kein großer Zeitraum liegen kann. Das folgende Recitativ zeigt in seinem Anfange, wie vortrefflich Bach den zwischen Recitativ und Arioso bestehenden Gegensatz für den Ausdruck auszunutzen wußte:
Die Schluß-Arie steht an Werth der Factur den andern gleich; für die Worte, welche den Wunsch aussprechen, im Himmel mit Jesu vereinigt zu werden, könnte man, grade weil es Bach ist, vielleicht eine tiefer dringende Musik erwarten, doch scheint die Absicht, eine durch alle Arien gehende Steigerung der Belebtheit zu bewirken, entscheidend gewesen zu sein.
Wir können die drei Cantaten auf Weihnachten, Sexagesimae und Ostern als gelungene Versuche ansehen, sich in den Formen der neueren Kirchencantate festzusetzen. Nicht daß sie nur als solche ihren Werth hätten! Wer auf einer Kunsthöhe stand wie Bach, bei dem konnte von bloßen Studien keine Rede mehr sein. Aber keine der drei Cantaten zeigt uns Bachs gesammte Herrschaft über alle Seiten der erforderlichen Technik. Die erste steht in der Arien- und Choralbehandlung noch zurück, wie sie überhaupt die wenigst bedeutende ist; die zweite nimmt einen großartigen Flug, entfaltet aber keine breitere Chorform, die letzte ist durchweg vorzüglich, allein nur ein Solostück. Wir werden nun aber sogleich eine Kirchencomposition [498] kennen lernen, die nicht nur alle Formen mit Meisterschaft vereinigt zeigt, sondern auch beweist, daß schon mit dem Jahre 1714 dasjenige vollständig ausgebildet war, was wir den Bachschen Stil nennen müssen, der zugleich einzig und allein den kirchlichen Stil jener Epoche repräsentirt. Hierunter ist zu verstehen die vollständige Durchdringung der gesammten Vocalmusik durch die Orgelkunst, nachdem diese wiederum ihr Gebiet durch Zuflüsse aus der Kammermusik erweitert hatte. Am unmittelbarsten äußert sich ihr Einfluß im Chor, sowohl dem freien, hauptsächlich fugirten, als dem Choral-Chor; nicht in solchem Maße grundlegend, wohl aber die specifischen Merkmale bestimmend in der Arie und den verwandten Formen für mehre Solostimmen, wo durch das polyphone Geflecht obligater Instrumente die Menschenstimme ihrer persönlichen Bedeutung sich bis auf den äußerstmöglichen Grad begeben muß; im Arioso durch die fast zur Regel gewordene canonische Bassführung und endlich im Recitativ durch die Geltendmachung des instrumentalen, d.h. rein musikalischen Princips. Auch in die Instrumentalsymphonien tritt der Orgelstil überall mit durchgeistigender Kraft ein, sowohl in jene letzten Blüthen der Gabrielischen Kirchensonate, als in die aus der Kammer- oder Opernmusik entnommenen Formen. Zwischen den letzten herrlichen Cantaten älterer und denen neuerer Fassung besteht hinsichtlich des Sologesanges noch der Unterschied geringerer und größerer Formvollendung, was aber mit Rücksicht gesagt sein soll nicht sowohl auf Bachs persönliche Leistung, als auf das Form-Ideal der Zeit. Das Gefäß, welches sich der Meister jetzt für seine Ideen geschaffen hatte, erfährt in dessen 36 übrigen Lebensjahren eine wesentliche Umgestaltung nicht mehr. Die Verschiedenheiten, welche in den einzelnen nachfolgenden Perioden noch zu bemerken sind, stammen aus der immer großartiger sich entwickelnden Empfindungsweise und Lebensanschauung des Künstlers, es sind Verschiedenheiten des Inhalts, der jedesmal die Form nach seinem Bedürfnisse dehnt, sie aber immer für sich geeignet findet. Bedenkt man, daß Bachs unermessene Thätigkeit auf dem Felde der Kirchencantate nun erst eigentlich beginnt, so wird man in dem raschen Herausbilden einer allgenügenden Form, deren sämmtliche Theile er nach unzureichenden und heterogenen Vorlagen fast neu gestalten mußte, die Offenbarung einer staunenswürdigen, einer Naturmacht zu vergleichenden [499] Schöpferkraft erkennen. Da aber auch keine Form ohne einen Inhalt denkbar ist, und beides in unlösbarem Wechselverhältnisse steht, so liegt der Grund zu Tage, warum die Cantaten der zweiten Gestalt dem Gefühl in so ganz andrer Weise gegenüber treten, als die der ersten. Sie reden klarer, bestimmter, der Wille tritt neben dem Fühlen in sein gleiches Recht. Zuerst begegnet man noch zuweilen Anklängen der früheren Weise; manchmal weht es verloren herüber wie Harfenton aus einem versunkenen Zauberlande; bald aber verstummen diese romantischen Laute ganz, und ohne wehmüthige Rückblicke geht es fort zu den ernsten Manneszielen hinan.
Die angedeutete Cantate ist die erste des vierten Jahrgangs der Neumeisterschen Poesien, also für den 1. Adventssonntag bestimmt. Die Jahreszahl 1714 ist zum Ueberfluß von Bach auf dem Titel eigenhändig vermerkt, so daß demnach die Aufführung am 2. December stattgefunden haben muß38. Es knüpft sich an diese Cantate noch ein biographisch interessanter Umstand, auf den wir nachher zurückkommen. Auch muß, um zu ihrer musikalischen Betrachtung zu gelangen, eine früher geschriebene Cantate vorläufig übersprungen werden, welcher alle technischen Vorzüge der Adventsmusik gleichfalls eigen sind, die aber nach mehren Seiten hin in einen andern Zusammenhang gehört. Der Text ist in jeder Beziehung vorzüglich zu nennen, er gehört zu den besten, die Neumeister geschrieben hat. Zwei Choräle schließen ihn ein, am Anfang steht die erste Strophe des Ambrosianischen Adventshymnus »Nun komm, der Heiden Heiland« (Veni redemptor gentium), den Schluß macht der Abgesang der letzten Strophe von »Wie schön leucht't uns der Morgenstern«. Das erste Recitativ bringt die kirchliche Bedeutung von Christi Einzug zum Bewußtsein, die anschließende Arie erfleht seine segnende Herbeikunft zum neuen Kirchenjahre. Durch eine geheimnißvoll schöne Stelle der Offenbarung Johannis (3, 20) wird die Empfindung auf das persönliche Gebiet geleitet, in einer neuen Arie will sich das Herz öffnen, um den einziehenden Heiland in sich zu empfangen, ein Gedanke, dem dann durch den einfallenden Choral allgemeine Gültigkeit [500] gegeben wird. So zerfällt das Ganze in zwei contrastirende Gruppen von je drei Abschnitten. Wie scharf Bach diesen Wink erfaßte, zeigt schon seine Tonartenwahl: in der ersten Gruppe herrschen A moll und C dur, in der zweiten E moll und G dur. Mit sichtlichster Sorgfalt und Wärme sind nun die einzelnen Bilder angelegt und ausgeführt. Der Anfangschor ist das unter Bachs Werken vielleicht einzigste Beispiel der Verbindung des Chorals mit der französischen Ouverture. Es ist klar, daß eine solche nur möglich war nach dem Durchgange jener Instrumentalform durch das Orgelmedium, und in der That entspricht der erste Theil ganz der orgelmäßigen Durchführung eines Cantus firmus, während in dem fugirten zweiten Theile der Ouverture die Beziehung zur Orgel ohnehin nahe lag. Nur ganz bestimmte Strophen konnten sich überhaupt für einen solchen Bau schicken, Bach wird aber auch wohl gesehen haben, daß die Mühe der Gestaltung in keinem Verhältniß zu der erreichten Wirkung stehe und daß die französische Ouverture keine Form biete, welche die Orgel nicht schon in Praeludium und Fuge besser und ausgiebiger besäße. Jedenfalls ist die Combination mit ungemeiner Gewandtheit vorgenommen. Die beiden Anfangszeilen »Nun komm, der Heiden Heiland, Der Jungfrauen Kind erkannt« kommen in den gewichtig-ernsten ersten Theil der Ouverture; die oberen Instrumente schreiten im punktirten Rhythmus dahin, die Orgel-, Fagott- und Streichbässe spielen die Melodie vor, welche darauf vom Sopran und darnach vom Alt in der Quinte, sodann nach einem längern Zwischenspiele wieder auf der Tonika vom Tenor und nochmals auf der Quinte vom Bass angestimmt wird. Dann vereinigen sich die Stimmen zur zweiten Zeile und der 32. Takt führt hinüber in den andern Theil: »des sich wundert alle Welt«. Das betreffende Melodiestück dient als Thema zu einer klangvoll strömenden Fuge im 3/4 Takt39 von prächtig gesunder Herbheit, sie mündet nach Brauch wieder in den Anfangstheil zurück, den die letzte Choralzeile ausfüllt: »Gott solch Geburt ihm bestellt«. Bemerkenswerth ist die Modernisirung, die Bach mit der Melodie durch Erhöhung des dritten Tones der ersten und letzten Zeile vorgenommen hat, wodurch die Tonart A moll [501] gleich anfangs scharf markirt wird, aber ein im diatonischen Klanggeschlecht verbotener Melodieschritt entsteht, die verminderte Quarte:
Der vorspielende Bass füllt den Zwischenraum durch stufenweis aufsteigende Sechzehntel aus; ebenderselbe Zug findet sich in einer Orgelbearbeitung des Chorals durch Nik. Bruhns, die Bach vielleicht gekannt hat40. Das Gis setzte sich aber in seinem Ohre so fest, daß es ihn zu einer neuen Kühnheit im Fugensatze verleitete, wo er so imitirt:
In einer späteren Cantate kehrte er bei Behandlung desselben Chorals zur Originalgestalt zurück41. Die Sache findet ihre tiefere Erklärung in der Stellung Bachs zu den Kirchentonarten, worüber auf spätere Ausführungen verwiesen wird. – Das erste Recitativ, das in ein melodisch sehr entwickeltes Arioso ausgeht, liefert mit seinem Anfange einen recht augenfälligen Beweis, wie bei Bach das musikalische Princip über dem declamatorischen stand. Neumeister dichtet:
Der Heiland ist gekommen,
Hat unser armes Fleisch und Blut
An sich genommen.
Bach macht den ersten Einschnitt ganz regelrecht, den zweiten aber nach dem Worte »Fleisch« und zieht die Worte »und Blut« zum folgenden Satze – declamatorisch unbedingt falsch! Betrachtet man aber die Tonreihen, so stellt sich heraus, daß auf diese Weise drei musikalische Glieder von ganz gleicher Größe entstehen, deren erstes und drittes einen weiblichen, deren mittleres aber einen männlichen Ausgang hat, so daß eine kleine cyklische Periode vom schönsten Ebenmaße gebildet wird. Mit leichter Mühe läßt sich der [502] Declamationsfehler beseitigen, es wird dann aber auch das Wohlgefühl aufgehoben, welches das Ohr beim Erklingen correspondirender Glieder empfindet. Aufgabe des Sängers ist es nun, durch biegsamen Vortrag den Declamationsmangel zu mildern, ohne die musikalische Structur zu zerstören. Von hinreißender Melodieschönheit ist die Tenor-Arie »Komm, Jesu, komm zu deiner Kirche«. Die Singstimme concertirt über einem selbständig fließenden Continuo mit vier im Einklange gehenden Geigen (2 Violinen und 2 Bratschen), deren pastoser Klang das angemessene Gewand für den milden Ernst der Gedanken bildet. Vielleicht durch diesen Klangzauber verleitet hat Bach die Singstimme mehr als billig zurücktreten lassen; ein Ritornell von großartiger Breite exponirt zuerst den melodischen Stoff, auch während des Gesanges fällt den Geigen fast der Haupttheil zu, obwohl das poetische Organ insoweit respectirt ist, daß die Textworte ganz klar vernehmlich werden, und nachher kehrt das volle Ritornell noch einmal wieder, so daß es mittelst des Da capo viermal gehört wird. Im zweiten Arientheil soll die Vernachlässigung freilich wieder gut gemacht werden, aber das Gewicht desselben reicht nicht aus. Abgesehen von diesem Mangel ist die Arie ein Musterstück echten Bachstils. Von der gewaltigen Fülle des melodischen Stromes mag einen Begriff geben, daß bis zum Anfange des zweiten Theiles durch funfzig 9/8 Takte hindurch nur drei wirkliche Cadenzen eintreten. Mit dem nächsten Recitativ werden ganz neue Töne angeschlagen. »Siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an. So jemand meine Stimme hören wird und die Thür aufthun, zu dem werde ich eingehen und das Abendmahl mit ihm halten, und er mit mir«, so lauten die apokalyptischen Worte; Christus naht, und Seligkeit erwartet die, welche ihn willkommen heißen. Aber nicht nur diesen Adventsgedanken hat Bach ausdrücken wollen, viel tiefer greift er, und legt die Gesammtstimmung der Offenbarung Johannis in die zehn zu diesen Worten gesetzten Takte. Bange Spannung lauscht aus den Pizzicato-Accorden der Geigen hervor, die in gleichmüthiger Regelmäßigkeit wie Pendelschläge das Ablaufen der Zeit markiren, welche das Erwartete bringen soll, und hochcharakteristisch mit einem unvorbereiteten Septimenaccorde beginnen, als sei es vom Uranfange her so weiter gegangen. Die Worte singt der Bass, ebensowenig ein dramatisirter [503] Christus, wie in einer andern Cantate durch dasselbe Stimmmittel der heilige Geist persönlich vorgestellt werden soll42; er ist nur das poetisch-musikalische Organ, das die hier beabsichtigte Stimmung am besten vermittelt. Wie eigenthümlich wirkt die Malerei!:
eine Versinnlichung des Ausdrucks, wo es sich um die allerübersinnlichsten Dinge handelt! geschmacklos vielleicht, wenn sie Telemann oder Stölzel unternommen hätten, großartig hier, wo sie im Vordergrunde einer so ungeheuren Empfindungs-Perspective steht. Takt 4 und 5 wären wieder declamatorisch verfehlt mit der Betonung:
wenn nur nicht ein ganz andres Ideal des Meisters Feder geleitet hätte, als die logische Vertheilung der Wortaccente, wenn es nicht der Wächterruf wäre, der schaurig geheimnißvoll durch die Nacht tönt, munter zu sein und wie jene fünf klugen Jungfrauen wohlgerüstet zur Stunde der Entscheidung. So fällt in die helle Feststimmung ein unheimlich rother Schein des jüngsten Gerichts. Aber er wandelt sich zum reinsten Glanze dem, der in kindlicher Hingabe dem Herrn entgegen tritt. Das sagt die dem Recitativ gegenüber gestellte Arie in G dur »Oeffne dich, mein ganzes Herze, Jesus kommt und ziehet ein«. Ja, das ist die wahre Adventsfreude, die ein Jeder unvergeßbar kennen lernte, dessen Kindheit nicht ganz einer religiösen Einwirkung entbehrte, das ist jenes Gefühl, mit dem die Seele, erfüllt von den lieblichen und gewaltigen Bildern der Adventsevangelien, dem Weihnachtstage entgegen harrt! Nur zur Orgel und zu unterstützenden Violoncellen singt der Sopran seine in kindlicher Seligkeit jauchzenden Melodien; einfache Mittel waren hier allein gestattet. Mit welcher Feinheit dennoch das Motiv:
[504] durchgeführt wurde, kann man aus der Bassführung schließen. Die Orgel-Ritornelle und das generalbassmäßige Accompagnement zur Singstimme hat uns Bach, wie gewöhnlich, nicht hinterlassen; durchgängig pflegte man den Stoff zu den Ritornellen aus den Motiven des Gesanges zu entnehmen, sodaß ihre Grundzüge immer unschwer zu erkennen sind, wie auch hier; einzelnes bleibt dem feinen Geschmacke dessen überlassen, der die Wiederherstellung unternimmt. Bekräftigend fällt der Chor ein: »Amen, Amen! Komm, du schöne Freudenkrone, Bleib nicht lange. Deiner wart ich mit Verlangen«, der erste Choralchor in Pachelbelscher Form, dem wir bei Bach begegnen. Als dieser Tonstrom sich vom Orgelchor herab ergoß, muß es gewesen sein, als füllte lauter Goldglanz die Kirche. Die Geigen im Einklange übernehmen eine selbständige Rolle, sie schwingen vom achten Takte in Sechzehnteln ihre glänzenden Fittiche auf und nieder und steigen endlich bis zu der damals sehr gewagten Höhe des dreigestrichenen G wie ins lichte Himmelsblau empor – eine Vorwegnahme jenes berühmten Effects im Credo der BeethovenschenMissa solemnis43.
Es ist noch die zweite Cantate übrig, welche Bach aus dem vierten Jahrgange der fünffachen Kirchen-Andachten in Musik setzte. Sie gehört dem 1. Pfingsttage (7. Juni) 1716 an44. Bach hat Neumeisters Dichtung nicht vollständig componirt, einen Theil des Componirten aber nach 15 Jahren noch einer erweiternden Bearbeitung für werth gehalten. Der erste Satz besteht in einem Duett zwischen Sopran und Bass: »Wer mich liebet, der wird mein Wort halten«, das, ohne durch melodische Innigkeit zu gewinnen, wegen seiner höchst kunstvollen Polyphonie interessant ist. Von den Instrumenten, nämlich Orgel, Streichquartett, zwei Trompeten und Pauken, [505] sind es eigentlich nur die letzten und die Viola, welche nicht ihre eignen melodischen Gänge spinnen. Die Form ist vom italiänischen Concerte hergenommen, und diese muß man gewohnt sein, um durch das erneuerte Abschließen und Wiederbeginnen mit demselben Hauptgedanken nicht befremdet zu werden. Bei der Beschaffenheit des Bibelspruchs war eine Da capo-Form kaum möglich; die gewählte bietet Gelegenheit, den Text-Gedanken als Einheit durch immer neue Combinationen und reichere Harmonien bis ans Ende zu steigern, was hier ohne Frage das angemessenste war. Es folgt ein Recitativ, dem außer der Orgel auch die Streichinstrumente in gezogenen Accorden zur Begleitung dienen. Diese Weise, die uns schon in der Sexagesimae-Cantate begegnete, ist für das Bachsche Recitativ ebenfalls bemerkenswerth. Der ursprünglichen, dramatischen Bestimmung des Recitativs ist sie hinderlich; als solches verlangt es nur musikalische Stützpunkte, kurze Accorde, höchstens bei affectvollen Stellen eine hineindringende harmonische Wendung, und im übrigen illustrirende Zwischensätze. Dieses Accompagnement aber hüllt die Singstimme überall in einen dichten harmonischen Mantel, damit sie keinen Augenblick ihres vorwiegend musikalischen Zweckes vergesse. Es ist, wie man sogleich sieht, der Orgelspielweise angeähnelt. Die recitativischen Betrachtungen finden in dem herrlich gesetzten Pfingstchoral »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« ihren Abschluß, dem einzigen Chorstücke, das die Cantate enthält. Hierauf folgt eine Bass-Arie mit Violine von warmem, melodischem Charakter, und in ihrer trioartigen Anlage stilistisch vollendeter, als die Tenor-Arie der Advents-Cantate, da die Singstimme ihrem Range gemäß bevorzugt ist. Von besonders freundlicher Wirkung ist es, wenn wie im Aufgesange eines Strophenliedes die Melodie der beiden ersten Zeilen zu andern Worten sich wiederholt, eine seltene Verschmelzung dieser Form mit derjenigen der italiänischen Arie! Damit schließt Bachs Cantate, während Neumeister noch für drei weitere Nummern den Text liefert, eine Choralstrophe, eine Bibelstelle (Röm. 15, 13) und eine Ariendichtung. Ob nicht Bach mit dem Choral der dritten Strophe von »Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort« geendigt hat, oder hat endigen wollen, scheint mir zweifelhaft; eine schwache handschriftliche Spur ist davon vorhanden. Der Grund, weshalb er das Uebrige unberührt ließ, denn an [506] ein Verlorengegangensein ist bei der Beschaffenheit des Autographs nicht zu denken, beruht sicherlich in der musikalisch unvortheilhaften Anordnung45.
Fußnoten
V.
In die Stille und äußere Einförmigkeit des künstlerischen Schaffens und der beruflichen Pflichterfüllung brachten einige Abwechslung die von Bach unternommenen Kunstreisen. Täuschen wir uns nicht, so pflegte er eine Zeit lang alljährlich im Herbste irgend einen größeren oder kleineren Ausflug zu unternehmen, um sich an Höfen oder in größeren Städten als Orgelspieler hören zu lassen und auch Cantaten seiner Composition aufzuführen. Eine Reihe solcher Ausflüge ist nachzuweisen. Dem Hofe zu Cassel galt einer derselben. Unter dem Landgrafen Karl hatte damals dort die italiänische Oper gute Zeiten; als Capellmeister war im Jahre 1701 Ruggiero Fedeli angestellt, Lucia Bandarini, Cristina Maria Avolio, A. Noleati, Laura Valetta sind Namen damaliger Sängerinnen; als Sänger werden zwei Albertini und ein gewisser Pierri genannt. Die Gehalte der Sänger und Sängerinnen waren, wenn auch nicht mit den in Dresden gewährten zu vergleichen, doch immer bedeutend genug1; letztere erhielten überdies Portechaisen nach dem Opernhause zur Verfügung, Leckereien für ihre Küche, Geldgeschenke, hunderte von Thalern als Erstattung der Reisekosten, freie Wohnung, die Möbeln zur Einrichtung u.s.w. Des Capellmeisters Einkünfte beliefen sich auf runde 1000 Gülden; dazu wurden 600, später 700 Thaler für zwei Castraten gezahlt. Dagegen bekam der Hoforganist Karl Möller vom Jahre 1709 an außer seinen Real-Emolumenten nur 140 Gülden, und stieg erst zehn Jahre darauf bis zu 200 Thalern. Einer der besten damaligen deutschen Violinkünstler, Johann Adam Birkenstock, für den sich der Hof besonders interessirte und der von 1725 an Concertmeister [507] in Cassel war, erhielt doch, soweit die Nachrichten reichen, auch nicht mehr als 200 Thaler und Emolumente2. Dem Anscheine nach ist es auch der Landgraf selbst viel weniger gewesen, der Bach nach Cassel zog, als der Erbprinz Friedrich, nachmaliger König von Schweden. Ein Anstoß dazu lag schon in der Verwandtschaft beider Höfe: die Mutter des musikalischen Prinzen Johann Ernst war eine Prinzessin von Hessen-Homburg. Im Jahre 1695 hatte auch der Landgraf Karl mit dem Erbprinzen und einigen hessischen Prinzessinnen einen mehrtägigen Besuch in Weimar abgestattet3, im Juli desselben Jahres war der damalige Vice-Capellmeister des Herzogs Wilhelm Ernst, August Kühnel, als Capellmeister an den Hof zu Cassel berufen4. Bachs Reise muß vor dem Ausgange des Jahres 1714 stattgefunden haben; der nächste Zweck soll die Prüfung einer restaurirten Orgel gewesen sein. Bei dieser Gelegenheit nun spielte er in Folge eines Wunsches des Erbprinzen diesem allein auf der Orgel vor und erfüllte durch ein mit fabelhafter Virtuosität ausgeführtes Pedalsolo ihn dermaßen mit Staunen und Bewunderung, daß er einen edelsteingeschmückten Ring vom Finger zog und dem Meister damit ein Geschenk machte. »Wie mit beflügelten Füßen eilte er über die Tastenbalken, deren wuchtig dröhnende Stimmen blitzartig sich in das Ohr der Hörer bohrten. Wenn seine Fußfertigkeit ihm ein solches Geschenk erwarb, was hätte wohl der Prinz ihm geben sollen, wenn er auch die Hände zu Hülfe genommen hätte?« so sagt ein begeisterter Kunstverehrer im Jahre 1743 über dieses Ereigniß. Von Bachs weiteren Erlebnissen in Cassel wissen wir nichts5.
Im Herbst des Jahres 1713 finden wir ihn in Halle. Es bleibt zweifelhaft, ob er nicht von einer weiteren Kunstreise zurückkehrend dort Station gemacht hatte. Grade zu jener Zeit wurde in der dortigen Liebfrauenkirche von Christoph Cuncius aus Halberstadt ein[508] großes Orgelwerk mit 63 klingenden Stimmen erbaut, nachdem die alte Orgel in äußersten Verfall gerathen war. Bach wird davon gehört haben und mag bei seinem großen Interesse für Orgelbau hauptsächlich deshalb nach Halle gekommen sein. Sicher ist, daß er sich unter großem Beifalle als Virtuos producirte. Das Amt des Organisten an der Liebfrauenkirche war seit dem Tode F.W. Zachaus (14. Aug. 1712) noch nicht besetzt, und es scheint Bach unter den Fuß gegeben zu sein, sich zu melden. Die Aussicht auf das großartige, seinem weimarischen Instrumente so unvergleichlich überlegene Werk muß für ihn etwas lockendes gehabt haben. Bis gegen Ostern konnte ein Theil davon schon benutzbar sein; er stellte sich deshalb unmittelbar bevor er abreisen wollte noch dem Kirchencollegium vor und sprach seine Geneigtheit aus, die Stelle anzunehmen. Dasselbe besann sich nicht, die Gelegenheit zu ergreifen, und da mit den Pflichten des Organisten auch die Composition und Aufführung von Kirchenmusiken verbunden war, so drang der Ober-Prediger der Kirche D. Heineccius in ihn, sich gleich auch hierfür der vorschriftsmäßigen Probe zu unterziehen. Bach machte eine Verlängerung des Aufenthalts möglich, componirte an Ort und Stelle eine Cantate und führte sie auf. Darnach reiste er ab, denn die Zeit drängte.
Den Hallenser Kirchenältesten war der weimarische Organist sehr genehm und sie dachten nicht anders, als daß dieser unter allen Umständen im Besitz einer solchen Stelle sich glücklich schätzen könne. Obgleich man ohne eine entscheidende Erklärung aus einander gegangen war, schickten sie ihm doch vor Weihnachten noch eine regelrecht ausgefertigte Vocation in zwei Exemplaren zur Unterzeichnung zu. Nun hatte auch Bach inzwischen dem Herzoge Anzeige gemacht, daß er mit Halle in Unterhandlungen stehe. Dieser hätte ihn ungern scheiden sehen, und mit Gehalt und Dienstverhältnissen der neuen Stellung war Bach selber nicht unbedingt zufrieden. Doch hielt er den Gedanken daran fest und erwartete, daß das Kirchencollegium seine besonderen Wünsche berücksichtigen werde. Deshalb schickte er zwar nach einigen Wochen das eine Exemplar der Vocation ununterschrieben zurück, behielt aber das andre zum Zeichen, daß es ihm Ernst mit der Sache sei, versprach seine Forderungen in kürzester Zeit genau zu formuliren und, wenn [509] Verständigung erzielt sei, selbst wieder nach Halle zu kommen, um sich dort zu verpflichten. Folgendes ist der Wortlaut seines Briefes6:
Dero geehrtestes nebst der vocation in duplo habe zurecht erhalten. Vor deren übersendung bin sehr obligieret, und wie ich es mir vor ein glück schätze, daß das sämmtliche Hoch Edle Collegium meine Wenigkeit gütigst vociren wollen, desto ehe werde Bedacht seyn, dem durch solche vocation hervorblickenden göttlichen Winck zu folgen: Jedoch wolle mein Hochgeehrtester Herr nicht ungütig nehmen, daß meine endliche resolution voritzo nicht notificiren kan, aus ursachen, weilen erstlich meine völlige dimission noch nicht erhalten, (2) Weilen in ein und andern gerne möchte einige änderung haben, sowohl wegen des salarii als auch wegen derer Dienste; welches alles noch diese Woche schrifftlich berichten werde. Intzwischen remittiere das eine exemplar, und weilen meine völlige Dimißion noch nicht habe, als wirdt mein Hochgeehrtester Herr nicht ungütig nehmen, daß noch zur zeit mich durch unterzeichnung meines Nahmens anderwerts zu engagieren nicht vermag, bevor erstlich würcklich außer Diensten. Und so bald mann dann wird einig werden können wegen der station, so werde mich so fort selbsten persöhnlich melden und mit meiner unterschrifft zeigen, daß mich zu Dero Diensten würcklich verbindlich zu machen gesonnen. Intzwischen wolle Mein Hochgeehrtester Herr an die sämmtlichen Herren Kirchen Vorsteher meine ergebenste Empfehlung zu machen unbeschweret seyn, und meine excuse machen daß anitzo die zeit es ohnmöglich hätte leiden wollen, einige cathegorische resolution von mir zu geben, sowohl weiln einige Verrichtungen zu Hoffe wegen des Prinzens Geburthsfeste8, als auch der Gottesdienst an sich selber es nicht leiden wolte; es soll aber ohnfehlbahr diese Woche[510] umständlich geschehen. Ich nehme die mir gütigst übersendete mit allem respect an, und hoffe das hochlöbliche Kirchen Collegium werde die sich etwan noch zeigenden Difficultäten gleichfals gütigst aus dem Wege zu räumen hochgeneigt sich gefallen lassen. In der Hoffnung baldigen glücklichen Erfolges verharre
Hoch Edler
Hochgeehrtester Herr
Dero ergebenster
Diener
Joh. Sebast. Bach.«
Weimar d. 14. Jan.
1714.
Der zweite ausführlichere Brief wird jedenfalls bald gefolgt sein, die Kirchenvorsteher aber wollten von Abänderungen der Berufungsbestimmungen nichts wissen, und verlangten, wenn Bach mit dem Inhalte der Vocation nicht einverstanden sei, die Rücksendung derselben. Dies geschah und jetzt war man in Halle dreist genug, ihm nachträglich noch anzudeuten, daß er wohl die Unterhandlungen nur angeknüpft habe, um sich in Weimar eine Zulage zu erpressen. Eine solche Behandlung mußte Bach um so mehr empören, als sein Gehalt am herzoglichen Hofe längst die Summe des in Halle Gebotenen überstieg. Die Besoldung an der Liebfrauenkirche betrug, die ungewissen Accidentien abgerechnet, alles in allem nur 171 Thlr. 12 ggr., in seiner bisherigen Stellung erhielt Bach schon seit Ostern 1713 die Summe von 225 Gülden (= 196 Thlrn. 21 ggr.). Es waren wieder ein mal, wie einst von Arnstadt nach Mühlhausen, ideale Zwecke gewesen, welche ihn hinweg trieben, und wie damals werden auch jetzt seine Bedingungen bescheiden genug gelautet haben. Aber daß ein Mensch Ideale haben könne, scheint den Kirchenvorstehern unfaßbar gewesen zu sein; sie beurtheilten Bach kurzweg nach dem Maße eines geldsüchtigen Handwerkers. Uebrigens war dieser nicht der Mann, eine so grobe Beleidigung stillschweigend hinzunehmen. Er schrieb einen Brief zurück, der an Deutlichkeit und energischer Haltung nichts zu wünschen übrig läßt:
»Hoch Edler, Vest- und Hochgelahrter
Hochgeehrtester Herr.
Daß das Hochlöbliche Kirchen Collegium meine Abschlagung der ambirten |: wie Sie meinen:| Organisten Stelle befremdet, Befremdet [511] mich gar nicht, indem ich ersehe, wie es so gar wenig die Sache überleget. Sie meinen ich habe üm die erwehnte Organisten Stelle angehalten, da mir doch von nichts weniger als davon etwas bewust. So viel weiss ich wohl, daß ich mich gemeldet, und das hochlöbliche Collegium bey mir angehalten; denn ich war ja, nachdem ich mich praesentiret, gleich Willens wiederum fort zu reisen, wann des Herrn D. Heineccii Befehl und höfliches anhalten mich nicht genöthiget, das bewuste Stücke zu componiren und aufzuführen. Zudem ist nicht zu praesumiren, daß mann an einen Ohrt gehen solte, wo man sich verschlimmert; dieses aber habe in 14 Tagen biß 3 Wochen so accurat nicht erfahren können, weil ich der gäntzlichen Meinung, mann könne seine gage an einem Ohrte, da mann die accidentia zur Besoldung rechnen muss, nicht in etlichen Jahren, geschweige denn in 14 Tagen erfahren; und dieses ist einiger Maßen die Ursach warum die Bestallung angenommen und auf Begehren wiederum von mir gegeben. Doch ist aus allen diesen noch lange nicht zu schliessen als ob ich solche toúr dem hochlöblichen Collegio gespielet hätte, um dadurch meinen Gnädigsten Herrn zu einer Zulage meiner Besoldung zu vermögen, da Derselbe ohne dem schon so viel Gnade vor meine Dienste und Kunst hat, daß meine Besoldung zu vergrößern ich nicht erstlich nach Halle reisen darff. Bedaure also, daß des hochlöblichen Collegii so gewisse persuasion ziemlich ungewiß abgelauffen, und setze noch dieses hinzu; Wenn ich auch in Halle eben so starke Besoldung bekommen als hier in Weimar, Wäre ich dann nicht gehalten die ersteren Dienste denen anderen vorzuziehen? Sie können als ein Rechts-Verständiger am besten davon júdiciren, und wenn ich bitten darff, diese meine Rechtfertigung dem Hochlöblichen Collegio hinterbringen, ich verharre davor
Ew. Hoch Edlen
gehorsamer
Joh. Seb: Bach
Concertmeister und
Hofforganist.
Weimar d. 19. Mertz
1714.
[Adresse:]
A Monsieur | Monsieur A. Becher | Licentié en Droit. Mon | tres honore Ami | a | Halle | [links unten:] . couvert.«
[512] Daß es mit dem gerühmten Wohlwollen des Herzogs gegen ihn seine Richtigkeit hatte, sahen wir früher schon aus der mehre Jahre hindurch stetig aufsteigenden Besoldung Bachs. Auch mit Anfang des Jahres 1714 fand eine Gehaltserhöhung statt, so daß er sich im Gesammten jetzt auf 264 Gülden stand9. Die Worte: er brauche zur Vergrößerung seiner Besoldung nicht erst nach Halle zu reisen, deuten an, daß auch ohne diesen Zwischenfall ihm von neuem eine Zulage zugedacht war, was schon wegen der Erweiterung seiner Dienstpflichten geschehen mußte. Zu derselben Zeit nämlich rückte er in die Stelle eines Concertmeisters auf, der an der ersten Geige, wie noch heute, den Instrumentalchor zu führen hatte. Bei dem Alter und der Gebrechlichkeit Dreses wird mit diesem Amte wohl die Leitung der Kammermusik ganz auf ihn übergegangen sein, denn auch von den Capellmeisterpflichten mußte er in der Folge einen Theil übernehmen.
Am Anfang des December verweilte er in Leipzig, wo er am 2. des Monats, dem 1. Adventssonntage in der Nicolai- oder Thomaskirche die Cantate »Nun komm, der Heiden Heiland« aufführte und den ganzen Gottesdienst hindurch das Organistenamt versah. Es war eine Reise, wie er sie Jahrs zuvor nach Halle gethan hatte, rein künstlerischen Zwecken gewidmet; sich eine andre Stellung zu suchen, daran dachte er jetzt so wenig, wie damals. Besonders wird es ihn getrieben haben, Kuhnaus Bekanntschaft zu machen, dessen Werke ja nicht ohne Einfluß auf seine Entwicklung gewesen waren, und sich vor ihm in dem ganzen Umfange seines Könnens zu produciren. Um sich in dem verwickelteren Cultusgange nicht zu verirren, notirte er denselben auf der Innenseite der Cantaten-Partitur eigenhändig auf. Gelegenheit, sein Orgelspiel zu zeigen, war hier genug geboten. Er eröffnete den Gottesdienst mit einem [513] Praeludium; dann folgte eine Motette, darnach wurde zum »Kyrie« praeludirt. Nach der Intonation des Predigers vor dem Altar, dem Verlesen der Epistel und dem Singen der Litanei folgte das Praeludium auf den Haupt-Choral, wo er seine Kunst in der Choralbearbeitung zeigen konnte. Dann wurde das Evangelium verlesen und Bach leitete nun die »Haupt-Musik«, also in diesem Falle seine eigne Cantate durch ein Orgelvorspiel ein. Nach der Predigt war Communion, zu deren Choral wieder praeludirt wurde, und endlich hatte er den Gottesdienst zu beschließen und konnte hier in einem Orgelstücke von breitester Ausführung noch einmal seine ganze Kunst zusammen fassen10. Dies ist das erste Mal, daß er die Stadt besuchte, in der er 27 der thatenreichsten Jahre seines Lebens verbringen sollte.
Mittlerweile begann man in Halle einzusehen, wie unbegründet die gegen Bach erhobenen Beschuldigungen gewesen waren. Als nach dreijähriger Arbeit gegen Ostern 1716 Cuncius sein Werk vollendet hatte, wurde Bach zur Prüfung desselben herbeigezogen. Es ehrt das Collegium der Kirchenvorsteher, daß es sein Unrecht gut zu machen suchte, und wenn sie trotz allem vorangegangenen Vertrauen zu seiner Unparteilichkeit besaßen, so zeigt das, in welchem Lichte ihnen Bachs Charakter ursprünglich erschienen sein muß. Bei der Prüfung sollten ihm zur Seite stehen Kuhnau aus Leipzig und Christian Friedrich Rolle aus Quedlinburg, der Vater des bekannten Kirchencomponisten Johann Heinrich Rolle. Die Einladung vermittelte der Licentiat Becker, und unser Meister fühlte sich durch sie sehr angenehm berührt. Er schrieb einen artigen Brief zurück, folgenden Wortlauts:
»Hoch Edler
Insonders HochgeEhrtester Herr.
Vor die gantz sonderbahre Hochgeneigteste confidence Ew-Hoch-Edlen wie auch sämmtlichen HochEdlen Collegii, bin höchstens verbunden; [514] und wie ich mir das gröste plaisir mache Ew-HochEdlen iederzeit mit gefälligsten Diensten aufzuwarten, desto mehr werde vor ietzo bemühet leben, Ew-HochEdlen zu bestimter meine aufwartung zu machen, und dann nach möglichkeit in dem Verlangten examine satisfaction zu geben. Bitte demnach diese meine gefaste resolution dem HochEdlen Collegio sonder mühe zu eröffnen, anbey auch meine gantz gehorsamste Empfehlung abzustatten und vor das gar besondere Vertrauen meines schuldigen respects es zu versichern.
Da auch Ew-HochEdlen sich schon vielfältig mühe nicht allein voritzo sondern auch ehedem vor mich geben wollen11, solches erkenne mit gehorsahmen Danck, und versichere daß ich mir die gröste Freude machen werde mich lebenslang zu nennen
Ew-HochEdlen
Meines insonders Hochgeehrtesten Herrn
ergebenster Diener
Joh. Seb. Bach,
Concertmeister.
Weimar d. 22. April
1716.
[Adresse:]
Herrn | Herrn Augusto Becker | Bestmeritirten Licentiato Juris, | Wie auch der Kirchen B.M. Virginis | fürnehmen Vorstehern. Meinem | insonders HochgeEhrtesten Herrn | in | Halle. |«
Die Prüfung war in die volle Woche nach Ostern gesetzt und sollte am 29. April ihren Anfang nehmen. Kuhnau wünschte den Termin um eine Weile hinausgeschoben zu sehen, da er grade von Berufspflichten umdrängt werde, hierauf ging man jedoch in Halle nicht ein12. Das schriftliche Gutachten, welches von den drei Sachverständigen gemeinschaftlich abgegeben wurde, lautete für Cuncius recht ehrenvoll und hatte einen wesentlicheren Mangel nur bei der Einrichtung der Bälge anzumerken. Die Disposition war im Wesentlichen genau ausgeführt und somit konnte sich Halle rühmen, eine [515] der größten Orgeln in Deutschland zu besitzen13. Was Bach mit einem solchen Reichthum verschiedenartiger Register zu leisten vermocht hätte, ist natürlich unberechenbar, aber auch geringeren Organistenkräften kam das Werk hebend und helfend entgegen schon durch die einsichtsvolle Sorgfalt, mit welcher die drei Manuale im Charakter von einander unterschieden waren, ohne daß doch ein jedes der Fülle und Abrundung entbehrte. Uebrigens hatte es den Kirchenvorstand noch einige Mühe gekostet, einen tüchtigen Organisten für das Werk zu bekommen: die Stelle war eben zu schlecht dotirt. Auch Melchior Hoffmann aus Leipzig, mit dem nach dem Rücktritte Bachs verhandelt wurde, lehnte ab. Endlich in der Mitte des Jahres 1714 hatte sich Gottfried Kirchhoff zur Uebernahme des Amts verstanden; er war ein Altersgenosse Bachs (geb. 1685), Schüler Zachaus und damals in Quedlinburg Organist. Als Setzer von Orgelchorälen wandelte er mit Geist und Selbständigkeit in den Bahnen Pachelbels14. –
In demselben Maße, in welchem Bachs Berühmtheit anwuchs, mehrte sich auch die Zahl der Schüler. Da die virtuosische Seite seines Künstlerthums vorzugsweise auffiel, so wurde auch sein Unterricht zunächst weniger in der Composition, als im Orgel- und Clavierspiel begehrt. Von dem ersten Schüler und langjährigen Amanuensis, Johann Martin Schubart, ist schon die Rede gewesen. Als zweiten haben wir Johann Caspar Vogler zu nennen. Er war [516] 1696 zu Hausen bei Arnstadt geboren15, und soll schon als Knabe Bachs Unterweisung genossen haben, als dieser noch an der Neuen Kirche Organist war16. Später kam er in die musikalische Zucht Erlebachs und des Organisten Vetter zu Rudolstadt, darnach begab er sich wieder zu Bach nach Weimar, der zufolge eigner Versicherung seinen vorzüglichsten Orgelschüler aus ihm bildete17. Im Jahre 1715 wurde er Organist in Stadtilm, und nach Schubarts Tode dessen Nachfolger. Seitdem hat er Weimar nicht wieder verlassen, obgleich er 1735 einmal bei einem Probespiel in der Marktkirche zu Hannover zehn andre Candidaten glänzend aus dem Felde schlug. Um ihn sich zu erhalten, ernannte der Herzog Ernst August ihn zum Vice-Bürgermeister. Sein Tod fällt um das Jahr 1765. Von seinen Compositionen hat er im eignen Verlage ein Choralwerk herausgegeben: Vermischte musikalische Choral-Gedanken, 1. Probe (Weimar, 1737)18. – Etwas älter an Jahren, aber weniger früh der Lehre entwachsen war Johann Tobias Krebs. Geboren 1690 zu Heichelheim bei Weimar, besuchte er die weimarische Schule und war willens zu studiren, wurde jedoch 1710 Cantor und Organist in Buttelstädt. Seine höhere musikalische Ausbildung erwarb er sich erst, als er schon in Amt und Ehe war. Bis zum Jahre 1717 wanderte er regelmäßig zu Fuß von Buttelstädt herein, zuerst als Schüler Walthers in Spiel und Composition; später genügte ihm dies nicht mehr und er setzte seine Spielstudien bei Bach fort. Die Früchte eines so energischen Strebens lassen sich an den wenigen Compositionsresten, [517] die ich zusammenbringen konnte, noch deutlich erkennen. Es sind zwei Choralbearbeitungen von complicirtester Künstlichkeit, aber voll echten musikalischen Gefühls. Eine derselben, »Christus, der uns selig macht« per Canonem diminutum, ist leider Fragment. Aus der ersten Choralzeile wird ein Thema gebildet:
das zuerst fugirt wird und durch die ganze Bearbeitung hindurch sein Wesen treibt; außerdem wird aber der contrapunctische Stoff auch aus den andern Choralzeilen gewonnen. Der Cantus firmus liegt im Bass in halben Noten; gleich beim Auftreten der ersten Zeile gesellt sich dieselbe im Discant mit Viertelnoten dazu. Dies Verfahren wiederholt sich bei den folgenden Zeilen, wenn auch nicht mit gleicher Consequenz. Ebenfalls im Canon per diminutionem ist der Orgelchoral »Machs mit mir, Gott, nach deiner Güt« angelegt19. Für den tiefen Eindruck, den Tobias Krebs von Bachs Künstlerschaft mit hinweg nahm, ist es ein Beweis, daß er seinen Sohn Johann Ludwig (geb. den 10. Februar 1713)20 als 13jährigen Knaben schon demselben Lehrer anvertraute. Aus diesem entwickelte sich bekanntlich ein Orgelmeister ersten Ranges, aber über dem genialen Sohne darf der talentvolle Vater nicht vergessen werden. Im Jahre 1721 kam er als Organist nach Buttstädt, wo er 1758 noch lebte21. – Kürzere Zeit ließ sich von Bach unterweisen Johann Gotthilf Ziegler, geb. zu Dresden 1688, ein frühreifes, vielseitiges und bewegliches Talent. Auch dieser trieb nach Walthers Bericht nur Clavier-und Orgelspiel bei Bach, in der Composition nahm er den alten Johann Theile in Naumburg zum Führer. Aber es ist bei dem Stande der damaligen Praxis ganz unmöglich, beide Gebiete so scharf zu trennen; eine Choraldurchführung z.B. fiel in das Gebiet des Orgelspiels, setzte aber doch Kenntniß der Compositionsregeln [518] voraus. Und Ziegler bekennt noch als 58jähriger Mann mit Stolz, wie viel er auch hierin Bach verdanke: »Was das Choralspielen betrifft, so bin von meinem annoch lebenden Lehrmeister dem Herrn Capellmeister Bach so unterrichtet worden, daß ich die Lieder nicht nur so obenhin, sondern nach dem Affect der Worte spiele«22. Ziegler lebte als Organist an der Ulrichskirche und gesuchter Lehrer in Halle, wo er auch um 1715 Theologie und Jurisprudenz studirt hatte; nach Kirchhoffs Tode (1746) an dessen Stelle zu kommen gelang ihm jedoch nicht. Ehrenvolle Rufe nach auswärts lehnte er ab23. – Im Jahre 1715, wahrscheinlich um Ostern, nahm auch Bach seinen Neffen Bernhard, den zweiten Sohn seines Bruders in Ohrdruf, zu sich. Er hatte nicht vergessen, welchen Dank er ihm von früher schuldete, und daß werkthätige Hilfe unter den Gliedern der Bachschen Familie von Alters her Brauch war. Bernhard Bach, geb. den 24. Nov. 1700, hatte zuerst das Ohrdrufer Lyceum besucht; er erzählt aber selber naiv, daß »der schwachen memoriae wegen beim Studiren zu bleiben sein Vater nicht für rathsam gefunden. Deshalb habe er ihn nach Weimar zu seinem Herrn Bruder, damaligem Concertmeister, der auf dem Clavier ein sehr berühmter und starker Maître sei, geschickt, und hier habe er auch sowohl im Clavier als in der Composition gute profectus erlanget«24. Ueber die Dauer seines Aufenthaltes im Hause des Oheims sagt er nichts, doch wird derselbe sich nicht über das Jahr 1717 hinaus erstreckt haben, denn wäre er mit nach Cöthen übergesiedelt, so hätte er es sicher erzählt. Seinem Schülerfleiße verdanken wir höchst wahrscheinlich den größten [519] Theil eines werthvollen Manuscripts mit Sebastian Bachschen Compositionen; das mit der Organistenstelle zu Ohrdruf 1744 auf seinen Bruder Andreas Bach überging25. Bis zu diesem Jahre, wo er starb, hatte Bernhard den Platz seines 1721 gestorbenen Vaters bekleidet. Es liegen zwei Clavierwerke von ihm vor, deren eins, eine Suite in Es dur, in fast komischer Art das Vorbild Sebastians verräth: man könnte beinahe Takt für Takt ihren Ursprung aus den sechs Partiten des ersten Theils der »Clavierübung« nachweisen. Selbständiger ist das zweite, eine viersätzige Sonate in B dur26. – Alte Erinnerungen aus der Zeit seines Aufenthaltes in Ohrdruf und Lüneburg mußten sich in Sebastian Bach erneuern, als zwischen den Jahren 1715 und 1717 sein Jugendfreund Georg Erdmann ihn in Weimar aufsuchte. Erdmann war seit 1713 in russischen Diensten; er hatte Jurisprudenz studirt, und fungirte im Jahre 1718 als Oberauditeur in der Division des russischen Fürsten Repnin. Aus dem Norden machte er zuweilen Ausflüge in seine Heimath, und bei einer solchen Gelegenheit kam er auch nach Weimar und freute sich über seines einstigen Schulkameraden Häuslichkeit und blühende Familie. Der mündliche Austausch ihrer gegenseitigen Erlebnisse wurde später noch schriftlich fortgesetzt, und wir werden dann noch einiges über Erdmann zu erzählen haben27.
Fußnoten
VI.
Bach war also seit dem Beginn des Jahres 1714 Hoforganist und Concertmeister1. Wir berichteten auch schon, daß er in der letzteren Eigenschaft einen Theil der Capellmeisterpflichten übernehmen mußte. Samuel Drese war durch Alter und Kränklichkeit ziemlich dienstunfähig, und sein Sohn jedenfalls ein höchst unbedeutender Musiker; [520] Herzog Wilhelm Ernst wünschte aber auch bei sich eine regelmäßige Kirchenmusik nach dem Neumeisterschen Muster einzurichten, unzweifelhaft durch das Beispiel seines Vetters in Eisenach veranlaßt. Das hohe Compositionstalent seines Hoforganisten war ihm nicht verborgen geblieben, und deshalb traf er die sonst nicht gewöhnliche Anordnung, daß derselbe als Concertmeister jährlich auch eine gewisse Anzahl von Kirchenstücken zu componiren und aufzuführen habe2. So concentrirten sich mehr und mehr die wichtigsten musikalischen Functionen in Bachs Person.
Der Textdichter für die Kirchencantaten fand sich am Orte selbst. Salomo Franck, geb. am 6. März 1659 in Weimar, wo sein Vater Kammersecretär war, studirte vermuthlich in Jena, von wo er 1685 seine erste Gedichtsammlung herausgab, soll sich darnach eine Weile in Zwickau aufgehalten haben, kam 1689 als schwarzburgischer Regierungssecretär nach Arnstadt, ging 1697 zur Bekleidung eines ähnlichen Amtes nach Jena zurück und lebte später als Gesammt-Secretär des fürstlich sächsischen Oberconsistoriums in Weimar, wo er im Jahre 1725 starb. Er war hier zugleich Bibliothekar und Vorsteher des herzoglichen Münzcabinets. Als Mitglied der »fruchtbringenden Gesellschaft« hieß er der »Treumeinende«3.
Franck gehört unbestreitbar zu den wirklichen Dichtern jener Zeit. An formaler Gewandtheit steht er Neumeister gleich, an Reinheit des Ausdrucks nur wenig nach. Dazu besitzt er, was jenem gewöhnlich fehlt: innigste Wärme der Empfindung. Diese Anlage mußte ihn zur Lyrik führen, was für jene Zeit die geistliche Dichtung bedeutet. Seine Festspiele, Hochzeits-, Trauer- und sonstigen Gelegenheitsgedichte zeichnen sich durch ein gewählteres, vornehmeres Wesen vortheilhaft aus, ohne sonst durch Mannigfaltigkeit und originelle Gedanken hervorzuragen. In der religiösen Poesie dagegen zeigt er sich als eine ganz eigenartige Persönlichkeit. Sein Gebiet ist wohl auch hier nur ein beschränktes, aber Anschauungsweise und Ausdrucksformen sind nicht entlehnt und angelernt, sondern von innen herausgeboren. Das Großartige und Schwunghafte ist [521] seine Sache weniger, wohl aber eine sinnige Schwärmerei und weiche Melancholie; gern verweilt er bei den Leiden und Schmerzen des menschlichen Lebens, bei Tod und Grab und der sehnsuchterweckenden Vorstellung einer überirdischen Seligkeit. In der Behandlung dieser Gegenstände entwickelt er einen nicht gewöhnlichen Phantasiereichthum, hat sich aber rasch auch einen bestimmten Stil, den angemessensten Ausdruck seiner Empfindung, herausgebildet. Wenn man sich einigermaßen in seine Weise hineingefunden hat, ist es fast unmöglich, ihn nicht sofort zu erkennen; hierin sowie in einem gewissen mystisch träumerischen Tone erinnert er, wenn man von dem Unterschied der Zeiten und theilweise der Stoffe absieht, an Eichendorff. Wie sich gewisse Wendungen und Bilder bei ihm häufig wiederholen, so bedient er sich auch mit Vorliebe verschlungenerer metrischer Formen, liebt künstliche Reimverschränkungen, Vermischung längerer und kürzerer Verszeilen und rahmt eine Strophe gern durch denselben Gedanken ein. Die subjective Haltung seiner Gedichte hat nicht gehindert, daß viele in den kirchlichen Gebrauch übergingen. Franck ist ein rechter Beleg dafür, wie der Umwandlung des objectiv kirchlichen Gefühls in das persönlich religiöse die allgemeine Neigung auch außerhalb der eigentlich pietistischen Kreise entgegen kam. Ein Leser seiner Dichtungen würde bei oberflächlicher Kenntniß der Verhältnisse sicherlich auf einen pietistischen Verfasser rathen. Daß er nichts weniger als ein solcher war, beweist schon seine Freundschaft mit dem Arnstädter Superintendenten Olearius4 und die geachtete Stellung, welche er am Hofe Wilhelm Ernsts einnahm; noch mehr beweist es die reiche Fülle von Cantaten-Texten in Neumeisters Manier. Am meisten verbreitet hat sich von seinen Liedern wohl »So ruhest du, O meine Ruh« u.s.w., obwohl es sich durch Mangel an Einfachheit, besonders ein unablässiges Haschen nach Wortspielen als Jugendarbeit verräth, wie es denn auch schon in seiner ersten Sammlung zu finden ist. Diese erschien unter dem Titel: »Salomon Franckens aus Weimar Geistliche Poesie« im Jahre 1685. Zwölf Jahre später gab er in Arnstadt eine Sammlung von Madrigalen über das Leiden Christi heraus, Dichtungen, mit deren [522] Gefühlsinnigkeit man sympathisiren kann, ohne die Geschmacklosigkeit mancher Ausdrücke, den Schwulst und die Incorrectheit vieler Bilder zu verkennen. Mehr und mehr gelang es ihm aber, für seine Gedanken den natürlichsten und ansprechendsten Ausdruck zu finden. Die »Geist- und weltlichen Poesien«, die in zwei Theilen 1711 und 1716 ans Licht traten, bezeichnen den Höhepunkt der Franckschen Leistungen im geistlichen Strophenliede5. Außerdem ist darin wohl das Meiste von dem vereinigt, was er an Gelegenheitsarbeiten bis zum Erscheinungsjahre des zweiten Theils producirt hat, mit Ausnahme gewisser geistlicher Cantaten, die wir gleich näher kennen lernen werden.
Francks früheste Cantaten-Dichtungen sind noch in der älteren Form gehalten und bestehen aus Bibelsprüchen und Strophenliedern. Ein ganzer Jahrgang, betitelt »Evangelische Seelen-Lust über die Sonn-und Festtage durchs ganze Jahr«, ist im ersten Theile der »Geist- und weltlichen Poesien« enthalten (S. 94–210), nur in zwei Gesprächspielen auf den zweiten Weihnachts- und den ersten Ostertag sind recitativische Rhythmen eingemischt, aber unbefangen genug beide Male auch dem Chore zugetheilt. In dem zweiten Theile derselben Sammlung befindet sich ebenfalls ein Jahrgang geistlicher Gedichte, sogenannte »Singende Evangelische Schwanen« (S. 2–86), sämmtlich auf die Sterblichkeit und das jenseitige Leben gerichtet. Während diese ausnahmslos einfache Arien, d.h. Strophengesänge sind, erscheinen aber auf Seite 132, 134 und 190 die ersten Cantaten-Texte in der vollständigen Neumeisterschen Form. Dazwischen treten uns mehre Dichtungen von vermittelnder Form entgegen, welche das Recitativ verschmähen und nur eine Anzahl von modern gestalteten Arien verschiedenen Versmaßes aneinanderreihen, denen zuweilen kurze Schriftsprüche zwischengeschoben sind. Dieser für die Musik nicht vortheilhafte Versuch eines Ausgleiches zwischen älterer und neuerer Cantate ist offenbar dadurch hervorgerufen, daß Franck erst als Funfziger mit der neuen Gattung in Berührung kam, und eine liebgewonnene ältere nicht ohne weiteres fahren lassen [523] mochte. Von den selbständigen drei Cantaten-Jahrgängen seiner Arbeit, die wir überkommen haben, weist der mittlere nur Dichtungen dieser Form auf, während in den andern beiden die Recitative nach Neumeisters Vorgange angewendet sind. Soweit meine Forschung reicht, ist er aber mit seinem Experimente allein geblieben. Daraus nun, daß alle diese neuen Bildungen zuerst im zweiten Theile der »Geist- und weltlichen Poesien« sich finden, erhellt wiederum, daß der Anstoß zur Einführung der neueren Kirchen-Cantate von Eisenach gekommen und hauptsächlich durch Neumeisters dritten und vierten Jahrgang bewirkt ist. Alle jene Dichtungen werden nach dem Jahre 1711 entstanden sein, und es ist sehr möglich, ja wahrscheinlich, daß Bach diese und jene davon componirt hat; auch aus den älteren Franckschen Texten mag er den einen und andren benutzt haben. Unter seinen jetzt bekannten Cantaten findet sich freilich keine daher. Aber daß er sich für Francks Poesien sehr warm interessirte und dessen Texte nicht nur auf höheren Wunsch in Musik setzte, ist unbestreitbar. Mochte er an Kraft, Schwung, Frische ein ganz andrer Geist sein, einen Zug hatte er mit dem Dichter gemeinsam, den transcendentalen, mystischen, die Neigung, aller irdischen Dinge Wirklichkeit im Gegensatze zu dem Traume eines überirdischen Glückes möglichst dunkel und unzureichend anzusehen. Und wenn er sich sagen mußte, daß Franck an Schärfe und Bestimmtheit des Ausdrucks es Neumeister nicht gleichthue, auch mit seinen Arien der Bildung größerer Musikformen aus Mangel an Verständniß dafür zu wenig entgegen komme, so kann er andrerseits für den melodischen Wohllaut seiner Verse nicht unempfänglich geblieben sein. Noch in Leipzig wandte er sich mehrfach zu Francks Poesien zurück, und darf dies bei den Cantaten weniger auffallen, die ja an poetischem Werth Picanders trockne Machwerke hoch überragen, so hatte er doch auch andre Lieder dergestalt lieb gewonnen, daß er ihnen in seinen Tonwerken eine Stätte zu bereiten strebte. Es wird an der gehörigen Stelle nachgewiesen werden, daß eins der herrlichsten Stücke aus der Matthäuspassion auf der Umbildung eines Franckschen Gedichtes beruht, die wohl kaum von einem andern als Bach selbst herrühren kann. Und alles spricht dafür, daß auch in der Johannespassion eine Reihe von Franckschen Texten zur Verwendung kam. Daß beide Männer persönlich [524] einander nahe traten, ist nirgends zu erkennen; glaublich wäre es schon, doch darf nicht vergessen werden, daß Franck 26 Jahre älter war6.
Eine regelmäßige Benutzung Franckscher Texte durch die herzogliche Capelle und mit ihr eine fortlaufende Reihe Bachscher Compositionen beginnt erst mit dem Osterfeste 1715. Welche Ordnung den musikalischen Aufführungen in der Schloßkirche vorher zu Grunde lag, ist nicht erkennbar, und ebensowenig, wie weit sich Bach als Componist daran betheiligte. Selbst das muß also dahin gestellt bleiben, ob eine bestimmte Verpflichtung zur Lieferung gewisser Kirchenstücke ihm schon beim Antritt seines Concertmeister-Amtes auferlegt ist, oder erst im folgenden Jahre. Aber es fällt in diesen Zeitraum die Composition zweier jedenfalls Franckscher Dichtungen, und nimmt man die oben besprochenen Neumeisterschen Cantaten hinzu, so ergeben sich doch Spuren einer schon damals nicht unerheblichen Thätigkeit auf diesem Gebiete. Jene beiden Cantaten gehören dem dritten Trinitatis-Sonntage (17. Juni) 1714 und dem Sonntage Palmarum des Jahres 1714 oder 1715 (25. März oder 14. April)7. Die erstere, »Ich hatte viel Bekümmerniß«, zählt zu den bekanntesten Bachs8. Sie nimmt Beziehung zur Epistel des Sonntags, ist jedoch so allgemein gehalten, daß Bach zugleich darüber schreiben konnte: Für jede Zeit (Per ogni tempo). Vielleicht entstand sie auf eine besondere Veranlassung, denn die Ausführung ist ungewöhnlich breit und reich. Eine sehr schöne Sinfonia (C moll ) leitet ein. Sie hat die Form der Gabrielischen Sonate: Oboe und erste Violine imitiren in gesangreichen, bis zum Leidenschaftlichen ausdrucksvollen Gängen, Violine II, Viola, Orgel und Bässe lagern sich in breiten Harmonien darunter. Der vocale Theil besteht aus vier über Bibelstellen gesetzten Chören, deren dritter von einer durchziehenden Choralmelodie getragen wird, drei Arien, zwei Recitativen und einem Duett. Der erste Chor: »Ich hatte viel Bekümmerniß in meinem Herzen, aber [525] deine Tröstungen erquicken meine Seele« (Ps. 94, 19) führt das Thema:
in drängenden Engführungen durch (Einsatz auf der fünften Themanote) und zwar in den ersten 18 Takten mit stufenweiser Erhöhung und stetigen Septimen-und Secund-Vorhalten, dann eine Weile im Quart-Abstande, endlich wieder mit stufenartiger Ueberbietung und viel reicherer Harmonie, bei der zuletzt auch der volle Instrumentenchor sich betheiligt. Mit einem langgezogenen »Aber« wird in ein Vivace: »Deine Tröstungen erquicken meine Seele« hinübergeleitet: glänzendes Auf- und Abwogen sämmtlicher Sing- und Instrumentalstimmen in Sechzehnteln bei vorherrschendem Dur-Charakter, die End-Takte beruhigen sich wieder zur Entfaltung einer äußerst geistreichen Polyphonie und schließen in C mit großer Terz. Es folgt eine Arie für Sopran mit obligater Oboe, die den Empfindungen der Angst und des Kummers mit Bachscher Ueberschwänglichkeit Ausdruck giebt. Ein sehr musikalisches Recitativ für Tenor, die Klage eines Gottverlassenen, leitet zu der zweiten Arie (F moll) hinüber. Der Text vergleicht hier in theilweise unklaren Bildern die Noth des Daseins mit Meeresfluthen, welche das Lebensschifflein zu zertrümmern drohen. Die Bewegung des Streichquartetts ist durch diese Vorstellung hervorgerufen. An harmonischer Fülle und Tiefe sucht die Arie ihres gleichen, die Stimmung der ersten erfährt durch sie noch eine mächtige Steigerung. Der Gesang ist auch hier nur Erster unter Gleichberechtigten, niemals schließt sich ihm ein Instrument unterstützend an, und wo diese sämmtlich in Thätigkeit sind, entsteht Fünfstimmigkeit. Zu dem in den sattesten Farben ausgeführten Schmerzensbilde tritt in Gegensatz ein unglaublich rührender Choranfang: »Was betrübst du dich, meine Seele« (Ps. 42, 6), von Wenigen vorgesungen, von Allen eindringlich wiederholt, der sich auf den Worten »und bist so unruhig in mir« zu einem Tonbild von staunenswerther Künstlichkeit belebt: den Singstimmen werden vier Motive von starker rhythmischer Verschiedenheit zugetheilt, die sich canonisch jagen und alle zugleich ertönen, dazu tritt eine aus ganz[526] neuen Motiven gewobene sechsstimmige Begleitung, die sich erst später mit dem Chor vereinigt. Das unruhige Hoffen und Fürchten des Menschenherzens kann nicht genialer gezeichnet werden. Darauf dann ein neuer Abschnitt »harre auf Gott« voll süßer Ruhe, und ein innig froher Aufschwung, der hinüberführt in die köstliche Schlußfuge (C moll). Der Gesammtsatz ist ein Nachklang von Stimmungen, wie sie in der Musik zum 130. Psalm und an einigen Stellen desActus tragicus hervortreten. In technischer Hinsicht mahnt an die frühere Periode der Bau der Fuge, indem ein einziges Instrument sich in den vierstimmigen Vocalsatz mit dem Thema einschmiegt, dann eine Weile die Instrumente allein fugiren und in ihr weit ausgespanntes Gewebe endlich die Singstimmen wieder hineinschlagen, den Fugenaufbau von neuem beginnend. Ein Recitativ für Sopran und Bass, die allegorischen Vertreter der Seele und Christi, beginnt den zweiten Theil der Cantate. Es ist ebenfalls sehr musikalisch, die begleitenden Streichinstrumente sind oft selbständig beschäftigt. Gleich die Anfangstakte enthalten einen feinen Zug. Zu den Worten der Seele: »Ach Jesu, meine Ruh, mein Licht, wo bleibest du?« steigen die Geigen in leisen Accorden aufwärts zur Dominantharmonie, so recht das sehnsüchtige Ausschauen versinnlichend. Als aber nach der Antwort Jesu: »O Seele, sieh, ich bin bei dir!« die Seele aus ruft: »Bei mir? hier ist ja lauter Nacht!« lassen die Geigen den langgehaltenen hohen Accord los, und sinken jäh durch anderthalb Octaven in die Tiefe hinab, ja nehmen zu dem Worte »Nacht« eine brütend drohende Accordlage an, die sich erst bei den Trostworten Christi wieder aufhellt. Dann folgt zu bloßer Orgelbegleitung ein Duett zwischen denselben beiden Figuren (Es dur , nachher 3/8, zum Schluß wieder ), und darauf ein großer Choralchor über die zweite und fünfte Strophe von »Wer nur den lieben Gott läßt walten«; die drei andern Stimmen contrapunctiren mit einem selbständigen, tonleitermäßig auf- und absteigenden Motive über die Psalmworte (116, 7): »Sei nun wieder zufrieden, meine Seele, denn der Herr thut dir Guts«. Es ist dies in den Bachschen Cantaten die erste Uebertragung eines vollständigen Orgelchorals in Pachelbels Form auf den Vocalchor, weit hinausragend aber über Pachelbels Technik durch die consequente Verwendung eines eigenen Contrapuncts. Der Cantus firmus liegt erst im Tenor, dem gegenüber nur Solostimmen aufgestellt[527] sind, auch schweigen alle Instrumente bis auf die Orgel, zur andren Strophe aber ergreift der Sopran die Melodie, der volle Chor tritt in Thätigkeit mit allen früheren Instrumenten, welchen sich noch vier Posaunen gesellen; ein zweiter Contrapunct mischt sich ein, der erste erfährt eine neue Behandlung, alles drängt in erhöhtem Leben voran. Mit eminenter Technik ist das gestaltet. Eine frohbeschwingte Tenor-Arie (F dur 3/8): »Erfreue dich Seele, erfreue dich Herze, entweiche nun Kummer, verschwinde du Schmerze« bildet die Brücke zum Schlußchor (C dur ), der strahlenden Krone des Ganzen9. Mit Recht rühmt man an diesem Jubelgesange (Offenb. Joh. 5, 12. 13) die für Bach ungewöhnlich populäre und an Händel erinnernde Haltung. Sie erklärt sich dadurch, daß hier noch einmal mit Macht die Empfindungsweise von Bachs älteren Kirchencantaten sich ausspricht, die später vor der Strenge seiner Mannesgesinnung zurückweichen mußte. Die jugendliche Offenheit und der feurige Schwung sind nur die Kehrseite von jenem schwärmerisch innigen und träumerisch zarten Wesen, das ihnen so ganz eigen ist. Hinsichtlich der Construction hat die Fuge viel Aehnlichkeit mit der Schlußfuge in der Rathswechsel-Cantate von 1708. Solostimmen beginnen wieder, in die vom 15. Takte an die Tuttistimmen von unten auf allmählig hineinwachsen. Wenn sie sich bis oben hindurch gearbeitet haben, nimmt der dreistimmige Trompetenchor das Thema zur Fortführung auf, dann der Chor der Geigen mit Oboe, während die Singstimmen in jauchzenden Sechzehnteln imitiren. Bis jetzt hörte man immer nur Tonika und Dominante. Nun aber erfaßt der Vocalchor mit der ganzen Wucht vierstimmiger Homophonie das Thema in D moll, dann nach einem imitatorischen Zwischensatze in F dur. Der Schluß erfolgt, nachdem die Trompeten dasselbe noch einmal triumphirend erklingen ließen mit fast muthwilliger Ausgelassenheit. Auf Vertiefung ist es in der Entwicklung dieser Fuge kaum abgesehen, sehr dagegen auf Entfaltung von Fülle und Glanz. Die Contrapuncte bleiben immer dieselben und treten nur in verschiedenen Lagen und Stimmen auf. Mit Einsatz des Orchesters beginnt eine canonische Imitation des Themas im Abstand eines Vierteltaktes, und wo von [528] jetzt ab das Thema erscheint, erscheint auch sie. Takt 47–50 stimmen mit 15–18 überein, nur daß alles im Tutti gesungen wird. Eine immer wiederkehrende figurirte Stelle:
ist mir vielfach in Motetten um 1700 aufgestoßen; sie klingt besonders in höheren Lagen brillant, ist aber zu wenig melodisch und deshalb später von Bach gemieden.
Einzelnes von Stil und Manier der Motette haftet auch dem ersten Chore an. Wäre das kleine Zwischenspiel Takt 48 nicht, so könnte man eigentlich des gesammten Instrumentalchors entrathen. Die Singstimmen bilden in sich ein geschlossenes, fortlaufendes Ganzes, selbst der Instrumentalbass, obgleich er die Harmonie voller und deutlicher macht, ist doch kaum wesentlich zu nennen. Manier damaliger Motettencomponisten sind Weckaccorde zu Anfang, wobei der Text oft gemaßregelt wurde; wir fanden sie z.B. in Michael Bachs Motette »Nun hab ich überwunden«10. Mattheson, der die Cantate vermuthlich im Jahre 1720 kennen gelernt hatte, als Bach in Hamburg war, tadelte mit Rücksicht hierauf neben Zachaus Declamation auch die seinige. »Damit«, sagt er11, »der ehrliche Zachau Gesellschaft habe, und nicht so gar allein da stehe, soll ihm ein sonst braver Practicus hodiernus zur Seiten gesetzt werden, der repetirt nicht für die lange Weile also: Ich, ich, ich, ich hatte viel Bekümmerniß, ich hatte viel Bekümmerniß, in meinem Herzen, in meinem Herzen. Ich hatte viel Bekümmerniß :|: in meinem Herzen :|::⌉: Ich hatte viel Bekümmerniß :⌈: in meinem Herzen :⌉: Ich hatte viel Bekümmerniß :⌈: in meinem Herzen :⌈::⌉::⌈::⌉:⌈: Ich hatte viel Bekümmerniß :⌈: in meinem Herzen :⌉: etc. Hernachmal so: Seufzer, Thränen, Kummer, Noth (Pause) Seufzer, Thränen, ängstlichs Sehnen, Furcht und Tod (Pause) nagen mein beklemmtes Herz etc.item: Komm, mein Jesu, und erquicke (Pause) und erfreu mit deinem Blicke (Pause) komm, mein Jesu, (Pause) komm, mein Jesu, und [529] erquicke und erfreu ... mit deinem Blicke diese Seele etc.« In Bezug auf das »Ich, ich, ich« mag ein Tadel berechtigt sein, denn um die Aufmerksamkeit durch einige Accorde zu spannen, wäre das Orchester dagewesen, und auch bei einer Motette dürfte man es nicht loben. Aber hiergegen richtet sich Mattheson nur beiläufig, und bei den andern Ausstellungen ist man verlegen zu sagen, was er denn will. Zuvor hatte er als Declamationsregel aufgestellt, keinen Nebensatz ohne seinen Hauptsatz zu wiederholen, eine Regel, die in ihrer schiefen Fassung offenbar nur von einem vorliegenden Beispiele abstrahirt war. Zachau hatte nämlich über das Satzfragment »Und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen« eine Fuge gesetzt. Derartiges findet sich aber in den Bachschen Stellen nirgends; im ersten Chor ist aus dem Text »Ich hatte viel Bekümmerniß in meinem Herzen« ganz richtig ein abgeschlossener Tongedanke gebildet, der sich um die beiden pathetischen Wörter »Bekümmerniß« und »Herz« krystallisirt und deshalb diese mit ihrem Zusammenhang wiederholt. In der Arie ist nur der Eintritt des Prädicats, im Duett der des Objects hinausgeschoben, weil hier, besonders in der Arie, fast jedes Wort mit Empfindung erfüllt war, die entbunden werden wollte. Nur vom Standpunkte trockner Logik sind solche Anfänge unvollkommen und auch so kaum, wer aber die Worte »Seufzer, Thränen, Kummer, Noth« zu einer herrlichen Melodie gesungen hört, der hat alles, was er zum Verständniß braucht, und Mattheson mußte das wissen. Declamirt er doch selbst und mit viel geringerer Berechtigung: »Ach« (Pause) »wie hungert mein Gemüthe, wie hungert mein Gemüthe, Menschenfreund« (Pause), »Menschenfreund nach deiner Güte«12, und wird es nach seiner Ansicht gewiß tadellos gemacht haben. Es ist klar, daß er nur eine Gelegenheit vom Zaune bricht, Bach zu bemäkeln und der wenig freundschaftlichen Gesinnung, die er gegen seinen großen Zeitgenossen seit dem Jahre 1720 hegte, Luft zu machen. Gäbe es keine anderen Bedenken gegen die Cantate, so könnte man sie ohne Zaudern für so vollkommen erklären, wie überhaupt etwas unter der Sonne ist. Aber sie hat zwei schwache Stellen; an ihnen ist zunächst freilich der Dichter schuld, den Componisten [530] trifft jedoch der Vorwurf, daß er seine Vorlage zu naiv componirte. Der allgemeine Entwicklungsgang des Werks beruht auf dem Gegensatze zwischen höchster Seelenbetrübniß und der Erlösung daraus durch Christi Vermittlung, es zerfällt demnach in zwei entgegengesetzte Stimmungsgebiete und eben so viele Haupttheile. Der erste Chor mußte, zumal nach der leidenschaftlich klagenden Symphonie, nur das Gefühl zum Ausdruck bringen, das den ganzen ersten Theil beherrscht bis zum Schlußchor, wo sich eine Aussicht auf Erlösung, aber auch nur eine Aussicht zeigt. Er thut dies nicht, sondern enthält den Gegensatz, auf den die Cantate gegründet ist, schon für sich. Dies verwirrt; man muß nach dem freudigen Aufschwunge wieder zu Schmerz und Klage zurückkehren und langsam den ganzen Process noch einmal durchmachen. Hierin steht die Cantate hinter der Adventsmusik desselben Jahres entschieden zurück; Franck hätte einen andern Chortext wählen müssen. Die zweite Schwäche liegt in dem Duett; dasselbe ist gradezu ein wunder Punkt. Man kann den Einzelgesang in die Kirchenmusik einführen, vorausgesetzt daß er sich in einer Form äußert, über der man das Individuum vergißt. Man kann mit demselben Rechte von Duetten und Terzetten Gebrauch machen, wenn die Stimmen sich uneigennützig bestreben, einer Gesammtempfindung und einem Gesammtgedanken zum künstlerischen Ausdruck zu verhelfen. Es ist auch wenig dagegen zu erinnern, wenn in den sogenannten »Dialogen« die Seele und Christus, die Furcht und die Hoffnung, oder andre leichtdurchsichtige Allegorien auftreten, und mit ihren Aeußerungen, die eben nur verschiedene Seiten derselben religiösen Empfindung bezeichnen, einander ablösen. Aber alle Kirchenmusik hört auf, sobald zwei Persönlichkeiten dermaßen sich in Aufforderung und Gewährung, in Widerspruch und Zustimmung mit einander zu thun machen, wie es hier geschieht. Da ist von einer Gemeinempfindung, in deren Dienst sie beide sich für alle stellen sollten, nicht mehr die Rede; Satz für Satz sind es nur die eignen Interessen, die in ihren wechselseitigen Beziehungen das Musikstück beleben und im Fluß erhalten. Das Duett ist, was Kirchenmusik niemals sein darf, dramatisch. Bach hat, es muß leider gesagt werden, nicht nur nichts gethan, um das Verfehlte der Dichtung zu mildern, sondern es durch seine Behandlung noch gesteigert. Er verwendet [531] keine Instrumente zur Begleitung, deren melodische Verflechtung einen Theil des Interesses hätte für sich in Anspruch nehmen können. Durch seine Lust am contrapunctischen Stimmenspiel verleitet, hat er, gewiß unabsichtlich, die Dramatik in einer fast peinlichen Weise zugespitzt, wenn die Stimmen sich unersättlich das »ach nein! ach ja! du hassest mich! ich liebe dich!« zuwerfen. Auch hat die durchgehende Wechselrede wahrscheinlich nicht in Francks Sinne gelegen; es ist ziemlich deutlich, daß er am Anfange erst der Seele und dann dem Basse eine zusammenhängende Partie zugetheilt hatte. Als mildernder Umstand läßt sich nur anführen, daß der Sopran ja damals von einer Knabenstimme gesungen ist; dadurch wurde zur Noth der Eindruck vermieden, den das Stück jetzt überall machen muß, der eines reizenden Liebesduetts.
Für die allgemeine Beurtheilung Bachscher Kunst ist es aus diesem Grunde nicht günstig gewesen, daß die Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« sich so sehr verbreitete, ohne daß zugleich die gehörige An zahl andrer nicht geringerer Gattungsschwestern bekannt wurde. Der oft gemachte Vorwurf theatralischer und pietistischer Elemente in seiner Kirchenmusik findet hier eine scheinbare Stütze. In Wirklichkeit aber giebt es außer diesem Duett nur noch ein einziges aus dem Jahre 1715 von ähnlicher Beschaffenheit. Franck liebte die Form und Bach bequemte sich ihm an. Späterhin hat er, soweit ich seine Cantaten jetzt zu übersehen vermag, kein solches Stück wieder in ihnen angebracht. Traten ihm ähnliche Aufgaben nahe, so verstand er die dialogisirenden Stimmen dergestalt in eine höhere Einheit aufzulösen und in ein Netz instrumentaler Polyphonie einzuweben, daß gar kein Zweifel bleibt: er wußte nunmehr, was er seinem Stile schuldig war13. Mißgriffe nach dieser Seite hin waren aber um so leichter, als alle übrigen Kirchencomponisten ganz wohlgemuth die theatralischen Formen acceptirten und Bach unter ihnen heraus und ihnen entgegen sich erst seinen Weg bahnen mußte.
[532] Ueber die Cantate zu Palmarum können wir kurz sein14. Der Text hat die eigenthümlich Francksche Form, welche Arien verschiedenen Versmaßes ohne Recitative an einander reiht, wenigstens ist ein achttaktiges Bass-Arioso über Ps. 40, 8 und 9 nicht dahin zu rechnen. Auch der Anfangs- und Schluß-Chor sind über Arientexte gebaut, und wir begegnen hier zum ersten Male bei Bach der Da capo-Form im Chorgesange. An Kunstwerth scheint mir diese Cantate der vorigen, mit der sie in der Anlage bedeutende Aehnlichkeit hat, durchaus nicht nachzustehen. Sie beweist aber, mit welcher Sicherheit Bachs Genius entgegengesetzte Stimmungen zu erfassen wußte, und wie tiefsinnig er auf den Charakter der einzelnen Sonntage einging. Gleich die Symphonie (G dur) schlägt den Ton an, der das Ganze einheitspendend durchklingt: ein frühlingsholdes Musikstück, zart und doch festlich froh. Die anmuthig verschlungenen Gänge der hohen Violinen oder Holzbläser über den harfengleichen Pizzicatos des tieferen Streicherchors sind die Laub- und Blumengewinde, welche man zum Willkommen eines theuren Ankömmlings um die Thüre flicht. Und »Himmelskönig, sei willkommen, laß auch uns dein Zion sein. Komm herein, du hast uns das Herz genommen« tönt es im blühenden, schön fugirten Chorgesange. In der Folge der köstlichen drei Arien ist die Stimmung meisterlich entwickelt: bei der Aussicht auf Christi nahen Tod wird sie ernst, trüb, endlich herb und schneidend, verklärt sich aber in einem wundervollen Choralchore:
Darnach kehrt in dem Schlußchore die festliche Stimmung wieder, [533] und nimmt im zweiten Theile einen durch Großartigkeit und kunstvolle Entwicklung gleich ausgezeichneten Aufschwung.
Inzwischen war Francks erster Jahrgang von Cantaten fertig geworden und in zweierlei Formen gedruckt, einmal als Gesammtbändchen mit einer Widmung an den Herzog, und außerdem in Einzeldrucken, welche für jeden Sonntag unter die Gemeinde zum Nachlesen vertheilt wurden. Der Titel war »Evangelisches Andachts-Opfer«16. Die Compositionen, welche Bach beigesteuert hat, sind wohl zum größten Theile, doch sicherlich nicht vollständig mehr erhalten. Der Vicecapellmeister Strattner war mit der Verpflichtung angestellt gewesen, jeden vierten Sonntag eine Kirchenmusik zu componiren. Gewisse Gruppen der Bachschen Cantaten, z.B. die zum 16., 20., 23. Trinitatis-Sonntage, oder zum 4. Advent, Sonntag nach Weihnachten, 2. Sonntag nach Epiphanias zeigen, daß ihm eine ähnliche Verpflichtung obgelegen hat. Jetzt sind aus diesem Jahrgange von Ostern 1715–1716 noch neun Cantaten vorhanden17. Wir mustern sie in chronologischer Folge.
1) Cantate auf den ersten Ostertag (21. April) 1715 (»Der Himmel lacht, die Erde jubiliret«)18. Sie ist später vom Componisten wieder überarbeitet, und nur in dieser erweiterten Gestalt besitzen wir sie noch; im Anfangschore ist eine Singstimme zugesetzt und sind die Instrumente verstärkt, auch die letzte Arie scheint, wenngleich nicht in der Anlage, so doch in der Besetzung verändert zu sein. Es muß also von dem Lobe dieser Cantate für den Bach, wie er noch in Weimar war, etwas in Wegfall kommen. Die Dichtung ist meist sehr gelungen. Sie geht von der Festfreude aus, und zieht [534] mit feinem Gefühl die Frühlingsfeier der erwachenden Natur in dieselbe hinein. In den Solosätzen nimmt sich manches zu lehrhaft aus, was freilich oft schwer zu vermeiden war. Der Schluß dagegen ist wieder eben so musikalisch, wie für Franck charakteristisch: die Gedanken wenden sich von Christi Auferstehung zu der Auferstehung alles Fleisches und dem Eingang in die ewige Herrlichkeit; daran schließt sich (nicht ganz logisch) der Wunsch, daß der Tod kommen möge, um zur Vereinigung mit Jesu zu führen – hier quillt Innigkeit aus jeder Zeile. Bach beginnt mit einer großartigen Sonate (C dur 6/8), deren Bau mit der Instrumentaleinleitung zur Sexagesimae-Cantate »Gleichwie der Regen« übereinstimmt, nur daß in der Verbindung der Ciaconen-Form mit dem italiänischen Concerte zu Gunsten des letzteren noch ein Schritt weiter gegangen ist und das Anfangsthema nicht als durchaus herrschender Gedanke erscheint. Unablässig schuf der Meister in den Gränzen des Vernunftgemäßen neue Formen. So stellt auch der folgende Jubelchor eine Verschmelzung der Fuge mit der Liedform dar und trägt überdies noch einen Zug von der italiänischen Arie. Sein erster Haupttheil gliedert sich wie ein Aufgesang in zwei Stollen, dem der Abgesang in anderm Zeitmaße und wesentlich homophonen Gängen folgt; dieser aber schwingt sich, um dem Totalcharakter treu zu bleiben, zu einer neuen Fuge auf, und als sie geendigt, greift der Instrumentenchor noch einmal auf den Anfang zurück. In der ersten Arie wird man die Gewandtheit nicht übersehen, mit der fünf hinter einander gestellte Fragen musikalisch ausgedrückt werden; das Stück ist über einen frei behandelten ostinato gebaut und schwer in angemessener Weise zu accompagniren. In der Tenor-Arie begegnen wir zum ersten Male einem jener Texte, welche gar keine Empfindung aussprechen und rein dogmatischen Inhalts sind. Wie die älteren Kirchencomponisten bei gewissen dogmatischen Theilen der Messe einfach einer allgemeinen kirchlichen Stimmung Ausdruck geben, so stellt auch Bach in solchen Fällen freie Tonstücke hin, die in jener Stimmungssphäre sich bewegen, welche sein kirchlicher Stil umschreibt. Aber er giebt zugleich auch einen bestimmteren Gefühlsinhalt; denn da in seinen Cantaten die Stimmungen sich im stufenweisen Fortschritt zu entwickeln pflegen, so ist der Inhalt solcher Stücke wesentlich durch ihre Umgebung bedingt. Und besteht zwischen den Textpartien ein vernünftiger Zusammenhang, dann [535] müssen nun auch Dichtung und Musik sich decken; letztere ist zwar nicht aus jener hervorgegangen, aber sie finden in einem höheren Dritten ihre Einheit. So ist es hier. Die Anfangstheile der Cantate beschäftigen sich mit der objectiven Thatsache von Christi Auferstehung, von dem Recitativ unsrer Arie an beginnt die Betrachtung über deren vorbildliche Bedeutung für das Leben des Christen, deren Höchstes das Auferstehen am jüngsten Tage ist. Die Musik schlägt die Brücke von dem Festjubel zu den mystischen Empfindungen über die letzten Dinge. Was sie sagt, läßt sich in Worten nicht definiren, dazu ist es Musik. Aber daß der Inhalt Bach sehr am Herzen lag, sieht man an der außerordentlichen Schönheit der Arie in instrumentaler wie vocaler Hinsicht. Sie ist wie ein Frühlingslied, das ein leiser Hauch der Sehnsucht durchzieht. Formell ähnelt sie der Bassarie in der Palmarum-Cantate, die ja vielleicht nur acht Tage früher zur Aufführung kam, hie und da auch der zweiten Arie in »Ich hatte viel Bekümmerniß«. Die außer der ersten Geige verwendeten Streichinstrumente füllen oft nur die Harmonie aus, jene concertirt viel mit der Stimme allein, kurze Instrumentalsätzchen werden gern zwischenhineingeworfen. Als Merksteine für Bachs Entwicklung sind solche Züge nicht zu übersehen. Außerdem ist beachtenswerth, daß der melodische Gedanke des Ritornells ein andrer ist, als der Anfangsgang der Singstimme, in den es nach Verlauf eines Taktes selbständig hineintritt und auch durch die ganze Arie die Kosten des Accompagnements allein bestreitet19. Ein durch ekstatischen Schwung ausgezeichnetes kleines Recitativ leitet zur letzten Arie:
Letzte Stunde, brich herein,
Mir die Augen zuzudrücken!
Laß mich Jesu Freudenschein
Und sein helles Licht erblicken!
Laß mich Engeln ähnlich sein,
Letzte Stunde, brich herein.
Durch seine Behandlung hat Bach gezeigt, wie sympathisch ihm dieser Ausgang war. Ist es nicht merkwürdig? Zu Ostern, dem Feste [536] des Siegs, des Triumphes, eine Kirchenmusik zu schließen mit der Aussicht auf den Tod und in unbestimmte Fernen, ahnungsvoll und verschwimmend! Aber so ist des Künstlers Wesen. Als echter Kirchenmusiker sieht er alles sub specie aeterni. Doch ist es nicht der majestätische Glanz, den von der hohen Himmelskuppel die Sonne auf alle Creaturen niederstrahlt, es sind Lichtstrahlen, die durch ein halbgeöffnetes Thor in eine Welt des Dunkels fallen, um sie erdämmernd ahnen zu lassen, was ihr fehlt. Auch jene Begebenheiten der Kirche, welche die Freude am Dasein auf das entschiedenste herausfordern, können ihn seinem Sinnen nicht ganz entziehen. Er liebt die blühende Lenzesflur, aber vorzugsweise, wenn das Abendgold sie umfließt.
Mit einem rührend milden Gesange des Soprans concertirt die Oboe; hinein tritt, von beiden Violinen und Violen im Einklange gespielt, mild und voll in tiefer Lage die Melodie »Wenn mein Stündlein vorhanden ist«. Wir kennen die Form aus dem Actus tragicus. Ihr Eigenthümliches ist, daß sie den Hauptfactor, den Choral, wortlos, Nebenfactoren dagegen redend einführt und so das natürliche Verhältniß umdreht. Die Empfindung der Singstimme wird dadurch in den kirchlichen Bereich gezogen, aber da zur Ausdeutung des instrumentalen Chorals die Subjectivität ungehinderten Zutritt hat, verschwimmt das Ganze ins Unbestimmte und Romantische. Wie nun diese Form dort zur Darstellung der beabsichtigten Stimmung überaus geeignet war, so ist sie es auch hier. Aber der Charakter der Cantate erlaubte nicht ein solches Versunkenbleiben in überirdische Ahnungen. In festen Umrissen aus der Dämmerung tritt uns deshalb zum Schluß derselbe Choral in seiner 5. Strophe vom gesammten Chore gesungen entgegen. Diese Strophe hatte der Dichter vorgeschrieben; Bachs geniale Kunstthat besteht darin, daß er die Melodie für das vorige Stück in einer Form anticipirte, die auf den Schlußchoral wie die Blüthe auf die Frucht vorbereitete. Er hatte hiermit wieder eine Kunstform geschaffen, die er fortan mit stets neuem Tiefsinn zu den ergreifendsten Wirkungen verwerthete. Die Harmonisirung des Chorals entspricht dem Vorhergegangenen; es ist eine Seligkeit durch sie hingegossen, daß man wie von Schauern des Unbegreiflichen angehaucht wird. Maßgebend sind für Bach die Anfangszeilen gewesen:
Ueber den Singstimmen wandeln Violine und Trompete in Melodien und Rhythmen, die unwiderstehlich das Bild eines Emporgetragenen wachrufen, der der himmlischen Wonne die Arme entgegenbreitet; von unsäglicher Ueberschwänglichkeit ist der Vorhalt über den Fermaten, der sich immer mit dem zweiten Achtel auflöst. Die sehr hoch geführte Trompete mit ihrem zarten, silbernen Klange, muß hier von zauberischer Wirkung gewesen sein20. – Der Text Francks hat noch eine zweite Composition erfahren durch den Sondershäuser Capellmeister Freislich, welcher Bachs Musik gekannt haben wird, da sein Anfang deutlich daran erinnert21. Die Composition ist freundlich und unbedeutend, interessant für uns nur dadurch, daß an den Schluß die 10. Strophe des Osterliedes »Früh morgens, da die Sonn aufgeht« mit ihrem jubelnden Hallelujah gesetzt ist. Damit den üblichen Abschluß zu machen, war allerdings leichter und – dankbarer.
2) Cantate auf den vierten Sonntag nach Trinitatis (14. Juli) 1715 (»Barmherziges Herze der ewigen Liebe«)22. Sie schließt mit dem Choral »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ«. Bach führt denselben auch in die erste Nummer ein (Fis moll 6/4), wo ihn zu zwei über einem Achtel-Continuo duettirenden Stimmen die Trompete oder Oboe zu blasen hat23. Er macht dadurch einen neuen Gebrauch von der eben besprochenen Combination, indem er den Choral wie in einem weiten Bogen über die gesammte Cantate spannt. Dessen Grundgedanke ist die bittre Klage über die menschliche Schwachheit, neben der die Bitte an Christus um Beistand zu einem gottgefälligen Leben nur als zweites Moment erscheint. Die Einführung der Melodie auch in den ersten Satz bestimmt natürlich dessen Charakter, der so freilich ein ganz andrer wird, als ihn die Textworte zu verlangen scheinen:
Zu der Vorstellung, daß die göttliche Liebe das starre Menschenherz zerschmelze und zu christlicher Thätigkeit begeistere, würde wohl eine warm erregte Musik der Absicht des Dichters eher entsprochen haben. Aber es wäre dann eine Stimmung angeschlagen, die, sie mochte gedämpft werden, wie sie wollte, doch immer zu dem Inhalt des Chorals sich im Gegensatz befunden hätte. Das durfte nach Bachs Ansicht nicht geschehen, der in dem Choral die oberste kirchliche Musikform erblickte. Hatte Franck mit der Wahl jenes Liedes einen Fehler begangen, so ward dieser für Bach Veranlassung zu einer tiefsinnigen Combination und ist für uns ein neuer Beweis seiner großen Gestaltungskraft auch auf poetisch-musikalischem Gebiet. Jetzt steht die Cantate als abgerundetes Kunstwerk da. Das Duett bewegt sich kunstreich in canonischen Nachahmungen, doch verlieren sich die Stimmen (Sopran und Tenor) einige Male zu weit aus einander in die Höhe und Tiefe. Einzelne herbe Zusammenklänge sind wohl beabsichtigt, die Melodien durchaus herrlich. Um für die Recitative den Inhalt zu bestreiten, hat sich der Dichter an das moralisirende Sonntags-Evangelium gehalten; daher die Nüchternheit derselben. Bach hat durch seine musikalische Behandlungsart sie trotzdem emporzuheben gewußt. Das erste, für Alt, geht wieder auf ein Arioso aus, das der Instrumentalbass weithin canonisch verfolgt. Dasselbe Verfahren ist auch in der Ostercantate zu bemerken, es findet sich weiter in der Advents – und Oculi-Cantate sowie in der Cantate auf den Sonntag nach Weihnachten desselben Jahrgangs und ist als Stileigenthümlichkeit des Meisters in dieser Periode anzusehen. Eine Alt-Arie (A dur 2/4) stellt das Wonnegefühl der Erwartung eines ewigen Lohnes dar für christliche Handlungen im Leben. Das im Text gebotene Bild von den Garben, welche nach der hier ausgestreuten Saat dort fröhlich eingebracht werden, hat den Grundton der Composition bestimmt. Eine verklärte Heiterkeit, die nach dem schmerzensreichen Anfangsgesange doppelte Wirkung hat, durchdringt dies entzückende Musikstück bis in seine feinsten Fasern, die strenge Polyphonie ist mit Mozartscher Liebenswürdigkeit [539] gehandhabt, voll und wohlig quillt in dankbarster Schreibart der Strom des Gesanges. Einen neuen Beweis formbildender Genialität bietet die nächste Arie (H moll ), zu der Franck folgende Worte lieferte:
Das ist der Christen Kunst:
Nur Gott und sich erkennen,
Von wahrer Liebe brennen,
Nicht unzulässig richten,
Noch fremdes Thun vernichten,
Des Nächsten nicht vergessen,
Mit reichem Maße messen.
Das macht bei Gott und Menschen Gunst,
Das ist der Christen Kunst.
Es war jedenfalls nicht leicht, hieraus ein ordentliches Musikstück zu machen. Die Form der italiänischen Arie ließ sich nicht anwenden, da der gedankliche Schwerpunkt nicht in der ersten Zeile ruht, die allerdings zum Schluß wiederholt ist, sondern in den folgenden, es also unmöglich war, über die erste Zeile den musikalischen Hauptsatz zu schreiben. Die strophische Liedform war aber auch nicht zu verwerthen, höchstens wäre es mit dem Arioso gegangen und das sollte hier nicht sein. Es blieb nichts übrig. als daß der Componist eine neue Form schuf. Er nahm deshalb von den Zeilen 2–7 je zwei besonders, faßte sie durch die wiederholte erste Zeile ein und erhielt so drei vierzeilige Strophen. Diese aber derselben Musik unterzulegen und ein Lied zu gestalten, verbot der Fortgang des Textes. Er faßte also nun Zeile 2–7 als ein fortlaufendes Ganzes und schloß dieses abermals durch die erste Zeile ein. Aus den letzten beiden Zeilen bildete er dann noch durch Wiederholung der Worte zwei viertaktige Perioden. Man sieht schon, daß sich hier ein Gerüst aufbaut, welches eine musikalische Umkleidung in der Form des italiänischen Concerts zu tragen bestimmt ist. Dies ist das Haupt- (Tutti-)Thema:
und dieses der Neben-(Solo-) Gedanke:
[540] Die Entwicklung mittelst der beiden contrastirenden Themen erfolgt nun ganz regelrecht durch die verwandten Tonarten. Nach H moll tritt D dur ein, dann A dur, dann zu der größeren Periode, in welcher das zweite Thema weiter ausgesponnen wird, E moll, endlich wieder H moll, wo aber das erste Thema nur durch den Instrumentalbass angegeben wird, der überhaupt eine sehr selbständige Behandlung erfährt. So wurde also der Bau italiänischer Instrumentalformen auch für den Bachschen Sologesang von Wichtigkeit. Von Seite der Empfindung betrachtet, spricht sich in der Arie der Eifer für eine warm gehegte religiöse Ueberzeugung aus, mit einer Eindringlichkeit und wackern Erregtheit, die Bach ganz eigenthümlich ist. Ueber den Schlußchoral, der mit größter harmonischer Energie das Moment der Klage zum Ausdruck bringt, ist wieder eine selbständige Instrumentalstimme in den schönsten Linien hingezeichnet.
3) Cantate auf den sechzehnten Sonntag nach Trinitatis (6. October) 1715 (»Komm, du süße Todesstunde«)24. Das Evangelium erzählt die Auferweckung des Jünglings zu Nain (Luc. 7, 11 – 17), was dem Dichter Veranlassung gab, sein Lieblingsthema vom seligen Tode und ewigen Leben in drei Arien und zwei Recitativen zu behandeln. Den Schlußchoral (Herzlich thut mich verlangen, Str. 4) hat Bach wieder in das Anfangsstück hinübergezogen, wo ihn zu einer von zwei Flöten und Continuo begleiteten Alt-Arie (C dur ) die Orgel mit einem hervortretenden Register zu spielen hat25. Die [541] ganze Cantate trägt den Charakter des Erdentrückten und Welterlösten in einem solchen Grade, daß man zuweilen keine irdische Musik mehr zu hören und wie zwischen Geistern zu schweben meint. Die luftigen Flöten in ihren Sechzehntelgängen den erhabenen Schlußchoral des ersten Theils der Matthäuspassion verständlichst ankündigend, wallen dahin wie zarte Wölkchen im reinen Aether, zwischen ihnen schwebt die milde Lichtgestalt der Gesangsmelodie:
Und alles dieses bedeckt mit weitgespannten Fittichen die wortlose Melodie des alten Sterbeliedes. Die zweite Arie, durch ein Recitativ von der ersten getrennt (A moll 3/4), senkt sich in trübere Regionen herab, die stillen Flöten machen dem leidenschaftlicheren Streichquartett Platz, den Gesang führt der Tenor. Sprach dort ein verklärter Geist, so redet hier ein todessehnsüchtiger Mensch in Tönen aus Schmerz und Seligkeit wundersam gemischt. Nach einem großen Recitativ, das die Stimmungen vermittelt, ergeht sich die letzte Arie (C dur 3/8) wieder in weicher Schwärmerei. Sie ist mit einer Reminiscenz an die ältere Kirchencantate vierstimmig gesetzt, und abgesehen von einfachen canonischen Führungen zwischen dem obern und untern Stimmpaare ganz homophon gehalten. Streichinstrumente und Flöten begleiten und concertiren in gedanklich und klanglich gleich merkwürdigen Combinationen; namentlich muthen [542] gewisse Zweiunddreißigstel der Flöten seltsam schaurig an: sie klingen wie Geistergelispel. Dem Chor setzt der nachfolgende Choral die Krone auf; über dem vier stimmigen Satze irrt fremdartigen Ganges und auf geheimnißvollen Pfaden die Flöte und bildet wunderbare Harmonien – es ist alles, als ob man's im Traume hörte. Endlich gehören auch die beiden Recitative zu den schönsten, die Bach geschrieben. Sie sind wieder für seine eigenthümliche Manier höchst charakteristisch, überall musikreich und tief melodisch empfunden und doch voll treffender geistsprühender Declamations-Accente. Das erste wird nur vom Continuo begleitet, das zweite zieht den vollen Instrumentalchor heran, der alle hervortretenden pathetischen Sätze vertieft und eindringlicher macht, nicht durch Vor- und Nachspiele, sondern, echt Bachisch, durch mitgehende reich gewebte Tonsätze27. Besonders merkwürdig ist der Schluß. Hier ist von dem Schlagen der letzten Lebensstunde die Rede, wozu die Instrumente ein allgemeines Glockengeläute ertönen lassen, die Bässe in der großen Octave feierlich hin- und herschwingend, in der Mitte wie Betglockenschläge die vereinigten Geigen, oben als helle Signir-Glöckchen die beiden Flöten. Umfluthet von diesem Klangmeer zieht die Singstimme hin, wie ein Erdenpilger auf seinem letzten Gange:
[543] Ob eine solche Tonmalerei berechtigt sei oder nicht, wäre wohl zu fragen. Daß die Musik Töne und Tonreihen musikalischer Instrumente – und als solche sind doch die Glocken zu betrachten –, die sich an bestimmte Lebensgewohnheiten knüpfen, an- und aufnehme, sobald sie solche Ereignisse künstlerisch zu behandeln hat, wird man nicht unbedingt verbieten dürfen. Trompeten- und Hörnerweisen werden bei Kriegs- und Jagdstücken, pastorale Gänge der Oboe bei Schilderungen aus dem Hirtenleben ungesucht sich darbieten. Denn nicht zufällig sind diese Instrumente und gewisse eigenthümliche Tonäußerungen derselben mit jenen Lebensverhältnissen in Verbindung gebracht, ein innerer Zusammenhang trieb dazu; sie offenbaren den innersten Kern des jene Verhältnisse [544] durchdringenden und bewegenden Gefühlslebens, und der Musiker benutzt mit ihnen nur ein dargebotenes Material. Indem diese Tonäußerungen die Phantasie leicht zur Erzeugung einer bestimmten adäquaten Vorstellung treiben, sind sie besonders für oratorische Compositionen ein unverächtliches Mittel. Doch auch die reine Lyrik mag sich ihrer bedienen, nur ist hier die Umbildung zu einem idealen Kunstmotiv unerläßlich. Auch liegt es auf der Hand, daß diese Umbildung desto sorgsamer vorgenommen werden muß, je einfacher und beschränkter die Aeußerungen des Instrumentes sind, da grade dann der Eindruck eines störenden Realismus um so leichter entsteht. Wie wohl Bach auch in Nachahmung des Glockengeläutes dieser Forderung nachzukommen weiß, zeigt die erste Arie seiner Cantate »Liebster Gott, wann werd ich sterben«28, wo zu einem ganz ähnlichen Texte, wie der vorliegende ist: »Was willst du dich, mein Geist, entsetzen, Wenn meine letzte Stunde schlägt?« die Bässe durchgehend das Glockenläuten imitiren, aber so durchaus motivisch und allgemein musikalisch, daß es ganz in den Organismus aufgeht. Dies ist nun an unsrer Stelle nicht der Fall; wir sind im Recitativ, musikalisch unvorbereitet hören wir durch wenige Takte und wenige Harmonien Glockengetön, dann verstummt es wieder. Was der Componist beabsichtigte, ist freilich sehr klar: durch Erinnerung an das Sterbegeläut will er die Stimmung wach rufen, die uns in solchen Fällen überschleicht – eine poetisirende Vertiefung, wie er sie ähnlich durch das Einführen wortloser Choralmelodien anstrebt. Aber ist es richtig und künstlerisch, durch solch ein unorganisches, äußerliches Mittel wirken zu wollen? Im Allgemeinen gewiß nicht, und sicherlich kann für jetzige Zuhörer die Wirkung leicht eine verletzend realistische sein. Etwas anders nimmt sich die Sache aus, wenn wir sie aus der Persönlichkeit Bachs zu begreifen suchen. Wie es seine rein musikalische Richtung mit sich bringt, steht er Tonschilderungen im Ganzen fern, wobei natürlich alles das ausgeschlossen bleibt, was auf Abspiegelung einer sichtbaren Bewegung hinausläuft, denn hier waltet ein tieferes musikalisches Gesetz. Wenn im letzten Recitativ der Advents-Cantate »Nun komm, der Heiden Heiland« ein malerischer Gang der Singstimme [545] fremdartig berührte, so entwickelt er sich doch als Wortaccent gefaßt ganz natürlich aus Bachs Princip, das Declamatorische ins Melodische hinüber zu ziehen, und wirkt an jener Stelle gradezu erhaben, indem er den Gegensatz zwischen sinnlicher Beschränktheit und übersinnlicher Unendlichkeit stark hervortreten läßt. Zerstreute andre Fälle werden an ihrem Orte begründet werden. Die Nachahmung des Glockengeläutes ist aber eine Lieblingsidee Bachs, die in einer ganzen Zahl von Werken wiederkehrt, so in der schon genannten Cantate auch im Anfangschor, in einer Arie der Cantate »Herr, wie du willst, so schicks mit mir«29, ferner in großartiger Conception im zweiten Recitativ der Trauer-Ode auf die Königin Christiane Eberhardine30, ferner in der Trauer-Arie »Schlage doch, gewünschte Stunde«31, beiläufig bemerkt auch einer klar erkennbaren Dichtung Francks. Hier liegt offenbar eine ganz besondere Anschauung zu Grunde. Bachs Verhältniß zur Kirche und ihren Bräuchen war ein so tiefes und inniges, daß ihm das Tönen der Glocken in keiner musikalischen Form der Verwendung für seine Tonwerke unwürdig erschien. Will man dies zu naiv, ja beschränkt nen nen, so erwiedern wir, daß das Genie beschränkt sein muß und nur die ausschließende, blind machende Liebe zum Gegenstande zu allen Zeiten das wahrhaft Große geschaffen hat. Die Musikgeschichte kennt noch einen zweiten, ganz gleichen Fall: die Nachtigall-, Wachtel- und Kuckuckstimmen im Andante der Beethovenschen Pastoralsymphonie. Es ist sehr leicht nachzuweisen, daß Beethoven hier die idealen Gränzen überschritten habe, und dennoch – hätte er nicht den Zauber und die Hoheit der Natur so tief empfunden, daß ihm alles in ihr geheiligt war, wie würde er diese Symphonie haben schreiben können? Was dem einen dieser beiden ebenbürtigen und nahe verwandten Geister die Natur bedeutete, galt dem andern die Kirche; wir deuteten dieses schon früher einmal an.
4) Cantate auf den zwanzigsten Sonntag nach Trinitatis (3. November) 1715 (»Ach ich sehe, jetzt da ich zur Hochzeit gehe« [546] u.s.w.)32. Der Inhalt des Evangeliums ist das Gleichniß vom Könige, der zur Hochzeit seines Sohnes lädt und, nachdem seine Gäste zu kommen verweigert, von den Straßen die Menschen zum Mahle herein ruft, aber die Unwürdigen unter ihnen wieder hinausstößt (Matth. 22, 1–14). Die Grundempfindungen der Cantate sind demnach: Zagen und Bangigkeit, würdig befunden zu werden; Verlangen der armen Menschenseele, durch das Mahl des Herrn sich zu erquicken; Jubel über die Aufnahme an dasselbe. Sie werden in drei Arien dargestellt und durch Recitative vermittelt. Der Bass beginnt (A moll ) mit einem Meisterstück an Polyphonie und motivischer Consequenz, die Figur
zieht sich wie ein nagendes Bedenken bis zum Ende durch. Die zweite Arie für Sopran (D moll 12/8) athmet drängendes Flehen und ist wieder einmal ganz anders, als alles von Bach bis jetzt erlebte; schon der dreimal wiederkehrende Ausruf »Jesu!« ist von merkwürdigstem Ausdrucke. Doch wo fehlte diese Neuheit überhaupt? Die letzte Arie, ein Duett zwischen Alt und Tenor, eröffnet abermals ein ungekanntes Gebiet. In ihr ist, man wäre versucht es zu sagen, etwas von dionysischem Jubel, wenn die Stimmen bald in jauchzenden Sechzehnteln sich schwingen, bald langgehaltene Freudenrufe erschallen lassen und darunter der Bass wie zum festlichen Reigen aufspielt:
Das breit ausgeführte Stück bewegt sich mit geistreicher Freiheit in der Form der italiänischen Arie, namentlich ist der Umweg überraschend, auf dem Bach in den ersten Theil zurückkehrt. Die beiden Stimmen gehen bald homophon wie im Zwiegesang, bald entwickeln sie eine lebhafte Polyphonie, die den orgelmäßigen Ursprung verräth; das speciell Bachsche Duett ist es noch nicht ganz, aber von den damaligen Musterduetten Steffanis, welche für Händel Vorbild[547] wurden, ist auch nicht die Spur einer Einwirkung vorhanden. Der Schlußchoral dämpft, dem Anfange entsprechend, die Stimmung ab: die siebente Strophe des Liedes »Alle Menschen müssen sterben« ertönt hier zu einer sonst unbekannten Melodie in A moll. Ob dieselbe von Bach erfunden sei, oder nicht, mag vorläufig unentschieden bleiben.
5) Cantate auf den dreiundzwanzigsten Sonntag nach Trinitatis (24. Nov.) 1715 (»Nur jedem das Seine«)33. An das Evangelium vom Zinsgroschen (Matth. 22, 15–22) sich anlehnend hat Franck einen Text zu Stande gebracht, der zum größeren Theile jedes Empfindungsgehaltes baar ist. Nur die letzte Arie ist direct der Musik zugänglich, von dem Uebrigen möge der Anfang eine Probe geben:
Nur jedem das Seine!
Muß Obrigkeit haben
Zoll, Steuern und Gaben,
Man weigre sich nicht
Der schuldigen Pflicht!
Doch bleibe das Herze dem Höchsten alleine!
Nur jedem das Seine!
Trotz einer solchen grundprosaischen Reimerei ist Bach mit besonderem Interesse an die Composition gegangen. Er wählte seine Lieblingstonart H moll, schrieb die Partitur mit zärtlicher Sorgfalt und hat für die Musik selbst seine ganze Kunst und Feinheit zusammengenommen. Es fühlt sich auch bald heraus, daß er nicht ein rein musikalisches Ideal gestaltete, sondern in Wirklichkeit eine poetische Anregung aus den Worten schöpfte. Um dies nicht unbegreiflich zu finden, muß man vor Augen haben, daß er sie im idealisirenden Lichte der Kirche und des Schrifttextes sah, auch ist nicht zu vergessen, wie genügsam damals der allgemeine Geschmack in Sachen der Dichtkunst und wie wenig entwickelt diese selber war. Bach beweist so hundertfältig seinen hochfliegenden poetischen Sinn, wenn es sich um das vom Grunde der Musik ausgehende Erfassen allgemeiner Anschauungen handelt, daß es ihn nicht entwürdigt, im Verständniß speciell poetischer Dinge auf dem Niveau seiner Zeit [548] zu stehen. Gleich die Art, wie er die erste Arie auffaßt, zeigt, daß er durch die äußere Hülse auf den Kern der Sache sah, wie es seine Kunst erforderte, die das innere Wesen der Dinge tönend enthüllen soll. Der Gedanke des Gesetzmäßigen, Wohlgeordneten, des Sittlichfesten war es, der ihm daraus entgegenleuchtete, und den er nun in einem Musikstücke darstellte, das wie aus Stein gehauen dasteht. Ein andrer hätte mit jenen Worten vielleicht garnichts anzufangen gewußt; daß sie Bach mit solcher Wärme ergriff, ist zugleich ein schöner Beitrag zu seiner persönlichen Charakteristik: Strenge, Sittlichkeit und ein wunderbarer Ordnungssinn waren es eben, die sein ganzes Wesen durchdrangen. Ich kann das Stück nicht weiter beschreiben; die volle Wirkung beruht in dem herbkräftigen Gesammtbilde;
ist der Keim, aus dem es sich ununterbrochen entwickelt. In der folgenden Arie, die das Herz des Christen mit einer abgegriffenen Münze vergleicht, welche nicht werth ist, Christo dargebracht zu werden, wiesen die Worte:
Komm! arbeite, schmelz und präge,
Daß dein Ebenbild in mir
Ganz erneuert werden möge,
der Phantasie des wackern Meisters die Richtung: im Dunkel zweier rüstig arbeitenden Violoncelle (E moll ) treibt die Bass-Stimme ihr ernstes Tagewerk. Als schöner Klanggegensatz folgt ein zweistimmiges Recitativ zwischen Sopran und Alt, imitatorisch gehalten und in ein langes Arioso auslaufend. Diese kühne Neuerung war nur bei Bachs Auffassung des Recitativs überhaupt möglich. Daran schließt sich ein kindlich reines Duo derselben Stimmen über einen poetischen Text, dessen Inhalt die Hingabe an den Herrn ist (D dur 3/4), Violinen und Bratschen im Einklange spielen dazu die Melodie »Meinen Jesum laß ich nicht« – ein Tongewebe von entzückender Feinheit! Den Schluß macht aber nicht dieser Choral, sondern die elfte Strophe des Heermannschen Liedes »Wo soll ich fliehen hin« mit der Pachelbelschen Dur-Melodie, die schon Michael Bach in einer Motette verwendet hatte und auf die Sebastian vielleicht durch seine nahen Beziehungen zu diesem, oder durch Walther aufmerksam gemacht war. Zur Einflechtung in das vorhergehende Duett schien sie ihm wohl technisch ungeeignet. Um aber nicht einen Eindruck [549] durch den andern aufzuheben, gönnte er ihr nur die allereinfachste Harmonisirung34.
6) Cantate auf den 4. Advents-Sonntag (22. Dec.) 1715 (»Bereitet die Wege, bereitet die Bahn«)35. Ohne eine Spur von Formalismus zu verrathen, fährt der Meister fort, neue und neue Schätze seiner unerschöpflichen Phantasie zu spenden. Zahl und Anordnung der Musikstücke ist dieselbe, wie in der vorigen Cantate. Eine idyllische Festlichkeit lebt in der ersten Arie (A dur 6/8). Die Oboe spielt vor, ganz ausgesucht nur von Dreiklangsharmonien begleitet:
Auf ē angelangt schwingt sie sich jauchzend zur Octave hinauf, mit hellem Triller die neu einsetzende Melodie der Violine überdachend, dann in den Gesang, der bald um alles zu ebnen und Bahn zu schaffen in Sechzehnteln geschäftig auf und nieder eilt, fröhlich das Motiv hineinwebend. Ganz reizend ist der zweite Theil, wo der Bass zuerst in Fis moll das Hauptmotiv spielt, die Stimme dazu mit folgendem neuen einsetzt:
und als dritte die Oboe diesen Gang ertönen läßt:
darnach im dreifachen Contrapunct sich die Stimmen durch verschiedene Tonarten ablösen, dann wiederholt in ihrem rührigen Treiben plötzlich verstummen und mit dem lauten Rufe »Messias [550] kommt an« der überfrohe Sopran sich allein aus dem Gewimmel des Haufens hervordrängt. Auch wie der zweite Theil in D dur abschließt und ohne sich Ruhe zu gönnen die Instrumente das Da capo beginnen, ist von charakteristischer Anmuth. Allgemach werden (im ersten Recitativ) ernstere Betrachtungen laut36, und wie im Evangelium Priester und Leviten den Täufer Johannes fragten: Wer bist du?, so tritt jetzt beim Empfange des Heilands die strenge Frage der Selbstprüfung an den Christen heran: »Wer bist du? Frage dein Gewissen!« (Bassarie E dur ). Zur Singstimme tritt außer der Orgel nur ein figurirter Violoncellbass, der sich mit jener oft seltsam in der Tiefe verwickelt. Auch wenn man die hohe Stimmung der weimarischen Orgel in Rechnung bringt, eine sehr leichte Ausführung der Figur und einen mächtigen Singbass annimmt, bleibt doch die Wirkung dumpf und im Einzelnen unschön. Hierzu kommen an einigen Stellen noch gewisse harmonische Besonderheiten. Bach liebt es unter liegenden, sowohl accordisch festen als gebrochenen Harmonien melodische Reihen hinzuführen, die nur als Durchgangstöne zu einem oft entfernten harmonischen Ziele zu begreifen sind, bis zu dessen Erreichung man das Gehör in der Schwebe lassen muß. Gewöhnt man sich an diese Erscheinungen, die umgekehrte Orgelpunkte genannt werden könnten, unschwer, so werden sie dadurch doch verwickelt, daß er sich auch nicht scheut, die durchgehenden Töne wieder zu Grundlagen selbständiger Harmonien zu machen, welche nun mit der Hauptharmonie in unvermeidliche Collision gerathen. Ich führe zunächst die Stelle Takt 42 und 43 an:
wo der Gesang sich auf die tiefsten Töne des Basses stützt, die [551] Grundharmonie aber in der Terz e-gis besteht. Man vergleiche noch Takt 14 und 26. Kühner noch ist die Fortsetzung des 43. Taktes:
Hier bleibt freilich nur e liegen, was aber theoretisch keinen Unterschied macht, und die Tonentwicklung erfolgt, als ob dies e garnicht vorhanden wäre, sogar mit Vorhalten. Man vergleiche Takt 16 und 28. Daß solche Wagnisse schon jetzt bei Bach vorkommen, beweist wieder, wie früh sein musikalischer Charakter voll ausgeprägt war. Ihre Wirkung ist zuerst abstoßend, hat man aber das Vernunftgemäße und Consequente darin erkannt, so üben sie bald einen merk würdigen Reiz aus und um so mehr, wenn sie wie hier den Wortausdruck steigern. Da diesem Zwecke auch die dumpfe Klangfarbe dienen soll, so scheidet man endlich von der Arie mit dem Eindruck einer felsenharten, imposanten Ganzheit. – Ueber die dritte Arie sei nur bemerkt, daß sie bei Erinnerung an das, was die Menschheit durch Christi Leiden gewonnen hat, wehmüthige Töne anstimmt; das Recitativ hatte hierzu die Brücke geschlagen. Sie ist für Alt und Solo-Violine bestimmt, eine Art von Vorgängerin jenes erhabenen Trauergesanges »Erbarme dich« aus der Matthäuspassion. Die Bevorzugung, welche in allen diesen Cantaten die Altstimme erfährt, läßt auf eine gute Beschaffenheit des damaligen Altisten der Capelle schließen, welcher Bernhardi hieß. Der Choral »Herr Christ, der einge Gotts-Sohn« schließt würdig und erhebend.
7) Cantate auf den Sonntag nach dem Christfeste (29. Dec.) 1715 (»Tritt auf die Glaubensbahn«)37. Sie ist ohne Chor und Choral, nur für zwei Solostimmen gesetzt und gehört überhaupt zu den merkwürdigsten Erzeugnissen Bachs. Ueber ihre Grundstimmung läßt [552] sich aus dem Evangelium nicht viel gewinnen. Das erzählt die Prophezeiungen Simeons und Hannas, daß Christus gesetzt werden solle für viele in Israel zu einem Fall, für viele aber zur Auferstehung, ein Stein, den einen zur Stütze, den andern, um daran zu zerschellen. Diesen Inhalt hat Franck in matte Verse gebracht, zwei Arien und zwei Recitative und zum Schluß ein Duett zwischen der Seele und Jesus angefügt. Bach griff durch den Text hindurch auf die kirchliche Grundbedeutung des Sonntags zurück: Nachklänge vom Weihnachtsfest sind der Kern seiner Musik, jene holde Stimmung, die leise in der Seele nachzittert, ehe neue und ernste Ereignisse des Kirchenjahres sie in Anspruch nehmen. Mit einer ganz ausgesuchten Zusammensetzung von Instrumenten, nämlich je einer Flöte, Oboe, Viola d'amore, Viola da gamba und Orgel führt er zunächst ein langes Instrumentalstück vor. Die Form der französischen Ouverture liegt zu Grunde, doch ist der langsame erste Satz mehr in der Art der Gabrielischen Sonate gehalten, und mahnt, obgleich nur vier Takte lang (E moll ), sehr an die Sinfonia zu »Ich hatte viel Bekümmerniß«. Dann folgt eine Fuge mit so reizendem Thema, daß es Bach später in Umbildung noch einmal für die Orgel verwendet hat38:
Hier sind alle Eigenthümlichkeiten der Ouverture festgehalten, auch jene typischen Orgelpunkte auf der Dominante, nur daß statt eines Organismus, dem feuriges Blut durch alle Adern rollt, ein zartes, durchsichtiges Geäder vor uns ausgebreitet wird, mit souveräner Meisterschaft und liebevoller Versenkung gearbeitet (139 Takte). Die Gesangpartien eröffnet eine mild-ernste Bassarie in gewagter aber wohlgeglückter Combination mit einer Oboe über dem Continuo; der Bass trägt auch das nächstfolgende schöne Recitativ mit Arioso vor. Hauptbassist in der Capelle scheint der Hofcantor Wolfgang Christoph Alt gewesen zu sein, er muß, nach den Bachschen Partien zu schließen, ein mächtiges Organ besessen haben. Schon die E dur-Arie der vorigen Cantate war ohne ein solches nicht denkbar; [553] hier im Recitativ finden wir unter anderm folgende Riesensprünge:
Wenn wir auch die Neigung Bachs kennen, mit der Solostimme äußerliche Bewegungen zu malen, so sieht dies doch fast wie ein Spaß aus. Die Krone der Cantate wird durch die nachfolgende Sopran-Arie in G dur gebildet, ein wahres Juwel unter allen Bachschen Arien überhaupt. Sie ist, wenn auch der Text nicht ausdrücklich davon spricht, ein Wiegenlied, an der Krippe des Christuskindes gesungen. Die Verwandtschaft mit der köstlichen Schlummerarie im Weihnachts-Oratorium39 liegt zu Tage, doch ist die Stimmung dort voller und gesättigter, hier, wie es einer nachträumenden Erinnerung zukommt, luftiger und zarter. Eine holdselige Anmuth lächelt aus jeder Note, aus den wiegenden Gängen der einzig begleitenden Flöte und Viola d'amore, aus dem Silberglanz der langgezogenen Töne, der zärtlichen Melodik und dem süßen Terzschlusse des Gesanges, aus den über langsam schwingenden Basstönen kosenden Sexten der beiden Instrumente. Ueber das Schlußduett ist schon bei der Cantate »Ich hatte viel Bekümmerniß« angedeutet, daß es dramatisch und dem Kirchenstile zuwider sei. Hinzu kommt, daß der Tanzrhythmus der Gigue von Anfang bis zu Ende durchgeht, den freilich die Francksche Dichtung fast nothwendig machte. Dagegen ist wieder durch eine, wenngleich spärliche Einflechtung selbständiger Instrumentalgänge etwas mehr zu Gunsten des lyrischen Princips geschehen, als bei dem andern Duett. Als Musikstück ist es, wie wohl nicht versichert zu werden braucht, reizvoll genug.
8) Cantate auf den zweiten Sonntag nach Epiphanias (19. Jan.) 1716 (»Mein Gott, wie lang, ach lange?«)40. Aus dem Evangelium von der Hochzeit zu Cana ist nur der Gedanke entnommen, daß Gott endlich in der Noth hilft, wenn er auch scheinbar auf sich warten läßt. Der einfache psychologische Gang der Cantate ist dadurch [554] vorgezeichnet. Während der Bass auf d in gleichsam endlosen Achteln weiter pocht, klagt recitativisch der Sopran, daß er des Jammers kein Ziel sehe, und endet höchst malerisch, indem er zu dem Worte »Freudenwein« in Zweiunddreißigsteln hinaufwirbelt und dann mit dem Seufzer: »mir sinkt fast alle Zuversicht« müde zwischen den imitirenden Geigen hinabsinkt. Mild aufrichtend läßt sich ein Duett zwischen Alt und Tenor (A moll ) vernehmen: »Du mußt glauben, du mußt hoffen«, in deren Gesang ein Fagott theils mit gebrochenen weitliegenden Harmonien, theils mit selbständigen Passagen, theils mit Imitationen der Gesangmelodie geistvoll verwoben ist. Einen Schritt weiter zur Beruhigung thut das Bassrecitativ: »So sei, o Seele, sei zufrieden!«, und nun erschallt in schwungvoller Glaubenszuversicht eine prachtvolle Sopranarie (F dur ): »Wirf, mein Herze, wirf dich noch in des Höchsten Liebesarme!« eins von den Bachschen Stücken, die man mit ihrem stahlkräftigen Rhythmus, ihren unaufhaltsam treibenden Septimenharmonien und dem siegesseligen Ausdruck der Melodie sich nicht satt hören kann. Schon hier treffen wir wieder die umgekehrten Orgelpunkte, jene großen harmonischen Bogenwürfe, deren Fluge wir uns im Vertrauen auf die zielsichere Hand des Meisters freudig überlassen. Von großer Wirkung und ganz undefinirbarem Ausdruck ist auch der inmitten und am Schluß der Arie mit Schubertscher Kühnheit ausgeführte Wechsel zwischen Dur und Moll. Was die Verbindung von Achteltriolen und punktirten Achteln betrifft, so sei ein für allemal bemerkt, daß das Sechzehntel dieser rhythmischen Figur in solchen Fällen immer gleich dem letzten Achtel der Triole ist
Diese allerdings nicht ganz genaue, aber breite und würdevolle Art der Ausführung war bis zu der überhandnehmenden Unruhe der neueren Instrumentalmusik die allein gebräuchliche41. – Die vierstimmig gesungene zwölfte Strophe des Chorals »Es ist das Heil uns kommen her« bildet den Schluß der schönen Composition.
9) Cantate auf den Sonntag Oculi (22. März) 1716 (»Alles, was [555] von Gott geboren«). Dieses Werk ist später ganz in die Cantate »Ein feste Burg ist unser Gott«42 übergegangen, deren Gesammtbestand mit Ausnahme der Choralchöre an erster und fünfter Stelle es ausmacht. Eine Spur von seiner Existenz in ursprünglicher Form ist noch vorhanden. Die beiden Chöre müssen bedeutend später hinzucomponirt sein, die übrigen Theile zeigen in der Factur eine vollständige Uebereinstimmung mit den anderen Cantaten des Jahrgangs 1715–171643. So tritt wieder die Melodie des Schlußchorals in der ersten Arie (D dur ) instrumental auf, einem Heldenliede des Basses, das die kampfesmuthig stampfenden Geigen und Violen im Einklang umdrängen, wie Schlachtrosse unter streitbaren Reitern. Die zweite Arie, von einem Bassrecitative eingeleitet: »Komm in mein Herzenshaus, Herr Jesu, mein Verlangen« und nur zum Continuo vom Sopran gesungen (H moll 12/8), ist eine rührend kindliche Bitte, die zu dem stahlgepanzerten Kriegsgesange im frappanten Gegensatze steht. Nach einem abermaligen Recitativ des Tenors folgt für diesen und Alt mit Begleitung von Violine und Oboe da caccia ein Duett (G dur 3/4). Das Sonntags-Evangelium erzählt, daß nach der Rede Jesu, die seinen hauptsächlichsten Inhalt ausmacht, ein Weib aus dem Volk gerufen habe: »Selig ist der Leib, der dich getragen hat, und die Brüste, die du gesogen hast«, und er darauf erwiedert: »Ja selig sind, die Gottes Wort hören und bewahren«. Hiernach hatte Franck seinen Text beginnen lassen: »Wie selig ist der Leib, der, Jesu, dich getragen! Doch selger ist das Herz, das dich im Glauben trägt«. Diese in ihrer Naivetät rührende Erzählung war es, aus der Bach die Stimmung des Duetts ableitete. Es fühlt sich eine besondere Art der Weichheit heraus, die von andern zarten Stücken Bachs immer noch wesentlich verschieden ist, man möchte sagen, etwas mütterlich weibliches lebe darin. Auch das Wiegenlied aus der Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn« ist anders, obgleich zuweilen anklingend. Die homophonen Terzen, das ungesäumte Hinübergehen in die Tonart der Unterdominante, und gar die Einführung des F – ein feuchter Blick aus Mutteraugen! – das alles sind für einen Bachschen Anfang höchst ungewohnte Erscheinungen. [556] Gleich darauf imitiren die Singstimmen kunstreich, Oboe und Violine umkreisen sie in Sechzehnteln phantastisch und geheimnißvoll. Weiterhin, wo es sich um Christi Antwort handelt, bleibt das Anfangsmotiv, wird aber mit Zuhülfenahme der Instrumente vierstimmig fugirt – eine mit einfachen Mitteln herrlich gelungene Steigerung! So viel Zeilenpaare noch folgen, so viel neue Tonbilder: wer Christus gläubig im Herzen trägt, überwindet alle Feinde – kühnbewegter Satz, in den Figuren an die erste Arie mahnend; er überwindet endlich auch den Tod – Imitationen, die muthig aufstreben und dann in unheimlichen Harmonien ihren Weg ganz zu verlieren scheinen. Der Gedanke an den Tod mit seinen Schrecken macht sich auf einen Augenblick geltend, um jedoch durch die Wiederkehr des milden Ritornells beschwichtigt und durch den Schlußchoral endlich ganz besiegt zu werden. Wir konnten schon zuvor aus der Auffassung eines Arien-Textes auf Bachs Charakter einen Reflex fallen lassen. Die Tiefe, mit welcher er den Sinn jener biblischen Erzählung ergriff, scheint mir für die keusche Innigkeit seines deutschen Gemüthes lauter zu zeugen, als es dieses und jenes äußere Lebensereigniß vermöchte.
Wir sind am Ende. Zurückblickend bemerkt der Leser, daß ausgeführte Chöre in den erhaltenen Resten des Jahrgangs fast ganz fehlen. Der Grund liegt zunächst in den Dichtungen Francks, der von einer Benutzung biblischer Worte hier ganz abgesehen hatte, und Bach wußte sehr wohl, was man von einem Chortext zu fordern habe. Aber der einzige Grund ist dies nicht. So vortreffliches er auch jetzt schon hier und da in den chorischen Formen leistete, seine eigentliche Zeit dafür war noch nicht gekommen. Weimar bedeutet für Bach die Blüthe seiner Orgelkunst, besonders auch im Choral, und diese Höhe mußte zuvor erreicht sein, ehe er einen weiteren Schritt thun und den subjectiveren poetischen Inhalt der Instrumentalformen zu vocalen Kunstgebilden verdichten konnte. Seine größten Leistungen in der Chormusik sind ja Choralchöre und eben sie bilden die entwickeltste Blüthe seiner kirchlichen Kunst überhaupt. Die Stärke dieser weimarischen Cantaten beruht in den Sologesängen, deren Gedankenreichthum, Mannigfaltigkeit und Formvollendung zum Erstaunen zwingt. Jede Melodie trägt ihr besonderes Gepräge, in jedem Stück ist eine eigenthümliche Stimmung von Grund aus [557] er faßt, auch den verschiedenartigsten weiß der Künstler mit bewundernswerther Vielseitigkeit Genüge zu thun. So mühelos und ungesucht sprudelt die Musik hervor, daß der Gedanke, diese Kraft könne je ermatten, garnicht aufkommen kann; complicirte technische Aufgaben werden mit einer ruhigen Sicherheit gelöst, daß sie als solche garnicht mehr ins Bewußtsein treten. Die Auffassung der Worte bezeugt einen grundkirchlichen, aller weltlichen Verflachung abgewendeten Tiefsinn; immer beruht sein Ideal in der kirchlichen Gesammtfeier des jedesmaligen Sonntags, und genügt der Text nicht in Hervorhebung der Hauptgedanken, so greift er durch ihn hindurch auf die Grundlage und giebt ihm durch seine Musik erst die rechte Gestalt. Sehr viel nützt zur Erzielung der kirchlichen Stimmung schon hier die geniale Verwendung des Chorals. Nur der Chor fehlt, um das Ideal der Bachschen Kirchenmusik in diesen Cantaten schon vollendet zu sehen. –
In die Zeit des ersten Jahrgangs fällt das Intermezzo einer weltlichen Cantate. Herzog Wilhelm Ernst pflegte, wie wir erzählt haben, freundschaftliche Beziehungen zu dem Fürsten Christian von Sachsen-Weißenfels. Dieser hatte am 23. Febr. 1716, zur Feier seines fünfunddreißigsten Geburtstages, ein großes Kampf-Jagen veranstaltet. Um das Fest seinerseits zu verherrlichen, ließ Wilhelm Ernst im fürstlichen Jägerhofe eine Cantate als Tafelmusik aufführen, die Salomo Franck hatte dichten und Sebastian Bach componiren müssen44. Ihre Form ist natürlich dramatisch-allegorisch, der poetische Inhalt so unbedeutend, daß seine Darlegung kaum der Mühe lohnt. Der Aufwand an Personen wird wie üblich aus der antiken Mythologie bestritten. Diana tritt auf und äußert ihr ausschließliches Gefallen an der Jagd, Endymion macht ihr Vorwürfe, daß sie ihn vernachlässige. Dies geschehe, entgegnet die Göttin, weil sie heute ihre ganze Aufmerksamkeit dem »theuren Christian« zuwenden müsse, wobei sich der Geliebte beruhigt und mit ihr ein beglückwünschendes Duett singt. Pan, der Gott der Felder, tritt mit gleichen Gesinnungen hinzu, endlich legt auch die Hirtengöttin Pales ihr Opfer an Ergebenheitsbezeugungen nieder. Da nun das Quartett beisammen ist, steht einem rechtschaffenen Musiciren nichts [558] mehr im Wege: erst singen sie vierstimmig, dann Diana und Endymion ein Duett, darauf Pales und Pan je eine Arie und ein allgemeiner Chor macht den Beschluß. Die Cantate ist ziemlich weitläufig, sie zählt zehn Nummern nebst den zugehörigen Recitativen. Bach hat, da es vermuthlich sein erstes Werk in dieser Gattung war, die Composition mit Interesse ausgeführt, und viel reizendes darin niedergelegt. Bei passender Gelegenheit suchte er es mehrfach wieder hervor und verwendete einzelne Stücke auch für eine spätere Kirchencantate. Zunächst diente es wieder, den Geburtstag des Prinzen Ernst August zu verherrlichen (19. April), der, ein Neffe des Herzogs Wilhelm Ernst und älterer Stiefbruder des musikalischen Johann Ernst, jenem im Jahre 1728 als Regent nachfolgte45. In Leipzig wurde es dann zum Geburtsfeste des Königs Friedrich August von Sachsen (ob des ersten oder zweiten wird nicht gesagt) »in unterthänigster Ehrfurcht aufgeführet in dem Collegio musico durchJ. [ohann] S. [ebastian] B. [ach]«46. Vermuthlich nur in theilweiser Aufführung mußte es abermals einen gemeinsamen Ehrentag des Herzogs Christian und seiner Gemahlin Louise Christine, einer gräflich stolbergschen Prinzessin, schmücken47. Endlich gingen im Jahre 1731 zwei Arien daraus erweitert und bereichert in die Pfingstcantate »Also hat Gott die Welt geliebt« über48. Eine derselben ist die erste des Pan (C dur ), über deren unmöglichen Text sich Bach dadurch hinweggeholfen hatte, daß er mit thunlichst geringer Rücksicht auf ihn ein kräftiges polyphones Stück schrieb. In der Ueberarbeitung ist der Organismus noch breiter und [559] abgerundeter geworden, auch mit meisterlicher Leichtigkeit die Musik im Einzelnen den abweichenden Forderungen des neuen Textes angepaßt, im Ganzen hätte dieser aber wohl eine andere Composition verdient. Glänzend geglückt ist dagegen das Experiment im zweiten Falle. Die bei den Arien der Pales und die zweite des Pan boten dem Componisten eine wirkliche poetische Anregung, man merkt, wie ihm bei dem Gedanken an das kräftige Naturleben der Hirten und Ackerleute das Herz aufgegangen war. Ein ganz reizendes Stückchen von vollendeter Abrundung ist die erste Pales-Arie »Schafe können sicher weiden«, begleitet von zwei Flöten und Continuo (B dur ). Der zweiten (F dur ) sah es Bach an, daß noch Schöneres aus ihr entwickelt werden könne. Sie zählt 36 Takte und ist wie die Bass-Arie der Ostercantate von 1715 über einen freien ostinato gesetzt. Er wurde beibehalten, die Melodie aber durch eine andre viel schwunghaftere ersetzt, die mit ihrer Frühlingsseligkeit auch zu den Herzen der heutigen Musikwelt sich den Zutritt ohne Widerstand gewonnen hat. Die Ausführung ist bis zu 52 Takten erweitert und der Modulationsgang geändert; hiermit noch nicht gesättigt führt der Meister das Bassthema in einem Nachspiel von 26 Takten zu Ende. Die Worte: »Mein gläubiges Herze frohlocke, sing, scherze« kamen der Uebertragung entgegen, noch mehr die allgemeine Stimmung zu Pfingsten, dem Feste der Maien. Waren solche Entlehnungen überhaupt möglich, so kann eine Stilverschiedenheit zwischen Bachs geistlichen und weltlichen Compositionen nicht bestehen. Sie besteht auch wirklich nicht. Der Bachsche Stil war der kirchliche, und der kirchliche Stil war der Bachsche. Er legte ihn nicht an und ab, wie ein Gewand, er wendete ihn ohne Reflexion überall an, weil ihm seine Schreibart in naturgemäßer Entwicklung erwachsen war und er sich garnicht anders mehr ausdrücken konnte. In Einzelheiten weltlicher Cantaten versucht er wohl sich etwas leichter zu schürzen und ein hoher Grad von Anmuth ist ihm ja überhaupt eigen. Aber im Ganzen bleibt die keusche Zurückhaltung seiner Polyphonie hier wie dort dieselbe. Die Weißenfelser Sänger, seit langem an das äußerlich wirksame Wesen der Oper gewöhnt, müssen merkwürdige Gesichter bei dieser Musik gemacht haben, obgleich sich Bach in der ersten Arie der Diana augenscheinlich bemüht hat, etwas brillantes und dankbares zu schreiben. [560] Eine Zierde der dortigen Oper war damals (es ist nicht genau bestimmbar; seit wann) Christiane Pauline Kellner, welche die Partie der Diana gesungen haben mag. Sie hatte am Ausgange des 17. Jahrhunderts an der Oper zu Braunschweig, später in Cassel gewirkt und genoß einen großen Ruf als Gesangsvirtuosin; Mattheson rühmt ihr Extemporiren »und mit der Kehle Fantasiren ohne einzige Worte«, sie wird also auch in Hamburg gewesen sein49. Fälle, in denen Bach für Sängerinnen schrieb, sind in seinem Leben höchst selten. Kirchen- und Kammersängerinnen gab es zu seiner Zeit am weimarischen Hofe noch nicht, erst gegen das Ende der zwanziger Jahre kommen sie vor50. –
Der zweite Jahrgang Franckscher Cantaten erstreckte sich vom 1. Advent 1716 bis ebendahin 171751. Für die Zeit von Ostern bis zum 1. Advent 1716 lagen also keine neuen Dichtungen vor; zum Pfingstfeste componirte Bach, wie wir früher sahen, einen Neumeisterschen Text, andre Werke sind nicht nachzuweisen. Aber auch aus dem gesammten zweiten Jahrgange besitzen wir nur noch zwei Cantaten, die sicher in Weimar entstanden sind. Ob er weiter keine componirt hat, oder ob die übrigen verloren gingen, bleibt vorläufig im Dunkel. Die beiden erwähnten gehören dem zweiten und vierten Adventssonntage (6. und 20. Dec.) 1716 an. Es hängt offenbar mit dem am 1. Dec. eingetretenen Tode des alten Capellmeister Drese zusammen, daß Bach sie so rasch hinter einander schrieb. In diesem Jahrgange hat Franck das Recitativ wieder ganz vermieden. Bach überarbeitete in Leipzig die Cantaten noch einmal, schob neu hinzugedichtete Recitative ein und machte sie zweitheilig, indem er auch in der Mitte einen Choral anbrachte. Nur in dieser erweiterten Gestalt sind sie erhalten, doch läßt sich die ursprüngliche leicht reconstruiren, einige Vervollkommnungen im Einzelnen [561] vorbehalten, an denen es nicht gefehlt haben wird. Beide bestanden aus einem Chor, vier Arien und einem Choral.
Das Evangelium des zweiten Advents handelt von der Ankunft Christi zum jüngsten Gericht, und eröffnete jene mystisch-großartige Sphäre, in der Bachs Genius sich vor allen wohl fühlte. In der Cantate zu diesem Sonntage spannt er seine Flügel so mächtig aus, wie man es trotz allem vorhergegangenen nicht erwarten durfte52. Der Anfangschor, in die Form der italiänischen Arie gegossen, zählt 80 breite Takte (C dur ). »Wachet, betet!« aus diesem Gegensatze keimt das bedeutungsvolle Tonbild empor. Schon in der Instrumentaleinleitung lebt er, welche alle Motive exponirt, die im Verlauf durch die Instrumente zur Anwendung kommen; unter ihnen sind die wichtigsten das hell hineinfahrende Signal:
und eine feierlich wallende Bewegung in breiten Accordfolgen, wie im C dur-Praeludium des wohltemperirten Claviers, in welche aber leise Weckstimmen der Trompete und Oboe abwechselnd hineintönen: auch das Beten soll ein Wachen sein! Aus ganz andern Motiven erwächst der Chorsatz; eine sich aufraffende Sechzehntelpassage, energische Rufe, rüstige Aufforderungen, und als Gegensatz andachtsvoll getragene Harmonien, wie:
sind sein Material53. Die vier Arien bilden eben so viele Charakterbilder [562] von erstaunlicher Schärfe. So schön die Recitative sind – namentlich großartig und erschütternd ist das letzte, wo zu der gewaltigen Schilderung des Weltuntergangs der Choral »Es ist gewißlich an der Zeit« durch die Trompete geblasen wie aus den Wolken herabtönt – und so vollkommen im Allgemeinen die künstlerische Berechtigung dieser stimmungsvermittelnden Form ist, in dem vorliegenden Falle können sie nicht als nothwendig erscheinen. Ich bilde mir ein, ganz deutlich hindurch zu fühlen, wie sie von Bach ursprünglich nicht beabsichtigt waren. Die psychologische Entwicklung erfolgt durch die vier Arien bis zum Schlußchoral mit einer so lückenlosen Energie, daß auch der Meister selbst keine Einschaltungen mehr machen konnte, ohne die Continuität des Stromes zu stören. Zu sehr war diese Composition als spontaner Erguß aus dem tiefsten Grunde seines Wesens hervorgedrungen; an solchen Erzeugnissen läßt sich später nichts mehr formen, sie sind da. Die erste Arie, für Alt (A moll 3/4), anklingend an den Tenor-Gesang der Advents-Cantate von 1714, die ja theilweise ähnliche Töne anschlug, enthält die ernste Mahnung, sich für den jüngsten Tag zu bereiten, ehe es zu spät sei und er verheerend hereinstürze, wie einst der Feuerregen über die sündigen Sodomiter. Tiefe Wehmuth ist der Mahnung beigesellt, gleichsam in dem Gefühl, daß sie für die Meisten dennoch vergeblich sein werde. Diese glauben es nicht, daß die letzten Zeiten nahen, aber Christi Wort bleibt wahr, und er wird erscheinen als Richter auf den Wolken – zweite Arie (Sopran, E moll ) Wunderbar ist hier der Ausdruck der bestimmten Ueberzeugung und der Ergriffenheit durch eine großartige Vorstellung mit unheimlichem Grauen vermischt. Welch majestätische Melodiezüge von Takt 7 bis 12 und 14 bis 20, und welch machtvolles Anschwellen in ihnen! Klingt das breite, gemessene Motiv
mit seinen echoartigen Abschwächungen zum piano und pianissimo nicht wie in den Weltenraum hinausgerufen und dort in der schaurigen Unendlichkeit verhallend? Doch die Frommen mögen ihr Haupt [563] emporheben und getrost sein, sie sollen »in Eden grünen, Gott ewiglich zu dienen«; diesem Gefühle giebt die folgende Tenor-Arie (G dur ) Ausdruck54. Sie hat ihre freie Form mit dem Duett der Cantate »Ach ich sehe« gemeinsam: das Hauptthema taucht ganz unerwartet aus dem Dunkel der Unterdominante auf (Takt 34), eine fein poetische Illustration zu den Worten: »Hebt euer Haupt empor«. Die plastisch-schöne Melodie derselben beherrscht mit größerer Ausschließlichkeit, als in andern Arien, das ganze Stück, überall ist sie mit ihrem herzlichen Troste zur Hand. Und sie weiß zu trösten. Denn nun quillt aus voller Brust das Verlangen nach jenem letzten, seligen Tage, der die Frommen hinüberführt in das Reich des Friedens55 – letzte Arie (Bass, C dur 3/4). Selten hat wohl Bach eine Gesangmelodie geschrieben, die so rein zur Geltung gelangt, so vollständig nach allen Seiten heraustritt, als die 24 Adagio-Takte, welche den Anfang der Arie ausmachen. Kein Instrument mischt sich ein, nur von dem feierlichen Klange der Orgel in ruhigen Harmonien unterstützt, strömt die Singstimme ihre Empfindung aus in einer einzigen ununterbrochen auf und ab steigenden Linie. Dann bricht das Weltende herein: die Instrumente tosen, die Orgel braust, Trompetenklang schmettert dazwischen, alle Grundfesten wanken und stürzen zusammen, aber über dem Graus der Vernichtung erhebt sich in himmlischer Glorie jene neue Welt, von der es heißt, daß Gott abwischen wird alle Thränen und der Tod nicht mehr sein wird (Off. Joh. 21, 4). Wie der Empfindungsausdruck sich hier über alles irdische hinausschwingt, so ist auch jede Rücksicht auf eine der gebräuchlichen Formen überflogen: nach dem milden Mittelsatze leitet Bach in das Adagio des Anfangs zurück und läßt unter stiller Orgelbegleitung den Gesang in höchster Ueberschwänglichkeit zu Ende gehen. Mit der fünften Strophe des Chorals »Meinen Jesum laß ich nicht« setzt der Chor ein. Wenn sonst der vierstimmige Vocalsatz[564] wohl noch von einer selbständigen Instrumentalstimme überbaut wurde, so genügte das an dieser Stelle nicht mehr. Dreistimmig im freiesten Melodienschwunge ziehen die Geigen über dem Gesange hin – Sphärenharmonien erklingen! In keiner Cantate hat man unmittelbarer und stärker den Eindruck, daß der Gesammtstrom der Empfindung auf den Schlußchoral als letztes Ziel hinfluthe. Es ist als vernähme man nur das Sichererwartete, was lange vorher schon im Gehöre klang, als sei nun die letzte Hülle entfernt und die Herrlichkeit des Himmels geöffnet.
Blöde und unempfänglich ruht das Auge, das in die Sonne geschaut, auf den Gegenständen der Erde. So ist es für die zweite Cantate: »Herz und Mund und That und Leben«56 ein Nachtheil, daß sie in der chronologischen Betrachtung auf jene folgt. Man würde sonst seine volle Freude haben an dem prächtig frischen Anfangschor (C dur 6/4), an der ausdrucksreichen ersten Arie und auch im Uebrigen Anregendes genug finden. Uns möge die Cantate »Wachet, betet« als Schlußstein der weimarischen Kirchencompositionen gelten. Mag der Meister auch in andren Dichtungen des Jahrganges noch Gelegenheit zu bedeutsamen Tonwerken gefunden haben, von denen die Woge der Zeit vielleicht das eine oder andre einmal wieder ans Ufer spült, kaum kann darin die wunderbare Eigenart seines Genius klarer hervorgetreten sein, dessen liebste Wohnstätte jene über Lust und Leid der Menschen schwebenden seligen Gefilde waren und dem ein Gott die Lippen berührte, den dunkeln Erdensöhnen seine himmlischen Gesichte zu verkünden.
Fußnoten
VII.
Aus den Jahren 1715 und 1716 ist irgend eine Reise Bachs mit Bestimmtheit zwar nicht überliefert, doch läßt sich kaum zweifeln, daß er unterdessen einmal Meiningen und den dort residirenden sächsischen Hof besucht hat1. Hier war, wie man sich von früher [565] erinnern wird, Johann Ludwig Bach Capell-Director, ein Sproß jener zweiten von Veit Bach ausgehenden Linie, deren musikalische Befähigung in dem Meininger Bach zur höchsten Entwicklung gelangte. Bis dahin sind von einem Verkehr der beiden Linien keine Spuren vorhanden, werden aber sogleich sichtbar, nachdem Sebastian ihn hergestellt. Denn schon im Jahre 1717 wurde der älteste Sohn seines Bruders in Ohrdruf »auf Empfehlung« als Hof-Cantor an das Stift zu Gandersheim berufen, wo auch Johann Ludwigs Bruder angestellt, und die Schwester des Herzogs von Sachsen-Meiningen Aebtissin war2. Daß die bedeutendsten Repräsentanten der zwei Linien sich zu einander hinneigten, ist ein neues erfreuliches Zeichen der brüderlichen Gesinnung, welche alle Glieder des großen Geschlechtes umschloß. Wichtiger noch ist es, aus dem nachweislich warmen und andauernden Interesse, das Sebastian an Johann Ludwigs Compositionen nahm, zu erkennen, wie auch von die ser Seite her die Summe dessen, was im allmähligen Aufsteigen des Geschlechts geleistet war, zu Sebastian Bach hinüberfloß. Einen maßgebenden Einfluß auf dessen Ausbildung konnte jener freilich nicht mehr gewinnen, da die Berührung erst zur Zeit von Sebastians voller Selbständigkeit stattfand, aber Raum und Neigung für des anderen Weise waren in diesem immer noch reichlich vorhanden, reichlicher, wie es scheint, als für irgend einen zweiten Componisten. Von keinem hat er sich durch selbstgemachte Abschrift noch in späteren Jahren eine solche Menge von Compositionen angeeignet. Es ist in diesem Verhältnisse etwas ähnliches, wie wenn er eine Tochter seines eignen Stammes zur Gattin nahm: da in ihm die Gaben und Eigenthümlichkeiten desselben zur vollkommensten Erscheinung kamen und ein Ueberbieten durch Fortpflanzung nicht mehr möglich war, so zog er instinctiv zur weiteren Nährung der eignen Persönlichkeit Angehörige des Geschlechts theils zur innigsten Lebensgemeinschaft theils zum theilnehmenden künstlerischen Verkehr an sich heran.
[566] Johann Ludwigs Talent ist freilich mit dem Sebastians nicht zu vergleichen. Auch der Eisenacher Johann Christoph steht höher an Erfindungskraft und Tiefe. Aber als einen originell begabten und allseitig durchgebildeten Künstler muß man ihn dennoch ansehen. Zunächst fällt auf, daß ein völlig andrer Geist in ihm lebt, als in den hervorragenden Individuen der Hauptlinie. Schon seine Gesichtszüge enthalten kaum einen leisen Anklang an das, was wir durch die Abbildungen Sebastians, seines Vaters und seiner Söhne als das Bachsche Familiengesicht uns vorzustellen gewohnt sind. Ein Pastellbild, das ihn als hohen Dreißiger aufweist, zeigt ein rundliches glattes Gesicht in hübschen weichen Linien und mit schön geschwungenen Augenbrauen. Auf einem Miniatur-Bildchen in Oel, wo er als Jüngling oder junger Mann gemalt ist, sind die Züge sogar von einer auffallenden, fast weiblich zu nennenden Schönheit3. Auch seinen Compositionen fehlt das Großartige, Tiefsinnige und Phantastische. Mit der Orgel scheint er sich nichts zu schaffen gemacht zu haben, und das ist jedenfalls bedeutsam. Seinen Charakter bestimmt das Wohlthuende in Erfindung, Klangwirkung und technischer Ausführung, dabei eine natürliche Gewandtheit in allen Gattungen der Kunst. Doch scheint er sich der Instrumentalmusik weniger beflissen zu haben. Es giebt eine Orchestersuite von ihm aus dem Jahre 1715, bestehend in Ouverture, Air, Menuet, Gavotte, Air, Bourrée4. Die Ouverture ist wohl das beste Stück, kräftig im ersten Theil, flüssig und strömend im zweiten und mit den beliebten effectvollen Orgelpunkten geziert. Das erste Air ist eigenthümlich, fast beständig in Sechzehntel-Bewegung und so anfangend:
[567] Die eingeklammerte zirpende Stelle, mit der vielfach Solo-Oboe und Tutti alterniren, spielt darin eine bedeutende Rolle. Die übrigen Tanzstücke sind mehr derbkräftig, als leichtanmuthig. An Motetten und Kirchencantaten hat sich aber eine reiche Auswahl erhalten; Sebastian Bach selbst schrieb allein von achtzehn der letzteren sich die Partitur ab5. Diese Werke stehen zwischen der älteren und neuern Kirchencantate ungefähr in der Mitte. Die Texte enthalten madrigalische Formen zu Recitativen, daneben aber auch Bibelsprüche für Sologesang und umgekehrt freie Dichtung für den Chor. Zum Bibelwort ist das Arioso beibehalten mit den von Seb. Bach abgestreiften älteren Eigenthümlichkeiten, daß z.B. der Solo-Bass in den Schluß-Cadenzen gern mit der Bass-Stimme der Instrumente geht. Die wirklichen Recitative heben sich noch nicht genug durch leichte und freie Declamation als selbständige Form heraus. Die Arien haben meistens Da capo-Anlage, aber kleine Dimensionen. Zuweilen ist die Gestaltung unsicher: eine Alt-Arie der Cantate »Ja mir hast du Arbeit gemacht« (zum Sonntage Quinquagesimae) beginnt im 3/2 Takt mit ganz breiter Melodie, verläuft aber nach zwanzig Takten ohne erkennbaren Grund ins reine Recitativ. Die Chöre sind imitirend, aber gewöhnlich nicht sehr weit ausgeführt. Für die Choralbehandlung endlich liebt er den homophonen Vocalsatz, begleitet vom Geigenchor mit repetirten Achteln, zuweilen aber ergehen sich auch die Geigen über dem Gesange in freien und lebhaften Figurationen. Der Gefühls-Ausdruck hält sich meistens in einer mittleren Höhe, von der Empfindsamkeit der älteren Kirchencantate, wie von der Flachheit eines Telemann, Stölzel und Genossen gleichmäßig entfernt. Eine selbständige Erfindungskraft, die oft durch sinnige Züge überrascht, tritt überall zu Tage. In der genannten Cantate wird das beginnende Bass-Arioso durch dieses Instrumental-Gebilde eingeleitet:
[568] welches Jesu bange Vorempfindungen seiner herannahenden Leiden vortrefflich ausdrückt, das ganze Arioso beherrscht und mit geschickter Verwendung und derselben Bedeutung im Schlußchore wiederkehrt6. Wir wissen, daß am Meininger Hofe italiänische Gesangsmusik getrieben wurde, es liegt daher nahe genug, daß Johann Ludwig die sangbare Schreibart seiner Vocalmusik zum guten Theil dem Studium der Italiäner verdankte. Sie tritt ganz besonders in den Motetten hervor. Die Originalität und überragende Bedeutung dieser Arbeiten wird erst völlig klar, wenn man sie mit den zwitterhaften und flauen Motetten andrer damaliger Componisten vergleicht; ich wüßte nach Sebastian Bach Niemanden zu nennen, der hierin dem Meininger an die Seite zu setzen wäre. Eine nothwendige Fortentwicklung der Gattung darf man freilich in ihnen nicht suchen wollen, nach wie vor bezeichnet in der neueren Motette [569] Johann Christoph Bach den Gipfelpunkt. Aber es zeigt sich häufig in der Kunstgeschichte, daß wenn auch überragende Geister ein für die Zeit Höchsterreichbares geleistet haben, es schwächeren Talenten trotzdem gelingt, sich neben ihnen noch zur Geltung zu bringen. Sie heben dann gewisse Dinge, die im Uebergang zu andren Kunstidealen anfangen vernachlässigt zu werden, noch einmal mit großer Entschiedenheit hervor und wissen sie doch mit jungen Elementen anziehend zu mischen. Johann Ludwig Bach stand in einem viel intimeren Verhältnisse zu dem italiänischen Vocalstile jener Zeit als seine Zeitgenossen, die auch beim Motettencomponiren immer nur an concertirende Musik dachten. Das Wesen des Chorgesanges hatte sich ihm in vorzüglichem Maße erschlossen, er besaß, was den meisten nord- und mitteldeutschen Componisten fehlte, den vollen Sinn für die warme, gesättigte Schönheit des reinen Vocalklanges. Da er zuvor das Hofcantor-Amt bekleidet hatte, mag er selbst ein guter Sänger gewesen sein. Außerdem war er ein höchst gewiegter Contrapunctist, man darf wohl behaupten, daß er alles konnte, was damals in Italien auf diesem Gebiete geleistet wurde. Da er nun eine erfindungskräftige Persönlichkeit hinzu brachte, so ist das Resultat einigermaßen begreiflich. Ein äußeres Zeichen für seine Neigung, im reinen Chorklange zu schwelgen, ist schon der ungeheure Umfang der Motetten. Eine doppelchörige über Jes. 9, 6 und 7: »Uns ist ein Kind geboren« u.s.w. zählt nicht weniger als 346 Viervierteltakte, ohne doch wie die Motetten Sebastian Bachs in verschiedene Sätze zu zerfallen; nur im 63., 133., 164., 228. und 275. Takte werden durch Fermaten kurze Ruhepunkte gewährt7. Das riesige Werk beginnt einfach und gemächlich, aber schon mit dem 64. Takte entwickelt sich ein Gebilde von überraschender Originalität: alle Bässe und Tenöre heben, wie psalmodirend, im Einklange an:
[570] dann setzen die vier andern Stimmen canonisch imitirend darüber ein:
wiederholen dies Motiv in D dur, dann in A moll, dann zweistimmig wieder in G dur und schließen auf der Dominante. Höchst merkwürdig berührt es, wenn während der nach den Cadenzen eintretenden Pausen der Oberstimmen in den Bässen und Tenören der Gesang mit seiner pastosen Fülle und langsamen Bewegung weiterdröhnt, der ganze Satz hat etwas so entschieden katholisches, daß man ihn bei einem protestantischen Tonsetzer fast mit Befremden bemerkt. Nachher übernehmen beide Soprane die langen Töne, dann die Bässe allein, dann die Tenöre, dann wieder die Bässe, wozu nun das obere Stimmengewebe immer reicher wird. Vom 228. Takte beginnt eine achtstimmige Fuge »Solches wird thun der Eifer des Herrn Zebaoth«:
Man wird lange suchen, um ein Stück von gleicher Bedeutsamkeit, vergeblich wohl, um eins zu finden, das in seiner Art vortrefflicher wäre. Da ist ganz jene spielende Leichtigkeit, jener feurige Fluß der Stimmen, da jener üppige Wohlklang, der nur dann entsteht, wenn sich alles wie von selbst singt. Die Fuge könnte mit anderm Text versehen für das Werk eines italiänischen Meisters gelten, man würde etwa auf Leonardo Leo rathen. Eine andre Motette: »Gott sei uns gnädig und segne uns« (Ps. 67) hat fast noch höhere Bedeutung8. [571] Sie ist in der Weise dreichörig, daß zwei Chöre mit je vier Stimmen ausgestattet sind, der dritte Chor aber nur von einem Bass repräsentirt wird. Dieser wandelt zwischen den zwei andern Vocalmassen, die in Viertel- und Achtel-Bewegung alterniren, wohlhervortretend hin mit einem vom B in halben Noten durch die Tonleiter bis zum / aufsteigenden und dann ebenso wieder bis zum F absinkenden Gange. Darauf folgt eine Partie, wo der Bass-Chor zu den Worten: »daß wir auf Erden erkennen seinen Weg, unter allen Heiden sein Heil« immer auf f verharrt. Dann wiederholt sich der Anfang zu dem Satze »Es danken dir, Gott, die Völker, es danken dir alle Völker«. Und im schärfsten Contrast ergießt sich nun der Bass-Chor in fluthenden Sechzehnteln:
und die andern Chöre tanzen in Achteln herum. Gegen den Schluß vereinigen sich alle drei Bässe in ganzen und halben Tönen gegenüber den Vierteln und Achteln der übrigen Stimmen zu der Melodie des Magnificat, gesungen auf die Worte: »Es segne uns Gott, unser Gott; es segne uns Gott und alle Welt fürchte ihn«, worauf dann die Motette in reicher Polyphonie zu Ende geht. – Diese kurzen Andeutungen müssen hier genügen. In der Geschichte der reinen Vocal-Musik wird Johann Ludwig Bach immer einen hervorragenden Platz einnehmen.
Der Herzog Ernst Ludwig von Sachsen-Meiningen hat wegen seiner selbstsüchtigen Regierung, verschwenderischen Hofhaltung und der von ihm beförderten Günstlingswirthschaft im Allgemeinen kein sonderliches Andenken hinterlassen. Er war aber ein warmer Freund der Künste, die seinen Hof verherrlichten, und vor allem der Musik. Schon im Jahre 1713 hatte Ludwig Bach eine Passion in der Schloßkirche aufgeführt, zu derselben Zeit erschien ein Jahrgang von Kirchen-cantaten nach der neuen Form, die von ihm sämmtlich oder doch größtentheils componirt sein werden und 1719 schon eine dritte Auflage [572] erlebten9. Es lohnt sich darauf zu achten, wie das verschiedene Wesen des weimarischen und meiningischen Hofes in den Kirchencompositionen der beiden Bachs widergespiegelt wird: dort Ernst und Strenge, hier Glanz und Wohllaut; beide Male kam der Charakter der regierenden Häupter den Anlagen ihrer Musiker aufmunternd entgegen. Concertmusik wurde bei Hofe sowohl des Mittags zur Tafel gemacht, als des Abends, dies vorzugsweise wenn andre Fürstlichkeiten zum Besuch gekommen waren. Der Herzog liebte es auch fremde Künstler in seinen Soiréen auftreten zu sehen10. Er war selbst productiv in der geistlichen Poesie, besonders als nach einem bewegten Leben sich ernste Gedanken bei ihm zu regen anfingen; eine seiner Schwestern war Aebtissin zu Gandersheim, eine andre Canonissin daselbst, und wenn man sich vergegenwärtigt, daß der vorigen Aebtissin nebst deren Decanissin und Canonissin das Freylinghausensche Gesangbuch gewidmet war, also der Pietismus in das Stift Eingang gefunden hatte, so hängen die poetischen Versuche des Herzogs vielleicht mit einer pietistischen Neigung zusammen. Er hatte zu seinem Leichentexte Ps. 116, 16 bis 19 ausgesucht und darüber ein geistliches Lied gedichtet, dessen erste Strophe lautet:
Ich suche nur das Himmelleben,
Weil ich dein Knecht und Diener bin,
Der Sohn von deiner Magd ergeben,
Und auch verpflicht't mit Herz und Sinn,
Der suchet nur dein Himmelreich;
Mach, Jesu, mich zum Himmelszweig.
Als im Jahre 1724 sein Tod eintrat, bediente sich Johann Ludwig Bach sowohl der Psalmverse als des Liedes zu einer großen dreitheiligen Trauer-Musik. Es scheint, als habe er auch eine vom Herzog selbst componirte Melodie benutzt, denn der Musik des zweiten Theils liegen etwa folgende Tonreihen zu Grunde:
Hiernach ist es klar, daß Sebastian Bach auf eine sehr wohlwollende Aufnahme bei Hofe und einen sehr anregenden Kunstverkehr mit seinem Vetter rechnen konnte, als er sich nach Meiningen begab. Seine Erwartungen erfüllten sich nach beiden Seiten. Mit Johann Ludwig wurde eine dauernde Verbindung angeknüpft: die Cantaten-Abschriften, welche oben erwähnt wurden, sind in Leipzig gefertigt. Ein Reflex des Eindrucks aber, welchen seine Künstlerschaft im herzoglichen Hause machte, ist es wohl, wenn wir ihn wenige Jahre darauf zu dem Markgrafen Christian Ludwig von Brandenburg in Beziehung treten sehen. Dessen Schwester Elisabeth Sophia war die zweite Gattin des meiningischen Herzogs.
Bei weitem ruhmvoller noch gestaltete sich die Herbstreise des Jahres 1717. Dresden war dieses Mal das Ziel, wo unter dem verschwenderischen Friedrich August I. Musik und Theater in hoher Blüthe standen. Bach hatte unter den Musikern der Capelle einige Bekannte, zu ihnen gehörte der Concertmeister Jean Baptiste Volumier, der bis 1709 in gleicher Eigenschaft am Berliner Hofe gestanden hatte12, vermuthlich auch Pantaleon Hebestreit, welcher 1714 berufen und zuvor mit Telemann zusammen in Eisenach gewesen war. Dieser zeichnete sich vor allem durch große Virtuosität auf einem selbsterfundenen hackebrettartigen Instrumente aus, war aber auch ein tüchtiger Geiger und mit dem Stile der französischen Musik wohl vertraut. Volumier war Franzose von Geburt oder wenigstens durch Erziehung und hochgeschätzt in der Executirung nationaler Tonstücke. Außerdem wirkten dort vortreffliche andre Künstler, wie der Organist Petzold, der Kirchencomponist Zelenka, der Geiger Pisendel, so daß für jeden Musiker ein Aufenthalt daselbst von großem [574] Interesse sein und in diesen Kreisen sich bekannt zu machen höchst wünschenswerth erscheinen mußte. Es geschah nun zufällig, daß Bach mit dem französischen Clavier- und Orgelspieler Jean Louis Marchand dort zusammentraf. Marchand, geboren 1671 zu Lyon, also 14 Jahre älter als Bach, war königlicher Kammerorganist und Organist an der Kirche des heil. Benedict zu Paris. Die Vorzüge sowohl wie die Fehler seines Volkes hafteten ihm in hohem Grade an. Reich begabt für alles technische und elegante seiner Kunst wußte er diese Gaben vollauf zu verwerthen und zur Geltung zu bringen, verband aber damit eben so viel Eitelkeit, Arroganz und Launenhaftigkeit. Die Gesellschaft in Paris riß sich um ihn, die Schüler drängten sich von allen Seiten heran. Doch trieb ihn die Ungnade des Königs zeitweilig von dort hinweg nach Deutschland, wohin ihm der Ruhm aus seinem Vaterlande folgte13. Auch am Hofe zu Dresden gefiel sein Spiel sehr, und trug ihm ein Geschenk von zwei Medaillen im Werthe von 100 Ducaten und, wie es heißt, das Anerbieten einer dauernden Anstellung ein. Bach spielte in Gegenwart des Königs zwar nicht, hatte aber anderweitige Gelegen heit, vor Kunstfreunden und Künstlern sich hören zu lassen. Nun entspann sich ein lebhafter Streit, welcher von beiden der größere sei. Eine starke Partei aus den Hofkreisen stand, da der König französische Kunst sehr liebte, auf Marchands Seite, für Bach werden vorzugsweise die deutschen Künstler der Capelle eingetreten sein. Die Sache gestaltete sich endlich zu einem Meinungskampf über den größeren und geringeren Werth deutscher oder französischer Musik im Allgemeinen und Bach wurde durch seine Freunde angegangen, Marchand zu einem Wettstreite herauszufordern. Er that dies, nachdem ihm Gelegenheit verschafft war, seinen bei Hofe spielenden Gegner aus einem Versteck zu belauschen, auf schriftlichem Wege, indem er sich bereit erklärte, auf jede ihm von Marchand gestellte musikalische Aufgabe einzugehen, vorausgesetzt, [575] daß dieser seinerseits ein Gleiches verspreche. Marchand nahm den Handschuh auf. Ein musikalisches Richtercollegium wurde gewählt, der Schauplatz des Turniers sollten die Salons eines mächtigen Ministers sein, höchst wahrscheinlich des Grafen Flemming, Premierministers seit 1712, der viel Verständniß für Kunst besaß und aus besonderer Neigung zur Musik sich sogar eine eigne Capelle hielt14. Die Neugierde und Spannung war groß, zur bestimmten Stunde versammelte sich eine zahlreiche und glänzende Gesellschaft beiderlei Geschlechts, Bach und die Schiedsrichter fanden sich pünktlich ein. Aber Marchand kam nicht. Man wartete eine Weile, dann schickte der Graf in sein Quartier, um ihn an die gegebene Zusage zu erinnern, empfing aber dort nur die Nachricht, daß der Gesuchte schon am Morgen desselben Tages mittelst der Schnellpost aus Dresden verschwunden sei. Er hatte im sichern Vorgefühl seiner Niederlage ohne Kampf das Feld geräumt; Bach spielte nunmehr allein. Es versteht sich, daß Marchand irgendwo zuvor bei dessen Spiel anwesend gewesen sein und sich überzeugt haben muß, daß der Deutsche ihm nicht nur im Orgelspiel unendlich überlegen sei, wo er vermuthlich auf einen Wettkampf von vornherein nicht eingegangen wäre, sondern auch in der Clavierkunst, welche doch nach der allgemeinen Ansicht damals die Franzosen vorzugsweise beherrschten. Für Bach war der Ruhm um so größer, als er den Gegner auf dessen eigenstem Felde geschlagen hatte. Wie mit den Werken der übrigen bedeutendsten französischen Claviermeister, so war er auch mit denen Marchands längst vertraut, und wußte ihre Vorzüge jetzt wie später voll anzuerkennen15. Was mir davon zu Gesichte kam, verdient auch diese Anerkennung durchaus und steht den Couperinschen Clavierstücken an Grazie und Mannigfaltigkeit nicht nach. Für den soliden deutschen Sinn bieten sie freilich zu wenig consistente Nahrung und sind überdies, wie alles französische, äußerst häklich zu spielen. Adlung, der die Einzelheiten des Wettstreits von Bach weitläufig erfragt hatte, sagt über Marchands Suiten: »Nur einmal haben sie mir gefallen; nämlich als ich mit dem [576] Capellmeister Bach bei seinem Hiersein [in Erfurt] von dem Streit redete und ihm sagte, daß ich diese Suiten hätte, so spielte er sie mir vor nach seiner Art, das ist, sehr flüchtig und künstlich«16. Es konnte grade von Dresden aus nicht fehlen, daß die Kunde von einem für die deutsche Kunst so glorreichen Ereignisse sich rasch nach allen Richtungen hin verbreitete, den Glauben an das Uebergewicht der französischen Claviermusik mehr und mehr schwächte und Bachs Berühmtheit mächtig steigerte. Nach einem solchen Erfolge konnte er es leicht verschmerzen, daß ihm von Seiten des Hofes keine Auszeichnung zu Theil geworden war. Wie das gekommen ist, bleibt unklar. Vielleicht wurde das Interesse alsbald auf die neuengagirte italiänische Operngesellschaft ausschließlich gerichtet, welche in ebendemselben Monate, in welchem Bach Dresden besucht haben wird, nämlich im September, dort aus Venedig anlangte. Ihr Dirigent war kein geringerer als Antonio Lotti. Gleichwohl ist es unwahrscheinlich, daß er Bach noch dort getroffen oder in dem bunten Treiben neugestalteter Verhältnisse Gelegenheit gefunden haben sollte, ihn kennen zu lernen, so interessant der Gedanke auch wäre, daß sich der größte deutsche und der größte italiänische Kirchencomponist jener Zeit einmal im Leben gegenüber gestanden hätten17.
Länger als bis zum Anfang des October kann Bach nicht von Weimar entfernt gewesen sein, denn es wurden dort umfassende Vorbereitungen zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Reformation getroffen, für welche die herzoglichen Componisten ihr Theil zu thun bekamen. Das Fest dauerte drei Tage (vom 31. Oct. bis 2. Nov.) und einen Vorabend, am zweiten Tage stiftete der Herzog feierlich ein Capital, dessen Zinsen alljährlich auf seinen Geburtstag zur Vertheilung gelangen sollten18. Hierzu wie zum ersten Festtage wurden neue Cantaten componirt und aufgeführt; Franck dichtete wahrscheinlich die Texte19, Bach wird zuverlässig mindestens eine derselben componirt [577] haben. Mitten in dieser Beschäftigung muß ihn das Ereigniß getroffen haben, das seinem Leben eine neue Wendung geben sollte. Der Prinz Ernst August hatte sich am 24. Jan. 1716 mit Eleonore Wilhelmine, einer Schwester des regierenden Fürsten Leopold von Anhalt-Cöthen, vermählt. Dieser junge äußerst musikalische Fürst war so auf Bach aufmerksam gemacht worden, und da sein früherer Capellmeister kürzlich davon gegangen, berief er ihn. Wir wagen nichts mit der Annahme, daß Bach sich augenblicklich in Weimar nicht mehr behaglich fühlte. Nach dem Tode Samuel Dreses hatte wohl keiner ein größeres Recht auf dessen Stelle, als er. Aber zuerst ging man mit dem Project um, den vielgewandten und entsprechend gefeierten Telemann zum allgemeinen sächsisch-ernestinischen Capellmeister zu machen20, und als daraus nichts wurde, erhielt Dreses Sohn den Posten und Bach wurde ungeachtet allseitiger, durch eine eminente Kunstthätigkeit bewiesener Leistungsfähigkeit einfach übergangen. Trotzdem daß das in Aussicht gestellte Amt ihn von seiner bisherigen Kunstbahn ablenkte, säumte er doch nicht es zu übernehmen. Seine Uebersiedlung nach Cöthen fand noch im November statt, denn in der Adventszeit fungirte schon in wohlverdienter Nachfolge auf der Orgelbank der Schloßkirche sein treuer Schüler Schubart21.
Mit dem Abschiede von Weimar schließt für immer Bachs officielle Organistenthätigkeit. Es muß daher an dieser Stelle besonders noch eine Seite derselben in Betracht gezogen werden, seine Art den Gemeindegesang zu begleiten und seine freikünstlerische Behandlung des Chorals auf der Orgel. Die letztere bildet nahezu das bedeutsamste und folgenreichste Element seines gesammten Kunstschaffens und mit dem größten Eifer hat er ihr grade in Weimar obgelegen. Aber auch die Fülle seiner übrigen Orgelcompositionen ist mit den früher besprochenen durchaus nicht erschöpft. Rüstig producirte er in der Fuge und den verwandten Gattungen weiter, faßte höhere Ziele ins Auge und erreichte sie. Eine Gruppe [578] solcher Compositionen hat ein so gemeinsames und von den früheren unterschiedenes Gepräge, daß man hier eine zweite weimarische Periode der ersten gegenüberstellen muß. Vor allem tritt das Streben nach Zurückdrängung äußerlicher Virtuosität und nach ruhiger Vertiefung hervor. Es sei erlaubt, diese Compositionen vorweg zu betrachten.
Man erinnert sich, daß wir die Ciaconen und den Passacaglio Buxtehudes als Muster ihrer Art hinstellen mußten, die auch Bach nicht wesentlich mehr überboten habe, weshalb er im allgemeinen der Gattung fern geblieben sei. Das einzige hierher gehörige Stück ist ein Passacaglio in C moll22. Wenn dieser als ein Product aus Bachs späterer Zeit angesehen wurde, so geschah es, weil man sein eigenthümliches Verhältniß zu Buxtehude nicht kannte, an den die Composition im Einzelnen wie im Ganzen deutlich erinnert, auch die Beschaffenheit einer gewissen Quelle nicht richtig würdigte und endlich die Höhe von Bachs weimarischen Leistungen grade in der Orgelkunst unterschätzte23. Für die früheren Jahre dieser Periode ist das ausgezeichnete, mit Recht allgemein bewunderte Stück freilich zu reif, und kann den Fortschritt, den Bach von dort ab bis in die spätere weimarische Zeit machte, recht verdeutlichen. Es scheint, als habe er Buxtehudes Errungenschaften mit einem Griffe zusammenfassen wollen. Nach dessen Praxis ist es kein vollständiger Passacaglio, sondern, indem das Thema auch in der Ober- und Mittelstimme, und nicht immer unverändert, sondern auch umspielt oder nur angedeutet erscheint, zugleich eine Ciacona. Doch wird wiederum das Thema zeitweilig mit solcher Consequenz in der Basslage festgehalten, daß man darin nicht nur eine Ciacona erkennen darf; es sind vielmehr beide Formen vereinigt. Wie Buxtehude eine Fuge am Schlusse sich zu einer Ciacona consolidiren ließ, so löst umgekehrt [579] Bach hier die Unbeweglichkeit dieser Form in den freien Fluß der Fuge auf. Beides hat einen ästhetischen Sinn, zeigt aber auch, auf welche von beiden Formen jeder von ihnen das größere Gewicht legte. Auch die Ausdehnung verräth das Streben nach erschöpfender Zusammenfassung: das Stück zählt 293 Takte, wovon 168 Takte auf den eigentlichen Passacaglio kommen. Unter den Einzelheiten, die an Buxtehude erinnern, fallen die aufgelösten Harmonien T. 113–128 und die in Sechzehntelpassagen hineinfallenden Accordschläge T. 80–88 auf, dann vor allem der wunderschöne, in schmerzlicher Sehnsucht schwelgende Anfang bis T. 32. Hier tritt die echt Buxtehudesche, in ihrer jugendlichen Ueberschwänglichkeit der Bachschen theilweise entgegengesetzte Empfindungsweise allzu deutlich hervor, als daß an einer bewußten Anknüpfung zu zweifeln wäre. Aber eben so entschieden arbeitet sich im Verlaufe Bachs strengere Ausdrucksart durch, und wenn man bei der Fuge angelangt ist, in der dem Passacaglio-Thema ein originelles zweites gegenüber gestellt wird, sind alle Anklänge verweht24.
Nicht nur durch ihre eigne Kunstschönheit, sondern auch für den Schöpfer psychologisch merkwürdig ist eine Orgelfuge mit Praeludium aus A dur. Ihr Thema:
ist gleichsam der Doppelgänger zu dem Thema, auf welches die Instrumentalfuge vor der Cantate »Tritt auf die Glaubensbahn« gebaut ist. Sie sind verschieden in Tongeschlecht und Tonart, auch in einzelnen Tonfolgen, aber man sieht, wie wenig das zu Zeiten ausmachen und der Gedanke dennoch ganz derselbe bleiben kann. Daß beide Compositionen kurz, vielleicht unmittelbar hinter einander entstanden sind, ist schon deshalb anzunehmen, weil von dem Orgelstücke noch eine spätere vervollkommnete Bearbeitung vorliegt, die erste also jedenfalls in eine frühere Periode fällt, denn Orgelstücke [580] der Leipziger Zeit pflegte Bach nicht mehr umzuarbeiten25. Die Aenderungen in der Fuge erstrecken sich übrigens nur darauf, daß der Fülle des Instrumentes angemessen der 3/8 Takt in den 3/4 Takt verwandelt wurde, die drei Schlußtakte fortfielen und an zwei Stellen eine hohe Lage des Pedals vorgeschrieben wurde, die der weimarischen Orgel vermuthlich fehlte. Mit ihrem Charakter steht die Fuge ganz allein unter Bachs Orgelstücken; scheinbar dem Wesen des Instruments entgegen hat er ihr etwas durchaus weibliches gegeben, was mit holder Innigkeit durch alle Fasern des Organismus dringt. Gebrochene Harmonien als Contrapuncte, weiche Sexten – und Terzengänge athmen etwas von der Stimmung der G dur-Arie in der oben genannten Cantate. Reizend sind die spielenden Ansätze zu Engführungen, bis sich endlich eine solche wirklich in voller Grazie entwickelt. Vom 153. Takte nimmt die Stimmung eine wunderbare Intensität an, die Contrapuncte umschlingen wie liebende Arme das Thema, das in lächelnder Schönheit von Takt 161 an noch einmal vorübergeht. Bedeutender waren die Aenderungen im Praeludium, das nicht nur reicher im Klange sondern auch belebter im Organismus gestaltet wurde. Seine Form ist noch die Buxtehudesche, die der Componist nunmehr bald verließ. In den andren hierher gehörigen Werken zeigt er sich schon auf neuen Bahnen. Es sind zwei Fugen in C moll, eine F moll, und eine in F dur, welche in ihrem Aeußern und Innern so viel Verwandtes haben, daß sie nach dem Bachschen Grundsatze, gewisse einmal producirte Formeigenthümlichkeiten hinter einander in mehren Werken zu erschöpfen, gleichzeitig entstanden sein werden. Die Praeludien, mit denen verbunden zwei von ihnen (aus F dur und C moll) jetzt vorliegen26, sind zuversichtlich nicht ursprünglich dazu geschrieben, sondern erst später anstatt der Original-Praeludien eingesetzt; ihr riesenhafter Aufbau steht zu den Fugen im allzu großen Contrast und verräth die Zeit von Bachs allerhöchster Meisterschaft. Die andern aber27 bilden mit ihren Fugen offenbar ein zusammengedachtes Ganzes, auch [581] scheint sich das verdrängte Praeludium der C moll-Fuge erhalten zu haben28. Der Fortschritt derselben besteht in möglichstem Ausscheiden alles unorganischen Passagenwerks, möglichst stetigem Festhalten einer bestimmten Vielstimmigkeit und vor allem darin, daß an die Stelle des Motivs jetzt ein wirkliches Thema zu treten pflegt. Die Behandlung des Themas ist imitatorisch, wobei die freie Einführung der übrigen Stimmen den wesentlichen Unterschied vom strengen Fugenstile ausmacht, und eine buntere Mannigfaltigkeit in der Entwicklung gestattet29. Indessen zeigt das F moll-Praeludium diese Form noch nicht rein: es enthält wohl scharf ausgeprägte Gedanken, entfaltet sich aber vorwiegend motivisch. Die C moll-Praeludien lassen dagegen keinen Zweifel mehr zu über das, was der Componist will. Sie sind auch in Einzelheiten des Aufbaues und in der edlen elegischen Stimmung einander ähnlich wie zwei Zwillingsschwestern, nur blickt das Auge der einen noch umschleierter, noch tiefer in sich zurückgezogen, ein Einziges ist es, was ihr Inneres ganz erfüllt und über der stillen Unbeweglichkeit dunkler Orgelpunkte kaum merklich sich regend und doch ruhelos auf und nieder zieht; die andre verräth reicheres Leben, das auf dem Grunde zweier Hauptgedanken zu intensiver Harmonienfülle erblüht. An den Fugen fällt zuerst das gegen früher ganz verschiedene Gepräge der Themen auf; die Beweglichkeit und Unruhe der nordländischen Meister, welche nicht ohne Einfluß auf Bach blieb, ist überwunden und hat einer in bedeutsamen Intervallen schreitenden Gemessenheit Platz gemacht. Deutlich tritt hier wieder das Element in sein Recht, was auch auf Pachelbels Fugenthemen eingewirkt hat, aber erst durch Verbindung mit den Vorzügen der Nordländer in Bachs Musik die schönstmöglichen Fugengedanken erzeugen sollte: die ruhige Melodiebildung des Chorals, in dessen Wesen der Meister nicht umsonst so lange schon sich vertieft hatte. Gemeinsam ist allen die Entwicklung vom breiten Anfang zu immer größerer Erregtheit, nur die eine C moll-Fuge30 hebt schon ziemlich belebt an und bringt die[582] Steigerung mehr nur durch innere Mittel zu Wege. Gemeinsam ist ihnen ferner die Einführung eines Seitengedankens in der Mitte, meistens nach vollständiger Cadenz, der dann entweder zum Gegenthema wird, oder vor dem Eintritte des Hauptthemas zurückweicht. Nachstehend an Werth ist unter ihnen nur die F moll-Fuge, bei welcher auch der Seitengedanke keine ordentliche Gestalt gewinnt. Sie hat, soweit das bei Bach überhaupt möglich ist, ein etwas ungeordnetes Wesen, viel neue Contrapuncte kommen zu Tage, denen aber in kurzer Zeit die Lebenskraft ausgeht, so daß das Thema sich immer nach Hülfe umsehen muß. Deshalb fehlt trotz hoher Schönheiten doch etwas zum vollkommenen Genusse. In der andern C moll-Fuge taucht mit Takt 121 bis Takt 140 eine merkwürdig homophone und mit dem Uebrigen höchstens durch die fortfließenden Achtel äußerlich verbundene, aber inhaltlich ganz fremde Stelle auf, wie sie derartig in keinem Bachschen Orgelstücke wieder zu finden ist. Ein objectiver Grund läßt sich nicht erkennen. Breiteste Entwicklung in regelrechter Doppeldurchführung erfährt die Fuge in F dur, den größten Schwung aber besitzt die erstgenannte in C moll, aus deren Thema:
schon jene dämonisch fortreißende Kraft hervorbricht, die nur Bach zu eigen hatte und in seinen Instrumentalfugen am liebsten wirken ließ.
Daß wir mit einem Genie höchster Gattung zu thun haben, mit einer Productionskraft, die auf dem Gebiete der Instrumentalmusik von Niemandem überboten, in der Orgelkunst aber niemals auch nur von ferne wieder erreicht ist, daran vor allem sich zu erinnern wird nöthig sein, um auch Bachs Verhalten zum gottesdienstlichen Gemeindegesange zu würdigen. In der Idee des protestantischen Cultus bildet die Orgelmusik keinen integrirenden Bestandtheil. Sie dient zur Unterstützung des Gemeindegesanges und ist allerdings in demselben Verhältnisse wesentlicher als in der katholischen Kirche, wie die Theilnahme der protestantischen Gemeinde am Cultus eine regere ist. Allein wir haben nachzuweisen versucht, zu welch ungeahnter [583] Bedeutung die Orgelkunst gelangte, nachdem die volksthümliche Frische des frühesten evangelischen Kirchengesanges welk geworden und die Gemüther unfähig zu kräftigem religiösen Gemeinempfinden auf eine subjective Frömmigkeit sich zurückzogen, die ja dem Wesen des Protestantismus nicht widerstritt. Hier fanden sie in der begrifflosen Instrumentalmusik die geeignetesten Ausdrucksmittel für ihr inneres Leben und im Orgelchoral die Form, welche ihnen Persönliches und Kirchliches vereinigte. Ein Ueberwiegen der Orgel über den Gesang war die natürliche Folge. Jene suchte alle ihre reichen Kräfte zu entwickeln, während dieser mehr und mehr verstummte. So konnte es kommen, daß die Organisten auch da, wo sie bescheiden hätten begleiten sollen, nicht abließen in willkürlichem Spiel die Melodie zu verbrämen und zu ändern, den einheitlichen Organismus derselben durch zwischengeschobene Phantasien zu zerstücken. Die Gemeinde ließ es sich gefallen, denn ihr war die Werthschätzung des einfachen Chorals verloren gegangen. Bach erfaßte ihn wieder in seiner ganzen Fülle und Tiefe, aber er erkannte auch, daß eine kirchliche Tonkunst, wenn sie überhaupt noch möglich sei, aus der Orgelmusik und vornehmlich aus dem Orgelchoral hervorblühen müsse. Deshalb grade und weil er mit unglaublicher Kraft diesen Boden nach allen Richtungen hin durchackerte, konnte er unmöglich dem Gemeindegesange mit seinem Spiel nur eine dienstfertige Stütze sein wollen, er der aus dem Urquell damaliger Kirchenmusik schöpfte, wenn er vor seinem Orgelwerke saß. Nein, auch hier blieb er, wenngleich auf unendlich verengertem Gebiet, der lebendig schaffende Künstler. In Arnstadt hatte er die Gränzen des Gebiets kennen gelernt und wird die dort gemachten Erfahrungen benutzt haben. Von dem maßlosen Coloriren und allzu phantastischen Herumschweifen brachte ihn schon sein allgemeiner Entwicklungsgang bald zurück, im übrigen hatte er in dem kirchlich gesinnten Weimar sicherlich eine choralkundige Gemeinde, einen tüchtigen Cantor und einen gesangfesten Knabenchor. Zur Entscheidung der Frage, wie ein Organist den Gesang zu begleiten habe, darf man sich auf Bachs Beispiel nicht berufen. In unserer Zeit ist ihre Lösung einfach, weil wir über jede genetische Entwicklung der protestantischen Kirchenmusik – leider – hinweg sind; den Schatz der Choralmelodien unverfälscht lebendig zu erhalten, kann die einzige Aufgabe sein. [584] Von diesem Standpunkte aus ist auch über Zulässigkeit von Zwischenspielen nicht zu streiten, obgleich es trotzdem in unseren Tagen noch geschieht; sie sind sinnlose Vehikel der Unkunst und Barbarei und höchstens zwischen den verschiedenen Strophen zu gestatten. Viel anders lag die Sache damals, obgleich offne Köpfe sich der Einsicht nicht verschließen konnten, daß ein geschmackloses Ueberwuchern der Orgelmusik den Gemeindegesang vollends zu Grunde richte. Adlung meinte: »Wenn manche so vollstimmig arbeiten, ganze Gänge mit ordentlichen Schlüssen vermengt mit anbringen, und bald [d.h. schnell] anfangen, langsam aber wieder aufhören, daß entweder die Gemeinde unordentlich fort singt, oder über Gebühr warten muß, so kann es fürwahr nicht für das schönste Stück bei dieser besten Welt gehalten werden«31. Nikolaus Bach in Jena wollte von Zwischenspielen garnichts wissen, »weil er glaubte, ein anhaltender Griff könnte die Gemeinde besser zwingen ohne solch Laufwerk«, und in der Weißenfelser Schloßkirche waren sie sogar verboten.
Um von Sebastian Bachs Praxis ein Bild zu entwerfen, sind wir nicht bloß auf Speculation angewiesen. In den Choralsammlungen seiner Schüler und Walthers haben sich einige Tonsätze vorgefunden, die zu dem worauf wir eben hindeuteten die Belege liefern. Es sind die für die Orgel gesetzten Choräle »Gelobet seist du, Jesu Christ«, »In dulci jubilo«, »Lobt Gott, ihr Christen allzugleich« und »Vom Himmel hoch da komm ich her«32. Jeder, der sich mit den Typen des eigentlichen Orgelchorals vertraut gemacht hat, sieht, daß zu ihm diese Sätze nicht gehören. Sie tragen die Melodie zeilenweise in breiten Harmonien vor, beobachten die Fermate und fügen zwischen die Zeilen Passagen ein, alles mit einzelnen Ausnahmen,[585] welche aber den Grundcharakter nicht anfechten. Die Absicht liegt klar am Tage, die einzelnen Glieder der Melodie sich verständlich und scharf hervorheben zu lassen; das Bestreben aber, den Choral als Gesammttonstück auf das rein musikalische Gebiet hinüber zu ziehen, was doch Aufgabe des Orgelchorals ist, tritt zurück. Damit hängt die Ungebundenheit des mehrstimmigen Baues zusammen, zu welchem bald vier, bald fünf, bald mehr Töne verwendet werden, um recht wuchtige Zusammenklänge zu erfassen, und ohne sich um die Fortführung dieser oder jener Stimme sonderlich zu kümmern. Am deutlichsten aber reden jene mit dem harmonischen Gewebe in keinem Zusammenhange stehenden Passagen, die man damals unter Zwischenspielen verstand33. Es ist kein Zweifel, daß wir hier Proben davon haben, wie Bach den Gemeindegesang begleitete, und von seinen Schülern begleitet wissen wollte, denen er deshalb diese Sätze aufgezeichnet haben wird. Vergleicht man sie mit dem früher einmal zur Erläuterung seiner Arnstädter Gewohnheiten angeführten Orgelsatze zu »Wer nur den lieben Gott läßt walten«, so bemerkt man, daß fast alle Colorirung der Oberstimme fehlt, dieselbe in ihren einzelnen Schritten immer ruhig und groß hervortritt, und auch einmal nur durch eine sich überwegschwingende Stimme augenblicklich gedeckt wird (»Lobt Gott, ihr Christen« Takt 6 und 7). Die Zwischensätze sind nicht melodisch oder in einer andern Weise selbständig, sondern nur ganghaft. In diesen Gränzen aber, die er sich aus pietätvoller Rücksicht auf den Gemeindegesang zog, zeigt er seinen kunstschöpferischen Genius in ganz wunderbarer Freiheit und Größe. Mit diesem gewaltigen Harmonienbau, dieser glänzenden Tonfülle, dieser kühnen Bewegung der Stimmen wob er den Schein künstlerischer Verklärung um den einfachen Volksgesang, mit dem tiefsinnigen Eingehen auf seine poetische Bedeutung verlieh er ihm etwas von der individuellen Tendenz, welche dem Protestantismus gegenüber der katholischen Kirche eigen ist. In der schon erwähnten Zeile »Lobt Gott, ihr Christen allzugleich« wird Gott gepriesen, »der heut schleußt auf sein Himmelreich«: eine Stimme überklimmt die Melodie und strebt jubelnd himmelan. Bei der Harmonisirung der Melodie »Vom Himmel hoch da komm ich her« wird durch die [586] auf-und absteigenden Sechzehntelgänge das Hin- und Wiederschweben der Engelschaaren mystisch versinnlicht34. Auch im Allgemeinen ist den Choralsätzen – es sind merkwürdigerweise sämmtlich Weihnachtslieder – der Charakter ihrer kirchlichen Bestimmung scharf aufgeprägt. Den genialsten und großartigsten Bau hat der Christgesang »In dulci jubilo«, der in dieser Form etwa einmal als Accompagnement der letzten Strophe gedient haben mag. Die ersten Zeilen erklingen in majestätischen fünfstimmigen Harmonien Accord gegen Melodienote. Aber von der dritten Zeile an läßt sich die zwischenhineingegossene Fluth der Passagen nicht mehr zurückdämmen, sie strömt unter der Decke der Oberstimme weiter, wird während der Einschnittspausen sichtbar, dringt zuweilen auch in die Höhe und überspült kleine Strecken der Melodie, braust dann immer gewaltiger zu Triolen beschleunigt aus der Tiefe empor und beruhigt sich erst zu der vorletzten Zeile, wo der Meister in die majestätische Ruhe des Anfangs zurücklenkt und über dem viele Takte hindurch ausgehaltenen Schlußtone endlich einen siebenstimmigen Harmonienbau aufthürmt. Beim Betrachten eines solchen Stückes überkommt uns wohl die Ahnung, welche Gebilde unter Bachs Fingern entstanden sein mögen, wenn der Schwung religiöser Begeisterung ihn fortriß, märchenhafte Zauberpaläste, die der Augenblick gebar und vernichtete, goldne Wolkenschlösser, den geheiligten Tonwesen, den Kirchenmelodien, zur erhabenen Wohnung bestimmt.
Manche solcher Choralbegleitungen konnten den wirklichen Orgelchorälen wohl äußerlich ähneln. Aber es herrschte auf beiden Seiten ein ganz verschiedenes Gestaltungsprincip, das endlich doch immer erkennbar sein mußte; bei der Choralbegleitung lag der Schwerpunkt außerhalb des Instrumentalsatzes, beim Orgelchoral innerhalb desselben, wenngleich dieser außermusikalische Factoren mit zur Wirkung herbeizog. Im Orgelchoral ist die gespielte Melodie lebenspendender Mittelpunkt des Ganzen, in der Choralbegleitung tritt sie nur als ein Element der harmonischen Gebilde auf, welche den Gemeindegesang umstrahlen sollen, und denen darum der Tonsetzer sein Hauptinteresse zuwendet. So ist denn auch nicht zu [587] zweifeln, daß ein anderer Tonsatz, der mit den oben angeführten aus derselben Quelle stammt, »Liebster Jesu, wir sind hier«, eine bloße Choralbegleitung ist, ungeachtet alle Zwischenspiele fehlen35. Die Harmonien sind so schwer und wuchtig, daß sie zum Gegengewichte nothwendigerweise eines massenhaften einstimmigen Gesanges bedürfen, um einen proportionirten Eindruck hervorzurufen. Und wollte man dennoch Bedenken tragen, so ist ein Orgelsatz zu dem Ambrosianischen Lobgesange zu vergleichen, bei dessen 258 Takte betragender Länge jeder Gedanke an ein freies Orgelstück von vorn herein ausgeschlossen ist36. Er wurde jedenfalls niedergeschrieben, um durch sorgfältig abgewogene Mannigfaltigkeit der Harmonie den eintönigen Wiederholungen der Melodie zu größerem Reize zu verhelfen. Die Factur stimmt aber mit der des ersteren Choralsatzes völlig überein. Um sich des Unterschiedes von einem Orgelchoral deutlich bewußt zu werden, braucht man nur eine beliebige durchgehend contrapunctirte Melodie aus dem »Orgelbüchlein« daneben zu halten.
Das eigenthümliche Werk dieses Namens wird unsern Ausgangspunkt bilden müssen, um Bachs Leistungen als Componist von Orgelchorälen für Weimar abzuschätzen. Es ist eine Sammlung von 45 Bearbeitungen, die er anlegte, um Anfängern im Orgelspiel, und zunächst wohl seinem allmählig heranwachsenden ältesten Sohne Wilhelm Friedemann zur Durchführung eines Chorals mit guten Mustern an die Hand zu gehen37. Ob er einmal an eine Veröffentlichung[588] gedacht hat, ist ungewiß, sicher nur daß er das Werk nicht, wie er sich vorgenommen, vollendete. Die Mehrzahl der Blätter und Seiten des Büchleins ist unbeschrieben geblieben und trägt nur über dem obersten Liniensystem den Anfang des Liedes, von dessen Melodie eine Bearbeitung auf der betreffenden Seite Platz finden sollte. Die bescheidene und zunächst nur auf Lehrzwecke gerichtete Bestimmung läßt die Bedeutsamkeit des Inhalts kaum ahnen. Aber Bach wurde um so tiefsinniger, je kleiner der Kreis war, an den er sich wendete; und daß er sich gern grade an junge Künstler wendete, von denen er ein liebevolles Eingehen auf seine geheimsten Intentionen erwarten konnte, zeigen zwei seiner bedeutendsten Clavierwerke, die demselben Zwecke gewidmet sind, die Inventionen und das wohltemperirte Clavier.
Ziegler bezeichnete es als eine Tendenz der Bachschen Unterweisung, die Orgelchoräle »nicht nur so obenhin, sondern nach dem Affect der Worte« zu setzen. Mit dieser Anschauung hatte Bach die Erbschaft Pachelbels angetreten. Eben so sehr aber hatte er auch die Leistungen aller übrigen im Orgelchorale bedeutenden Künstler, insbesondere Buxtehudes, für sich auszunutzen gewußt. Jener war ihm mehr in idealer, dieser in formaler Hinsicht gewinnbringend gewesen. Auf einer allesbeherrschenden Höhe stehend versenkte er sich in diese eigenthümliche Kunstform nun mit der ganzen Kraft und Ursprünglichkeit seines Talentes. Unerschöpflich ist seine combinatorische Erfindungskraft, wunderbar das Vermögen, den poetischen Empfindungen auf instrumentalem Wege nachzufolgen, sie bis zur größten Zartheit zu verfeinern und bis ins Unergründliche zu vertiefen.
In dem Orgelbüchlein setzte er sich durch den instructiven Zweck gewisse Schranken, und wenn darin einem »anfahenden« Organisten Gelegenheit gegeben werden soll, »auf allerhand Art« einen Choral durchzuführen, so ist die in Aussicht gestellte Mannigfaltigkeit mehr im Besonderen als im Allgemeinen zu verstehen. Kein einziger der Choräle hat jene große Form, in der die Choralzeilen durch motivische Zwischenstücke vorbereitet werden, und [589] die wir speciell die Pachelbelsche nannten. Bei allen mit einer Ausnahme wird die Melodie im fortlaufenden Zuge contrapunctirt und zwar geschieht dies, wiederum mit nur drei Ausnahmen, ohne durch Colorirung die Melodie erheblich anzutasten. Durchgehend spinnt sich die Contrapunctirung aus einem Motive heraus, in dessen silbernem Gewebe die goldne Frucht der Choralmelodie hängt. Die consequente Verfolgung dieses Grundsatzes ist ein Fortschritt Bachs gegenüber seinen Vorläufern; so wird jedesmal das Gefühl von etwas großem und einheitlichem erweckt. Dabei aber sind die Contrapuncte immer von einer so hervorragenden musikalischen Bedeutsamkeit, daß sie sofort ein ganz eignes Stimmungsgebiet erschließen, ein Stimmungsgebiet, das freilich in der Melodie selbst schon enthalten war, es ist nur, als sei plötzlich ein Schleier fortgezogen und wir sähen in eine geheimnißvolle Tiefe hinab. Welch eine milde Wehmuth liegt in dem Chorale: »Alle Menschen müssen sterben«, welch ein unbeschreiblicher Ausdruck namentlich in dem letzten Takte durch den Querstand zwischen cis und / und die kleine fast unmerkliche Ausschmückung der Melodie! Es wäre ganz verkehrt, in solchen Zügen jedesmal Nachbildungen bestimmter, in der einzelnen Zeile gegebener poetischer Vorstellungen suchen zu wollen: immer ist es zuerst das musikalische Bild, dem Bach durch solche Mittel höheren Reiz verleihen will38. Frohbeschwingte Rhythmen heben die Weihnachtsmelodie »Der Tag der ist so freudenreich«, ein kräftiges, morgenfrisches Leben strömt mit stets wachsender Energie durch die drei Strophen des alten Osterliedes »Christ ist erstanden«, sehnsuchtsvolle Innigkeit blüht aus dem köstlichen Gewinde hervor, mit welchem der Meister eine seiner Lieblingsmelodien, »Jesu, meine Freude«, umgab. Wenn meistens die Motive der Contrapuncte frei erfunden sind, so werden sie bei drei Chorälen aus der ersten Melodiezeile selbst entwickelt und auf diese Weise mit dem Chorale in einen noch innigeren formalen Zusammenhang gesetzt. Es sind: »Dies sind die heilgen zehn Gebot«, »Helft mir Gott's Güte preisen«, »Wenn wir in höchsten Nöthen sein«; bei den letzten beiden hält sich der Contrapunct nur an die [590] vier Anfangstöne, die dann entweder frei fortgesetzt oder motivisch und durch Umkehrung weiter entwickelt werden. Besonders gern aber führt Bach die Melodie canonisch, eine Liebhaberei, in deren geschickter Lösung sein weimarischer Kunstgenosse Walther mit ihm wetteiferte. Nicht weniger als neun Melodien sind in dieser Weise behandelt, darunter vier in der Quinte oder Duodecime, ohne daß übrigens in der Strenge der andern Contrapuncte etwas nachgelassen wäre. Und grade diesen Stücken ist neben größter harmonischer Kunst oft der ergreifendste Gesammtausdruck eigen. Da treffen wir einen sechzehntaktigen Satz über »Christe, du Lamm Gottes«; in den drei Anfangstakten wird der dreistimmige Contrapunct exponirt, dann setzt der Tenor die Melodie ein, der Sopran folgt einen Takt später in der Quinte, nun entspinnt sich eine Kette eigenthümlichster, wehklagender Harmonien, deren Fremdartigkeit zuerst frappirt, vielleicht gar abstößt, aber mit wiederholtem Hören gewinnt man sie lieber und lieber, um sie endlich unvergeßlich in sich aufzunehmen – die tiefsinnigste musikalische Ausdeutung, die dem Choral gegeben werden konnte! Dieselbe Canonik ist bei dem andern Passionschorale: »O Lamm Gottes, unschuldig« angewendet. Hier ist der Ausdruck nicht so herb und starr, der in einen Nothschrei zusammengepreßte Schmerz löst sich und wird weich und lind, wie auch das Gedicht sich tiefer auf seinen Gegenstand einläßt; der Satz ist nur vierstimmig, die schwebenden Gänge der contrapunctirenden Stimmen weisen hinaus auf die Begleitung des Choralchors, welcher am Schlusse des ersten Theils der Matthäuspassion steht. In der Bearbeitung »Hilf, Gott, daß mirs gelinge« wird wiederum ein Canon in der Quinte, und zwar zwischen Sopran und Alt eingeführt. Dazu bringt die linke Hand auf einem zweiten Manual unablässig strömende Sechzehntel-Triolen, die bald unter dem Canon weggleiten, bald ihn umspielen, bald hoch übersteigen. Hier tritt es schon zu Tage, wie Bach die Eigenthümlichkeiten der nordischen Schule mit Pachelbels Errungenschaften zu vereinigen verstand. Auch ist es lehrreich, Walthers Bearbeitung zu vergleichen, der ebenfalls einen Canon in der Quinte anbringt, aber so, daß wir schon früher seine Geschmacklosigkeit deshalb tadeln mußten. Indem Bach die Melodie in gleichen Notenwerthen nur im Abstande von einem halben Takte nachahmt, zwingt er die nachahmende Stimme [591] in den Harmoniengang der Hauptstimme hinein und macht sie ganz von jener abhängig. Nur ihre melodischen Umrisse fallen ins Bewußtsein, sie ist wie der Schatten, den ein Körper hinter sich wirft. Bei fünf Bearbeitungen hat sich Bach auf den einfacheren Canon in der Octave beschränkt und ihn jedesmal der obersten Manualstimme und dem Pedale zugetheilt. Letzteres übersteigt oftmals die Manual-Bassstimme, ein Klangeffect, den auch Buxtehude und seines gleichen liebten. Z.B. bei »Gottes Sohn ist kommen« und »In dulci jubilo«, wo die Pedalstimme bis zum ja zum emporgeführt wird; man kann daraus schließen, daß Bach hier mit dem vierfüßigen Cornettbass registrirt hat, welchen die weimarische Schloßorgel besaß, denn Pedale von so großem natürlichen Umfange wird es damals kaum irgendwo gegeben haben39. Einmal, in dem Choral »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend«, stoßen wir auch auf Spuren des Böhmschen Typus, dessen Behandlung desselben Chorals an einer früheren Stelle analysirt ist; hier spinnt der canonische Bass die Melodie in der Verkleinerung motivisch aus. Dagegen wird eine andre Eigenthümlichkeit nicht auf das Vorbild des Lüneburger Meisters, sondern auf die Einwirkung der Ciaconen-Form zurückzuführen sein: in zwei Stücken (»Heut triumphiret Gottes Sohn« und »In dir ist Freude«) kehrt nach kurzen Pausen immer ein gewisses Bassthema wieder.
Einen weiteren Schritt zur Vervollkommnung der Form that Bach, indem er gewisse Bewegungsvorstellungen der Dichtung in den contrapunctirenden Tonreihen abspiegelte. Pachelbel hatte sich dessen enthalten, ihm fehlte die Innigkeit, sich dergestalt in seinen Gegenstand zu versenken. Und eine Versenkung ist es, nicht etwa eine äußerliche Malerei. Denn, es sei nochmals gesagt, in jeder Bewegung der äußeren Welt erkennen wir das Bild einer bestimmten innern Regung, und jede Vorstellung der Bewegung reproducirt auch das analoge Gefühl in der empfindenden Phantasie. Bachs Verfahren ist also nur ein tieferes Eingehen auf den Stimmungsgehalt der Dichtung. »Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!« singt Michael Franck; Bach begleitet die Melodie durch ruhelos gleitende Sechzehntel, die gespenstisch wie Nebelgestalten [592] vorbeihuschen. »Vom Himmel kam der Engel Schaar«, beginnt Luther sein bekanntes Weihnachtslied; abwärts rauschen und wieder nach oben, wie sich senkende und emporschwebende Himmelsboten, bei Bach die Tonreihen der linken Hand, denen das Pedal in zweifacher Vergrößerung folgt. »Durch Adams Fall ist ganz verderbt menschlich Natur und Wesen«, lautet der Anfang eines Rechtfertigungsliedes; mittelst eines motivisch durchgeführten Septimensprunges zeichnet das Pedal den »Fall«. Man tadle das nicht als eine kurzsichtige Illustration der ersten Zeile, die in ihr liegende Vorstellung vom Sturze aus dem Zustande der Unschuld in das Gebiet der Sünde beherrscht das ganze Gedicht. Nur solche Vorstellungen pflegt Bach überhaupt tonbildlich zu gestalten. Das beweist z.B. der Satz über das Sterbelied: »Herr Gott, nun schleuß den Himmel auf«, dessen krausbewegte Contrapunctirung so lange befremdet, bis man in der Mitte der ersten Strophe an die Zeilen kommt: »Hab gnug gelitten Müh und gestritten«, dann öffnet sich der Sinn für ein Bild des wirren, ermüdenden Menschenlebens. Oder man sehe den Orgelchoral »Da Jesus an dem Kreuze stund«; das Gedicht paraphrasirt die sieben Worte, welche Jesus von dort sprach, die schwer nach unten ziehenden Synkopen versinnlichen den Zustand des Hängens – ein Zeugniß von wunderbar sicherem ästhetischen Gefühle, denn jene erzwungene, verrenkte Ruhe war keine Ruhe.
Verhältnißmäßig selten bringt Bach die Melodie colorirt, nur drei Beispiele bietet das Orgelbüchlein. Aber dann versteht er seine geistreiche Colorirung durch motivisch erwachsende, kühne und tiefe Harmonien auch über die schönsten Leistungen seiner Vorgänger hoch hinauszuheben. In dem Choral »Das alte Jahr vergangen ist« mit seiner chromatischen Contrapunctirung ist der schwermüthige Ernst von Lied und Melodie zur größten Intensität gesteigert. Phantastisch und in schwelgerischem Reichthum ergeht sich »O Mensch, bewein dein Sünde groß«; es ist das Wunder von Christi Erscheinung auf Erden, was den Tonsetzer inspirirte.
Einmal kommt auch eine ganz freie Behandlungsform in der Weise Böhms und der Nordländer vor, die mit ihrem virtuosischen Wesen nicht recht in die Sammlung paßt und sicherlich aus ganz früher Zeit stammt; sie betrifft den Choral »In dir ist Freude«.
Von den kleinen aber inhaltstiefen Formen des »Orgelbüchleins« [593] richten wir unsern Blick auf Breiteres. Hier liegt ein so reiches Material vor, daß eine Zerlegung in Gruppen nöthig ist. Hinsichtlich der Unterscheidung nach größerer und geringerer Güte der Compositionen hat Bach seihst den Weg gewiesen, indem er in Leipzig eine Reihe seiner vorzüglichsten Orgelchoräle aus früherer Zeit eigenhändig zusammenschrieb und bei dieser Gelegenheit, wo es noth that, überarbeitete. Einiges gleich bedeutende, aber auf andre Weise überlieferte, werden wir diesen anschließen. Es bleibt außerdem noch immer ein reicher Schatz von andern Chorälen, der zunächst dazu dienen soll, uns in der Bachschen Formenwelt weiter zu orientiren, und, wenn auch von einer detaillirten chronologischen Entwicklung seines Orgelchorals Abstand genommen werden mußte, doch Gelegenheit geben kann, wenigstens in allgemeineren Umrissen das Früher und Später zu constatiren.
Die frühesten von uns betrachteten Choralarbeiten Bachs waren zwei Variationenreihen gewesen. Zu ihnen gesellt sich jetzt eine dritte über »Sei gegrüßet, Jesu gütig« in elf Partiten. Sie sind, wie man sofort erkennt, verschiedenen Alters: die ersten vier und die siebente stimmen nicht nur in der Beschränkung auf das Manual, sondern auch in ihrem gesammten Gebahren, namentlich der Anlehnung an Böhm mit jenen frühesten Arbeiten ziemlich überein, und zeigen in der vollständigen oder theilweisen Auflösung der Melodie in Figurenwerk und deren motivischer Ausspinnung (erste Variat.) den wirklichen Variationencharakter. Die Stücke 5. 6. 9. 10. 11 dagegen sind ordentliche Orgelchoräle und benutzen mit einer Ausnahme das obligate Pedal; ihre Form ist die im Orgelbüchlein durchgängig herrschende, nur die zehnte Variation mit ihren vollstimmigen Zwischensätzen, die jede Zeile colorirt und zerdehnt vorspielen, lehnt sich an Buxtehudes Weise, über deren Hervortreten in Bachs weimarischen Compositionen unten ausführlicheres zu lesen ist. Nr. 8 steht gesondert da, die erste Gruppe etwas überragend, die zweite nicht erreichend. Der die Reihe eröffnende einfache Choral hat nicht die plumpe, claviermäßige Harmonisirung wie bei den früheren Partiten mehr, sondern eine musterhaft vierstimmige. Man gelangt leicht zu dem Schlusse, daß Bach drei Male an dem Werke gearbeitet hat. Seine erste Gestalt mag es zu gleicher Zeit mit den beiden andern gewonnen und ihnen auch im Anfangschorale geglichen [594] haben. Später setzte er an dessen Stelle den schönen vierstimmigen Tonsatz, überarbeitete besonders die erste Variation, die im Vergleich zu den entsprechenden Stücken der andern Reihen bei ganz gleicher Anlage doch viel geordneter erscheint und schloß mit der vierten Veränderung ab. Wiederum später schrieb er die Nummern der zweiten Gruppe dazu, suchte für den siebenten und achten Platz alte Variationen wieder hervor, nicht ohne die letzte zu überarbeiten und vermuthlich mit den kurzen Pedaltönen zu versehen. Auf diese Weise ist ein Werk entstanden, in dem Reifes und Ursprüngliches mit Unreifem und mehr oder weniger Unselbständigem in merkwürdigster Mischung sich befindet40.
Die primitivste Form des Orgelchorals: Contrapunctirung ohne festgehaltenes Motiv und ohne thematische Zwischenspiele findet sich nur zweimal; beide Male gehen ein paar einleitende Takte mit Imitationen über die erste Zeile voraus. Als frühe Werke verräth sie auch zum Theil ihre Quelle. Aber so einfach sie sind, so viel harmonische Schönheit enthalten sie41.
Zu der Pachelbelschen Form ist eine Anzahl von Beispielen vorhanden vom engsten Anschlusse an durch alle Stufen selbständiger Fortentwicklung bis zur höchsten Veredlung. Den ausgedrückten Stempel der Jugendarbeit trägt ein Choral »Durch Adams Fall ist ganz verderbt«42: sorgsam wird jede Zeile durch ein fugirtes Zwischenspiel eingeleitet, aber die Melodie hebt sich nicht genügend als Hauptsache hervor, der Contrapunct ist natürlich unmotivisch. Gleich gestaltet, aber im plastischen Hervortreten der Melodie den Forderungen des Ideals vollentsprechend, ist eine Bearbeitung von »Gelobet seist du, Jesu Christ«43. Große Dimensionen zeigt ein »Vom Himmel hoch«, wo die Melodie im Pedale liegt, nur sind dafür, daß sie ohne Vergrößerung auftritt, die Zwischensätze viel zu lang, [595] und wenn auch die Melodie sich durch die Klangfarbe scharf abhebt (das Pedal pausirt außerdem consequent), so ist damit doch der Idee nicht genug gethan. Ohne Vergrößerung tritt der Cantus firmus auch in »Valet will ich dir geben« im Pedale auf, aber die Ausdehnung der Zwischensätze ist maßvoll, die Contrapuncte sind mit reizender Anmuth geschlungen und geschürzt. Walther liebte das Stück und schrieb es sich mehre Male ab, auch der Componist war ihm so hold, daß er es später noch einmal unter die Feile nahm44. Den vollendetesten Ausdruck gab Pachelbel seinem Ideal dadurch, daß er dem glänzend contrapunctirten Chorale eine Fuge über die erste Zeile vorausgehen ließ. Bach griff die Form auf, fugirte nach einander die beiden Anfangszeilen von »Allein Gott in der Höh« und ließ sie zum Schluß als Cantus firmus im Pedal das Ganze krönen45. Und war dies nur eine fragmentarische Durchführung des Princips, so hat er ein wahres Musterstück geliefert an einer großartigen Bearbeitung des Magnificat46, die mit einer 97 taktigen vierstimmigen Manualfuge beginnt, unter deren kühn aufstrebendes Gebäude sich dann mit mächtigem Schall die gewaltigen Quadersteine des Cantus firmus legen. Einfache Choralfugen dagegen kommen bei ihm kaum vor, hierin machte er es wie Buxtehude, der, wenn er Fugen schreiben wollte, sich auch seine Themen lieber selber erfand. »Vom Himmel hoch« ist in dieser Weise allerdings einmal benutzt, aber vielleicht nur weil Bach die verkleinerten beiden mittleren Zeilen kunstvoll als Gegenmelodien einführen wollte, mindestens wird dadurch die Form wesentlich verändert47.
Es lag in Bachs künstlerischer Natur, die überall auf eine möglichst organische Durchbildung des Tonmaterials hinstrebte, daß ihm die bisherige Art der unmotivischen Contrapunctirung bald nicht mehr genügte. Wie er in den Chorälen des Orgelbüchleins das Ganze der begleitenden Stimmen aus einem oder wenigen klar vorgelegten Keimen entstehen ließ, so sollte es nun auch in der Pachelbelschen [596] Choralform werden. Dies sah schwierig aus, weil die Form Zwischenspiele verlangte, die jedesmal aus dem Stoff der folgenden Zeile gebildet waren. Aber Bach scheint ohne viel Grübeln sofort den richtigen Weg gefunden zu haben: das eine Mal ersann er figurirte Motive von solcher Biegsamkeit, daß es ihm leicht wurde, damit jedesmal die Spitzen des motivischen Grundstoffes zu streifen, das andre Mal führte er mit dem figurirten Motiv die thematische Vorbereitung des Cantus firmus gleich zusammen ein, daß beide wie eine Einheit erschienen. Wie er es in Anwendung dieser Kunstmittel zu immer größerer Gewandtheit brachte, läßt sich an verschiedenen Arbeiten erkennen. Eine dreistimmige sogenannte Fantasia über »Christ lag in Todesbanden« bleibt noch halb bei der alten Weise, bildet aber für Aufgesang und Abgesang nur je ein Motiv aus ihren ersten Zeilen zum Einleitungssatz derselben und weiß dieses so einzurichten, daß es auch als Contrapunct vielfältig verwerthbar ist48. Uneingeschränkt waltet aber das neue Verfahren schon in einer Bearbeitung von »In dich hab ich gehoffet, Herr«49, nur greift hier das motivische Spiel zu weit um sich, und erfaßt auch den Cantus firmus, zu dessen Hervorhebung übrigens nichts weiter gethan ist; außerdem kommt die Bewegung nach jeder Zeile ins Stocken, und das Stück fällt in eben so viele Stückchen aus einander. Einzig der Schluß ist ganz befriedigend: angemessen steigert sich hier die Lebhaftigkeit der Contrapunctirung und nachdem schon der Cantus firmus in der Oberstimme sein letztes Wort gesprochen, er greift – Ende gut, alles gut – das Pedal noch einmal die einfache Melodiezeile, zu der die Oberstimmen eine sehr gelungene Begleitung ausführen. Mit vollendeter Erreichung der Intention stellt sich dagegen ein dreistimmiger Manualsatz über »Allein Gott in der Höh« dar; in diesem Anfangsmotiv:
erklingt sowohl die Melodie der ersten Zeile, und wird jede folgende [597] mehr oder minder deutlich widergespiegelt, als darin auch die Substanz für die gesammte Contrapunctirung enthalten ist, die durch Umkehrungen, Weiterbildungen, Umgestaltungen sich unaufhörlich aus sich selbst erneuert50. Der Cantus firmus zieht ruhig in halben Takten darüber her. Zuweilen war auch eine Choralmelodie in ihren einzelnen Abschnitten so beschaffen, daß das aus der ersten Zeile gebildete Motiv mit geringen Abänderungen für alle paßte, z.B. »Ach Gott und Herr«, bei der man fast alles mit diesem Motive:
bestreiten kann, wie Bach denn auch durch die That bewiesen hat51.
Von den Leistungen Buxtehudes und seiner Kunstverwandten konnten mehr die feinen Klangwirkungen und geistreichen Einfälle, als die ganzen Typen gebraucht werden. Doch ist Bach grade in Weimar nicht selten auch auf den Pfaden des kleinen Buxtehudeschen Orgelchorals weitergegangen, wobei denn freilich immer etwas ganz andres heraus kam, als jener Meister zu schaffen vermocht hatte, aber der Ausgangspunkt ist doch unverkennbar. In späteren Jahren kam er aus dieser Richtung, auf der ihn vielleicht auch äußere Anlässe weiter lockten, ganz zurück. Das einzige Beispiel, das wir vorläufig zu nennen haben, ist eine Bearbeitung der Melodie des Clausnitzerschen Liedes »Wir glauben all an einen Gott«52. Die Merkmale des kleinen Buxtehudeschen Chorals waren rein musikalische: elegante Verzierung der Melodie, reizvolle harmonische und klangliche Ausstattung; für letztere stand die Benutzung zweier Manuale fest, deren einem die Melodie zugewiesen wurde, auch Doppelpedal wandte er und mit ihm gern die ganze Schule an. Negative Merkmale waren die Gleichgültigkeit gegen eine zusammenhängende Contrapunctirung, gegen jedes andre als durch die Tonqualität erzeugte Hervortreten des Cantus firmus, und die Unregelmäßigkeit [598] in Bildung der Zwischensätze, in denen bald die folgende Zeile benutzt wurde, bald nicht. Bachs Choral läßt alle diese Eigenschaften erkennen, nur hat er nicht umhin gekonnt, die Mängel so viel es anging auszugleichen. Die erste Melodiezeile tritt in der Tenorlage vollständig auf, dann wird aber bis zum Einsatze des Cantus firmus noch vier Takte frei weiter praeludirt, der zweiten Zeile geht keine zwischenspielende Andeutung vorher, der ersten des Abgesanges dagegen gar eine unter mehrstimmiger Begleitung fugirte, der letzten wieder eine einfache. In denselben Notenwerthen ertönt der Cantus firmus auf seinem Manuale, ohne erhebliche Verzierungen, aber mit einem echt Buxtehudeschen Passagenschwanze am Schlusse. Die contrapunctirende Masse jedoch ist weit mehr zusammengehalten, nicht durch imitatorische und motivische Künste, sondern indem sie, immer vollstimmig, ungebunden phantasirend und auf melodische Führung ihrer einzelnen Stimmen bedacht vorwärts schreitet. Buxtehudes fugirte Ansätze, die es zu nichts brachten und den Fluß nur hemmten, hat Bach mit Recht beseitigt, um den größten Nachdruck auf das zu legen, was dieser Form auch das Wesentlichste war, den Klangcontrast, die Farbe und die saftige Harmonik. Zu dem Zwecke hat er auch durch das ganze Stück Doppelpedal verwendet, das mit den zweistimmigen Gängen des begleitenden Manuals die merkwürdigsten Combinationen eingeht. Bei gewählter Registrirung muß die Wirkung eine bezaubernde sein.
Strebte Bach durch Verschmelzung der Pachelbelschen Form mit der motivisch contrapunctirten ein höheres neues Ideal an, so wird man nun erwarten, daß er auch aus dieser letzteren, die speciell die seinige genannt werden könnte, wenn er nicht eben allen den Stempel seines Geistes aufgedrückt hätte, noch mehr zu machen versuchte, als die Stücke des Orgelbüchleins dargethan haben. Der nächstliegende Schritt war, mit selbständigen Gedanken ein freies Stück auszuführen, das den Stimmungsgehalt des betreffenden Chorals zur musikalischen Erscheinung brachte und dasselbe durch die hineingewobene Choralmelodie von einer helleren poetischen Empfindung durchleuchten zu lassen. Bach hat keinen Anstand genommen auch diesen Schritt zu thun und damit die bewunderungswürdige Consequenz seiner Entwicklung und den untrennbaren innern Zusammenhang seiner schöpferischen Aeußerungen auf den verschiedenen [599] Kunstgebieten von neuem kundgegeben. Pachelbel hatte den Choral in seinen kirchlichen Beziehungen als instrumentales Kunstobject aufgefaßt, Bach gab in der neuen Form, welche wir »Choralfantasie« nennen wollen, fast nur denjenigen Gefühlen Ausdruck, die seine Person beim Vernehmen einer Choralmelodie erfüllten. Der folgende Schritt auf diesem Wege wäre entweder gewesen, den Cantus firmus ganz fortzulassen und nur zur poetischen Erläuterung den Anfang des Chorals über das Stück zu schreiben. Oder man mußte sich nach einem Mittel umsehen, das Uebergewicht des Chorals wieder herzustellen, ohne jenen großartigen Errungenschaften auf instrumentalem Gebiete Abbruch zu thun. Das zweite hat Bach gethan. Unmittelbar aus dieser letzten Form sind jene überherrlichen Choralchöre hervorgegangen, in der die Instrumente ihr eignes Stimmungsbild weben, in welches der Chor der Menschenstimmen mit dem Kirchenliede hineintritt, durch seine sittlich höhere Bedeutung alles übrige beherrschend und in seine Sphäre zwingend. Bach ging in der Vertiefung und Subjectivirung des Orgelchorals bis an die äußerste Gränze fort, aber keinen Fuß setzte er darüber hinaus ins Bodenlose; ein erhabener Priester seiner Kunst strebte er, was er in tiefer Einsamkeit Göttliches geschaut, dem gesammten Volke mitzutheilen und klar zu machen. Gegen die Choralchöre, welche er in dieser Weise anlegte, ist die Zahl der Choralfantasien verschwindend klein. So freilich darf man den Entwicklungsprocess nicht auffassen, als ob Bach, nachdem ihm der Durchgang durch die instrumentale Form zur vocalen klar geworden, jene als werthlos bei Seite geworfen hätte. Vielmehr schrieb er bis in sein spätes Alter Orgelchoräle nicht nur im allgemeinen, sondern speciell auch dieser Art. Denn die Form hatte ihre Berechtigung wie alle, die regelrecht historisch geworden sind, und reichte in Tiefen des Lebens hinab, die keiner andren, auch der ästhetisch höheren nicht zugänglich waren. So schließen in der Kunstentwicklung stets die aus einander hervorgehenden Gattungen sich theilweise aus, und wer mit allen Lebensfasern sich in der früheren festgesogen hat, dessen Wachsthum will meistens in der späteren nicht wohl gedeihen. Nur wenige auserlesene Genien giebt es, deren Geist umfassend genug ist, in sich selbst eine solche Entwicklung zu vollziehen und, leidenschaftslos auch über den Gegensätzen schwebend, das eine zu thun, [600] ohne das andre zu lassen. Zu den früheren Werken der eben beschriebenen Weise gehört wohl die dreistimmige Fantasia über »Jesu, meine Freude« für Manual53, ein fugirter Satz über das Thema:
dem der Choral in der Ober-, Mittel- oder Unterstimme eingeflochten wird, meisterwürdig geschickt, doch nur am Aufgesange durchgeführt, während der Abgesang frei in Böhms Weise variirt wird und dadurch an Eindringlichkeit verliert. Ferner ist eine Bearbeitung von »Nun freut euch, lieben Christen g'mein« zu nennen, wo im Manual ein laufendes Sechzehntelmotiv sich zu einem vollständigen Stücke ausspinnt, zu dem der Cantus firmus vom Pedal in der Tenorlage ausgeführt wird54. –
Es folgen nun schließlich jene von Bach später gesammelten Orgelchoräle, in denen wir die Quintessenz seiner weimarischen Erzeugnisse auf diesem Felde werden erkennen dürfen. Bei einer Musterung nach Maßgabe der Typen mögen zugleich zwei andere ebenbürtige Arbeiten hinzugezogen werden. Einfache Choräle mit motivischer Contrapunctirung sind zwei vorhanden, von denen der eine zur leichteren Hälfte auch in das Orgelbüchlein eingetragen ist: »Komm, Gott Schöpfer, heiliger Geist«55. Die Melodie wird zweimal durchgeführt, zuerst in der Oberstimme mit Vierteln (oder punktirten Achteln), wozu vorherrschende Achtelcontrapunctirung, dann mit grandioser Wirkung vergrößert im Pedal, nachdem sich die Begleitung zu Sechzehnteln gesteigert hat. Die doppelte Durchführung steht hier nicht, wie sonst wohl, zu eben so viel Strophen der Dichtung in Beziehung; dies ist dagegen bei dem [601] zweiten Stücke der Fall: »O Lamm Gottes, unschuldig«56. Meisterhaft ist diese erhabene Composition aufgebaut; das erste Mal trägt die Oberstimme den Cantus firmus, das zweite Mal die mittlere, zuletzt das Pedal, welches bis dahin geschwiegen hatte. Zu jeder Strophe wandelt sich der Contrapunct und jedesmal wird er bedeutungsvoller. Vor dem Schlusse tritt eine Unterbrechung ein, der Einsatz der Zeile »All Sünd hast du getragen« steht bevor, ein Motiv zur Versinnlichung des Tragens wird eingeführt, lang streckt sich der Cantus firmus darunter hin; dann über den Tönen der Worte »sonst müßten wir verzagen« vier 3/2 Takte hindurch jammernde chromatische Gänge und ein spannender Halbschluß – »gieb uns deinen Frieden, o Jesu!« da rollen die mächtigen Tonwogen herein, eine nach der andern, und fluthen auf und nieder, um sich erst zu beruhigen, nachdem die Melodie längst geendigt und nur ihr letzter Ton noch weiter hallt, das bewegte Leben über sich tragend und feierlich durchklingend. Wahrlich, ein Wunderwerk tief inniger religiöser Kunst!
Streng nach Pachelbels Muster und spiegelblank und sauber bis auf die letzte Note ist »Nun danket alle Gott« gearbeitet57. Jenen bis an die Wolken dringenden Jubelschall, den Bach sonst ertönen lassen konnte, bleibt er hier freilich schuldig. Zahlreicher sind die Fälle, in denen er den Werth der Form durch motivische Contrapunctirung erhöht. Von den beiden Behandlungen des Abendmahlsliedes »Jesus Christus, unser Heiland« verräth sich der Manualsatz durch die endlich eintretende Pedalnote als ein Werk, das höchstens noch in den ersten weimarischen Jahren verfaßt sein kann58. Ein geistreicher Einfall ist es, aus der hingeworfenen Passage im 10. Takte, die sich anhört wie ein Zwischenspiel beim Gemeindegesange, für die zweite Hälfte des Chorals ein neues Contrapunct-Motiv entstehen zu lassen. Der zweite Satz gehört wieder unter die großartigsten und tiefsinnigsten Schöpfungen des bewundernswerthen Meisters. Folgend dem Gedankengange der ersten Strophe:
gestaltet er drei Theile. Mit feierlicher Erregung, wie sie der Gedanke an die Abendmahlshandlung hervorruft, und noch unbeeinflußt durch specielle Erwägungen, werden die ersten beiden Zeilen durchgeführt. Aus einem charakteristischen Motive:
entwickelt sich in rechter und umgekehrter Bewegung der Begleitungsapparat. Zur dritten Zeile erwecken chromatische Sechzehntel, in kühner Bewegung gegen einander strömend (man vergl. Takt 37) die Empfindung des »bittren Leidens«. Daraus reißt zur letzten Zeile das contrapunctirende Motiv:
uns mächtig und siegreich empor, um in einem Schlusse voll ernster Pracht zu gipfeln. Das Beachtenswertheste ist hier wie anderswo immer, mit welcher Genauigkeit die von dem poetischen Inhalte ausgehenden Impulse mit den constructiven Bedürfnissen des Musikstücks zusammentreffen. Nur da giebt eben Bach solchen Impulsen nach, wo sie im Organismus des Tonwerks ihre Berechtigung haben, und deshalb wirken sie dann auch um so nachdrücklicher. Durch kleinliche Detailschilderungen das Ganze zu zerfetzen, war ihm unmöglich. Darum ist in den knappen Chorälen des Orgelbüchleins von einem Eingehen auf die verschiedenen Zeilen nichts zu merken. Allein wenn bei großen Verhältnissen das Kunstgebot der Mannigfaltigkeit in der Einheit an ihn herantrat, ließ er sich in der Erfindung durch die poetischen Vorstellungen der einzelnen Zeilen leiten. Solche Verhältnisse herrschen hier: ein Schwall der Empfindung fluthet hindurch, wie kaum anderswo stärker. Welch einen Eindruck macht es, wenn nach dem Erscheinen des Cantus firmus jedesmal [603] dessen Melodie in der Oberstimme nachhallt! – Ergreifende Innigkeit, eine unaussprechlich tiefe, vertrauensvolle Ergebung durchdringt den Choral »Von Gott will ich nicht lassen«59. Der Cantus firmus liegt wieder fest im Pedal, wie üppiges Immergrün umrankt ihn das Stimmengeflecht. Man sagt nicht zu viel damit, daß jedes dieser Meisterwerke ein in seiner Gattung Unvergleichliches sei. Eine zweite Bearbeitung des Sterbeliedes »Valet will ich dir geben« gehört ebenfalls hierher60, aber wie ganz anders ist der dieses Mal hineingelegte Ausdruck! Ein erhabener Seelenfrieden, der mit majestätischem Flügelschlag hoch über das Treiben der »argen, falschen Welt« emporschwebt, ein Stimmungsbild zu den Worten:
Im Himmel ist gut wohnen,
Hinauf steht mein' Begier. –
In erfinderischer Weise hat auch Bach den Pachelbelschen Choral mit der Form des freien Orgeltrios zu combiniren gewußt. Wie der ältere Meister die erste Zeile zu fugiren und dann die ganze Melodie in glänzender Contrapunctirung nachfolgen zu lassen pflegt, so bildet der jüngere die Anfangsabschnitte der Melodie zum Thema eines Trios um, das in angemessener und ausführlicher Weise entwickelt wird und zum Schlusse unmerklich den Cantus firmus im Pedal eintreten läßt. Die Melodien »Allein Gott in der Höh« und »Herr Jesu Christ, dich zu uns wend« sind es, welche diese Behandlung erfahren haben61.
Der Typus Buxtehudes zog Bach nicht nur durch die Gelegenheit an, welche er zur Erprobung einer gewissen Art der Fertigkeit und eines wählerischen Klangsinnes bot, Dinge denen Bach in Weimar noch größere Bedeutung beilegte, als später, sondern offenbar hatte auch die Schwierigkeit Reiz für ihn, etwas daraus zu machen, [604] was seinen strengen Ansprüchen genügte. Eine bestimmte Methode wendete er hier nicht an, sondern verfuhr nach den Beschaffenheiten der einzelnen Melodien und seinen eignen augenblicklichen Stimmungen. Deshalb sind diese Orgelchoräle unter einander so unähnlich wie möglich, ebendeshalb aber auch wieder aufs höchste eigenthümlich bis zum Seltsamen. Am nächsten der Originalform hält sich noch »Komm, heiliger Geist, Herre Gott«, obwohl die Zeilen viel breiter durchgearbeitet und die contrapunctirenden Stimmen in größerer Ordnung gehalten werden62. Wie wenig die Form in dieser Weise Bach befriedigte, geht wohl zur Genüge daraus hervor, daß er sie ein zweites Mal nicht wieder benutzt hat. Von origineller Mischgestalt ist eine Bearbeitung von »Allein Gott in der Höh«; breite sorgfältig imitirte Zwischensätze und motivische Contrapunctirung einerseits, und ein auf eignem Manuale in der Tenorlage reich colorirter, ja periodisch erweiterter Cantus firmus andrerseits; eine tropisch wuchernde Pracht an Blättern und buntschimmernden Blumen. Die Kunst der Klangmischung ist hier auf eine unerreichte Höhe gesteigert und wird doch überall von gesunder Erfindung getragen. Nur in der ungemeinen Complicirtheit übereinstimmend, sonst ganz anders ist eine nochmalige Behandlung derselben beliebten Melodie beschaffen63. Vom Typus hat sie den gesammten coloristischen Flimmer und die Sonderung in verschiedene Klangmassen. Außerdem aber ereignet sich folgendes. Alles was der Melodie gegenüber tritt, wächst aus einem Thema hervor, das von der ersten Melodiezeile abgeleitet ist:
Der in drei Terz-Stufen abwärts schreitende Gang wird zudem noch motivisch benutzt. Es würde das nun der Choralfantasie, jener letzten Consequenz des Bachschen Orgelchorals, sehr nahe kommen. Aber nach Maßgabe des grundlegenden Typus wird immer vollstimmig [605] gearbeitet, der Klang- und Harmoniefülle halber. Endlich tritt, um den Beginn des Abgesanges zu markiren, dessen volle erste Zeile im Pedale vorbereitend auf. Ein geschlossener Organismus entsteht mit triumphirender Meisterschaft, aber auch ein ganz incommensurables Musikstück. Gleich merkwürdig und nicht nur vorwiegend formell, sondern ganz besonders auch in der ergreifenden Gesammtstimmung von Buxtehudes Geiste getragen ist »An Wasserflüssen Babylon«. Die Melodie liegt im Tenor, der compacte contrapunctirende Tonkörper verarbeitet unablässig die ersten beiden Zeilen, was wohl nicht nur musikalisch sondern auch poetisch zu verstehen ist. Unter den fein empfundenen Auszierungen ist vor allem die der ersten Zeile wichtig:
die uns beweist, wie viel auch diese Mittel zur Feststellung der Stimmung beitragen können. Ich zweifle, daß die Composition später als bis zum Jahre 1712 entstanden ist. Nachher hat Bach eine Umgestaltung mit ihr vollzogen, indem er zur Begleitung durch constante Anwendung des Doppelpedals mit hohem Kunstgeschick eine vierte Stimme hinzufügte und in Folge davon den Cantus firmus in die Oberstimme legte. In der harmonischen Combination ist das Stück nun ganz der oben genannten Bearbeitung von »Wir glauben all« gleich geworden. Es ist in Bachs Leben ein Ereigniß vorhanden, mit dem sich die Umarbeitung ungesucht verbinden läßt: seine im Jahre 1720 ausgeführte Reise nach Hamburg, wo er sich mit einer Durcharbeitung des Liedes »An Wasserflüssen Babylon« das hohe Lob des alten Reinken erwarb. Die Annahme liegt sehr nahe, daß er dem fast hundertjährigen Meister, der für Bachs neue Bahnen kaum ein Verständniß haben konnte, auf seinem eignen Gebiete entgegen kommen wollte, das ja mit dem Buxtehudes wesentlich zusammenfiel, und aus diesem Grunde ein früheres Werk nach der Richtung hin weiter ausgestaltete, für welche Reinken besonders empfänglich war, der Klangcombination und der Pedaltechnik65.[606] Wiederum nur in der allgemeinen Anlage ähnlich, im übrigen unter Bachs Werken eben so einzig, wie die vorigen, ist »Schmücke dich, o liebe Seele«. Das dreistimmige Accompagnement fantasirt über die erste Zeile des Aufgesanges, nachher des Abgesanges und kehrt am Schlusse cyklisch in die Tongänge des Anfangs zurück, die Melodie wird mit höchst ausdrucksvollen Verzierungen von der Oberstimme vorgetragen. Der fremdartige, räthselhafte Zauber dieses Stückes hat feine Bachkenner längst beschäftigt; einen Schritt wenigstens zu seiner Erklärung zu thun ist uns durch Aufzeigung der historischen Grundelemente gestattet. Das Hauptsächliche bleibt freilich auch so noch in den schaffenden Tiefen des Bachschen Genius verborgen, der die musikalischen Besonderheiten einer äußerlich spielenden Form nur als Farben benutzte, um mit ihnen ein Seelengemälde feierlich gedämpfter himmlischer Wonne vor uns auszuführen. Wer diesen Orgelchoral mit dem zuvor besprochenen »Jesus Christus, unser Heiland« vergleicht, wird der gänzlich verschiedenen Gefühlssphären, in denen beide schweben, lebendig inne werden66. Dem alten Adventschoral »Nun komm, der Heiden Heiland« hat Bach drei Behandlungen angedeihen lassen, die offenbar als ein zusammengehöriges Ganzes gedacht sind67. Die erste beruht auf Buxtehudes Form, hat dieses Mal aber, von der kleinen [607] imitatorischen Einleitung abgesehen, gar keine thematische Begleitung und spinnt, als zweite Abweichung vom Typus, die stark colorirte Melodie weit über ihre periodischen Gränzen hinaus, ist aber von seltsam phantastischer Schönheit. Die zweite giebt sich als Trio, indem ein Manual und der Pedal-Bass die Contrapunctirung, der Discant des andern Manuals die Melodie, oder in einer Conversion die Manuale die Begleitung und das Pedal den Cantus firmus ausführen. Thematischen Stoff für das Ganze bietet die erste Zeile mit angehängter Sechzehntelfigur, in canonischer Führung treiben die Stimmen einander fort. So entwickelt sich ein Stück, dem zur vollen Losgelöstheit vom Chorale nur ein frei erfundenes Thema fehlt; solche Gebilde stehen auf der Brücke, die von der Pachelbelschen Form zur Choralfantasie hinüberführt, sind aber nicht wohl als Verschmelzungen jener mit dem freien Orgeltrio anzusehen, da der Cantus firmus mit seinem baldigen Eintritt keine Zeit zu selbständiger Entfaltung läßt. Die in Rede stehende Composition ist von einer fast unnahbaren Sprödigkeit des Charakters und von erschreckender Rücksichtslosigkeit hinsichtlich des Klanges, besonders in der erstgenannten Gestalt. Es giebt noch einige solcher Arbeiten von Bach, in denen mit völliger Gleichgültigkeit gegen die äußere Erscheinung nur der Beschaffung eines geistigen Gehalts nachgegangen wird. Reine Kunstwerke entstehen auf diesem Wege nicht, denn das Sinnlich-Angenehme ist, wenn auch kein vornehmer, doch ein unentbehrlicher Bestandtheil der Form. Nur nach völligem Eingelebtsein in Idee und Plan des Tonstücks fügt sich auch das Ohr widerwillig und allmählig solchen Zumuthungen. Aber in dem Gesammtbilde von Bachs Kunstcharakter dürfte doch dieser Zug nicht fehlen. Es ist der übertriebene Idealismus eines deutschen Geistes, der immer nur in die Wolken sieht, unbekümmert darum, ob sein Fuß sich in irdische Dornen verwickelt.
In der dritten Bearbeitung desselben Chorals kommt die Form der Choralfantasie voll zur Erscheinung. Wir fügen diesem gewaltigen Werke sogleich das noch gewaltigere über »Komm, heiliger Geist, Herre Gott« hinzu und haben damit die ganze Zahl der für diese Periode vorliegenden Choralfantasien genannt. Die Form ist von Bach in späteren Jahren erst mit Vorliebe gepflegt, da hat er auch die zweite der genannten um ein Bedeutendes erweitert, ja [608] man kann sagen, daß er sie da erst vollendet hat, denn die erste Gestalt bringt nur die vier Anfangszeilen des Chorals68. Ueber den allgemeinen Inhalt bleibt kaum etwas zu bemerken, er ist königlich, wie das Instrument, dem er zur Geltendmachung seiner Majestät verhelfen soll. Die Themen sind beide Male sehr bewegt und rauschend und bilden zu der großartigen Ruhe des vom Pedal geführten Cantus firmus einen imposanten Gegensatz.
Hiermit endigen wir die Betrachtungen über Bachs Orgelchoräle, wenn auch nicht für immer. Bis zum Niedergange seines Lebens schuf der Meister in dieser Gattung weiter, und die letzten und kostbarsten Blüthen derselben bleiben uns noch aufgespart. Aber neue Formen werden wir nicht mehr zu verzeichnen haben; schon jetzt war das Gebiet vollständig durchmessen und mußte es sein, denn auf den unumschränkten Besitz desselben gründete sich die weitere Entwicklung seines Künstlerthums. Um diesem Verhältnisse auch in der Darstellung gerecht zu werden, beschließen wir mit der Zergliederung der Bachschen Thätigkeit im Orgelchoral zugleich die ganze hochwichtige Periode seines Lebens, in der die Schlüssel zum Verständnisse alles weiteren liegen: das erste Jahrzehnt der Meisterschaft. Bachs Natur war es nicht, im Rückblicke auf das Geleistete sinnend inne zuhalten, er hätte sonst mit sich zufrieden sein können. Als Orgel- und Clavierspieler stand er auf überragender Höhe und hatte die schneller als Geistessaaten reifenden Früchte der Virtuosität bereits in solchem Maße geerntet, daß er weithin durch Mittel- und Norddeutschland gekannt und als siegreicher Vorkämpfer deutscher gegen ausländische Kunst allgemein gerühmt wurde. Und was mehr ist: in stetigem Fortschritt, in unermüdlicher Ausnutzung aller ihm von außen nahe tretenden Kunstelemente, in unablässiger Pflege seiner eignen staunenswerthen Gaben war eine Fülle von herrlichen Werken entstanden, Werken verschiedenartigster Gattung, aber mehr oder weniger auf einen Mittelpunkt bezogen. Deutsche, italiänische, französische Instrumentalmusik früherer und zeitgenössischer Künstler für Orgel, Clavier und Violine in den mannigfaltigsten [609] Formen dargestellt, ältere und neuere Gebilde der geistlichen und weltlichen Vocalmusik, alles sahen wir herankommen und sofort in den mächtigen Strudel der eignen Orgelkunst hinabgezogen werden, aus dem es in verjüngter Gestalt und glänzend in neugewonnener Frische und Lebensfülle wieder emportauchte – ein Bild größter Vielseitigkeit in strengster Begränzung.
Fußnoten
Johann Sebastian Bach (1685-1750) naar een portret door Elias Gottlob Hausamann, olie, 1748. Bach toont de Canon triplex a 6 vocibus (BWV 1076).
Fußnoten
I
1 Seine unberühmt gebliebenen nächsten Nachfolger waren: Johann Heydenreich (Schwiegersohn Mollers) von 1610 bis 1633, Rudolph Radecker von 1633 bis 1634, Hermann Schmied von 1634 bis 1649, Johann Vockerodt von 1649 bis 1654. Diese und die folgenden Angaben über beide Ahles stützen sich in ihren Abweichungen von der bisherigen Ueberlieferung auf die Kirchenrechnungsbücher zu Divi Blasii.
3 »Herr Johann Georg Ahle begraben mit der gantzen Schule mit 2 Zeichen den 5. Dec.« (Sterbe-Register zu Divi Blasii. 1706). Die Beerdigung pflegte drei Tage nach dem Tode zu erfolgen, wie noch jetzt.
4 Nach seiner eignen Erzählung bei Mattheson, Ehrenpforte S. 388 und 389, wo er aber Ahle den Sohn mit Ahle dem Vater verwechselt. Von einer Berufung Walthers vor derjenigen Bachs, die er ausgeschlagen hätte, ist nie die Rede gewesen, vergl. Gerber, Lex. II, Sp. 764.
5 Da die Bach betreffenden Actenstücke in dem Buche Bitters sehr entstellt zum Abdruck gekommen sind, habe ich sie im Anhange B. V noch einmal voll ständig mitgetheilt.
6 70 Schock nach den Kirchenrechnungen. 1 Schock = 20 guten Groschen; 1 (meißenscher) Gülden = 21 guten Groschen.
7 In Arnstadt bekam er, genau genommen, nur 84 Gülden 6 ggr., da ihm sein Gehalt in verschiedenen Münzsorten ausgezahlt wurde.
8 Nach eigner Mittheilung Frohnes anläßlich der später zu erwähnenden Streitigkeiten.
9 So heißt es in dem auf dieses Unglück sich beziehenden Bußgebete.
Erscheinet Herr Johann Sebastian Baach, bißheriger Organist zur newen Kirchen, Berichtet, daß er nach Mühlhausen Zum Organisten beruffen worden, auch solche Vocation angenommen habe. Bedanckte sich demnach gegen den Rathe gehorsambst, Vor bißherige Bestallung, und bittet umbDimission, Wolte hiermit die Schlüßel Zur Orgel dem Rathe, Von deme er sie empfangen, wieder überliefert haben.
D.R.Z.A.«
(Arnstädter Rathsprotokolle.)
11 Daß es nur ein Quartal derjenigen Summe war, die Sebastian aus der Brauzins-Kasse bekam, läßt sich aus den Rechnungsbüchern und Quittungen des Arnstädter Rathsarchivs in Verbindung mit den amtlichen Angaben über Johann Ernsts Besoldung mit Sicherheit nachweisen. Man entschuldigt es, wenn ich in die Einzelheiten des weitläufigen Nachweises hier nicht eingehe.
12 Im arnstädtischen Eheregister steht: »Anno 1707,Dom. XV p. Tr. Herr Johann Sebastian Bach, bei der Kaiserl. freien Reichsstadt Mühlhausen zu St. Blasii wohlbestellter Organist, so noch ledig, Weil. Hrn. Johann Ambrosius Bach, Fürstl. Sächs.-Eisenachschen Stadtmusikanten nachgelassener eheleibl. jüngster Sohn, und Jungfrau Maria Barbara, weil. Mstr. Johann Michael Bachs, Organisten in Gehren, nachgelassene ehel. jüngste Tochter. Sind zu Dornheim am 17. October copulirt. Die Accidentien wurden ihnen geschenkt.« (»Mstr.« = »Meister« bezieht sich vielleicht auf Michael Bachs Thätigkeit als Instrumentenbauer.)
13Acta des Magistrats zu Erfurt. Stadt-Archiv, Abth. IV, Nr. 116.
14 Ueber diese »musikalische Societät« im 17. Jahrhundert habe ich nach archivalischen Quellen berichtet in den Monatsheften für Musikgeschichte II, S. 70–76 (Berlin, Trautwein. 1870).
15 Von der Thätigkeit als Kirchencomponist giebt ein vollständiges und mit Liebe ausgeführtes Bild Winterfeld, Evangel. Kirchenges. II, S. 296–328.
16 Sie befinden sich in der Musikaliensammlung des Herrn Musikdirektor Ritter, der sie aus dem schon oben genannten Tabulaturbuche von 1675 copirte. Glücklicherweise! denn der werthvolle Musikalien-Nachlaß des Organisten Hildebrand in Mühlhausen wurde von seinen Erben in einen Fleischerladen verkauft, wie ich im Winter 1867/68 leider entdecken mußte.
18 Walther, Lex. unter »Schubart« und »J.S. Koch«.
19 Alles wesentliche, was an alten Musikalien der damalige Cantor Sachs zu Langula im Sommer 1868 besaß, ist in meinen Besitz übergegangen. Von der alten halbzerfressenen Handschrift der Bachschen Cantate gelangte nur eine Abschrift des alten Cantors an mich und ohne den inzwischen verloren gegangenen ersten Chor.
20 B.-G. XVIII, S. 3–54. Es ergiebt sich aus dem Obigen, daß die Composition nicht sowohl Rathswahl-, als Rathswechsel-Cantate genannt werden müßte.
21 Ob sich unter dem zurücktretenden Rathe einige sehr alte Leute befanden, auf welche die Cantate besonders Bezug genommen hätte, konnte ich nicht ermitteln. Die Bürgermeister von 1707 hießen Johann Georg Stephan und Christian Grabe.
22 Die Holzbläser und das Violoncell (dieses nur der Uebersichtlichkeit wegen) sind in D dur geschrieben, während die Cantate sonst in C dur steht. Man sieht daraus, daß die Stimmung der Blasius-Orgel sich eine ganze Stufe über dem Kammerton befand. Für die Trompeten war ein Umschreiben nicht nöthig, da sie immer im Chortone standen (s. Mattheson, Neu eröffnetes Orchestre, S. 267).
23 Cantate zum Sonntage Jubilate, B.-G. II, Nr. 12.
24Collectanea die Bauten der Kirche D. Blasii betr., im Kirchenarchiv daselbst.
25 Der nachmalige Organist Voigt in Waldenburg, ein geborner Mühlhäuser, sagt in seinem »Gespräch von der Musik zwischen einem Organisten und Adjuvanten«. Erfurt, 1742. S. 38: »Er [ein ungenannter Musiker] fiel hierauf in einen Discurs von Herrn Bachen, ob ich ihn kennte, er hätte vernommen, daß ich ein Thüringer und von Geburt ein Mühlhäuser wäre, und er, Herr Bach, wäre ja in Mühlhausen Organist gewesen. Ich versetzte, daß ich mich zwar noch wohl erinnerte, ihn gesehen zu haben, aber doch nicht mehr kennte, weiln ich dazumal nur 12. Jahre alt gewesen, auch in 30. Jahren nicht wieder dahin kommen, – – –. Er hatte ein Glocken-Spiel in der St. Blasii-Kirchen angegeben, alleine, da er fast damit fertig war, wurde er, wiewohl mit grossem Verdruß des Raths zu Mühlhausen, als Cammer-Musicus nach Weymar beruffen«.
26 Hieraus erklärt sich ungezwungen die Thatsache, daß in der gedruckten Orgelstimme diese Stellen fehlen. In der Marienkirche wurden sie dann wohl auf dem zweiten oder dritten Orgel-Manual gespielt, wenn sich nicht etwa dort auch ein selbständiges Orgelpositiv befand; im letzteren Falle wäre das im Text gesagte hiernach zu modificiren.
27 Wie sich aus dem Protokoll über Bachs erbetene Entlassung ergiebt.
31 »Beschreibung der Kayserlichen Freyen Reichs Stadt Mühlhausen in Thüringen. Zweiter Theil«; auf dem Rathsarchive daselbst. Ahles Lied erhielt sich im Gebrauch, man kann es im Mühlhäuser Gesangbuch von 1739 auf Seite 345 finden, die Melodie aber nicht, welche er jedenfalls doch auch dazu gesetzt hatte.
33 So wurden zu Friedemann Bach (geb. 22. Nov. 1710) als Pathen gebeten: »Frau Anna Dorothea Hagedornin, Herrn Gottfried Hagedorns, J.[uris] U.[triusque] Candidati in Mühlhaußen Frau Eheliebste«, und »Herr Friedemann Meckbach, J.U. Doctor in Mühlhaußen« (Pfarrregister der Stadtkirche zu Weimar). Eine interessante Reliquie besitzt Herr Oberappellationsrath Krug in Naumburg in einem einstmaligen Vorblatte eines gebundenen Buches im Octavformat aus Bachs Privatbibliothek. Rechts unten stehen in zierlicher Schrift seiner eignen Hand die Worte: ex libera donatione Dn. Oehmii | me possidet Joh. Seb. Bach. Die Familie Oehme war früher in Mühlhausen weit verzweigt und existirt noch heute dort. Das Blatt war nebst dem vollständigen Buche im Besitz des Litterarhistorikers Koberstein in Schulpforte; ersteres verschenkte er, letzteres wurde mit seiner nachgelassenen Bibliothek verauctionirt, und es gelang nicht, auch nur zu erfahren, welches der Inhalt gewesen ist.
34 »Acta betr. den theologischen Streit zwischen dem Superintendent Dr. J.A. Frohne und dem Archidiaconus Dr. G. Chr. Eilmar. E.C. Nr. 22«; auf dem Rathsarchiv zu Mühlhausen. Die obige Auseinandersetzung steht wahrscheinlich zuerst in seiner Denkschrift: »Verthädigung des Rechts des geistl. Priesters«, welche mir unbekannt geblieben ist; er sagt nämlich an andrer Stelle, daß er dort den Beginn des Kanzelstreits erzählt habe. – Außerdem habe ich die Protokolle des Senatus Seniorum benutzen können, welche Herr Stadtrath Dr. Schweineberg mir in zuvorkommendster Weise zugänglich machte.
35 Altenburg, Beschreibung der Stadt Mühlhausen in Th. Mühlhausen, 1824. S. 393 und 394.
36 Mattheson (Der musikalische Patriot. Hamburg, 1728. S. 151) nennt ein im Jahre 1701 zu Braunschweig erschienenes Buch Eilmars: »Güldenes Kleinod Evangelischer Kirchen«, in dem der Verfasser ebenfalls gegen die Pietisten eifert. Es kam ihm bei seiner Vertheidigung der modernen Kirchenmusik gut zu statten, und er theilt deshalb einige Sätze daraus mit; dies würde wohl bei der Masse des in dieser Angelegenheit Geschriebenen nicht geschehen sein, wenn er nicht um die zustimmende Gesinnung Eilmars gewußt hätte.
37 Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang, III, S. 270–276.
38 Nicht 19; Winterfeld hat Nr. 284 bei Schemelli (Nr. 94 bei Freylinghausen) aus Versehen zweimal in Rechnung gebracht.
39 Irrthümlich hat Winterfeld angegeben, jene beiden letzten Melodien ständen schon in der ersten Auflage des Gesangbuchs, während daselbst doch dem Gerhardschen Morgenliede die alte Ebelingsche Melodie, und dem Scriverschen Abendgesange eine zwar neuere, aber doch ganz abweichende Tonweise beigegeben ist. Die auf S. 271 befindlichen Verzeichnisse sind also folgendermaßen abzuändern: Schemellis NNr. 108, 121, 463, 475, 522, 572, 580, 700, 779 entsprechen in Freylinghausens erster Auflage vom Jahre 1704 die NNr. 363, 278, 349, 461, 659, 515, 405, 353, 412; Schemellis NNr. 13, 39, 710 in Freylinghausens fünfter Auflage vom Jahre 1710 die NNr. 592, 614, 436. Das Verzeichniß zur ersten Auflage des zweiten Theils vom Jahre 1714 ist richtig.
40 Vrgl. Winterfeld a.a.O. S. 14. Auch haben nicht 23, sondern nur 19 Lieder an Stelle der früheren Melodien neue erhalten; Nr. 662 ist aus Dur nach Moll versetzt, einige andre sind in eine bequemere Lage transponirt.
41 Nr. 496: »Mein Herz, gieb dich zufrieden«, unterzeichnet mit J.A. Fr., und im zweiten Theile des »Geistreichen Gesangbuchs« unter Nr. 450 zu finden. Von August Hermann Francke ist in dem Gesangbuche Schemellis unter Nr. 798 das Lied »Gottlob, ein Schritt zur Ewigkeit« einverleibt.
49 Ahle besaß sein eignes Haus. Sonst scheint Hauszins mit der Stelle verbunden gewesen zu sein. Bieler erhielt unter diesem Titel jährlich 12 Thaler, und hatte auch sonst eine Reihe besonderer kleiner Revenuen an Geld und Materialien.
51 Die Schrift der Worte »Hochedler Herrr Hochgeneigte« und »Deroselben« ist aus deutschen und lateinischen Buchstaben gemischt, was sich im Druck nicht gut wiedergeben ließ.
II
1 Gräbner, Die großherzogl. Haupt- und Residenz-Stadt Weimar. Erfurt, 1830. S. 93.
2 Sein jüngerer Bruder Johann Ernst hatte im Jahre 1691 einen vergeblichen Versuch gemacht, August Hermann Francke als seinen Hofprediger und Informator seines ältesten Prinzen zu gewinnen (nach Franckes Tagebuch bei Kramer, Beiträge zur Geschichte A.H. Franckes. 1861).
3 Am 14. Mai dieses Jahres empfiehlt Herzog Christian von Sachsen-Weißenfels an Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz den Gabriel Möller, der »vormals« in Weimar als Hof-Comoediant im Dienste gewesen (Staats-Archiv zu Dresden). Vrgl. Fürstenau, Zur Geschichte der Musik und des Theaters am Hofe zu Dresden, 2. Thl., S. 301 und 303.
4 Die beste Quelle über Wilhelm Ernsts Leben ist der im anderen Theile von Johann David Köhlers »Historischer Münz-Belustigung«, (Nürnberg, 1730. 4.) S. 18–24 gegebene Lebensabriß. Weitläufig behandelt diesen Regenten Gottschalg, Geschichte des Herzoglichen Fürstenhauses Sachsen-Weimar und Eisenach (Weißenfels und Leipzig, 1797) S. 213–281. Einzelheiten bot mir noch das Archiv zu Weimar. Neuerdings erschien unter dem Titel »Ernst August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach« ein interessantes Culturbild vom Frh. von Beaulieu Marconnay (Leipzig, Hirzel. 1872), was den hochachtbaren Charakter Wilhelm Ernsts des weiteren bestätigt.
5 Wenn er es für nöthig hielt, unterstützte der Herzog seine Hofdiener selbst durch Vorschüsse, s. J.D. Köhler, a.a.O. S. 23.
6 Nur von Michaelis 1710 an waren im großherzoglichen Archive die Gesammt-Kammerrechnungen aufzufinden, welche über Bachs Gehalt Auskunft geben. Hier finden sich verzeichnet: 150 Gülden Besoldung und 6 Gülden 15 ggr. »zu 3 Klafter Floßholz«, außerdem 12 ggr. »zu Kohlen vor den Hoforganisten den Winter über«. Von Michaelis 1711–1712 bieten sich folgende Notizen: An Besoldung »200 Gülden dem Hoforganisten Bach«, daneben mit rother Tinte: »sonsten nur 150 Gülden, wegen der 50 Gülden zulage«, woraus zu schließen, daß er mit der Summe des vorigen Jahres ursprünglich angestellt gewesen. Ferner: »8 Gülden 12 ggr. dem Hoforganisten Statt 4 Klafter Floßholz«; aus einer Stiftung Herzog Wilhelms IV. 2 Gülden. Unter dem Titel »Baukosten« stehen neben einigen andern kleinen Ausgaben für Orgelreparatur auch 2 Gülden »zwei Zimmerleuten und 2 Taglöhnern so die Orgelbalgkammer zernommen und die Blasebälge abgehoben 18. Juni 1712«. Michaelis 1712–1713: »203 Gülden 15 ggr. 9 Pf. Dem Hoforganisten Joh. Seb. Bachen«, nämlich »1–3 jedes Quartal 50 Gülden, Trinit. 53 Gülden 15 ggr. 9 Pf. besage fürstl. Befehls vom 24. Febr.«; von letztgenanntem Datum an war ihm also von Ostern ab – er bezog seinen Gehalt postnumerando – eine jährliche Zulage von 15 G. ausgesetzt. Weiter: 8 G. statt 4 Klafter Floßholz und 2 G. aus der Stiftung.
7 A. Wette, Historische Nachrichten von der berühmten Residentz-Stadt Weimar. Weimar, 1737. S. 146, 147 und 150.
8 Wette, welcher S. 175 und 176 diese Disposition mittheilt, rühmt die Orgel als »unvergleichlich«, was sich, wenn auf sein Urtheil überhaupt etwas zu geben ist, auf die Qualität der Stimmen beziehen müßte. Sie stand im sogenannten Cornetton, d.h. eine kleine Terz über dem Kammerton. S. Anhang A. Nr. 17.
10 Den größten Theil seines Lebens beschreibt Walther selbst in Matthesons Ehrenpforte (Hamburg, 1740) S. 387–390. Dazu Gerber Lexicon II, Sp. 765.
11 Sein mit vielen handschriftlichen Zusätzen versehenes Exemplar besaß der Lexicograph Gerber und hat das Meiste daraus seinem eignen Lexicon einverleibt. Nach dem Tode desselben kam es in die Bibliothek der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien.
12 Den bei Gerber namhaft gemachten ist noch hinzuzufügen ein Heft mit Bearbeitungen des Adventsliedes »Wie soll ich dich empfangen«, erschienen bei Christian Leopold in Augsburg.
16 Das Autograph auf einem losen Quartblättchen in der königl. Bibl. zu Berlin. Vrgl. Mattheson, Critica musica a.a.O. Ebendaselbst im Format eines Stammbuchblattes ein »Canone infinito gradato à 4 Voci, sopra: A Solis ortus cardine«:
nämlich ein Quintencanon, dessen Stimmen bei jeder Wiederholung um einen ganzen Ton höher einsetzen, also Sopran und Tenor das zweite Mal mit E, Alt und Bass mit H u.s.w.
17 Beide letztgenannten Choräle in dem Frankenbergerschen Autograph S. 270 und 334.
25 Das Blatt befand sich in der Autographensammlung des Herrn Generalconsul Clauss in Leipzig, wo ich es copiren durfte, und wurde mit dessen übrigen Autographen im Anfange des Jahres 1872 in Leipzig öffentlich versteigert.
26 Forkel, Ueber Joh. Seb. Bachs Leben u.s.w. S. 16.
27 Zu dem einen der am 23. Febr. 1713 geborenen Zwillinge Bachs.
28 Sammelband von 93 Motetten in Partitur (Nr. 13661) auf der Universitäts-(Gottholdschen) Bibliothek zu Königsberg, S. 203. Die Motette trägt nur die Namenszüge G.T.R. Da der Band aber offenbar im Thüringischen angefertigt ist, so kann über den Componisten wohl kaum ein Zweifel entstehen.
29Jo. Matth. Gesneri primae lineae isagoges in eruditionem universalem. Tom. II, pag. 553 (edit. alt.): »Vinariae familiaritas mihi fuit cum praeceptore tertiae classis (Reinesio) qui simul Cantor erat atque collegii totius senior, et per XL annos in populosa urbe munere scholastico functus: et erat vir bonus, cui fidem habere poteram«.
5 Die beiden erwähnten Sammlungen sind das Königsberger (offenbar ältere) Autograph und das (spätere) Frankenbergersche. Der betreffende Choral steht P.S. V, C. 6, Nr. 22. Inwiefern schon die Ueberlieferung Walthers an sich eine chronologische Stütze ist, darüber sehe man Nr. 34 des Anhangs A.
6 Mit dem Ausdrucke »Clavier« sind immer nur die Manuale allein gemeint.
7 Ich bemerke hier gelegentlich, daß die Waltherschen Handschriften in einigen Punkten von der Griepenkerlschen Edition abweichen. Da das Autograph Bachs fehlt, so haben Walthers Lesarten wohl die vorzüglichste Autorität, was zum Theil auch aus innern Gründen der Fall ist. Die beiden bedeutendsten Abweichungen bestehen darin, daß die zweite Hälfte des 19. Taktes so lautet:
und daß der Pedalbase von Takt 21 bis 28 eine Octave tiefer liegt.
9 P.S. V, C. 8, Nr. 11; C. 4, Nr. 13; C. 8, Nr. 8. Nur das mittlere Stück ist durch Handschriften der Bachschen Schüler J.L. Krebs und Kittel gut beglaubigt; von den andern lagen neuere Handschriften vor, aber aus innern Gründen kann deren Echtheit nicht angezweifelt werden.
12 Im 10. Takte halte ich die Ueberlieferung für unrichtig: das Fis im Alt und Tenor muß jedenfalls F bleiben. Man vergleiche die Schlußharmonien der D moll-Toccate P.S. V, C. 4, Nr. 4.
13 P.S. V, C. 8, Nr. 5. Aus dem Nachlasse des Hamburgischen Musiklehrers G. Pölchau kam an die königl. Bibl. zu Berlin eine ältere Handschrift derselben mit folgendem Titel: »VIII PRAELUDIA | èd | VIII FVGEN | di. | J.S. BACH. (?)« Unten rechts: »Poss: |C.A. Klein.« Das Fragezeichen, was eben so alt wie der übrige Titel ist, entbehrt meines Erachtens der Begründung.
15 P.S. V, C. 4, Nr. 1, – B.-G. XV, S. 81. Die handschriftliche Ueberlieferung bekräftigt das Resultat der innern Untersuchung. Ein Manuscript aus dem Nachlasse Griepenkerls, jetzt auf der königl. Bibl. zu Berlin, ist jedenfalls autograph und zeigt den ersten Entwurf der Composition, da auch noch andre Passagen wie versuchsweise darauf notirt sind. Den Schriftzügen wie dem Papier nach kann dies Autograph nur aus einer ganz frühen Zeit stammen.
17 Die Taktzählung nach Griepenkerls Ausgabe. In der Ausgabe der Bach-Gesellschaft ist der, kritisch allerdings bedenkliche, 18. Takt des Praeludiums gestrichen.
18 Der aber aufs schwerste geschädigt wird, wenn man den Mordent so ausführt:
wonach das Ohr h für die Tonika zu halten gezwungen wird. Nur durch diese Ausführung:
wird das durchaus geforderte Gefühl der schwebenden Quinte klar geweckt. – Ich bemerke gleich noch, daß auch in dieser Fuge, im 19. Takt, das Pedal nach längerer Pausirung nur mit harmoniestützenden Tönen eintritt. Außer den bis jetzt aufgeführten Fällen kommt diese Licenz in späteren Bachschen Orgelfugen nicht mehr vor.
31 Mattheson, Große General-Bass-Schule (1731) S. 409. Etwas ungenauer ist die Sache in der ersten Auflage des Werkes erwähnt (Exemplarische Organisten-Probe. 1719. S. 203). – Constantin Bellermann sagt (Parnassus Musarum S. 37) bei Aufzählung der musikalischen Potentaten: »nec non et Comes de Buckeburg, et Jo. Ernestus Princeps filius Ducis Sax. Vinar. qui modos musicos fecerunt, hanc Poecilen exornant«.
32 Im Autograph auf der königl. Bibliothek zu Berlin. Die beiden Albinonischen Concerte sind das vierte und fünfte aus dessen Sinfonie e Concerti a cinque, due Violini Alto Tenore Violoncello e Basso, opera seconda. Von Taglietti zählt Walther im Lexicon elf Werke auf und bemerkt, dieselben seien alle vor 1715 erschienen. Daß ihm bei Abfassung des Lexicons dieses Jahr, das Todesjahr des Prinzen Johann Ernst, wieder in den Sinn kam, enthält die Andeutung, daß er nach demselben aufgehört habe, sich mit jener Kammermusik eingehender zu beschäftigen.
33 P.S. I, C. 10, und S. V, C. 8, Nr. 1–4. Man sehe dazu die Vorreden der Herausgeber.
34 Wasielewski, Die Violine und ihre Meister. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1869. S. 60 ff.
35 Es befindet sich handschriftlich in der Musikaliensammlung des Königs von Sachsen zu Dresden.
36 Die Dresdener Handschrift giebt ihm die Bezeichnung Allegro assai.
37 P.S. I, C. 10, Nr. 13 und S. V, C. 8, Nr. 4. S. Anhang A. Nr. 19.
38 Im zweiten Theile der »Clavierübung«; B.-G. III, S. 139.
39 Dasselbe besitzt in alter Handschrift Herr Dr. Rust. Was Forkel S. 23 von Bachs ersten Claviercompositionen sagt, paßt ziemlich genau auf gewisse Stellen dieses Concerts, so daß ihm vielleicht bestimmte Fälle vorgeschwebt haben. Wenn er aber weiter behauptet, daß jener von dem wilden Wesen, was er eine Zeitlang auf dem Claviere getrieben habe, durch das Studium von Vivaldis Werken zurückgekommen sei, so gilt das wohl für Compositionen der betreffenden Gattung, deren er vielleicht eine ziemliche Anzahl schon in frühester Zeit machte, ist aber in seiner Allgemeinheit unrichtig. In allem, was mit dem Bau eines polyphonen Stückes zusammenhängt, konnte Bach nichts von Vivaldi lernen. Auch setzt damit Forkel die Beschäftigung mit den Concerten dieses Italiäners in eine viel zu frühe Zeit.
42 P.S. I, C. 9, Nr. 2. Das Stück existirt in einer Handschrift J.P. Kellners, wo es das Datum 1725 trägt. Es hat eine ziemlich merkbare innere Verwandtschaft mit jener großen A moll-Fuge, welche sich im Buche des Andreas Bach findet (P.S. I, C. 4, Nr. 2).
44 Diese merkwürdige Reliquie befindet sich auf der Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin.
45 Zum ersten Male nachgewiesen ist dies interessante Verhältniß von Ambros, Geschichte der Musik, Bd. III (Breslau, Leuckart, 1868), S. 533 ff. Vrgl. Bd. II, S. 506. Eine Auswahl aus jenen Fiori musicali Frescobaldis ist herausgegeben von Fr. Commer (Compositionen für die Orgel aus dem 16., 17., 18. Jahr hundert. Leipzig, D.H. Geissler. Heft 1.). In ihr finden sich auch zwei Canzonen, wodurch eine Vergleichung mit Bach ermöglicht wird.
48 P.S. V, C. 8, Nr. 6. – Ein ähnliches Stück von Pachelbel bei Commer, Musica sacra I, S. 137, wird man nicht ohne Interesse vergleichen.
49 P.S. V, C. 4, Nr. 6. Das einstweilen verschollene Autograph nannte, nach Griepenkerl, Legrenzi als Erfinder des Themas nicht, aber die verläßliche Quelle des Andreas Bachschen Manuscripts zeigt die Aufschrift: »Thema Legrenzianum elaboratum cum subjecto pedaliter«. Mit dem subjectum ist das selbständige Gegenthema gemeint.
51 P.S. V, C. 4, Nr. 8. Die Sonate findet man in der neuen Ausgabe der Werke Corellis von J. Joachim (Denkmäler der Tonkunst III. Bergedorf bei Hamburg, 1871) S. 142–147.
53 Beide finden sich in den Suonate | a tre | doi Violini, e Violoncello | col Basso per l'organo | da | Tomaso Albinoni | Musico di Violino diletante Veneto. | Opera prima |. Hier sind es die zweiten Sätze der dritten und achten Sonate.
54 P.S. I, C. 13, Nr. 10. Wenn sie sich auch in G dur findet, so stellt sich das hiermit als Transposition heraus.
55 Die zweite Bearbeitung von Bachs Fuge steht P.S. I, C. 3, Nr. 5, die erste im Anhange dazu. Albinonis Fuge ist als Beilage 2 vollständig mitgetheilt.
56 Das Q als dritte Note des Gefährten (Takt 3) halte ich aber für ein in der handschriftlichen Vorlage verschriebenes . Es war kein Grund, von diesem cis abzuweichen, was Albinoni hat und Bach selber Takt 12, 37 und 68, und überall in der zweiten Bearbeitung; Q dissonirt außerdem unangenehm mit dem contrapunctirenden .
64 Handschriftlich aus dem Westphalschen Nachlasse jetzt auf der königl. Bibl. zu Berlin, sign. P. 291, 34, erstes Stück. Ich wüßte nichts, was gegen ihre Echtheit spräche. Sie ist noch unveröffentlicht; ihr Thema im thematischen Verzeichniß der Instrumentalwerke Anhang I, 19.
65 Die Abschrift ist auf der königl. Bibl. zu Berlin und führt folgenden Titel: »Jova Juva | Praeludium ex c dis [= es, d.h. c moll] | di Joh: Seb: Bach. |« Unten rechts: »Joh. Ch: Schmidt | Hartz p.t. org. | d. 9 9br. 1713. |« »Hartz« kann Hartzungensis, Hartzburgensis, Hartzgerodanus oder anderes bedeuten; ich habe über die Person des Schreibers, der übrigens sehr fehlerhaft copirt hat, nichts herausbringen können. Dasselbe Stück findet sich noch einmal und sorgfältiger geschrieben bei Andreas Bach, Blatt 71b und 72a, aber ohne den Namen des Componisten und zeigt nicht die Handschrift der übrigen Bachschen Stücke.
66 Es ist veröffentlicht P.S. I, C. 13, Nr. 1. unter dem Titel Fantasia, obgleich es in zwei Handschriften ebenfalls die Ueberschrift Praeludium trägt.
68 Eine ganz ähnliche harmonische Wendung findet sich schon in der letzten der italiänischen Variationen (im vorletzten Takt); ein neuer Beleg dafür, daß beide Werke in dieselbe Schaffensperiode fallen.
69 In dem autographen »Clavier-Büchlein vor Wilhelm Friedemann Bach«.
71 P.S. I, C. 13, Nr. 7. Der Ansicht von Roitzsch, daß die H moll-Fantasie für Orgel bestimmt sei, glaube ich nicht unbedingt beistimmen zu dürfen. Der vereinzelte Gebrauch tiefer Pedaltöne, wie in Takt 15–24, kommt zur Zeit von Bachs Reife – und dahin muß das Stück doch jedenfalls verlegt werden – nur noch bei Clavierwerken vor, wenigstens haben meine Beobachtungen mich durchaus zu diesem Ergebniß geführt. Mir scheint auch der leichte und minutiöse Charakter des ersten Satzes der Orgel nicht angemessen.
72 Handschriftlich aus dem Fischhoffsehen Nachlasse auf der königl. Bibl. zu Berlin.
74 Ich spreche kurz nur von »Toccate« und »Fantasie«, denn der Zusatz »con Fuga« hat keine Berechtigung, da in allen diesen Stücken mehre Fugen vorkommen, und erweckt den Schein, als sei alles übrige nichts, als Vorbereitung auf die Schlußfuge. Ich bin auch überzeugt, daß dies im Sinne Bachs geschieht, da er z.B. der großen Fis moll-Toccate (von welcher später) eigenhändig nur diesen einen Gesammtnamen gab; s. die Peterssche Ausg. S. I, C. 4, Nr. 4 mit der Bemerkung von Griepenkerl.
75 Eine aus Kittels Auction erstandene, und wahrscheinlich von ihm selbst gefertigte Abschrift auf der königl. Bibl. zu Berlin trägt den Titel: »Toccata Prima. ex Clave D.b. manualiter. per J.S. Bachium.« Anordnung der Worte und Interpunction sind so, daßprima nur ganz allgemein auf Toccata bezogen werden kann, nicht etwa auf die Angabe der Tonart. Veröffentlicht ist das Werk P.S. I, C. 4, Nr. 10, jedoch in einer Gestalt, welche eine zweite Bearbeitung durch die Hand des Componisten verräth. Die alte von C. Czerny bei C.F. Peters besorgte Ausgabe scheint die erste Gestalt darzubieten. Namentlich geht dies aus Takt 18 und 19 des ersten Fugensatzes hervor, welche hier fehlen und doch für die Klarlegung der Entwicklung so sehr nothwendig sind. Einiges beruht bei Czerny offenbar, bei Griepenkerl vielleicht nur auf Schreibfehlern ihrer Vorlage.
79 Meine Kenntniß beruht bis jetzt nur auf der in der königl. Bibl. zu Berlin befindlichen Handschrift; eine andre, vermuthlich ältere, befindet sich noch im Hauserschen Nachlasse.
80 Eine saubere Copie, welche aus der Sammlung des Grafen von Voss-Buch stammt, befindet sich auf der königl. Bibl. zu Berlin, sign. P. 49; in derselben scheint die Oboe für eine B-Clarinette umgeschrieben zu sein. Von der Existenz eines Autographs habe ich noch keine Kunde. Einige sehr tiefe Töne des Singbasses, z.B. D und C, erklären sich wohl aus der hohen Stimmung der weimarischen Schloßorgel.
81 Veröffentlicht nach Handschriften von Kittel und Dröbs P.S. V, C. 8, Nr. 12. Vom Componisten selbst rührt das dürftige Arrangement auf keinen Fall her, was nur die Singstimmen und oft nicht einmal diese alle oder unverändert wiedergiebt, während im Original nicht allein der Continuo oft ganz selbständig ist, sondern auch die Instrumente in durchgreifender Weise sich an der Fugirung betheiligen. In den vier Schlußtakten hat der Uebertrager auf die Einleitung zurückgegriffen, dieselben sind im Original ganz abweichend.
82 Kirchen-Musik von Joh. Sebast. Bach, herausg. von A.B. Marx. Bonn bei N. Simrock. Nr. 6.
83 A. Wette, Historische Nachrichten u.s.w. S. 418.
84 Nur der mittlere Satz größtentheils ist biblisch (Apostelg. 17, 28). Ob das Uebrige ganz frei erfunden ist oder irgendwo Anhaltepunkte hat, weiß ich nicht.
85 Es ist nicht die Melodie in ihrer allgemein gebräuchlichen Gestalt, sondern eine Umbildung derselben, die auch Dretzel (Des Evangelischen Zions Musicalische Harmonie. Nürnberg, 1731. S. 698 drittes System) anführt, und deren erste Zeile mit der Weise »Warum betrübst du dich, mein Herz« ganz übereinstimmt. Einen Irrthum begeht Mosewius, Joh. Seb. Bach in seinen Kirchencantaten und Choralgesängen. Berlin, T. Trautwein. 1845. S. 13.
86 Daß jene vier Worte auch ohne Hinblick auf Biblisches gesetzt sein können, ist natürlich nicht unmöglich und ich kann meine Behauptung nicht anders beweisen, als durch Berufung auf mein persönliches Gefühl. Doch bin ich von ihrer Richtigkeit fest überzeugt. Man lese die beiden letzten Capitel der Offenbarung einmal nur auf den allgemeinen poetischen Eindruck hin und gehe dann an die Bachsche Musik – und urtheile selbst.
87 »Christus der ist mein Leben«, von einem unbekannten Dichter.
88 Es ist zu bedauern, daß sich garkeine autographen Reste erhalten haben, die doch nach dieser Seite hin vielleicht Aufklärung geben könnten.
89 In der Marx'schen Ausgabe steht das piano nur bei den Instrumenten; es gilt natürlich auch für das letzte »Amen« des Chors, so lange auf Analogien und innere Gründe noch etwas zu geben ist.
IV
1 »Caspar Ziegler | von den | Madrigalen | Einer schönen und zur Musik be- | quemesten Art Verse | Wie sie nach der Italianer Ma- | nier in unserer Deutschen Sprache | auszuarbeiten, | nebenst etlichen Exempeln | LEIPZIG, | Verlegts Christian Kirchner, | Gedruckt bey Johann Wittigaun, | 1653. |«
2 »De poetis Germanicis hujus seculi praecipuis Dissertatio compendiaria. Additae et sunt Poëtriae, haud raro etiam, ut virtutis in utroque sexu gloria eo magis elucescat, comparebunt Poëtastri Erdmann Neumeister et Friedrich Grohmann. Lipsiae, 1695.« S.W. Klose im Lexicon der hamburgischen Schriftsteller, Bd. 9, S. 497, wo sich überhaupt (S. 496–512) ein sehr sorgfältiges Verzeichniß der Neumeisterschen Schriften findet.
3 Diese Briefschaften befinden sich im Staatsarchiv zu Dresden.
4 Koch, Geschichte des Kirchenliedes I, 5, 371 ff. (3. Aufl.).
5 G. Tilgner in der Vorrede zu Neumeisters »Fünffachen Kirchen-Andachten«. Leipzig, 1716.
6 Wie der Vorredner der »Fortgesetzten Fünffachen Kirchen-Andachten« (Hamburg, 1726), ein gewisser J.E. Müller, ausdrücklich berichtet.
7 »Chenania aber, der Leviten Oberster, der Sangmeister, daß er sie unterwies zu singen.« I. Buch der Chronica 16, 22.
8 »Erdmann Neumeisters | Geistliche | Cantaten | statt einer | Kirchen-Music. | Die zweyte Auflage | Nebst | einer neuen | Vorrede, | auf Unkosten | Eines guten Freundes. | 1704.« s.l. Befindlich auf der gräflichen Bibliothek zu Wernigerode; fehlt in Kloses Verzeichniß.
9 Daß es ein solcher war, ergiebt sich aus der Vorrede zu den »Fünffachen Kirchen-Andachten«.
10 Der dritte nennt den Dichter nicht und wurde in Gotha gedruckt unter dem Titel: »Geistliches | Singen | und | Spielen, | Das ist: | Ein Jahrgang | von Texten, | Welche | dem Dreyeinigen GOTT | zu Ehren | bey öffentlicher Kirchen-Versammlung | in Eisenach | musicalisch aufgeführet werden | von | Georg. Philip. Telemann, | F.S. Capellmeister und Secr. | GOTHA, gedruckt bey Christoph Reyhern, | F.S. Hof-Buchdr. 1711. |« Ein Exemplar in meinem Besitz.
11 »Tit. Herrn | Erdmann Neumeisters | Fünffache | Kirchen-Andachten | bestehend | In theils eintzeln, theils niemahls | gedruckten | Arien, Cantaten und Oden | Auf alle | Sonn- und Fest-Tage | des gantzen Jahres. | Herausgegeben | Von | G.T. | LEIPZIG, | In Verlegung Joh. Großens Erben. | Anno 1716. |«
13 Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, 61. Auch desselben Forschers Behauptung, daß von jetzt an ein Spruch aus dem Fest- oder Sonntags-Evangelium den Kern jeder kirchlich-musikalischen Feier bilde, ist ganz unrichtig. Im Gegentheil: es wird das Bibelwort viel seltener, als in der älteren Kirchencantate, verwendet.
14 Bei den Zeitgenossen galt er allgemein für einen großen Verskünstler. Gottfried Blümel nennt in einer von ihm selbst gedichteten Cantatensammlung (Budissin, 1718) Neumeisters kleine metrische Willkürlichkeiten »nur naevi in pulchro corpore«.
15 Das erste Citat muß einen Druckfehler enthalten; wahrscheinlich ist I. Cor. 14, 7 gemeint.
16 Fünffache Kirchen-Andachten, Jahrg. IV, 8. Sonntag nach Trinitatis. Kräftig sagt auch Constantin Bellermann in seinem »Parnassus Musarum« S. 5: »pii quidam homines – qui – omnem externum musices usum aut ex templis eliminant aut minaci lege circumscribunt: faciamus hos missos, quos neque herba neque pharmacum restituet!«
17 So z.B. der Cantor Christian Schiff zu Lauben gegen seinen Pastor Johann Muscovius im Jahre 1694. Den Inhalt der Schiffschen Apologie verzeichnet Mattheson, Ehrenpforte S. 317 f.
18 Mattheson hat in seiner Entgegnungsschrift gegen Joachim Meyer (»Der neue Göttingische u.s.w. Ephorus«. Hamburg, 1727) den ganzen auf diese Frage bezüglichen Theil von Tilgners Vorrede zu den fünffachen Kirchen-Andachten abdrucken lassen und mit ergänzenden Noten versehen (S. 101–108). Für das Da capo führt er z.B. noch 16 Stellen aus den Psalmen an, worunter zwei sogar die Rondo-Form enthalten sollen.
21 Friedrich Ehrhardt Niedtens Musicalischer Handleitung dritter Theil. Hamburg, 1717. S. 37 ff.
22 »Ein ungefärbt Gemüthe« zum 4. Sonnt. nach Trin. (B.-G. V, 1, Nr. 24) und »Gottlob nun geht das Jahr zu Ende« zum Sonnt. nach Weihnachten (B.-G. V, 1, Nr. 28). Der genaue Nachweis darüber später. Möglicherweise liegt der ersteren Cantate eine frühere Arbeit zu Grunde, obwohl es an deutlichen, Spuren fehlt.
24 In einer Handschrift aus dem Nachlasse Fischhoffs auf der königl. Bibl. zu Berlin.
25 Ich erwarb sie in einer etwa um 1750 gefertigten Handschrift (Partitur und Stimmen) aus der Cantorei zu Langula bei Mühlhausen; dorthin war sie jedenfalls von dem nahegelegnen Eisenach gelangt.
26 Eingehenderes über die Textveränderungen im Anhang A. Nr. 21.
27 Veröffentlicht durch die B.-G. II, Nr. 18, nach Stimmen auf der königl. Bibl. zu Berlin, welche meist autograph sind und in Bezug auf Schrift und Papier größtentheils mit dem Autograph der 1714 componirten Adventscantate übereinstimmen.
28 In Stimmen auf der Schloßkirchen-Bibliothek zu Sondershausen befindlich; nur die Stimme des Chorsoprans fehlt, die sich aber sofort nach der ersten Violinstimme ergänzen läßt.
33 Wie auch schon, und eben in diesem Sinne, geschehen ist von Lobe, Lehrbuch der musikalischen Composition IV, S. 58 f.
34 Mattheson, Neu eröffnetes Orchestre (Hamburg, 1713), S. 283: »es werden vielmahl gantze Arien con Violette all' Unisono gesetzet, welche denn, wegen der Tieffe des Accompagnements recht frembd und artig klingen.«
35 »Kirchengesäng: | Psalmen vnd geistliche Lieder, | auff die gemeynen Melodeyen mit vier Stimmen simpliciter gesetzt, | durch Hanns Leo Haßler« u.s.w. Nürnberg, 1608. Neu herausgegeben von G.W. Teschner, Berlin bei Trautwein.
37 Der Besitzer dieser werthvollen unveröffentlichten Composition ist Herr Dr. Rust in Berlin. Die Handschrift stammt aus der Musikaliensammlung des Lexicographen Gerber; sie ist keine sehr sorgfältige: vom 33. Takte der ersten Arie an fehlen zwei Takte, die sich aber aus dem Anfangs-Ritornell leicht reconstruiren lassen, und mehrfach ist der Text fehlerhaft oder ganz unverständlich. Zwei Abweichungen darin scheinen jedoch von Bach selber herzurühren, nämlich in Takt 37 des ersten und am Anfange des zweiten Recitativs.
38 B.-G. XVI, Nr. 61. Das Originalmanuscript, größtentheils autograph, ist mit vorzüglicher Sorgfalt geschrieben, die Taktstriche sind durchweg mit dem Lineal gezogen. Auf der königl. Bibl. zu Berlin.
39 »gaij« überschrieben, was wohl eine Abkürzung aus »gaiement« oder »gayement« sein soll.
43 Mattheson (Neu eröffnetes Orchestre, S. 281) sagt von der Geige, daß sie drittehalb Octaven umfasse, »etliche wenige Fälle ausgenommen, wo man wol gar ins hinaufsteiget, und also 3. Octaven macht, welches aber, wie man sagt, den Gesellen nicht zukommt«.
45 Ueber eine unter Bachs Namen überlieferte Composition eines dritten Textes des vierten Jahrganges s. Anhang A. Nr. 24.
V
1 Eine gewisse Salbey erhielt gegen 1300 Gülden. Vermuthlich ist es die im Jahre 1719 zu Dresden angestellte Madelaine du Salvay, wo sie 2000 Thlr. bekam (Fürstenau, Geschichte der Musik und des Theaters zu Dresden II, 135).
2 Ich folge mit diesen Angaben den Acten des königlichen Staatsarchivs in Marburg.
4 Bestallung im Archiv zu Marburg. Vice-Capellmeister muß er gewesen sein, weil den wirklichen Capellmeister-Posten Samuel Drese inne hatte, und 1695 wiederum ein Vice-Capellmeister, nämlich Strattner, angestellt wurde.
6 Die Abkürzungen habe ich hier und in den folgenden Briefen aufgelöst.
7 Die Adresse des Briefes fehlt. Unzweifelhaft ist jedoch der Licentiat A. Becker gemeint, an den auch die andern Briefe Bachs in dieser Angelegenheit gerichtet sind. Er gehörte zu den Kirchenvorstehern.
8 Johann Ernst, geb. den 26. Dec. 1696. Die Vocation datirte vom 14. Dec. 1713.
9 Gesammte Kammerrechnung von Michaelis 1713–1714: »232 fl. 10 ggr. 6 pf. Dem Concertmeister und Hoforganisten Joh. Seb. Bachen.
53 fl. 15 ggr. 9 pf. Crucis 1713
53 fl. 15 ggr. 9 pf. Luciae 1713
62 fl. 10 ggr. 6 pf. Remin. 1714
62 fl. 10 ggr. 6 pf. Trinit. 1714«.
Außerdem 12 fl. für Holz und 2 fl. aus der Stiftung. In einem andern Besoldungsverzeichniß (unter »Hof-und Haushaltungssachen, Miscellanea«) findet sich noch die Notiz: »Concert-Meister Bach 18 Scheffel Korn«.
10 Die Notiz ist in der Vorrede zur Cantate mitgetheilt. Durch sie allein wissen wir von Bachs Reise nach Leipzig. Daß sie nicht erst zur Zeit eingetragen sein kann, wo Bach in Leipzig Cantor war, liegt auf der Hand, denn er trat sein Amt dort im Frühling 1723 an, und hatte doch wohl zum Advent nicht mehr nöthig, sich den Gang des Gottesdienstes auf diese Weise zu merken.
11 Vermuthlich war es Becker gewesen, der Bach damals veranlaßt hatte, sich zur Stelle zu melden.
12 Kuhnau redet brieflich von einem Aufschub von 4 Tagen bis zum Montag nach Jubilate. Hier muß er sich entweder um eine Woche geirrt oder im Sonntage verschrieben haben; Ostern fiel 1716 auf den 19. April.
13 Cuncius' Entwurf der Disposition ist handschriftlich vorhanden. Den Effectivbestand der Register im Jahre 1768 giebt Adlung, Musica mechanica I, S. 239 f. etwas abweichend an. Es müssen bis dahin schon wieder einige Aenderungen vorgenommen sein.
14 Die auf die hallesche Angelegenheit sich beziehenden Acten werden im Archiv der Liebfrauenkirche aufbewahrt. Auf sie zuerst aufmerksam gemacht zu haben, ist ein Verdienst Chrysanders (s. dessen »Händel«, I, S. 22 f.). Derselbe hat später in den Jahrbüchern für musikalische Wissenschaft II, S. 235 ff. eine Arbeit darüber veröffentlicht; s. Anhang A. Nr. 26. Nur ganz kurz und in Anordnung der Thatsachen nicht völlig präcis meldet der Nekrolog bei Mizler S. 163: »Nach Zachaus, Musikdirectors und Organistens an der Marktkirche in Halle, Tode, erhielt unser Bach einen Beruf zu desselben Amte. Er reisete auch wircklich nach Halle, und führete daselbst sein Probestück auf. Allein, er fand Ursachen, diese Stelle auszuschlagen, welche darauf Kirchhof erhielt.«
15 So nach der zuverlässigen Angabe Hesses im Verzeichniß schwarzburgischer Gelehrten und Künstler Nr. 338. (Rudolstadt, 1827).
16 Dies erzählt Forkel (S. 42) und man darf ihm wohl glauben.
17 Gerber, Lex. II, Sp. 746. In befremdlicher Weise widerspricht diesem Zeugniß eine Aeußerung Kirnbergers (Die wahren Grundsätze zum Gebrauch der Harmonie 1773, S. 54); ein Recensent der jenaischen Zeitung von gelehrten Sachen hatte Vogler mit Bach auf gleiche Stufe gestellt, worauf Kirnberger: »Fragt man nun: wer ist dieser Vogler? so erfährt man nach vielen Erkundigungen endlich, daß er Burgemeister und Organist in Weymar, und ein Schüler von Bach, aber beyweitem noch keiner seiner ersten Schüler gewesen sey«. Hatte Kirnberger, doch selbst ein Bachscher Schüler, niemals von Vogler gehört? Oder redet hier nur sein bissiger Charakter?
18 Ein Exemplar dieses seltenen Werkes findet sich auf der Bibliothek des königl. Instituts für Kirchenmusik in Berlin.
19 Quelle der beiden Choräle ist ein mehrfach genanntes Orgelbuch aus dem Nachlasse von Joh. Ludw. Krebs, jetzt im Besitz des Herrn F.A. Roitzsch in Leipzig; der letzte steht auch im Frankenbergerschen Autograph J.G. Walthers.
20 Nicht 10. October, wie bei Gerber I, Sp. 756 steht.
22 Im Bewerbungsschreiben um die Organistenstelle der Liebfrauenkirche in Halle vom 1. Febr. 1746; vollständig mitgetheilt von Chrysander a.a.O. S. 241 f.
23 Walthers Artikel über Ziegler ist unglaublich confus. Trotz der vielen chronologischen Angaben läßt sich doch daraus nicht einmal die Zeit bestimmen, wann er Bachs Schüler war. Auch die Vocation nach Reval scheint in ein falsches Jahr gesetzt und in ein unrichtiges Licht gestellt zu sein; nach den revalschen Rathsacten ging man dort mit einer Berufung Zieglers nur im Jahr 1721 um, wie mir mein Freund O.v. Riesemann daselbst gütigst mitgetheilt hat.
24 In dem früher erwähnten Kromayerschen Kirchenbuche, benutzt von Brückner, Kirchen- und Schulenstaat Th. III, St. 10, S. 95 und 96. Daselbst steht ausdrücklich, daß er in seinem 15. Jahre nach Weimar gekommen sei.
3 Schauer, Vorrede zu Salomo Francks geistlichen Liedern. Halle, J. Fricke, 1855.
4 Ein Lobgedicht desselben auf Franck steht vor dessen »Madrigalischer Seelenlust«, Arnstadt, 1697.
5 Eine passende Auswahl derselben hat Schauer in dem angeführten Heftchen herausgegeben, auch in der Vorrede die Werke Francks, soweit sie wieder bekannt geworden sind, aufgeführt.
6 In den »Geist- und weltlichen Poesien« I, S. 529 findet sich ein Hochzeitscarmen »Bey der Unruh-Bachischen Ehe-Verbindung vorgestellet«. Ob diese »Jungfer Bachin« eine Verwandte Sebastians war? Die Kirchenbücher wußten darüber keinen Bescheid zu geben.
12 In seiner Passions-Musik nach Brockes. Winterfeld, Evang. Kirchenges. III, Beil. 50.
13 Höchst interessant ist es, die Dialoge in den Cantaten »O Ewigkeit, du Donnerwort« (B.-G–. XII, 2. Nr. 60) und »Erfreut euch, ihr Herzen« (XVI, Nr. 66) in dieser Hinsicht zu vergleichen. Selbst die Duette in »Wachet auf, ruft uns die Stimme« sind anders beschaffen.
14 Publicirt von J.P. Schmidt in »Kirchengesänge für Solo- und Chor- Stimmen mit Instrumental-Begleitung von Johann Sebastian Bach«. Berlin, Trautwein. Heft II. Autograph auf der königl. Bibliothek zu Berlin.
15 Strophe 33 des Liedes »Jesu Leiden, Pein und Tod« von Paul Stockmann.
16 »Evangelisches | Andachts-Opffer, | Auf des | Durchlauchtigsten Fürsten und | Herrn, HERRN | Wilhelm Ernstens, | Herzogens zu Sachsen, Jülich, | Cleve und Berg, auch Engern und | Westphalen, etc. etc. | Unsers gnädigsten regierenden Landes-|Fürstens und Herrns | Christ-Fürstl. Anordnung, | in geistlichen | CANTATEN | welche auf die ordentliche | Sonn- und Fest-Tage | in der F.S. ges. Hof-Capelle zur | Wilhelmsburg A. 1715. zu musiciren, | angezündet | von | Salomon Francken, | Fürstl. Sächß. gesamten Ober-Consistorial- | Secretario in Weimar. | Daselbst gedruckt mit Mumbachischen Schrifften |«. Befindlich auf der gräflich stolbergschen Bibliothek zu Wernigerode (nicht in Weimar, wie Schauer a.a.O. S. XXXIX angiebt).
19 Ich bemerke gelegentlich, daß im vorangehenden Recitativ eine Entstellung des Textes stattgefunden hat, die auch in die Ausgabe der Bach-Gesellschaft übergegangen ist. Es muß dort nämlich heißen: »Auf! von den todten Werken! Laß, daß dein Heiland in dir lebt, An deinem Leben merken!«
20 Winterfeld, Ev. K. III. S. 378 scheint mir diesen Satz mißzuverstehen, ebenso Mosewius a.a.O. S. 8.
21 In Stimmen auf der Bibliothek der Schloßkirche zu Sondershausen.
22 Herausgegeben nach dem Autograph auf der königl. Bibl. zu Berlin von J.P. Schmidt a.a.O. Heft III.
23 Daß auch in Weimar die Trompete dazu benutzt wurde, zeigt die Existenz einer Trompetenstimme in G moll, was zum Cornetton der weimarischen Orgel paßt, da die Trompeten immer im Chorton standen. Das Stück ist Duetto überschrieben. Soviel nur hier zur Berichtigung der auch sonst wenig genügenden Ausgabe Schmidts.
24 Eine alte Partitur aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird auf der königl. Bibl. zu Berlin aufbewahrt. Sie scheint in Leipzig geschrieben zu sein, denn die Wasserzeichen des Papiers stimmen überein mit denen, welche sich in den Stimmen zu Bachs Oster-Oratorium »Kommt, eilet und laufet, ihr flüchtigen Füße« erkennen lassen. Sichere autographe Spuren sind nicht darin zu entdecken; vermuthlich war Bach an dieser Copie ganz unbetheiligt. Vollständige Ueberschrift derselben: »Dom: 16. p. Trin: Ko i, du süße Todes Stunde«, rechts von ihr das Zeichen: α ||ω, links: α. ω., darunter von andrer Hand: »item Festo Purific. Mariae«, rechts in der Ecke: »di Bach«. Daß die Cantate in Weimar componirt ist, zeigt ihre mit den andern ganz übereinstimmende Anlage auf den ersten Blick.
25 Die Handschrift schreibt Sesquialtera vor. In einer neueren Copie ist der Choral einer Sopranstimme mit den Gerhardschen Worten: »Wenn ich einmal soll scheiden« u.s.w. zuertheilt. Daß die instrumentale Ausführung für das Ursprüngliche zu halten ist, bedarf nach allem vorhergegangenen wohl kaum der Erwähnung.
26 Eine etwas gesuchte Anspielung auf die Geschichte Simsons; vergl. B.d. Richter, Cap. 14.
27 Von Takt 4–14 weicht der Text der Partitur von der gedruckten Dichtung etwas ab; Bach scheint hier eigenmächtig geändert zu haben, denn die musikalische Declamation paßt weniger gut zu den Originalworten.
32 Partitur aus dem Nachlasse Fischhoffs auf der königl. Bibl. zu Berlin, der die Originalstimmen aus der v. Vossischen Sammlung zu Grunde liegen sollen. Ich habe dieselben nicht gesehen.
33 Autographe Partitur auf der königl. Bibl. zu Berlin. Vrgl. Anhang A. Nr. 27.
34 Im Autograph steht unter der Aufschrift »Choral semplice stylo« nur der bezifferte Bass ohne Worte. An der Hand des gedruckten Textes ist es aber leicht zu bestimmen, welche Melodie gemeint ist.
35 Autographe Partitur auf der königl. Bibl. zu Berlin. S. Anhang A. Nr. 29.
36 Ueber die merkwürdigen Einklangsfortschreitungen zwischen Bass und Singstimme in Takt 28 und 29, um das »Vereinigen« zu symbolisiren, noch ein Wort zur E moll-Fuge des I. Theils vom wohltemperirten Clavier.
37 Autographe Partitur auf der königl. Bibl. zu Berlin, an Farbe, Stärke und Wasserzeichen des Papiers ganz mit dem Autograph der Advents-Cantate »Nun komm, der Heiden Heiland« übereinstimmend.
44 Autograph auf der königl. Bibl. zu Berlin. S. Anhang A. Nr. 31.
45 In der Partitur hat Bach überall, wo der Name »Christian« vorkommt, »Ernst August« darunter oder darüber geschrieben.
46 Wie ein besonderer geschriebener Textbogen meldet.
47 Auf der Schlußseite des die ursprüngliche Fassung enthaltenden (aber nicht von Bach selbst geschriebenen) Textbogens steht von einer zweiten Hand quergeschrieben als Parodie des Textes zum letzten Chore:
51 »Evangelische | Sonn- und Fest- | Tages- | Andachten, | Auf | Hochfürstl. Gnädigste Verordnung | Zur | Fürstl. Sächsis. Weimarischen | Hof-Capell-Music | In Geistlichen Arien | erwecket | Von | Salomon Francken, | Fürstl. Sächs. Gesamten Ober-Con-|sistorial-Secretario in Weimar. | Weimar und Jena, | Bey Johann Felix Bielcken. | 1717. |« Befindlich auf der großherzogl. Bibl. zu Weimar. Ohne Vorrede. S. Anhang A. Nr. 32.
53 Die inbrünstige Declamation der letzten Stelle erinnert an Aehnliches aus dem Kyrie von BeethovensMissa solemnis.
54 Die dritte und vierte Zeile lauten bei Franck: »Der jüngste Tag wird kommen Zu eurer Seelen Flor!« Bach hat die dritte wohl unabsichtlich ausgelassen; der Gedankengang wird dadurch etwas unklar, doch beweist die Auslassung von neuem, wie überwiegend Bachs Sinn nur auf Heraushebung der Grundstimmung gerichtet war.
55 »Seligster Erquickungstag, führe mich zu Friedens Zimmern«, heißt es im gedruckten Text, nicht »zu deinen Zimmern«.
56 In autographer Partitur auf der königl. Bibl. zu Berlin.
VII
1 Ließe sich eine Copie der E moll-Messe von Nikolaus Bach, welche die Herren Breitkopf und Härtel besitzen, als Sebastians Handschrift anerkennen, so wäre damit bewiesen, daß dieser sich im September 1716 in Meiningen befunden. Denn sie trägt am Schlusse die Notiz: »Meiningen d. 16 7br 1716.« Aber Seb. Bach hat nur später einiges hineingeschrieben, im Uebrigen ist es nicht seine Hand. Auch den Namenszug unter der Notiz vermag ich nicht J.S. sondern nur J.L. Bach zu lesen. Vermuthlich liegt ein Autograph Johann Ludwigs vor.
2 Brückner, Kirchen- und Schulenstaat im Herzogthum Gotha, Th. III, St. 9, S. 35.
3 Das Pastellbild hängt auf der königl. Bibl. zu Berlin im ersten Zimmer der musikalischen Abtheilung. Das Oelbildchen, auf ein Kupferblatt gemalt, besitzt Herr Postdirector Dreysigacker in Meiningen, der mir die Kenntnißnahme in entgegenkommender Weise ermöglichte. In Folge einer unklaren Tradition galt es dort als Portrait Sebastian Bachs, was sich sogleich als Irrthum erwies. Dafür daß es Johann Ludwig vorstelle, sprechen sowohl äußerliche wie im Bilde selbst liegende Gründe.
4 Auf der königl. Bibl. zu Berlin, folgenden Titels: »Ouverture à 4. | en G.h. | del | Joh. Ludwig Baach. | [unten in der linken Ecke:] Mens: Febr. 1715.«
5 Zwölf davon sind in einen Band zusammengeheftet auf der königl. Bibl. zu Berlin. Ein von Phil. Em. Bach beschriebenes Blatt ist vorgebunden. Außerdem sah ich dort zu vier andern die von Seb. Bach geschriebenen Stimmen.
6 Dessen Ritornell und den darauf folgenden Choral hat Mosewius durch ein unerklärliches Versehen als Composition Sebastians aufgeführt in Beilage 2, 7 seiner Schrift über dessen Kirchencantaten und Choralgesänge. Man hat da nun eine Probe, wie die Schlußchoräle Joh. Ludwig Bachs zu sein pflegen.
7 Handschriftlich auf der Amalien-Bibliothek des Joachimsthals zu Berlin, Bd. Nr. 90, Stück 4.
8 Amalien-Bibliothek, Bd. Nr. 90, Stück 2. Daselbst befinden sich noch mehre andre hervorragende Motetten desselben Meisters.
9 Brückner, Landeskunde des Herzogthums Meiningen I, 65 f. und Privatmittheilungen desselben.
10 Ergebnisse eines Actenstückes des herzogl. Hofmarschallamts vom 12. Mai 1721, in dem sich ein Capellmusiker über Zurücksetzung durch den Capellmeister beklagt.
11 Die Partitur der Trauermusik ist auf der königl. Bibl. zu Berlin.
12 Wenigstens war er nach einem Actenstücke aus dem kurfürstl. hessischen Archive zu Marburg 1708 noch dort; sein Anstellungsdecret für Dresden datirt vom 28. Juni 1709 (Fürstenau II, S. 65).
13 Ein in Kupfer gestochenes Portrait Marchands aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das ich besitze, trägt die Unterschrift: Organiste du Roy, né à Lion, mort à Paris le 17 Février 1732. Agé de 61 ans. Näheres über seine Lebensereignisse und Bizarrerien bei Gerber L.I. Sp. 870 f., und Hilgenfeldt S. 23 f. Eine weniger bekannte Anekdote steht Caecilia II (Mainz, Schott. 1825), S. 85.
18 Der Hoforganist erhielt jährlich 3 Gülden aus dieser Stiftung. Gottschalg S. 270, Anm.
19 Die gedruckte Fest-Information (auf dem Archive zu Weimar) redet nur allgemein von den aufzuführenden beiden Cantaten ohne Erwähnung des Dichters und der Componisten. Außerdem erkennt man aus einer handschriftlichen Notiz, daß Franck den Druck der Fest-Programme überwachte. Die Texte selbst habe ich nirgends gefunden.
20 Mattheson, Ehrenpforte S. 364. Dort wird der Herzog von Weimar Ernst August genannt, was ein Gedächtnißfehler Telemanns ist.
22 B.-G. XV, S. 289. – P.S. V, C. 1, Nr. 2. Ein Autograph, das früher Capellmeister Guhr in Frankfurt a.M. besaß, ist vorläufig verschwunden. Der Passacaglio findet sich aber auch, vorzüglich schön geschrieben, bei Andreas Bach, wodurch seine Entstehungszeit verrathen wird. Es ist merkwürdig, daß keiner der Herausgeber auf diese Handschrift Rücksicht genommen hat.
23 W. Rust hat sein feines Gefühl für die Stilunterschiede in Bachs Werken auch hier wieder bewiesen, indem er den Passacaglio wenigstens in die Cöthener Periode verlegte.
24 In neuer Zeit hat H. Esser den Passacaglio mit sehr geschickter Imitation des Orgelklanges für Orchester umgesetzt, wodurch vielleicht die Schönheiten desselben auch dem großen Publicum wieder näher gebracht werden.
25 B.-G. XV, S. 120. – P.S. V, C. 2, Nr. 3. In der ersten Gestalt findet sie sich daselbst als Variante.
26 B.-G. XV, S. 155 und S. 218. – P.S. V, C. 3, Nr. 2, und C. 2, Nr. 6.
27 B.-G. XV, S. 104 und S. 129. – P.S. V, C. 2, Nr. 5 und C. 3, Nr. 6.
28 P.S. V, C. 4, Nr. 12. S. dazu die Bemerkung Griepenkerls in der Vorrede.
29 Die beiden C moll-Praeludien führen in den Handschriften den Titel Fantasia. Man vergleiche, was ich darüber S. 432 gesagt habe.
32 Veröffentlicht P.S. V, C. 5, Anhang. Nr. 2 und 5 dieses Anhanges kommen hier nicht in Betracht. Erstere, »Jesus, meine Zuversicht«, ist ein dreistimmiger Claviersatz mit sehr reich ausgeschmückter Melodie. Als solchen verräth ihn schon seine Quelle, das von Bach für seine zweite Gattin im Jahre 1722 angelegte »Clavier-Büchlein«. Zuverlässig sollte er zugleich zur Uebung in Ausführung der Fiorituren dienen, die beiläufig bemerkt in Griepenkerls Ausgabe nicht genau wiedergegeben sind. Nr. 5, »Liebster Jesu, wir sind hier«, kennzeichnet sich schon durch die Behandlung für zwei Manuale als selbständigen Orgelchoral. Ueber Nr. 4, dieselbe Choralmelodie, s. weiter unten.
34 Die Absicht ist unverkennbar, besonders wenn man den Orgelchoral »Vom Himmel kam der Engel Schaar« aus dem »Orgelbüchlein« vergleicht.
35 P.S. V, C. 5, Anhang Nr. 4. Vielleicht auch der aus J.L. Krebs' Nachlasse stammende Satz, P.S. V, C. 5, Nr. 36, doch ist hier eine besondere Bestimmung immerhin schwierig zu erkennen. Den unmittelbar folgenden simplen Choral halte ich für un-Bachisch.
37 Der vollständige Titel des auf der königl. Bibl. zu Berlin befindlichen Autographs ist: »Orgel-Büchlein | Worinne einem anfahenden Organisten | Anleitung gegeben wird, auff allerhand | Arth einem Choral durchzuführen, an- | bey auch sich im Pedal studio zu habi- | litiren, indem in solchen darinne | befindlichen Choralen das Pedal | gantz obligat tractiret wird. | Dem Höchsten Gott allein zu Ehren, | Dem Nechsten, draus sich zu belehren. | Autore | Ioanne Sebast. Bach | p.t. Capellae Magistro | S.P.R. Anhaltini- | Cotheniensis. |« 92 Blätter; klein Quart in Pappe, mit Lederrücken und Spitzen. Auf der ersten Seite oben rechts steht: ex collectione G. Pölchau. Veröffentlicht P.S. V, C. 5, Abtheil. 1, wozu jedoch die Vorrede Griepenkerls zu vergleichen. S. Anhang A. Nr. 34.
38 Die Fermaten sollen in diesen Chorälen nur das Ende der Zeile und keinen wirklichen Halt andeuten; man sieht dies klar aus den canonischen Bearbeitungen, wo ein Ruhepunkt unmöglich ist.
39 An dem Chorale »In dulci jubilo« fällt die Notirungsweise auf, indem die Achteltriole der halben Note gleich gesetzt ist.
40 P.S. V, C. 5, Abth. II, 3. Die Darstellung der verschiedenen Bearbeitungsstufen findet zum Theil auch eine äußere Bestätigung darin, daß in einem Buche von J.L. Krebs nur der vierstimmige Choral mit den vier ersten Partiten steht.
41 »Gottes Sohn ist kommen« (P.S. V, C. 6, Nr. 25) und »Vater unser im Himmelreich« (ebend. C. 7, Nr. 53).
55 Die kurze Gestalt des Chorals für die ursprüngliche ansehen kann man schon deshalb nicht, weil das Pedal dabei kaum etwas zu thun hat, er also eigentlich dem Zwecke des Orgelbüchleins nicht entspricht. Das vollständige Stück ist in der Sammlung von Bachs Schüler Altnikol geschrieben. P.S. V, C. 7, Nr. 35; die Verkürzung aus dem Orgelbüchlein ebenda unter den Varianten.
56 P.S. V, C. 7, Nr. 48 in überarbeiteter Gestalt; die frühere, auf welche es hier zunächst ankäme, ebenda unter den Varianten. Doch sind die Abweichungen für den an dieser Stelle verfolgten Zweck unwesentlich. Dasselbe gilt von den folgenden Chorälen, wenn nichts besonderes bemerkt ist.
60 P.S. V, C. 7, Nr. 51. Steht nicht in der handschriftlichen Sammlung, ist aber sicher echt.
61 P.S. V, C. 6, Nr. 7 und 27. Zu letzterem existiren zwei Varianten, deren eine nur unerhebliche Abweichungen zeigt, während die andre um mehr als die Hälfte kürzer und nicht viel mehr, als eine zweistimmige Contrapunctirung der Melodie ist, wozu das Motiv aus der ersten Zeile genommen. Der Typus wird dadurch eigentlich ein ganz andrer, vrgl. das unten zu »Nun komm, der Heiden Heiland« gesagte.
64 Die Accentzeichen lasse ich unausgeschrieben, weil sie nicht thematisch sein sollen, wie aus den Nachahmungen des Pedals ersichtlich.
65 P.S. V, C. 6, Nr. 12. Die erste Gestalt findet sich im Anhang als Variante, die durch Doppelpedal erweiterte unter 12a, die jedenfalls noch später, vermuthlich beim Eintragen in das große Manuscript vorgenommene zweite Bearbeitung der Originalgestalt mit einfachem Pedal ebenda unter 12b.
66 P.S. V, C. 7, Nr. 49. An die schönen Worte Schumanns über diesen Choral, der, wenn einer der Neuzeit, befähigt war, grade solchen Flügen Bachs nachzukommen, wird man sich hier gern erinnern. Er sagt (Schriften I, S. 219 [erste Aufl.]): »Da spieltest du, Felix Meritis [Mendelssohn], Mensch von gleich hoher Stirn wie Brust, kurz darauf einen seiner variirten Choräle vor: der Text hieß ›schmücke dich, o meine Seele‹, um den Cantus firmus hingen vergoldete Blättergewinde und eine Seligkeit war darein gegossen, daß du mir selbst gestandest: ›wenn das Leben dir Hoffnung und Glauben genommen, so würde dir dieser einzige Choral Alles von neuem bringen‹. Ich schwieg dazu und ging wiederum, beinahe mechanisch, auf den Gottesacker und da fühlte ich einen stechenden Schmerz, daß ich keine Blume auf seine Urne legen konnte.«
67 Schon Walther hat sie in einem der Berliner Autographe als Einheit zusammengeschrieben. P.S. V, C. 7, Nr. 45–47. Den mittleren überliefert Walther mit Cantus firmus im Pedal (s. Variante II), weshalb er in dieser Gestalt ebenfalls von Bach herrühren wird, was man sonst des 33. Taktes wegen nicht glauben möchte.
68 P.S. V, C. 7, Nr. 36. Die Variante im Anhang. Mit ihr, die aus dem Nachlasse von Krebs stammt, kommt eine alte Abschrift im Besitze des Herrn Dr. Rust bis auf Kleinigkeiten ganz überein.